Die Straßen Eianrods verliefen schnurgerade und trafen sich im rechten Winkel. Wo es notwendig war, durchschnitten sie als Hohlwege die ansonsten terrassenförmig angelegten Hügel. Die schiefergedeckten Häuser wirkten ausgesprochen kantig, als bestünden sie nur aus Senkrechten. Eianrod war nicht an Couladin gefallen. Als die Shaido hier durchkamen, hatte sich keine Menschenseele im Ort aufgehalten. Viele der Häuser bestanden jetzt allerdings nur noch aus verkohlten Balken, und nur die Grundmauern standen noch. Das traf besonders für die breiten, dreistöckigen Marmorgebäude mit ihren Balkonen zu, die nach Moiraines Aussage reichen Kaufleuten gehört hatten. Zerschlagene Möbel und zerfetzte Kleider lagen auf den Straßen herum, neben den Scherben von Geschirr und Glasscheiben, einzelnen Stiefeln und Werkzeugen und Spielsachen...
Die Brände waren zu verschiedenen Zeitpunkten ausgebrochen. Das war auch Rand klar, als er den unterschiedlichen Zustand der verkohlten Balken wahrnahm und den manchmal stärkeren, manchmal schwächeren Brandgeruch, der sich in den Ruinen gehalten hatte. Lan war sogar in der Lage, die Reihenfolge der Kämpfe festzustellen, in denen die Stadt mehrmals erobert und zurückerobert worden war. Wahrscheinlich hatten die Kämpfe zwischen verschiedenen Häusern stattgefunden, die sich um die Nachfolge auf dem Sonnenthron stritten. Nur beim letzten Mal — so, wie die Straßen nun aussahen — hatten wohl Räuberbanden Eianrod eingenommen. Viele dieser Banden, die Cairhien unsicher machten, gehörten zu keinem der Adelshäuser und hielten nur einem Herrn die Treue: dem Gold.
Rand trat zu einem Haus, das einst einem reichen Kaufmann gehört haben mußte. Es befand sich am größeren der beiden Plätze dieser Stadt und bestand aus drei quadratisch angelegten Stockwerken aus grauem Marmor mit Steinbalkonen und einer breiten Treppe mit dicken, kantigen Steingeländern; von den oberen Stufen konnte man auf einen stillen Springbrunnen hinabsehen, in dessen rundem Becken nur noch Staub lag. Er hatte die Gelegenheit nützen wollen, endlich wieder einmal in einem richtigen Bett zu schlafen, und er hoffte insgeheim, Aviendha würde das Zelt vorziehen, ob nun seines oder das der Weisen Frauen. Es war ihm gleichgültig, solange er nur nicht wieder versuchen mußte, einzuschlafen, während nur wenige Schritt von ihm entfernt ihre Atemzüge erklangen. In letzter Zeit hatte er sich schon eingebildet, er könne ihr Herz schlagen hören, obwohl er noch nicht einmal Saidin in sich aufgenommen hatte. Doch falls sie wieder bei ihm schlief, hatte er Vorsichtsmaßnahmen ergriffen.
Die Töchter blieben an der Treppe stehen. Ein paar umkreisten das Gebäude, um es von allen Seiten zu bewachen. Er hatte schon befürchtet, sie würden das Gebäude, selbst nur für die eine Nacht, zum Dach der Töchter erklären. Und als statt dessen er dieses Haus ausgewählt hatte, eines der wenigen im Ort, das noch ein festes Dach aufwies und bei dem fast alle Fenster heil waren, machte er Sulin unmißverständlich klar, daß er dies zum Dach der Weinquellenbrüder erkläre. Niemand dürfe es betreten, der nicht aus der Weinquelle in Emondsfeld getrunken habe. Ihrem Blick nach zu schließen, den sie ihm zuwarf, wußte sie sehr wohl, worauf er hinauswollte, aber keine folgte ihm weiter als bis zur Eingangstür, die aus schmalen, senkrechten Holztafeln zusammengesetzt schien.
Die großen Innenräume waren kahl. Weißgekleidete Gai'schain hatten ein paar Decken für den eigenen Bedarf in einer weiträumigen Halle ausgebreitet, deren hohe Stuckdecke ganz aus nüchternen Quadraten zusammengesetzt war. Die Gai'schain konnte er nicht wegschicken, auch wenn es ihm lieber gewesen wäre, genausowenig wie Moiraine, falls sie nicht irgendwo anders schlief. Welche Befehle er auch erließ, um nicht gestört zu werden, sie fand doch immer einen Weg, an den Töchtern vorbeizukommen, und es bedurfte eines wirklich harschen Befehls, damit sie auch wirklich ging.
