44 Der geringere Kummer

Rands Hemd klebte an seinem Oberkörper, so schwitzte er vor Anstrengung, aber er behielt die Jacke an, um sich gegen den Wind zu schützen, der in heftigen Böen gegen Cairhien blies. Die Sonne würde mindestens noch eine Stunde brauchen, um den mittäglichen Zenit zu erreichen, doch er fühlte sich bereits jetzt, als sei er den ganzen Morgen über gerannt und zum Schluß mit einem Knüppel geprügelt worden. Ins Nichts gehüllt, war er sich seiner Erschöpfung nur ganz entfernt bewußt. Er nahm verschwommen den Muskelkater in Armen, Schultern und Rücken und das Pochen unter der noch immer nicht ganz verheilten Wunde an seiner Seite wahr. Daß er die Schmerzen überhaupt spürte, zeigte, wie stark sie wirklich waren. Von der Macht erfüllt konnte er auf dreihundert Schritt Entfernung an einem Baum noch jedes einzelne Blatt erkennen, doch alles, was ihn physisch beeinflußte, sollte eigentlich so sein, als geschehe es jemand anderem.

Er war schon lange dazu übergegangen, Saidin durch den Angreal in seiner Tasche aufzunehmen —die kleine Steinskulptur des fetten Mannes. Doch selbst damit begann ihm die Arbeit mit der Macht Mühe zu bereiten, da er über viele Meilen hinweg weben mußte. Nur die widerwärtigen Strähnen der Verderbnis, die alles durchsetzten, hielten ihn davon ab, mehr Macht an sich zu ziehen, zu versuchen, alles an Energie auf einmal in sich aufzunehmen. So süß war die Macht, Verderbnis hin oder her. Und so müde war er nach Stunden der pausenlosen Arbeit. Gleichzeitig mußte er notgedrungen immer stärker gegen Saidin ankämpfen, mußte immer mehr Kraft gebrauchen, um nicht auf der Stelle zu einem Aschehaufen verbrannt zu werden, um nicht sein Gehirn ausbrennen zu lassen. Es wurde immer schwieriger, der Vernichtung durch Saidin zu entgehen, der Verlockung zu widerstehen, zu viel Energie in sich aufzunehmen, das zu beherrschen, was er tatsächlich aufnahm. Es ging stetig abwärts mit ihm, und es würde noch Stunden dauern, bevor die Schlacht entschieden war.

Er wischte sich den Schweiß aus den Augen und packte das grobe Geländer der Plattform etwas fester. Wenn er schon dem Aufgeben nahe war, wie ging es dann Egwene und Aviendha, die beide nicht so stark waren wie er? Die Aielfrau stand da, spähte nach Cairhien und zu den Sturmwolken hinüber und bückte sich gelegentlich, um durch das lange Fernrohr zu blicken. Egwene saß im Schneidersitz an eine senkrechte Strebe gelehnt, an der man nicht einmal die graue Rinde abgeschält hatte, und hatte die Augen geschlossen. Sie sahen beide genauso abgearbeitet aus, wie er sich selbst fühlte.

Bevor er irgend etwas für sie tun konnte — er hätte auch nicht gewußt, was, denn er verstand nichts vom Heilen —, öffnete Egwene jedoch die Augen und stand auf. Sie wechselte ein paar Worte mit Aviendha, die aber bei diesem Sturmgetöse sogar seinen von Saidin geschärften Sinnen entgingen. Dann setzte sich Aviendha an Egwenes Platz und ließ ihren Kopf zurück an die Strebe sinken. Aus den schwarzen Wolken über dem gesamten Umkreis der Stadt zuckten nach wie vor Blitze herab, aber jetzt waren es viel häufiger nur wild gezackte Lichtstreifen anstatt der zielgerichteten grellen Lanzen.

Also wechselten sie sich ab, damit sich jede dazwischen ausruhen konnte. Es wäre schön gewesen, jemanden zu haben, mit dem auch er sich hätte abwechseln können, aber er bereute es andererseits nicht, Asmodean befohlen zu haben, im Zelt zu bleiben. Er hätte ihm nicht genug vertraut, um ihn mit der Macht arbeiten zu lassen. Besonders jetzt nicht. Wer wußte schon, was er anstellte, sähe er Rand nun in so geschwächtem Zustand?

Rand taumelte ein wenig. Dann zog er das Fernrohr herum, um die Hügel außerhalb der Stadt zu beobachten. Dort war jetzt wieder Leben sichtbar geworden. Und Tod. Wohin er auch blickte, überall wurde gekämpft, Aiel gegen Aiel, tausend hier, fünftausend dort, so überrannten sie die baumlosen Hügel, viel zu eng ineinander verkeilt, als daß er hätte eingreifen können. Die Kolonne der Reiter und Pikeure konnte er nirgends entdecken.

Dreimal hatte er sie kurz erblickt, und einmal hatten sie gegen die etwa doppelte Anzahl von Aiel gekämpft. Er war sicher, daß sie sich noch immer dort draußen befanden. Er hatte kaum Hoffnung, daß Melanril sich entschieden hätte, zu diesem späten Zeitpunkt doch noch seine Befehle zu befolgen. Den Mann zum Befehlshaber auszuwählen, nur weil er den Anstand besessen hatte, sich ob Weiramons Benehmen verlegen zu zeigen, war ein Fehler gewesen, aber er hatte zu wenig Zeit zum Überlegen gehabt und mußte Weiramon unbedingt loswerden. Jetzt konnte er nichts mehr daran ändern. Vielleicht könnte man einem der Männer aus Cairhien den Befehl übergeben. Falls die Tairener auf seinen direkten Befehl hin ausnahmsweise einmal jemandem aus Cairhien gehorchten.

Eine wogende Menschenmenge direkt vor der hohen, grauen Stadtmauer fiel ihm auf. Die großen, eisenbeschlagenen Torflügel standen offen. Aiel kämpften davor gegen Reiter und Lanzenträger, während andere Leute sich bemühten, das Tor wieder zu schließen. Sie strengten sich mächtig an, doch der Druck der vielen Körper ließ sie scheitern. Reiterlose Pferde und unbewegliche, gerüstete Gestalten auf dem Boden eine halbe Meile vom Tor entfernt zeigten, wo der Ausfall abgefangen worden war. Es regnete Pfeile von der Mauer und dazu kopfgroße Trümmerstücke. Gelegentlich schoß sogar der eine oder andere Speer herunter, und zwar mit solcher Wucht, daß er zwei oder drei Mann auf einmal aufspießen konnte, aber noch immer war er nicht in der Lage, zu erkennen, woher diese Speere kamen. Doch die Aiel stiegen über ihre Gefallenen hinweg und kamen dem Tor immer näher. Sie würden sich bestimmt bald den Weg hinein erkämpfen. Ein schneller Rundblick zeigte ihm zwei weitere Kolonnen von Aiel, die sich in Richtung des Tores bewegten, alles in allem vielleicht dreitausend Mann. Er zweifelte nicht daran, daß es sich um weitere Verstärkungen Couladins handelte.

Ihm wurde bewußt, daß er mit den Zähnen knirschte. Falls die Shaido nach Cairhien hinein durchbrachen, würde er sie niemals nach Norden vertreiben können. Er müßte sie dann in mühsamen, einzelnen Straßenkämpfen ausheben, und das würde noch viel mehr Leben kosten als bisher schon. Die Stadt selbst würde hinterher wie Eianrod in Schutt und Asche liegen, vielleicht sogar wie Taien. Die Soldaten aus Cairhien und die Aiel hatten sich vermischt wie die Ameisen in einer Schüssel Honig, doch er mußte etwas unternehmen.

Er holte tief Luft und verwob Stränge der Macht. Die beiden Frauen hatten die äußeren Bedingungen hergestellt, indem sie die Sturmwolken heraufbeschworen hatten, und er mußte ihr Gewebe gar nicht sehen, um es jetzt selbst benützen zu können. Hart umrissene, silberblaue Blitze zuckten herab in die Aieltruppen hinein, einmal, zweimal, so schnell ein Mann nur in die Hände klatschen konnte.