Die Gai'schain, ob Mann oder Frau, erhoben sich geschmeidig, noch bevor er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Sie würden nicht vor ihm Schlafen gehen, und ein paar würden sich ablösen, um auch in der Nacht bereitzustehen, falls er irgendwelche Wünsche hatte. Er hatte versucht, sie davon abzubringen, aber einem Gai'schain zu sagen, er oder sie solle nicht dienen, wie es der Brauch war, hatte denselben Effekt wie ein Tritt gegen einen Sack Wolle: welchen Eindruck seine Zehen auch hinterlassen mochten, er war verschwunden, sobald die Zehen wieder weg waren. Er winkte sie weg und ging die Marmortreppe hinauf. Ein paar dieser Gai'schain hatten einige wenige Möbelstücke zusammengetragen, darunter auch ein Bettgestell und zwei Federbetten, und so freute er sich darauf, sich waschen zu können und dann...
Er erstarrte, als er die Türe zu seinem Schlafzimmer öffnete. Aviendha hatte sich nicht für das Zelt entschieden. Sie stand vor dem Waschtisch mit der gesprungenen Schüssel und dem überhaupt nicht dazu passenden Krug, hatte einen Lappen in der einen Hand und ein Stück gelber Seife in der anderen. Sie trug keine Kleider. Sie schien genauso erschrocken wie er und konnte sich genausowenig rühren.
»Ich...« Sie hielt inne und schluckte. Große grüne Augen blickten ihn an. »Ich konnte in diesem... in dieser Stadt kein Dampfzelt aufbauen, also dachte ich, ich versuche einmal Eure Art der... « Stramme Muskeln und sanfte Rundungen kennzeichneten ihren Körper. Er glänzte feucht von Kopf bis Fuß. Er hatte sich nicht vorgestellt, daß ihre Beine so lang wären. »Ich hatte geglaubt, Ihr würdet länger an der Brücke bleiben. Ich...« Sie riß die Augen in Panik auf und gab ein erschrockenes Quieken von sich. »Ich habe es nicht darauf angelegt, daß Ihr mich so seht! Ich muß fort von Euch! Soweit ich nur kann! Ich muß weg!«
Plötzlich erschien neben ihr eine schimmernde senkrechte Spalte in der Luft. Sie erweiterte sich, als rotiere sie, zu einer Tür. Eisig kalter Wind wirbelte in das Zimmer herein und peitschte dichten Schnee vor sich her.
»Ich muß weg!« heulte sie und sprang in den Schneesturm hinein.
Sofort begann sich die Tür wieder zu schließen. Der Spalt wurde enger, drehte sich erneut, doch diesmal reagierte Rand ohne weiteres Nachdenken. Er benützte die Macht und blockierte die erst halb geschlossene Tür. Er wußte überhaupt nicht, was er getan hatte und wie, aber er war sicher, daß dies ein Tor zu den Kurzen Wegen sei, wie die, von denen ihm Asmodean berichtet hatte. Der hatte ihm aber weiter nichts darüber beibringen können. Nun hatte er keine Zeit, um zu überlegen. Wohin Aviendha auch verschwunden war, sie steckte jedenfalls nackt mitten in einem Schneesturm. Rand nabelte die soeben gewebten Stränge schnell ab, während er alle Decken von seinem Bett riß und sie auf ihre Kleider warf, die auf ihrer Bettunterlage lagen. Dann packte er alles, Decken, Kleider und Bettunterlage, und warf sich nur Augenblicke nach ihr durch das Tor.
Der eisige Wind pfiff durch die von einem weißen Wirbel durchtobte Winternacht. Sogar in das Nichts eingehüllt fühlte er, wie sein Körper vor Kälte zitterte. Er konnte trübe, verstreute Umrisse in der Dunkelheit erkennen, die er für Bäume hielt. Riechen konnte er außer der Kälte nichts. Vor ihm bewegte sich etwas, von Dunkelheit und Schneesturm fast unkenntlich gemacht. Er hätte sie fast übersehen, wenn nicht seine Augen im Nichts besonders scharf gewesen wären. Es war Aviendha, die, so schnell sie konnte, da vonrannte. Er stampfte durch den kniehohen Schnee hinter ihr her und drückte das dicke Bündel an seine Brust.
»Aviendha! Halt!« Er fürchtete, der heulende Sturm werde seine Worte verwehen, aber sie hörte sie. Und lief womöglich noch schneller. Er zwang sich zu größerer Eile, taumelte und stolperte vorwärts, während der immer tiefer werdende Schnee seine Stiefel festhalten wollte. Die Spuren ihrer bloßen Füße wurden schnell wieder aufgefüllt. Falls er sie hier aus den Augen verlor... »Halt, du törichte Närrin! Willst du dich denn umbringen?« Der Klang seiner Stimme schien sie nur noch weiter zu treiben.