Rand riß den Kopf hoch und versuchte, die brennenden Linien, die immer noch in seiner Sicht tanzten, unter Tränen wegzuzwinkern. Als er wieder durch das lange Rohr blickte, lagen die Shaido wie abgemähte Getreidehalme auf der Fläche, die von seinen Blitzen getroffen worden war. Näher am Tor lagen auch andere Männer und Pferde in ihren letzten Zuckungen am Boden, und manche rührten sich schon nicht mehr, doch die Unverletzten schleppten die Verwundeten hinein, und das Tor begann sich gerade hinter den letzten von ihnen zu schließen.

Wie viele von ihnen werden nie mehr zurückkommen? Wie viele meiner eigenen Leute habe ich da getötet? Die kalte Logik sagte ihm, daß es gar keine Rolle spiele. Es hatte sein müssen und es war erledigt.

Und das war auch gut so. Entfernt nahm er war, wie seine Knie zitterten. Er würde Ruheperioden einlegen müssen, wenn er das den ganzen Tag über durchhalten wollte. Er konnte nicht mehr nach allen Richtungen gleichzeitig zuschlagen, sondern mußte sich auf bestimmte Ziele konzentrieren, wo seine Hilfe benötigt wurde, wo er am meisten ausr... Die Sturmwolken türmten sich nur über der Stadt und den Hügeln im Süden, und dennoch zuckte urplötzlich aus dem klaren, blauen Himmel über dem Turm ein Blitz hernieder, mitten zwischen die unten versammelten Töchter des Speers, wo er mit einem ohrenbetäubenden Knall einschlug.

Rand starrte betäubt hinunter, und das Haar stand ihm knisternd zu Berge. Er hatte diesen Blitz auch noch auf andere Weise wahrgenommen, hatte das Gewebe aus der Energie Saidins gefühlt, das ihn erzeugt hatte. Also war die Versuchung für Asmodean selbst dort hinten im Zelt zu groß, um ihr zu widerstehen.

Es blieb jedoch keine Zeit zum Überlegen. Wie schnelle, rhythmische Schläge auf eine riesenhafte Trommel folgte nun Blitz auf Blitz. Sie krachten in einer Reihe zwischen den Töchtern in den Boden, bis der letzte schließlich das Fundament des Turms traf und eine Explosion Splitter von der Größe von Armen und Beinen emporschleuderte.

Als sich der Turm langsam zur Seite neigte, warf sich Rand Egwene und Aviendha entgegen. Irgendwie brachte er es fertig, beide mit einem Arm zu umfassen und sich mit dem anderen an eine senkrechte Strebe zu klammern, die sich nun schräg über ihnen an der Seite der Plattform befand. Sie starrten ihn mit weit aufgerissenen Augen an, öffneten die Münder, aber es war genausowenig Zeit, etwas zu sagen, wie überhaupt nachzudenken. Das angeschlagene Balkengerüst des Turms kippte und krachte durch die Zweige der darunterstehenden Bäume. Einen Moment lang hoffte er, die Bäume würden den Sturz abfangen.

Mit einem berstenden Geräusch brach die Strebe, an die er sich geklammert hatte. Der Boden kippte ihm entgegen und schlug ihm wie ein Hammer gegen die Brust; raubte ihm den Atem. Einen Herzschlag später schlugen die beiden Frauen auf seinem Körper auf. Dunkelheit umfing ihn.

Er kam nur ganz langsam wieder zu sich. Zuerst konnte er hören.

»...haben uns wie ein Felsblock unter sich begraben und uns in der Dunkelheit den Hang abwärts gerollt.« Das war Aviendhas Stimme, leise, als spreche sie nur zu sich selbst. Auf seinem Gesicht bewegte sich irgend etwas. »Du hast uns alles genommen, was wir sind, was wir waren. Du mußt uns dafür etwas geben, was wir sein können. Wir brauchen dich.« Was sich da oben bewegte, wurde langsamer und berührte sein Gesicht noch sanfter. »Ich brauche dich. Nicht für mich selbst, das mußt du verstehen. Für Elayne. Was nun zwischen ihr und mir steht, geht nur sie und mich an, aber ich werde dich ihr übergeben. Ganz bestimmt. Wenn du stirbst, trage ich deinen Leichnam zu ihr. Wenn du stirbst...!«

Er schlug die Augen auf, und einen Augenblick lang sahen sie sich direkt in die Augen, beinahe Nase an Nase. Ihr Haar war wirr, der Schal fehlte, und ihre Wange wurde von einer rötlichen Schwellung entstellt. Sie richtete sich ruckartig auf, faltete ein feuchtes, blutgetränktes Tuch neu zusammen und begann, seine Stirn, nun um einiges energischer als zuvor abzutupfen.

»Ich habe nicht die Absicht, zu sterben«, sagte er zu ihr, obwohl er sich dessen in Wirklichkeit keineswegs so sicher war. Das Nichts und Saidin waren natürlich verschwunden. Schon der Gedanke daran, sie auf diese plötzliche Art entrissen zu bekommen, ließ ihn schaudern. Es war reines Glück gewesen, daß ihn Saidin in jenem letzten Moment nicht völlig ausgebrannt und mit leerem Verstand zurückgelassen hatte. Der bloße Gedanke daran, wieder nach der Quelle zu greifen, ließ ihn ächzen. Ohne das Nichts als Puffer spürte er jeden Schmerz, jede Schramme und Abschürfung in ihrem ganzen Ausmaß. Er war so müde, daß er augenblicklich eingeschlafen wäre, hätte ihm nicht alles so weh getan.

Und das war ja wohl auch gut so, denn er durfte jetzt nicht schlafen. Noch lange Zeit nicht.

Er steckte eine Hand unter seine Jacke und fühlte nach seiner Seite, worauf er sich vorsichtshalber erst das Blut am Hemd abwischte, bevor er die Hand wieder herauszog. Kein Wunder, daß ein Sturz wie dieser die halbverheilte, niemals heilende Wunde wieder hatte aufbrechen lassen. Er schien aber nicht zu schlimm zu bluten, doch falls die Töchter das bemerkten, oder Egwene oder auch Aviendha, mußte er sich wahrscheinlich erst mit ihnen herumstreiten, damit sie ihn nicht zu Moiraine schleppten, um von ihr geheilt zu werden. Dazu hatte er jedoch viel zu viel zu tun. Die Heilung mit Hilfe der Macht würde sich bei ihm auswirken wie ein Knüppel auf den Kopf. Außerdem hatte sie sicher viel schlimmere Verwundungen zu heilen.

Er schnitt eine Grimasse, unterdrückte ein weiteres Ächzen und erhob sich ohne allzuviel Hilfe von Aviendha. Und prompt vergaß er seine Verletzungen.

Sulin saß in der Nähe auf dem Boden, während Egwene eine blutende Schnittwunde auf ihrer Kopfhaut verband und dabei vor sich hinfluchte, weil sie nicht mit Hilfe der Macht heilen konnte. Doch die weißhaarige Tochter des Speers war keineswegs das einzige Opfer und bei weitem nicht das am schlimmsten betroffene. Überall waren in den Cadin'sor gekleidete Frauen dabei, ihre Toten mit Decken zu verhüllen und sich um diejenigen zu kümmern, die lediglich Brandwunden davongetragen hatten, falls man mit ›lediglich‹ die Verbrennungen durch einen einschlagenden Blitz bezeichnen konnte. Von Egwenes Fluchen abgesehen, lag Stille über dem Hügel. Sogar die verwundeten Frauen waren bis auf ihr heiseres Atmen still.

Der roh zusammengezimmerte Turm, jetzt nur noch ein nicht mehr erkennbarer Trümmerhaufen, hatte beim Umstürzen die Töchter nicht verschont, hatte Arme und Beine gebrochen und lange Rißwunden verursacht. Er beobachtete, wie man eine Decke über das Gesicht einer Tochter mit rotgoldenem Haar von beinahe dem gleichen Farbton wie dem Elaynes breitete. Ihr Kopf lag unnatürlich abgewinkelt, und die Augen starrten glasig nach oben. Jolien. Eine jener, die zuerst auf der Suche nach Ihm, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt, die Drachenmauer überquert hatten. Sie war in seinem Dienst mit zum Stein von Tear gekommen. Und nun war sie tot. Für ihn gestorben. Oh, wie gut hast du es fertiggebracht, die Töchter des Speers vor allem Unbill zu bewahren, dachte er bitter. Sehr gut hast du das gemacht.