Grimmig zwang er sich vorwärts, stürzte beinahe und rappelte sich wieder hoch, wurde vom Wind gepackt und fast umgeworfen, blieb dann wieder im Schnee stecken oder stieß gegen Bäume. Er mußte sie im Blick behalten. Er war dankbar dafür, daß die Bäume in diesem Wald, oder was es auch sein mochte, so weit voneinander entfernt standen.
Pläne schrammten über das Nichts und wurden verworfen. Er konnte versuchen, den Sturm zu ersticken, aber vielleicht würde die Wirkung der Macht dann die Luft in Eis verwandeln. Eine Luftblase, um den wirbelnden Schnee von ihm abzuhalten, würde den unter seinen Füßen nicht beseitigen. Er konnte mit Hilfe des Feuers eine Spur hineinschmelzen — und statt dessen durch Schlamm waten. Außer...
Er benutzte die Macht, und der Schnee vor ihm schmolz auf etwa eine Spanne Breite. Während er weiterrannte, schmolz auch der Schnee vor seinen Füßen immer weiter. Dampf stieg auf, und der dicht fallende Schnee löste sich einen Fuß über dem sandigen Boden auf. Er spürte die Hitze durch seine Stiefel hindurch. Bis fast zu seinen Knöcheln hinab zitterte sein Körper von der beißenden Kälte, während seine Füße schwitzten und beinahe vor der sengenden Hitze des Bodens zurückzuckten. Doch wenigstens holte er jetzt auf. Noch fünf Minuten, und...
Plötzlich verschwand die verschwommene Gestalt, der er gefolgt war, als sei sie in ein Loch gefallen.
Er hielt den Blick auf den Fleck gerichtet, an dem er sie zuletzt gesehen hatte, und rannte, so schnell er nur konnte. Mit einemmal klatschten seine Beine bis auf halbe Kniehöhe durch eiskaltes, fließendes Wasser. Vor ihm enthüllte der schmelzende Schnee eine dunkle Wasseroberfläche und eine Eiskante, die sich schnell vor ihm zurückzog. Kein bißchen Dampf erhob sich von der schwarzen Wasseroberfläche. Ob Bach oder Fluß, die Macht, die er einsetzte reichte jedenfalls nicht aus, das rasch strömende Wasser auch nur eine Spur aufzuwärmen. Sie mußte aufs Eis hinausgerannt und eingebrochen sein, aber er würde sie nicht retten können, indem er einfach hinauswatete. Von Saidin erfüllt, war er sich der Kälte wohl kaum bewußt, aber seine Zähne klapperten unkontrolliert.
Er zog sich ans Ufer zurück und richtete den Blick auf die Stelle, wo er Aviendha versunken glaubte. Dann lenkte er Stränge aus Feuer ein Stück vom Bach entfernt in den noch schneefreien Boden, bis der Sand dort schmolz und weißglühend zusammenfloß. Sogar in diesem Sturm würde es hier eine Weile lang heiß bleiben. Er legte das Bündel daneben in den Schnee. Ihr Leben würde davon abhängen, daß er die Decken und alles andere wiederfand. Dann watete er durch den tiefen Schnee auf der einen Seite seines geschmolzenen Pfades und legte sich schließlich flach auf den Bauch. So schob er sich hinaus auf die von Schnee bedeckte Eisfläche.
Der Wind heulte über ihn hinweg. Er hätte genausogut ohne Mantel sein können. Seine Hände waren mittlerweile starr vor Kälte, und in seinen Füßen hatte er auch fast kein Gefühl mehr. Das Zittern hatte bis auf ein gelegentliches Schaudern aufgehört. In der kalten Ruhe des Nichts war ihm bewußt, was geschah. Es gab manchmal auch an den Zwei Flüssen Schneestürme, vielleicht sogar genauso starke wie diesen hier. Sein Widerstand ließ langsam nach. Wenn er seinen Körper nicht bald erwärmte, würde er gelassen aus der Sicherheit des Nichts beobachten, wie er starb. Doch falls er starb, würde auch Aviendha sterben. Vielleicht war sie sogar schon tot.
Er fühlte mehr, als daß er hörte, wie das Eis unter seinem Gewicht knackte. Seine tastenden Hände erreichten Wasser. Das mußte die Stelle sein, aber durch den wirbelnden Schnee hindurch konnte er fast nichts sehen. Er schlug mit den Armen ins Wasser, suchte klatschend mit gefühllosen Händen. Eine traf auf etwas nahe der Eiskante, und er befahl seinen Fingern, sich darum zu schließen. Gefrorene Haare knisterten und brachen.