Er spürte die Blitze immer noch, oder besser gesagt, die Nachwehen ihres Gewebes. Beinahe wie das Flimmern vor seinen Augen vorher konnte er das in der Intensität nachlassende Gewebe noch wahrnehmen. Zu seiner Überraschung kam es aus dem Westen und nicht von den Zelten. Also nicht Asmodean.

»Sammael.« Nun war er sicher. Sammael hatte diesen Angriff im Jangai vorgeschickt, Sammael steckte hinter den Piraten und den Überfällen in Tear, und Sammael hatte dies hier zu verantworten. Er bleckte seine Zähne, als wolle er knurren, und seine Stimme klang wie ein heiseres Flüstern: »Sammael!« Ihm war nicht bewußt, daß er einen Schritt vorgetreten war, bis ihn Aviendha am Arm packte.

Einen Moment später hielt Egwene den anderen fest, und die beiden hängte sich an ihn, als wollten sie, daß er auf dieser Stelle Wurzeln schlüge. »Sei kein vollständiger Wollkopf«, sagte Egwene. Auf seinen bösen Blick hin fuhr sie dann doch zusammen, ließ aber nicht los. Sie hatte sich den braunen Schal wieder um den Kopf gebunden, doch ihr Haar war noch immer wirr. Mit den Fingern hatte sie es nicht richtig durchkämmen können. Auch waren Bluse und Rock mit Staub bedeckt. »Wer das auch angerichtet hat, hat doch mit Absicht so lange gewartet, bis du müde sein mußtest! Denn wenn er seinen Zweck verfehlt hat, dich zu töten, und du verfolgst ihn, hat er trotzdem leichtes Spiel mit dir. Du kannst dich ja kaum auf den Beinen halten!«

Aviendha war genausowenig bereit loszulassen und erwiderte seinen wütenden Blick mit einem ebensolchen. »Du wirst hier gebraucht, Rand al'Thor. Hier, Car'a'carn. Liegt mehr Ehre für dich darin, diesen Mann zu töten, oder den Menschen hier zu helfen, die du in dieses Land gebracht hast?«

Ein junger Aielmann rannte durch die Kette der Töchter herauf, die Schufa um die Schultern gehängt, Speer und Schild entspannt schwingend. Falls er es eigenartig fand, daß Rand von zwei Frauen festgehalten wurde, zeigte er es nicht. Er musterte die zerschmetterten Reste des Turms und die Toten und Verwundeten mit leichter Neugier, als frage er sich, wie das passiert sei und wo wohl die toten Gegner liegen mochten. Er steckte seine Speerspitzen vor Rand in den Boden und sagte: »Ich bin Seirin, aus der Schorara-Septime der Tomanelle.«

»Ich sehe Euch, Seirin«, erwiderte Rand genauso formell. Nicht ganz einfach, wenn einen zwei Frauen festhalten, als wolle man davonlaufen.

»Han von den Tomanelle schickt diese Botschaft an den Car'a'carn: Die Clans im Osten bewegen sich aufeinander zu. Alle vier. Han hat vor, sich mit Dhearic zusammenzuschließen, und er hat einen Boten zu Erim geschickt mit der Bitte, sich ihnen ebenfalls anzuschließen.«

Rand atmete bewußt gleichmäßig ein und hoffte, die Frauen würden glauben, er verziehe das Gesicht wegen dieser Neuigkeit. Doch seine Seite brannte, und er spürte, wie das Blut langsam sein Hemd durchnäßte. Also hatte er keine Truppen zur Verfügung, um Couladin nach Norden zu zwingen, wenn die Shaido flohen. Falls sie flohen, denn bisher hatte er kein Anzeichen dafür entdecken können. Warum schlossen sich die Miagoma und die anderen zusammen? Falls sie vorhatten, sich gegen ihn zu stellen, hätten sie ihn doch damit lediglich vorgewarnt. Doch falls sie sich wirklich gegen ihn stellten, waren sie Han und Dhearic und Erim gegenüber in der Überzahl, und falls die Shaido lange genug standhielten und die vier Clans den Durchbruch erzwangen... Über die bewaldeten Hügel hinweg konnte er erkennen, daß es über der Stadt zu regnen begonnen hatte, nun, da Egwene und Aviendha die Wolken nicht mehr mit ihrem Gewebe festhielten. Das würde beide Seiten behindern. Sollten die Frauen nicht doch in einem besseren Zustand sein, als sie den Anschein erweckten, waren sie vielleicht bei dieser Entfernung nicht mehr in der Lage, die Kontrolle über das Wetter zurückzugewinnen.

»Sagt Han, er solle tun, was er muß, um sie uns aus denn Rücken zu halten.«

So jung er auch war — und wenn er ihn genauer betrachtete, war er ungefähr im gleichen Alter wie er selbst —, zog Seirin nun doch überrascht eine Augenbraue hoch. Natürlich. Han würde sowieso nichts anderes tun, und Seirin war das auch klar. Er wartete nur lange genug, um sicher zu sein, daß Rand dem nichts hinzufügen wolle, und dann eilte er genauso schnell hügelab, wie er gekommen war. Zweifellos wollte er schnell genug zurückkehren, damit er nicht mehr vorn Kampf versäumte als unbedingt notwendig. Was das betraf, mochte es durchaus dort draußen im Osten bereits begonnen haben.

»Ich brauche jemanden, der Jeade'en holt«, sagte Rand, sobald Seirin davongeeilt war. Sollte er versuchen, so weit zu laufen, würde er wirklich die Frauen benötigen, damit sie ihn auf den Beinen hielten. Die beiden sahen sich gar nicht ähnlich, aber sie schafften es, einen nahezu identischen Ausdruck von Mißtrauen zu zeigen. Diese Mienen mußten wohl zu den Dingen gehören, die einem Mädchen in frühester Jugend von der Mutter beigebracht wurden. »Ich will keineswegs Sammaels Spur folgen.« Noch nicht. »Ich muß jedoch näher an die Stadt herankommen.« Er nickte in Richtung des umgestürzten Turmes. Das war die einzige Geste, die er mit den beiden im Schlepptau noch vollbringen konnte. Meister Tovere war vielleicht in der Lage, die Linsen der Fernrohre zu bergen, aber es waren kaum drei Balken des Turms noch ganz. Er konnte also heute mit Sicherheit nichts mehr von dieser Position aus beobachten.

Egwene war offensichtlich unsicher, aber Aviendha zögerte kaum einen Moment lang, und dann befahl sie auch schon einer jungen Tochter des Speers, zu den Gai'schain zu gehen. Auch Egwenes eigene Stute sollte gebracht werden, womit er nicht gerechnet hatte.

Egwene begann, sich den Schmutz von der Kleidung zu klopfen und fluchte dabei leise, während Aviendha irgendwo einen Elfenbeinkamm und einen neuen Schal auftrieb. Trotz des Sturzes wirkten die beiden bereits viel ordentlicher und frischer als er. Natürlich stand auf ihren Gesichtern die Erschöpfung geschrieben, aber solange sie wenigstens die Macht in geringem Maße lenken konnten, waren sie nützlich.

Das ließ ihn stutzen. Dachte er jetzt schon bei jedem anderen nur noch daran, wie nützlich er oder sie sei? Er sollte dafür sorgen, daß sie sich in Sicherheit befanden, so wie oben auf dem Turm. Nicht, daß der Turm allzu sicher gewesen war, wie sich ja herausgestellt hatte, aber diesmal würde er seine Sache besser machen.

Sulin stand auf, als er sich näherte. Eine beige Bandage aus Algode bedeckte ihren Haarschopf. Nur ein weißer Pony schaute darunter hervor.

»Ich begebe mich näher zur Stadt hin«, sagte er zu ihr, »wo ich beobachten kann, was geschieht und vielleicht auch etwas dagegen unternehmen. Alle Verwundeten sollen hierbleiben und dazu genügend andere, um sie im Notfall zu beschützen. Stellt eine starke Wache her, Sulin; ich brauche lediglich eine Handvoll. Würden die Verwundeten auch noch dahingeschlachtet, wäre das eine schlechte Belohnung für die Ehre, die mir die Töchter erwiesen haben.« Das sollte den größeren Teil von ihnen aus dem Kampf heraushalten. Er selbst würde sich auch heraushalten müssen, um nicht noch mehr in die Kämpfe zu verwickeln, aber so wie er sich fühlte, hatte er damit keine Probleme. »Ich will, daß Ihr hier bleibt, und...«

»Ich gehöre nicht zu den Verwundeten«, sagte sie gekränkt, und er zögerte und nickte bedächtig.

»Also gut.« Er bezweifelte keineswegs, daß ihre Wunde schwerwiegend sei, doch genauso wenig Zweifel hegte er an ihrer Zähigkeit. Und falls sie blieb, konnte es sein, daß er jemanden wie Enaila als Befehlshaberin seiner Wache auf dem Hals hatte. Wie ein Bruder behandelt zu werden, ging ihm keinesfalls so auf die Nerven wie Enailas Art, in ihm so etwas wie einen Sohn zu sehen. Er hatte nicht die geringste Lust, sich das gefallen zu lassen. »Aber ich verlasse mich auf Euch. Ihr werdet dafür sorgen, daß wirklich keine Verwundeten mitkommen, Sulin. Ich muß immer in Bewegung sein. Ich kann mir keine Leute leisten, die mich aufhalten oder dann doch zurückgelassen werden müssen.«

Sie nickte so geschwind, daß er überzeugt war, sie werde jede Tochter zurücklassen, die auch nur einen Kratzer aufwies. Nur sie selbst würde natürlich mitkommen. Diesmal hatte er keinerlei Gewissensbisse, weil er jemanden benutzte. Die Töchter trugen ja den Speer freiwillig, aber sie hatten sich auch freiwillig entschlossen, ihm zu folgen. Vielleicht war ›folgen‹ nicht ganz der richtige Ausdruck, wenn er bedachte, wie sie ihn in mancher Hinsicht bevormundeten, aber für ihn änderte das nichts. Er würde und konnte keine Frau in den Tod schicken. Ende der Diskussion. Eigentlich hatte er erwartet, daß Sulin protestierte. Nun war er dankbar, daß ihm das erspart geblieben war. Ich bin wohl doch etwas raffinierter, als ich selbst glaubte.

Zwei weißgekleidete Gai'schain erschienen, die Jeade'en und Egwenes Pferd herbeiführten, und hinter ihnen folgten eine ganze Menge weiterer, die Arme voll von Binden und Tiegeln mit Tinkturen und über den Schultern ganze Schichten von Wasserschläuchen. Sie wurden von Sorilea und einem Dutzend der Weisen Frauen umhergescheucht, die er bereits kennengelernt hatte. Allerdings hatte er sich höchstens bei der Hälfte die Namen merken können.

Sorilea war eindeutig diejenige, die den Oberbefehl hatte, und sie dirigierte schnell die Gai'schain und die anderen Weisen Frauen, so daß sie zwischen den Töchtern umhergingen und die Wunden versorgten. Sie beäugte Rand, Egwene und Aviendha, runzelte nachdenklich die Stirn und spitzte die dünnen Lippen. Offensichtlich war sie der Meinung, alle drei wirkten so zerschlagen, daß man ihre Wunden besser auch versorgen sollte. Dieser Blick reichte, und Egwene kletterte sofort lächelnd in den Sattel der grauen Stute. Von oben herab nickte sie der Weisen Frau zu. Wären die Aiel mit dem Reiten vertraut gewesen, hätte Sorilea allerdings bemerkt, daß Egwenes ungeschickte Steifheit keineswegs gewöhnlich war. Und wie angeschlagen auch Aviendha war, merkte er daran, daß sie sich ohne den geringsten Widerspruch hinter Egwene auf das Pferd ziehen ließ. Auch sie lächelte Sorilea an.

Rand knirschte mit den Zähnen und zog sich mit einer geschmeidigen Bewegung in den eigenen Sattel. Der Protest seiner gequälten Muskeln wurde unter einer Lawine des Schmerzes von seiner alten Wunde her begraben, als hätte ihn gerade eben wieder ein Schwerthieb getroffen, doch obwohl er eine volle Minute benötigte, bevor er wieder durchatmen konnte, ließ er sich nichts weiter anmerken.

Egwene lenkte ihre Stute direkt neben Jeade'en und flüsterte ihm zu: »Wenn du ein Pferd nicht geschickter besteigen kannst als eben, Rand al'Thor, dann solltest du vielleicht eine Zeitlang überhaupt nicht mehr reiten.« Aviendha machte wieder einmal eine für die Aiel so typische nichtssagende Miene, doch ihr Blick ruhte besorgt auf seinem Gesicht.

»Ich habe dir auch beim Aufsteigen zugeschaut«, sagte er leise. »Vielleicht solltest du hierbleiben und Sorilea helfen, bis du dich wieder besser fühlst.« Das ließ sie schweigen. Sie verzog den Mund säuerlich. Aviendha lächelte Sorilea noch einmal an, denn die alte Weise Frau beobachtete sie immer noch.

Rand stieß seinem Apfelschimmel die Stiefel in die Seiten und ließ ihn hügelabwärts traben. Jeder Schritt rief eine Schmerzwelle von seiner Seite hervor, so daß er zwischen zusammengebissenen Zähnen atmen mußte, doch er hatte einen Weg zurückzulegen und konnte das nicht im Schritt tun. Außerdem ging ihm Sorileas Blick auf die Nerven.

Egwene war neben ihm, bevor er nur fünfzig Schritt weiter den von Gestrüpp überwucherten Hang hinunter war, und nach weiteren fünfzig Schritt waren auch Sulin und ein ganzer Strom von Töchtern des Speers an ihrer Seite. Ein paar liefen sogar als Vorhut voran. Mehr, als er gehofft hatte, doch das sollte keine Rolle spielen. Was er zu tun hatte, würde sie nicht zu nahe an die eigentlichen Kämpfe heranführen. Sie konnten bei ihm bleiben, ohne in Gefahr zu geraten.

Saidin zu ergreifen stellte eine Anforderung für sich dar und kostete Kraft, obwohl ihm der Angreal ja dabei half, und das bloße Gewicht der Macht schien ihn mehr als je zuvor niederzudrücken. Die Verderbnis war stärker und süßlicher als sonst. Wenigstens schirmte ihn das Nichts von seinen Schmerzen ab. Jedenfalls einigermaßen. Und falls Sammael erneut versuchte, sein Spielchen mit ihm zu treiben...

Er trieb Jeade'en schneller voran. Was Sammael auch vorhatte, er mußte doch zuerst seine eigenen Aufgaben erledigen.

Regen tropfte von der Hutkrempe Mats, und in Abständen mußte er sein Fernrohr senken und das Glas am Ende abwischen. Der Platzregen hatte während der letzten Stunde etwas nachgelassen, aber die wenigen Äste über seinem Kopf schützten ihn überhaupt nicht. Sein Mantel war schon lange durchnäßt, und Pips ließ die Ohren hängen. Das Pferd stand da, als habe es nicht vor, sich zu rühren, so oft Mat ihm auch die Fersen zu spüren gab. Er wußte nicht einmal sicher, welche Tageszeit es war. Irgendwann mitten am Nachmittag, glaubte er, aber die dunklen Wolken waren trotz des Dauerregens nicht dünner geworden, und außerdem verbargen sie die Sonne gerade hier, wo er sich befand. Andererseits hatte er das Gefühl, es sei schon drei oder vier Tage her, daß er heruntergeritten war, um die Tairener zu warnen. Ihm war immer noch nicht klar, warum er sich darauf eingelassen hatte.