Muß sie herausziehen. Er krabbelte rückwärts und zerrte an ihr. Sie war ein totes Gewicht, das langsam, ganz langsam aus dem Wasser glitt. Gleichgültig, ob das Eis ihre Haut aufschürft. Besser das, als sie erfrieren oder ertrinken zu lassen. Nach hinten. Weiterbewegen. Wenn du aufgibst, stirbt sie. Beweg dich, verdammt noch mal! Kriechen. Mit den Beinen ziehen und mit einer Hand nach hinten schieben. Die andere hatte sich in Aviendhas Haar verkrampft. Keine Zeit, sie irgendwo anders zu packen; sie spürte es sowieso nicht. Du hast es schon zu lange zu gut gehabt. Lords knien vor dir nieder und Gai'schain rennen, um dir Wein zu bringen, und Moiraine macht auch noch alles, was du ihr sagst. Rückwärts. Es wird Zeit, daß du mal wieder selbst was machst, falls du das überhaupt noch kannst. Beweg dich, du verdammter Hurensohn! Beweg dich gefälligst!
Plötzlich schmerzten seine Füße. Der Schmerz kroch langsam in seine Beine zurück. Er brauchte einen Augenblick, bis er nach hinten blickte und sich schnell von dem dampfenden Fleck geschmolzenen Sandes herunterrollte. Dünne Rauchfäden, die von seiner angesengten Hose aufstiegen, wurden vom Wind zerstreut.
Er tastete nach dem Bündel, das daneben lag, und wickelte Aviendha von Kopf bis Fuß in alles ein, was er mitgebracht hatte — Decken, Bettunterlage, Kleidungsstücke. Jedes bißchen Schutz vor der Kälte war wichtig. Sie hatte die Augen geschlossen und rührte sich nicht. Er schob die Decken weit genug auseinander, daß er sein Ohr an ihre Brust legen konnte. Ihr Herz schlug so langsam, daß er sich den Herzschlag vielleicht auch nur einbildete. Selbst die vier Decken und die dicke Bettunterlage reichten nicht aus, doch er konnte nicht so einfach Wärme mit Hilfe der Macht in sie einströmen lassen wie in den Boden. Selbst wenn er die Stränge so dünn wie eben möglich webte, würde er sie damit eher töten als aufwärmen. Er nahm das Gewebe wahr, das er benützt hatte, um ihr Tor offenzuhalten, vielleicht eine oder zwei Meilen entfernt im Sturm. Versuchte er, sie so weit zu tragen, würden sie beide nicht überleben. Sie brauchten einen schützenden Unterschlupf, und den hier an Ort und Stelle.
Er webte Stränge aus Luft, und Schnee glitt gegen die Windrichtung über den Boden, ballte sich zusammen und formte schließlich dicke, glatte Wände im Abstand von etwa drei Schritt voneinander. Eine Öffnung war als Tür geblieben. Die Wände wuchsen nach oben weiter. Der Schnee wurde zusammengepreßt, bis er wie Eis glitzerte. Ein Dach schob sich über die Grundmauern, hoch genug, um darunter stehen zu können. Er hob Aviendha auf seine Arme und stolperte mit ihr in das dunkle Innere hinein. Er webte kleine Flammen, die in den Ecken tanzten, und nabelte das Gewebe ab. Dann lenkte er weitere Stränge so, daß sie den Eingang mit Schnee verschlossen.
Es war schon jetzt erheblich wärmer, da sie vor dem Wind geschützt waren. Doch das reichte nicht. Er benützte den Trick, den ihm Asmodean gezeigt hatte, verwob Luft und Feuer, und die Luft im Schneehaus erwärmte sich. Er wagte allerdings nicht, diese Stränge abzubinden, denn wenn er einschlief, würde die Wärme immer stärker, und die Hütte mußte schließlich schmelzen. Deshalb war es eigentlich auch gefährlich, die kleinen Flammen zu lassen, wie sie waren, aber er war so hundemüde und durchgefroren, daß er einfach nicht mehr als ein Gewebe aufrechterhalten konnte.
Der Boden im Innern war natürlich schneefrei, da aller Schnee in den Wänden und dem Dach der Hütte steckte. Die bloße Erde war sandig, und darauf lagen ein paar braune Blätter, die er nicht einordnen konnte, und zerfledderte, niedrige, abgestorbene Kräuter, die ihm ebenfalls unbekannt waren. Er ließ das Gewebe los, das die Luft erhitzte, und wärmte dafür den Boden genug, daß er nicht mehr so eisig kalt war. Dann nahm er die anderen Stränge wieder auf. Danach brachte er es gerade noch fertig, Aviendha sanft auf den Boden zu legen. Beinahe hätte er sie fallenlassen, so erschöpft war er.