Nach Süden zu hielt er Ausschau, aber vor allem suchte er nach einem Ausweg. Einem Ausweg für dreitausend Männer. Mindestens so viele hatten bis jetzt überlebt, und dabei hatten sie keine Ahnung, worauf er eigentlich hinauswollte. Sie glaubten, er suche nach einer weiteren Möglichkeit, mit ihnen in die Kämpfe einzugreifen, aber die drei bisherigen waren für ihn schon drei zuviel gewesen. Er glaubte, mittlerweile hätte er durchaus entkommen können, hätte er nur die Augen aufgehalten und seinen Verstand benützt. Dreitausend Männer allerdings zogen die Aufmerksamkeit auf sich, wann immer sie sich im geringsten rührten, und sie kamen nicht gerade schnell voran, da mehr als die Hälfte marschieren mußte. Deshalb befand er sich auf diesem vom Licht verlassenen Hügel, und die Tairener und die Männer aus Cairhien drängten sich in der langen, schmalen Senke zwischen diesem Hügel und dem nächsten. Wenn er nun einfach davonritt...

Er klemmte sich das Fernrohr wieder vor das Auge und blickte wütend nach Süden auf die spärlich bewaldeten Hügel. Hier und da sah er Dickichte, einige davon recht ausgedehnt, doch der größte Teil der Landschaft war selbst hier nur von Sträuchern oder Gras bewachsen. Er hatte sich nach Osten vorgearbeitet und dabei jede Senke, jede Bodenwelle ausgenützt, in der sich auch nur eine Maus verbergen konnte, um die Kolonne aus dem baumlosen Terrain heraus in eine Gegend zu bringen, in der es genügend Deckung gab. Weg von diesen verdammten Blitzeinschlägen und Feuerkugeln. Er konnte nicht entscheiden, was schlimmer war: die Blitze oder die Momente, wenn die Erde plötzlich ohne ersichtlichen Grund donnernd explodierte. All diese Mühe, nur um herauszufinden, daß auch die Schlacht sich mit ihnen verschoben hatte. Er schien nicht aus dem Zentrum dieser Kämpfe entkommen zu können.

Wo bleibt denn mein verfluchtes Glück jetzt, wo ich es wirklich brauche? Es war doch völlig hirnrissig, hierzubleiben. Nur, weil er es fertiggebracht hatte, die anderen so lange am Leben zu halten, bedeutete das noch nicht, daß es so weiterging. Früher oder später würden die Würfel die Augen des Dunklen Königs zeigen. Sie sind doch verdammt noch mal die Soldaten hier. Ich sollte ihnen das überlassen und verschwinden.

Und doch suchte er weiter das Terrain ab, die bewaldeten Gipfel und Kämme. Sie boten Couladins Aiel genauso Deckung wie ihm, doch hier und da konnte er sie ausmachen. Nicht alle waren gerade in die verschiedenen Einzelkampfe verwickelt, doch jede einzelne Truppe war stärker als die seine, und jede befand sich zwischen ihm und dem sicheren Süden. Außerdem hatte er keine Möglichkeit, zu unterscheiden, um wen es sich gerade handelte, bis es vielleicht zu spät war. Die Aiel selbst schienen sich gegenseitig auf den ersten Blick zu erkennen, aber das half ihm keineswegs.

Eine Meile oder weiter entfernt liefen ein paar hundert in den Cadin'sor gekleidete Gestalten zu acht nebeneinander nach Osten. Sie überquerten gerade eine Erhebung, deren halbes Dutzend Lederblattbäume kaum den Ausdruck Hain verdienten. Bevor die führende Reihe auch nur den jenseitigen Abhang erreicht hatte, krachte ein Blitzschlag in ihre Mitte und schleuderte Männer und Erdbrocken hoch wie ein Stein das Wasser, wenn man ihn in einen Teich warf. Pips zitterte nicht einmal, als der Knall Mat erreichte. Der Wallach hatte sich an noch nähere Einschläge gewöhnt.

Einige der gestürzten Männer rappelten sich hoch, hinkten weiter und schlossen sich sofort wieder jenen an, die auf den Beinen geblieben waren und nur hastig nach den Gefallenen sahen. Nicht mehr als ein Dutzend wurden verwundet auf die Schultern der anderen geladen, und dann hetzten sie von der Anhöhe hinunter, zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Niemand blieb stehen, um den Krater genauer zu betrachten. Mat hatte beobachtet, wie sie ihre Lektion gelernt hatten. Wenn sie warteten, luden sie damit eine zweite silberne Lanze aus den Wolken ein. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis sie außer Sicht waren. Außer den Toten natürlich.

Er richtete das Fernrohr nach Osten. Ein paar Meilen in dieser Richtung lag das Glänzen des Sonnenscheins über der Landschaft.

Der Balkenturm hätte dort sichtbar sein sollen, wie er über die Baumwipfel hinausragte, aber er hatte ihn seit einer Weile nicht mehr entdecken können. Vielleicht suchte er an den falschen Stellen. Es war unwichtig. Der Blitz mußte Rands Werk gewesen sein, wie der ganze Rest ebenfalls. Wenn ich in dieser Richtung weit genug käme...

Dann wäre er genau wieder an dem Punkt, von dem er aufgebrochen war. Auch wenn es nicht der Sog des Ta'veren war, der ihn dorthin zurückbrachte, wäre es doch sehr schwer für ihn, noch einmal wegzukommen, wenn Moiraine davon erfuhr. Und mit Melindhra hätte er dann auch zu tun bekommen. Er hatte noch nie von einer Frau gehört, die es nicht übelnahm, wenn ein Mann versuchte, ihr davonzulaufen, ohne es sie wissen zu lassen.

Während er das Fernrohr langsam weiterschwenkte und den Turm suchte, ging mit einemmal ein spärlich mit Lederblattbäumen und Birken bestandener Abhang in Flammen auf. Im Nu verwandelte sich jeder einzelne Baum in eine Fackel.

Langsam senkte er das messingbeschlagene Rohr. Es war kaum notwendig, das Feuer zu beobachten, und der dichte graue Qualm erhob sich bereits wie eine dicke Säule zum Himmel. Er brauchte keine besonderen Anzeichen, um zu erkennen, daß die Macht benützt worden war, nicht, wenn es sowieso deutlich war wie hier. War Rand schließlich doch über die Grenze zum Wahnsinn gekippt? Oder hatte Aviendha endlich die Nase voll gehabt daß man sie zwang, in seiner Nähe zu bleiben? Man sollte niemals eine Frau erzürnen, die mit der Macht umgehen konnte. Mat brachte es wohl nur selten fertig, dieser Regel Folge zu leisten, aber er bemühte sich.

Heb dir dein großes Mundwerk für jemand anderes auf als dich selber, dachte er sauer. Er versuchte nur, sich gedanklich um die dritte Möglichkeit herumzudrücken. Falls Rand schließlich doch nicht übergeschnappt war und auch weder Aviendha noch Egwene, noch eine der Weisen Frauen beschlossen hatte, ihn loszuwerden, dann hatte sich heute jemand anders in ihre Geschäfte eingemischt. Er konnte zwei und zwei zusammenzählen, ohne fünf herauszubekommen. Sammael. Nun, das war's ja wohl. Der Ausweg war keiner gewesen. Blut und Asche! Was ist denn mit meinem...?

Hinter ihm knackte ein am Boden liegender Ast unter einem Fuß, und er reagierte, ohne nachzudenken.

Durch Schenkeldruck riß er Pips auf der Hinterhand herum, während die Schwertklinge des Speers vom Sattelkopf herumfuhr.

Estean ließ beinahe seinen Helm fallen. Er riß die Augen auf, als die kurze Klinge um Haaresbreite vor seinem Kopf innehielt. Der Regen ließ sein nasses Haar an der Stirn kleben. Nalesean, der auch zu Fuß gekommen war, grinste halb überrascht, halb amüsiert, weil der junge Tairener so erschrocken war. Stämmig und mit einem kantigen Gesicht, war Nalesean der zweite nach Melanril, der die Kavallerie der Tairener anführte.

Auch Talmanes und Daerid waren dabei, wie gewöhnlich einen Schritt dahinter, und ebenfalls wie gewöhnlich blickten sie ausdruckslos unter ihren glockenförmigen Helmen hervor. Die vier hatten ihre Pferde weiter hinten zwischen den Bäumen zurückgelassen.

»Aiel kommen geradewegs auf uns zu, Mat«, sagte Nalesean, als Mat den mit einem Raben gekennzeichneten Speer hochnahm. »Das Licht soll meine Seele versengen, wenn da auch nur einer weniger als fünftausend kommt.« Er grinste über die eigenen Worte. »Ich glaube, die ahnen nicht, daß wir hier auf sie warten.«

Estean nickte einmal. »Sie halten sich an die Täler und Senken. Versteckt vor...« Er blickte zu den Wolken empor und schauderte. Er war nicht der einzige, dem nicht wohl war bei dem Gedanken daran, was aus dem Himmel kommen mochte. Auch die drei anderen blickten nach oben. »Auf jeden Fall ist klar, daß sie dort durchkommen werden, wo sich Daerids Männer befinden.«

Es lag tatsächlich eine Andeutung von Respekt in seinem Tonfall, als er die Pikeure erwähnte. Zähneknirschend, klar, und nicht sehr ausgeprägt, aber es war nicht leicht, noch auf jemanden herabzusehen, der einem mehrmals den Hals gerettet hatte. »Sie werden auf uns treffen, bevor sie unser gewahr werden.«

»Wunderbar«, hauchte Mat. »Das ist einfach verdammt wunderbar.«

Er meinte das natürlich sarkastisch, doch Nalesean und Estean merkten nichts davon. Sie wirkten begierig. Nur Daerids vernarbtes Gesicht zeigte ebensoviel Ausdruck wie ein Stein. Talmanes zog eine Augenbraue ein klein wenig in Mats Richtung hoch und schüttelte kaum merklich den Kopf. Diese beiden verstanden etwas vom Kämpfen.

Das erste Zusammentreffen mit den Shaido hatte beide im besten Fall gleich stark erlebt, und Mat wäre dieses Risiko nicht eingegangen, wäre er nicht dazu gezwungen gewesen. Daß all diese Blitze dann die Aiel erschreckt hatten und sie in wilder Flucht davonstürzten, hatte daran nichts geändert. Noch zweimal waren sie heute in Kämpfe verwickelt worden. Beide Male hatte Mat vor der Wahl gestanden, entweder zuerst loszuschlagen oder selbst angegriffen zu werden, und der Ausgang war beide Male nicht so positiv gewesen, wie die Tairener glaubten. Beim erstenmal war es unentschieden ausgegangen, aber nur, weil er es fertiggebracht hatte, sich von den Shaido zu lösen, als sie sich zurückgezogen hatten, um sich neu zu formieren. Wenigstens waren sie nicht wiedergekommen, während er die Seinen durch die engen Talwindungen führte. Er vermutete, sie seien anderweitig gebunden worden, oder vielleicht waren weitere Blitze oder Feuerkugeln oder das Licht wußte, was sonst, gekommen. Er wußte nur zu gut, was ihnen beim letztenmal gestattet hatte, mit einigermaßen heiler Haut zu entkommen. Eine weitere Aieltruppe war von hinten her in diejenige hineingelaufen, mit der sie gerade kämpften, genau im rechten Moment, damit die Pikeure nicht überrannt wurden. Die Shaido hatte sich zum Rückzug in Richtung Norden entschlossen, und die anderen, von denen er immer noch nicht wußte, wer sie waren, hatten einen Schwenk nach Westen vollführt, so daß er als einziger auf dem Feld verblieben war. Nalesean und Estean hatten es als klaren Sieg gewertet. Daerid und Talmanes hatten es besser gewußt.

»Wie lange noch?« fragte Mat.

Es war Talmanes, der ihm die Antwort gab: »Eine halbe Stunde. Vielleicht ein wenig länger, falls wir Glück haben.« Die Tairener blickten zweifelnd drein; ihnen schien immer noch nicht klar zu sein, wie schnell die Aiel vorwärtskamen.

Mat machte sich da keine Illusionen. Er hatte das Terrain in ihrer Umgebung bereits sorgfältig beobachtet, doch nun sah er sich noch einmal um und seufzte.

Von diesem Hügel aus hatte er einen sehr guten Überblick, und die einzige Baumgruppe innerhalb einer halben Meile im Umkreis, die diese Bezeichnung verdiente, war genau die, inmitten welcher er nun im Sattel saß. Ansonsten war nur Gestrüpp zu sehen, kaum mehr als hüfthoch, und dazwischen vereinzelte Lederblattbäume, Birken und gelegentlich sogar eine Eiche. Diese Aiel würden auf jeden Fall Kundschafter hier heraufschicken, um sich umzusehen, und es gab nicht die geringste Möglichkeit, wenigstens die Reiter ihrer Truppe außer Sicht zu bringen, bevor das geschah. Die Pikeure standen völlig ungedeckt da. Er wußte, was zu tun war — wieder einmal zuerst zuschlagen, bevor es der Gegner konnte —, aber gefallen mußte es ihm ja deshalb keineswegs.

Es reichte nur zu einem Rundblick, und bevor er anschließend den Mund aufbekam, sagte Daerid: »Meine Kundschafter haben berichtet, daß sich Couladin selbst bei dieser Truppe befindet Zumindest hat ihr Anführer die Arme entblößt, und sie weisen Male auf, die denen gleichen, die der Lord Drache angeblich trägt.«

Mat knurrte. Couladin, und auf dem Weg nach Osten. Falls es keine Möglichkeit gab, ihm aus dem Weg zu gehen, würde der Kerl geradewegs über Rand stolpern. Vielleicht wollte er das auch. Mat wurde bewußt, daß er vor Wut kochte, und das hatte nichts damit zu tun, daß Couladin Rand töten wollte. Der Häuptling der Shaido, oder was der Mann auch sein mochte, erinnerte sich möglicherweise vage an Mat als jemanden, der aus Rands Umgebung kam, aber Couladin war der Grund dafür, daß er hier draußen mitten in einer Schlacht festsaß, sich bemühen mußte, zu überleben, und sich ständig fragte, wann das Ganze zu einer persönlichen Auseinandersetzung zwischen Rand und Sammael ausarten werde — die Art vom Zweikampf, bei dem jeder im Umkreis von zwei oder drei Meilen sterben mußte. Falls ich vorher nicht schon einen Speer durch die Brust abbekomme. Und er hatte nicht mehr Auswahlmöglichkeiten als eine Gans, die man mit dem Kopf nach unten neben der Tür aufhängt. Nichts davon wäre so gekommen, wenn Couladin nicht wäre.

Wie schade, daß niemand den Mann schon vor Jahren getötet hatte. Er lieferte einem doch wirklich genügend Gründe. Die Aiel zeigten nur selten offene Wutausbrüche, und wenn, dann eher kalt und eben doch beherrscht. Couladin andererseits explodierte förmlich zwei- oder dreimal am Tag vor Wut und verlor innerhalb eines Augenblicks vollkommen die Beherrschung. Ein Wunder, daß er noch am Leben war. Er hatte wohl das Glück des Dunklen Königs gepachtet.

»Nalesean«, sagte Mat zornig, »umgeht mit Euren Tairenern diese Burschen in weitem Bogen nördlich und greift sie dann von hinten an. Wir werden ihre ganze Aufmerksamkeit auf uns lenken, also reitet schnell und brecht über sie herein wie eine zusammenstürzende Scheune.« Er hat also das Glück des Dunklen Königs, ja? Blut und Asche, ich hoffe, mein Glück wird auch wieder halten. »Talmanes, Ihr macht dasselbe von Süden her. Bewegt Euch, Ihr beiden! Wir haben wenig Zeit, und die dürfen wir nicht verschwenden!«

Die beiden Tairener verbeugten sich hastig und eilten zu ihren Pferden, wobei sie die Helme schnell überstülpten. Talmanes Verbeugung entsprach eher den Höflichkeitsregeln. »Das Licht sei Eurem Schwert gnädig, Mat. Oder besser gesagt, Eurem Speer.« Dann war auch er weg.