Er schob eine Hand unter die Decken und fühlte nach ihrer Wange und ihrer Schulter. Kleine Rinnsale rannen ihr über das Gesicht, als das Eis in ihren Haaren schmolz. Ihn fror, doch sie schien ihm wie blankes Eis. Sie benötigte jedes bißchen Wärme, das er erzeugen konnte, und er wagte nicht, die Luft noch weiter zu erhitzen. Die Innenseiten der Schneemauern schimmerten bereits feucht. So sehr ihn auch fror, in ihm war jedenfalls noch mehr Wärme als in ihr.
So zog er sich schnell aus und schob sich zu ihr unter die Decken. Seine eigenen feuchten Kleider legte er obenauf, denn sie konnten helfen, die Körperwärme im Innern festzuhalten. Sein von Saidin und dem Nichts noch verstärkter Tastsinn war erfüllt von ihr. Gegen ihre Haut fühlte sich Seide noch grob an. Wenn man es mit ihrer Haut verglich, war selbst Satin... Nicht nachdenken! Er strich ihr das feuchte Haar aus dem Gesicht. Er hätte es trocknen sollen, aber das Wasser war nicht mehr so kalt, und er hätte außerdem sowieso nur die Decken oder ihre Kleider dazu benützen können. Ihre Augen waren geschlossen, und ihre Brust hob und senkte sich langsam an der seinen. Ihr Kopf lag auf seinem Arm und drückte gegen seine Brust. Wäre sie nicht noch immer so kalt gewesen, hätte er geglaubt, sie schlafe. So friedlich; überhaupt nicht zornig wie sonst. So schön. Hör auf damit! Scharf befahl er sich das von außerhalb der Leere her, die ihn umgab. Sprich lieber.
So sprach er einfach über das erste, was ihm in den Sinn kam: Elayne und die Verwirrung durch ihre beiden Briefe. Doch das erzeugte bald Vorstellungen von der goldhaarigen Elayne, die über das Nichts glitten, Erinnerungen daran, wie er sie an heimlichen Orten im Stein von Tear geküßt hatte. Denk doch nicht ans Küssen, du Narr! Er ging zu Min über. Bisher hatte er noch nie an Min als Frau gedacht. Nun ja, ein paar Träume zählten nicht. Min hätte ihm eine Ohrfeige verpaßt, wenn er versucht hätte, sie zu küssen. Oder sie hätte gelacht und ihn Wollkopf genannt. Es kam ihm nun aber so vor, daß ihn jede Frau, von der er sprach, daran erinnerte, daß er eine nackte Frau in seinen Armen hielt. Von der Macht erfüllt, nahm er ihren Duft wahr, fühlte jeden Fingerbreit ihrer Haut, als striche er mit seinen Händen... Das Nichts bebte. Licht, du willst sie doch nur aufwärmen! Schlag dir die schmutzigen Gedanken aus dem Kopf, Mann!
Im Bemühen, diese Gedanken zu vertreiben, redete er über die Hoffnungen, die er mit Cairhien verband, wie er dem Land Frieden und ein Ende der Hungersnot bringen wolle; wie er sämtliche Länder ohne weiteres Blutvergießen dazu bringen wolle, sich ihm anzuschließen. Aber auch dieses Thema entwickelte ein Eigenleben, ging einen eigenen, unvermeidlichen Weg bis hin zum Shayol Ghul, wo er dem Dunklen König gegenübertreten und sterben mußte, wenn die Weissagungen stimmten. Es erschien ihm feige, als er sagte, er hoffe das doch irgendwie zu überleben. Die Aiel kannten keine Feigheit. Selbst der feigste unter ihnen war noch tapfer wie ein Löwe. »Die Zerstörung der Welt hat die Schwachen getötet«, hatte er Bael sagen hören, »und das Dreifache Land hat die Feiglinge getötet.«
Er begann damit, laut zu spekulieren, wo sie sich wohl befänden, wohin sie ihre wilde, sinnlose Flucht geführt haben mochte. In irgendein fernes und fremdes Land, in dem es zu dieser Jahreszeit Schnee gab. Es war schlimmer als nur sinnlos gewesen, hierher zu rennen. Verrückt. Und doch war ihm klar, daß sie vor ihm weggerannt war. Vor ihm geflohen war. Wie sehr mußte sie ihn hassen, daß sie so weit sie nur konnte vor ihm floh, anstatt ihm einfach zu sagen, er solle sie beim Waschen allein lassen.