Daerid blickte zu Mat auf, als die drei hügelabwärts verschwanden, und er wischte sich mit einem Finger das Regenwasser von den Augenbrauen. »Also bleibt Ihr diesmal bei den Pikeuren. Ihr dürft Euch aber nicht von Eurem Zorn auf Couladin übermannen lassen. Eine Schlacht ist nicht der richtige Ort, um ein Duell auszufechten.«

Mat hielt sich mit Mühe davon ab, Augen und Mund aufzureißen. Ein Duell? Er? Mit Couladin? Glaubte Daerid, deshalb wolle er bei der Infanterie bleiben? Er hatte das doch nur beschlossen, weil er hinter ihren Piken sicherer war. Das war der wahre Grund. Der ganze Grund. »Macht Euch keine Sorgen. Ich kann mich beherrschen.« Und er hatte Daerid für den vernünftigsten in diesem ganzen Haufen gehalten!

Der Mann aus Cairhien nickte bloß. »Das dachte ich mir. Ihr habt auch früher schon gesehen, wie man mit den Piken kämpft, und bestimmt auch ein paar Angriffe miterlebt. Talmanes wird wohl erst dann ein Lob aussprechen, wenn zwei Monde am Himmel stehen, aber ich habe gehört, wie er sagte, er werde Euch folgen, wo immer Ihr ihn auch hinführt. Eines Tages würde ich schon gern einmal Eure Lebensgeschichte hören, Andoraner. Aber Ihr seid jung — das soll nicht respektlos sein, aber es stimmt eben —, und junge Männer haben ein hitziges Temperament.«

»Dieser Regen wird es abkühlen, wenn sonst nichts helfen sollte.« Blut und Asche! Waren sie denn alle übergeschnappt? Talmanes sollte ihn gepriesen haben? Er fragte sich, was sie wohl sagen würden, fänden sie heraus, daß er lediglich ein Spieler war, der Bruchstücken von Erinnerungen Folge leistete, die von Männern stammten, die schon tausend oder mehr Jahre tot waren. Dann würden sie wahrscheinlich Lose ziehen, wer als erster die Chance haben sollte, ihn wie ein Schwein auf den Spieß zu stecken. Besonders die Lords; keiner mochte es, zum Narren gehalten zu werden, aber die Adligen noch weniger als alle anderen, vielleicht, weil sie das selbst so oft fertigbrachten. Wie auch immer, er wollte jedenfalls meilenweit entfernt sein, wenn sie diese Entdeckung machten. Verdammter Couladin! Ich würde ihm zu gern mit diesem Speer das Maul stopfen! Er gab Pips die Fersen zu spüren und ritt zum gegenüberliegenden Hang hinüber, unter dem die Infanterie wartete.

Auch Daerid kletterte in den Sattel und hielt sich neben ihm. Er nickte, als Mat ihm seinen Schlachtplan erklärte. Die Bogenschützen an die Abhänge, wo sie die Flanken decken konnten. Aber sie sollten sich hinlegen und bis zur letzten Minute im Gestrüpp verbergen. Ein Mann oben auf dem Hügel, um den anderen das Signal zu geben, sobald die Aiel in Sicht kamen, und dann sollten die Pikeure sofort losmarschieren, und zwar geradewegs auf den sich nähernden Feind zu. »In dem Moment, da wir die Shaido sehen können, ziehen wir uns so schnell wie möglich zurück, beinahe bis zu dem Einschnitt zwischen diesen beiden Hügeln, und dann drehen wir um und stellen uns ihnen.«

»Sie werden glauben, wir wollten erst fliehen, hätten dann begriffen, daß es nicht mehr geht, und würden uns nun wie ein Bär gegen die Meute wenden. Sie sehen, daß wir weniger als die Hälfte so stark sind wie sie und nur gezwungenermaßen kämpfen, also werden sie glauben, sie könnten uns einfach überrennen. Wenn wir sie nur so lange beschäftigen können, bis die Kavallerie von hinten über sie hereinbricht...« Der Mann aus Cairhien grinste tatsächlich einmal. »Das heißt, die Taktik der Aiel gegen sie selbst wenden.«

»Es wird verdammt notwendig sein, sie so lange zu beschäftigen.« Mats Tonfall war genauso trocken wie er selbst durchnäßt »Um sicherzugehen, daß wir lange genug widerstehen, und um sicherzugehen, daß sie uns nicht umgehen und von den Flanken her angreifen, will ich, daß Eure Soldaten etwas schreien, sobald wir aufhören, uns zurückzuziehen; ›Schützt den Lord Drachen!‹« Diesmal lachte Daerid schallend los.

Das sollte die Shaido nun wirklich zum ungehemmten Angriff verfuhren, besonders, wenn Couladin selbst sie führte. Falls Couladin sie anführte, falls Couladin glaubte, Rand befinde sich wirklich bei den Pikeuren, falls die Truppe aushielt, bis die Kavallerie angriff... Ziemlich viele Unsicherheitsfaktoren. Mat hörte, wie in seinem Kopf die Würfel rollten. Das war der höchste Einsatz, den er bisher in seinem Leben gewagt hatte. Er fragte sich, wie lange es noch bis zum Anbruch der Nacht sei. Im Schutz der Dunkelheit könnte ein Mann einfach davonreiten und entkommen. Er verwünschte diese Würfel, die er nicht aus dem Kopf bekam und die einfach nicht fallen wollten, damit er wenigstens sähe, was sie zeigten. So schnitt er dem Regen eine finstere Grimasse und lenkte Pips den Hügel hinab.

Jeade'en blieb auf einer Anhöhe stehen, wo ein Dutzend Bäume wie ein aufgesetzter, spärlicher Schöpf wirkten, und Rand krümmte sich ein wenig zusammen, weil er solche Schmerzen in der Seite hatte. Der Halbmond stand hoch am Himmel und warf einen bleichen Lichtschein über die Landschaft, doch selbst bei seiner durch Saidin verbesserten Sicht war alles, was weiter als hundert Schritt entfernt lag, nur formloser Schatten. Die Nacht verschluckte die umliegenden Hügel vollständig, und sogar Sulin, die sich in seiner Nähe aufhielt, und die übrigen Töchter um ihn herum waren nur schemenhaft wahrzunehmen. Andererseits schien er die Augen überhaupt nicht mehr richtig aufzubekommen. Er schien Sand darin zu haben und glaubte, daß ihn im Grunde nur der nagende Schmerz an der Seite überhaupt wachhielt. Er dachte nicht zu oft daran. Jeder Gedanke lag nun nicht mehr nur in weiter Ferne, er war auch unendlich langsam.

Hatte Sammael heute zweimal versucht, ihm den Lebensfaden abzuschneiden, oder gar dreimal? Oder noch öfter? Eigentlich sollte man sich doch daran erinnern, wie oft jemand versucht hatte, einen umzubringen. Nein, vielleicht nicht umzubringen. Zu ködern. Bist du denn immer noch so eifersüchtig auf mich, Tel Janin? Wann hätte ich dich jemals erniedrigt oder dir nur einen Fingerbreit weniger gereicht, als dir zustand? Schaudernd fuhr sich Rand mit den Fingern durchs Haar. Es war etwas Eigenartiges an diesem Gedankengang gewesen, doch er konnte nicht sagen, was. Sammael... Nein. Er würde mit ihm fertig werden, sobald ... falls... Unwichtig. Später. Heute bedeutete Sammael nur eine Ablenkung von dem, was wirklich wichtig war. Vielleicht war er mittlerweile auch weg.

Ganz vage schien es ihm, es sei kein neuer Angriff erfolgt seit... Seit wann? Er erinnerte sich daran, Sammaels letzten Schachzug mit etwas besonders Gemeinem beantwortet zu haben, konnte sich aber keine Einzelheiten mehr ins Bewußtsein rufen. Jedenfalls kein Baalsfeuer. Darf ich nicht benützen. Bedroht das Gewebe des Musters. Nicht einmal für Ilyena? Ich würde die Welt versengen und meine Seele als Feuerholz verwenden, wenn ich sie noch einmal lachen hörte.

Zerstreut. Seine Gedanken schweiften wieder von allem Wichtigen ab.

Vor wie langer Zeit die Sonne auch gesunken sein mochte, so hatte sie doch noch immer auf eine Schlacht herabgesehen. Die letzten rotgoldenen Strahlen hatten ihr Licht auf mordende und sterbende Menschen geworfen, bevor sie den immer länger werdenden Schatten wichen. Selbst jetzt trieben mit gelegentlichen Windstößen ferne Rufe und Schreie zu ihm herüber. Alles Couladins wegen, das war schon richtig, aber im tiefsten Grunde war er natürlich selbst schuld.