»Ich hätte anklopfen sollen.« An seine eigene Schlafzimmertür? »Ich weiß, daß du dich nicht in meiner Nähe aufhalten willst. Du mußt ja auch nicht. Was die Weisen Frauen auch wünschen, was sie auch sagen mögen, du kehrst jedenfalls zu ihren Zelten zurück. Du mußt mir nicht mehr nahe kommen. Und wenn doch... dann schicke ich dich weg.« Warum zögerte er dabei? Wenn sie wach war, brachte sie ihm Zorn entgegen, Kälte, Bitterkeit, und wenn sie schlief... »Das war wirklich verrückt von dir. Du hättest dich umbringen können.« Wieder streichelte er über ihr Haar. Er konnte sich nicht davon abhalten. »Wenn du jemals wieder etwas so Wahnsinniges anstellst, breche ich dir das Genick. Hast du eine Ahnung, wie sehr ich deine Atemzüge bei Nacht vermissen werde?« Sie vermissen? Sie trieb ihn damit zum Wahnsinn! Er war von ihnen beiden der Verrückte. Er mußte damit aufhören. »Du wirst weggehen, klar? Und wenn ich dich nach Rhuidean zurückschicken muß. Die Weisen Frauen können mich nicht davon abhalten, wenn ich als Car'a'carn ein Machtwort spreche. Du mußt nicht mehr vor mir davonlaufen.«
Die Hand, die er nicht davon abhalten konnte, über ihr Haar zu streicheln, erstarrte, als sie sich rührte. Ihm wurde bewußt, daß sie sich nun warm anfühlte. Sehr warm. Er sollte sich jetzt anständigerweise in eine seiner Decken einwickeln und sich ein Stück von ihr entfernt hinlegen. Sie schlug die Augen auf, klar und tiefgrün, und blickte ihn ernst aus nicht einmal einem Fuß Entfernung an. Sie schien weder überrascht von seiner Anwesenheit, noch stieß sie ihn weg. Er nahm die Arme von ihr weg und wollte sich zurückziehen, doch sie packte eine Handvoll seiner Haare, daß es ihm weh tat. Wenn er sich jetzt bewegte, würde er einen kahlen Fleck am Kopf davontragen. Sie gab ihm keine Gelegenheit, etwas zu erklären. »Ich habe meiner Nächstschwester versprochen, auf Euch aufzupassen.« Sie sagte das sowohl sich selbst wie auch ihm mit leiser, beinahe ausdrucksloser Stimme. »Ich bin vor Euch davongelaufen, so gut ich nur konnte, um meine Ehre zu bewahren. Und du bist mir sogar hierher gefolgt. Die Ringe lügen nicht, und ich kann nicht mehr weglaufen.« Ihr Tonfall nahm eine wilde Entschlossenheit an. »Ich werde nicht mehr weglaufen!«
Rand versuchte, sie zu fragen, was sie damit meine, und gleichzeitig bemühte er sich, ihre Finger sanft aus seinem Haar zu lösen, doch sie packte auch noch mit der anderen Hand zu und zog seinen Mund zu ihrem hin. Das war das Ende alles rationalen Denkens. Das Nichts zersprang und Saidin entfloh ihm. Er glaubte nicht, daß er sich auch bei größter Willensanstrengung hätte zurückhalten können, aber der Gedanke kam ihm in diesem Augenblick überhaupt nicht, und sie schien auch nicht zu wollen, daß er sich zurückhielt. Ja, sein letzter klarer und zusammenhängender Gedanke für längere Zeit war sogar der, daß er sie wohl kaum zurückhalten könne.
Um ein Beträchtliches später — zwei Stunden, vielleicht auch drei, sicher war er sich da nicht — lag er entspannt auf der Schlafunterlage, die Decken über sich gezogen und die Hände hinter dem Kopf gefaltet. Er beobachtete Aviendha, wie sie die glatten weißen Wände untersuchte. Sie hatten überraschend viel Wärme zurückgehalten, so daß er Saidin gar nicht benützen mußte, weder um die Kälte abzuhalten, noch um die Luft zu erwärmen. Beim Aufstehen war sie lediglich mit ihren Fingern durchs Haar gefahren. Ansonsten bewegte sie sich trotz ihrer Nacktheit völlig ohne Scham. Natürlich war es auch ein wenig zu spät, um sich vor ihm nur deshalb zu schämen, weil sie nichts anhatte. Er hatte sich Gedanken darüber gemacht, sie nicht zu verletzen, als er sie aus dem Wasser zog, doch ihr Körper zeigte weniger Schrammen als seiner, und auch die schienen ihrer Schönheit überhaupt keinen Abbruch zu tun.
»Was ist das?« fragte sie.
»Schnee.« Er erklärte ihr, so gut es ging, was Schnee sei, aber sie schüttelte nur den Kopf, teils staunend, teils ungläubig. Einer Frau, die in der Wüste aufgewachsen war, mußte gefrorenes Wasser, das vom Himmel fiel, genauso unmöglich erscheinen wie Menschen, die fliegen konnten. Den Chroniken nach war das einzige Mal, daß es in der Wüste je geregnet hatte, ausgerechnet der von ihm über Rhuidean erzeugte Regen gewesen.
Er konnte einen Seufzer des Bedauerns nicht zurückhalten, als sie sich ihr Hemd über den Kopf zog. »Die Weisen Frauen können uns verheiraten, sobald wir zurück sind.« Er spürte immer noch sein Gewebe, das die Tür offenhielt.
Aviendhas dunkelroter Schopf schob sich aus dem Hemd hervor, und sie blickte ihn ausdruckslos an. Nicht unfreundlich, aber auch nicht freundlich. Allerdings entschlossen. »Was läßt dich glauben, ein Mann habe das Recht, so etwas von mir zu verlangen? Außerdem gehörst du zu Elayne.«
Er brauchte einen Moment, bis er den Mund wieder zu bekam. »Aviendha, wir haben gerade... Wir beide... Licht, wir müssen doch jetzt heiraten. Nicht, daß ich es nur will, weil es so sein muß«, fügte er schnell hinzu. »Ich will es ja wirklich.« Da war er sich allerdings nicht ganz so sicher. Er glaubte durchaus, sie zu lieben, aber vielleicht liebte er ja Elayne auch. Und aus irgendeinem Grund schlich sich auch Min wieder in seine Gedanken ein. Du bist ein genauso großer Schürzenjäger wie Mat. Aber wenigstens einmal konnte er das Richtige tun, eben weil es so richtig war.
Sie schnaubte und befühlte ihre Strümpfe, um sicherzugehen, daß sie auch getrocknet waren. Dann setzte sie sich, um sie anzuziehen. »Egwene hat mir von euren Hochzeitsbräuchen an den Zwei Flüssen erzählt.«
»Willst du ein ganzes Jahr lang warten?« fragte er ungläubig.
»Das Jahr. Ja, das habe ich gemeint.« Ihm war vorher noch nie klar geworden, wieviel Bein eine Frau zeigte, wenn sie sich einen Strumpf anzog. Seltsam, daß ihn das noch so reizte, nachdem er sie nackt und verschwitzt gesehen hatte, und... Er konzentrierte sich darauf, ihr zuzuhören. »Egwene erzählte, sie habe ihre Mutter um Erlaubnis für dich bitten wollen, doch bevor sie es auch nur erwähnte, sagte ihre Mutter, daß sie ohnehin noch ein ganzes Jahr warten müsse, auch wenn sie ihr Haar in der Zwischenzeit bereits zum Zopf flechten dürfe.« Aviendha runzelte die Stirn. Das eine Knie ruhte fast unter ihrem Kinn. »Stimmt das denn? Sie sagte, einem Mädchen sei nicht erlaubt, ihr Haar zum Zopf zu flechten, bevor sie nicht im heiratsfähigen Alter ist. Verstehst du überhaupt, was ich sage? Du machst ein Gesicht wie dieser... Fisch... den Moiraine im Fluß gefangen hat.« In der Wüste gab es keine Fische. Die Aiel kannten sie nur aus Büchern.
»Natürlich habe ich zugehört«, versicherte er. Er hätte genausogut taub und blind dazu sein können, soviel hatte er verstanden. Er drehte sich unter den Decken ein wenig zur Seite und bemühte sich, so selbstsicher zu sprechen, wie es ihm möglich war: »Wenigstens... na ja, die Bräuche sind kompliziert, und ich bin nicht sicher, auf welchen genau du dich beziehst.«
Sie sah ihn einen Augenblick lang mißtrauisch an, aber da auch die Aielsitten äußerst kompliziert waren, glaubte sie ihm. An den Zwei Flüssen ging man ein Jahr lang weg, und wenn man dann mit Erfolg um ein Mädchen anhielt, verlobte man sich zuerst und heiratete schließlich. So verlangte es der Brauch. Sie fuhr beim Anziehen fort: »Ich meinte, wenn ein Mädchen während des Wartejahres ihre Mutter und die Seherin um Erlaubnis bittet. Ich verstehe das nicht.« Die weiße Bluse, die sie über den Kopf zog, dämpfte ihre Worte einen Moment lang. »Wenn sie ihn haben will und alt genug zum Heiraten ist, wozu braucht sie dann die Erlaubnis? Aber siehst du die Ähnlichkeit? Unseren Sitten nach«, und ihr Tonfall ließ keinen Zweifel darüber, daß sie nur diese als entscheidend betrachtete, »ist es an mir, zu entscheiden, ob ich dich um deine Hand bitte, und ich tue es nicht. Wenn man nach deinen Sitten geht«, sie schnallte den Gürtel um und schüttelte dabei den Kopf, als sei für sie bereits alles abgetan, »habe ich die Erlaubnis meiner Mutter nicht. Und ich schätze, du bräuchtest die Genehmigung deines Vaters. Oder deines Vaterbruders, da dein Vater nicht mehr lebt? Wir hatten jedenfalls keinerlei Genehmigung, und deshalb können wir nicht heiraten.« Sie begann damit, den Schal zu falten, damit sie ihn sich um die Stirn binden konnte.
»Aha«, sagte er mit flauem Gefühl im Magen. Ein Junge an den Zwei Flüssen, der seinen Vater um die Erlaubnis zu so etwas bat, riskierte ein paar Ohrfeigen. Wenn er so an die Burschen dachte, die ganz schön ins Schwitzen gekommen waren, weil sie befürchteten, jemand — irgend jemand — könne herausfinden, was sie mit dem Mädchen trieben, das sie heiraten wollten... Er erinnerte sich noch gut daran, als Nynaeve Kimry Lewin und Bar Dowtry im Heustadel von Bars Vater erwischt hatte. Kimry hatte schon fünf Jahre lang den Zopf getragen, aber als Nynaeve schließlich mit ihr fertig war, hatte Frau Lewin sie sich noch einmal vorgeknöpft. Die Versammlung der Frauen hatte Bar beinahe bei lebendigem Leib das Fell abgezogen, doch das war nichts gegen die Behandlung, die Kimry erleben mußte, während sie den einen Monat abwarteten, den man als kürzeste Anstandsfrist vor der Hochzeit betrachtete. Insgeheim wurde noch lange, wenn auch so leise, daß die Versammlung der Frauen nichts davon hörte, darüber gescherzt, daß sich weder Bar noch Kimry während der ersten Woche ihrer Ehe hinsetzen konnten. Rand glaubte, Kimry habe nicht um Erlaubnis gebeten, mit Bar ins Bett gehen zu dürfen. »Aber ich denke, Egwene kennt wohl auch nicht alle Bräuche bei den Männern«, fuhr er fort. »Frauen wissen auch nicht alles. Siehst du, da ich angefangen habe, müssen wir heiraten! Da spielen Genehmigungen keine Rolle mehr.«
»Du hast angefangen?« Ihr Schnauben war betont und bedeutungsvoll. Ob Aiel oder Andoraner oder sonst etwas, Frauen benützten solche Geräusche wie Stöcke, um damit zu stochern oder zu schlagen. »Es spielt sowieso keine Rolle, weil wir uns an die Aielsitten halten. Das wird nicht noch einmal passieren, Rand al'Thor.« Er war überrascht und erfreut, in ihrer Stimme Bedauern mitschwingen zu hören. »Du gehörst zur Nächstschwester meiner Nächstschwester. Ich habe Elayne gegenüber Toh, aber das muß dich nicht kümmern. Ich habe gehört, daß Männer hinterher faul sind, doch es kann nicht mehr lang dauern, bis die Clans bereit sind, früh am Morgen loszumarschieren. Du mußt rechtzeitig dort sein.« Plötzlich überzog Panik ihr Gesicht, und sie sackte auf die Knie nieder. »Wenn wir überhaupt zurückkehren können. Ich weiß nicht mehr genau, was ich gemacht habe, um dieses Loch zu erzeugen, Rand al'Thor. Du mußt uns den Weg zurück suchen.«
Er berichtete ihr, wie er ihr Tor blockiert hatte und es immer noch dort draußen spüren konnte. Sie blickte erleichtert drein und lächelte ihn sogar an. Aber es wurde immer klarer, als sie sich mit übergeschlagenen Beinen hinsetzte und den Rock zurechtzog, daß sie sich nicht umdrehen würde, während er sich anzog.
»Na ja, gleiches Recht für alle«, murmelte er schließlich nach einer Weile und krabbelte unter den Decken hervor.
Er bemühte sich, genauso selbstverständlich zu tun wie sie, aber es fiel ihm nicht leicht. Er fühlte ihren Blick wie eine Berührung, auch als er sich von ihr abwandte. Sie hatte kein Recht, ihm zu sagen, er habe einen hübschen Hintern; er hatte ja schließlich auch nicht gesagt, wie hübsch ihrer war. Sie sagte so etwas ja ohnehin nur, damit er rot wurde. Frauen sahen Männer doch nicht auf diese Weise an. Und sie fragen auch nicht ihre Mutter um Erlaubnis, wenn sie...? Er hatte eine Vorahnung, daß sein Leben mit Aviendha keinen Deut leichter geworden war.