Einen Augenblick lang konnte er sich nicht einmal mehr an seinen eigenen Namen erinnern.

»Rand al'Thor«, sprach er laut vor sich hin und schauderte, obwohl sein Mantel schweißnaß war. Einen Moment lang war ihm dieser Name fremd vorgekommen. »Ich bin Rand al'Thor, und ich muß ... ich muß sehen.«

Er hatte seit dem Morgen nichts mehr gegessen, aber die Verderbnis Saidins unterdrückte jedes Hungergefühl. Das Nichts bebte unaufhörlich, und er hing nur noch mit Zähnen und Klauen an der Wahren Quelle. Es war, als reite er auf einem verrückt gewordenen Stier, oder als schwimme er nackt in einem Strom aus Feuer, der über Stromschnellen toste, deren Klippen aus Eis bestanden. Und doch: Wenn er nicht gerade fast verschlungen oder hin- und hergerissen oder ertränkt wurde, schien es ihm, als läge in Saidin die einzige Kraftreserve, die ihm noch verblieben war. Saidin war immer noch da, feilte an seinen Kanten, versuchte, seinen Verstand auszuradieren oder zu zersetzen, und dennoch ließ es sich aber jederzeit benützen.

Nach einem ruckartigen Nicken lenkte er einen Strom der Macht, und etwas brannte hoch droben am Himmel. Irgend etwas. Eine Kugel aus waberndem blauen Feuer, die mit ihrem grellen Lichtschein die Schatten vertrieb.

Überall um ihn herum sprangen Hügel in seinen Blick. Die Bäume ragten in dieser harten Beleuchtung fast schwarz auf. Nichts rührte sich. Ein Windstoß fegte ein schwaches Geräusch mit zu ihm herüber. Vielleicht Jubel oder Gesang. Oder aber er bildete sich das nur ein, denn es war wirklich so schwach und erstarb mit dem Wind.

Plötzlich wurde er sich der Töchter des Speers bewußt, die ihn umstanden. Hunderte. Einige, so wie Sulin, blickten ihn an, aber viele hatten die Augen zugekniffen. Er brauchte einen Moment, um sich darüber klarzuwerden, daß sie sich die Nachtsicht nicht durch das grelle Licht verderben lassen wollten. Er runzelte die Stirn und suchte. Egwene und Aviendha befanden sich nicht mehr hier. Ein weiterer langer Augenblick verging, bis er daran dachte, das Gewebe aufzulösen und die Nacht wieder allein herrschen zu lassen. Seinen Augen erschien die Schwärze nun unglaublich tief.

»Wo sind sie?« Er ärgerte sich ein wenig darüber, wenn er aussprechen mußte, wen er meinte, doch genauso vage war er sich bewußt, daß es gar keinen Grund dafür gab.

»Sie begaben sich bei Einbruch der Dämmerung zu Moiraine Sedai und den Weisen Frauen, Car'a'carn«, erwiderte Sulin und trat näher an Jeade'en heran. Ihr kurzgeschnittenes weißes Haar schimmerte im Mondschein. Nein, mußte er sein Urteil revidieren, sie trug eine Bandage um den Kopf. Wie konnte er das nur vergessen? »Vor gut zwei Stunden also. Sie wissen, daß Fleisch eben doch kein Stein ist. Selbst die stärksten Beine müssen einmal ruhen.«

Rand runzelte die Stirn. Beine? Sie waren doch auf Egwenes Stute geritten. Die Frau redete Unsinn. »Ich muß sie finden.«

»Sie befinden sich bei Moiraine und den Weisen Frauen, Car'a'carn«, sagte sie betont langsam. Er glaubte zu sehen, daß sie mißbilligend dreinblicke, aber im Dunkel der Nacht war er nicht sicher.

»Nicht sie«, murmelte er. »Muß mein Volk finden. Sie sind immer noch dort draußen, Sulin.« Warum rührte sich der Hengst überhaupt nicht? »Könnt Ihr sie hören? Draußen in der Nacht. Sie kämpfen noch immer. Ich muß ihnen helfen.« Ach, natürlich, er mußte dem Apfelschimmel die Fersen in die Rippen drücken. Doch als er das tat, bewegte sich Jeade'en nur ein wenig zur Seite, und Sulin hielt seinen Zügel. Er erinnerte sich gar nicht daran, daß sie den Zügel gehalten hatte.

»Die Weisen Frauen müssen jetzt mit Euch sprechen, Rand al'Thor.« Ihr Tonfall hatte sich verändert, aber er war zu erschöpft, um feststellen zu können, in welcher Weise.

»Kann das nicht warten?« Er mußte den Läufer mit dieser Nachricht verpaßt haben. »Ich muß sie finden, Sulin.«

Enaila tauchte ganz plötzlich auf der anderen Seite des Pferdekopfes aus der Dunkelheit auf. »Ihr habt Euer Volk gefunden, Rand al'Thor.«

»Die Weisen Frauen warten auf Euch«, fügte Sulin hinzu. Sie und Enaila zogen Jeade'en herum, ohne seine Zustimmung abzuwarten. Aus irgendeinem Grund drängten sich die Töchter um ihn herum, als sie den langen, gewundenen Pfad den Abhang hinunter schritten. Der Mondschein beleuchtete ihre Gesichter, wenn sie zu ihm aufblickten. Sie waren so nahe, daß ihre Schultern manchmal die Flanken des Pferdes streiften.

»Was sie auch von mir wollen«, brummelte er, »sie sollten sich jedenfalls beeilen.« Es war überflüssig, daß sie den Apfelschimmel führten, aber es wäre zu anstrengend, jetzt darum viel Aufhebens zu machen. Er drehte sich um, wollte einen Blick zurückwerfen, doch dabei mußte er vor Schmerz ächzen, und der Gipfel des Hügels war bereits von der Nacht verschluckt worden. »Ich muß noch eine Menge tun. Ich muß ... suchen ... nach...« Couladin. Sammael. Die Männer, die für ihn kämpften und starben. »Muß sie finden.« Er war so müde, aber schlafen durfte er noch nicht.

Laternen, die von Stangen baumelten, beleuchteten das Lager der Weisen Frauen. In ihren Schein mischte sich das Flackern kleiner Feuer, über denen Wasserkessel hingen, die von weißgekleideten Männern und Frauen weggeholt und durch neue ersetzt wurden, sobald das Wasser zu kochen begann. Überall eilten Gai'schain umher, und auch Weise Frauen, um die Verletzungen der vielen Verwundeten zu versorgen, die das Lager überfüllten. Moiraine bewegte sich langsam von einem zum anderen in der langen Reihe jener, die nicht stehen konnten, doch sie hielt nur selten inne, um ihre Hände an die Wangen eines Aiel zu legen, der anschließend wild zuckte, als der Heilprozeß mit Hilfe der Macht zu wirken begann. Jedesmal, wenn sie sich aufrichtete, schwankte sie. Lan stand dicht hinter ihr, als wolle er sie aufrecht halten, oder als erwarte er jeden Moment, sie auffangen zu müssen. Sulin wechselte ein paar Worte mit Adelin und Enaila — zu leise, als daß Rand sie verstehen konnte —, und die jüngeren Frauen rannten los und sprachen mit der Aes Sedai.

Trotz der großen Anzahl der Verwundeten kümmerten sich nicht alle Weisen Frauen um sie. In einer Hütte an der einen Seite des Lagers saßen vielleicht zwanzig von ihnen im Kreis und lauschten einer, die im Mittelpunkt stand. Als sie sich hinsetzte, nahm eine andere ihren Platz ein. Gai'schain knieten außen um die Hütte herum auf dem Boden, doch keine der Weisen Frauen schien sich jetzt für den Wein oder irgend etwas anderes zu interessieren, so gespannt lauschten sie. Rand glaubte, in der augenblicklichen Sprecherin Amys zu erkennen.

Zu seiner Überraschung half auch Asmodean bei der Versorgung der Verwundeten. Der Wasserschlauch, den er sich über jede Schulter gehängt hatte, paßte allerdings gar nicht zu seiner dunklen Samtjacke mit Spitzenbesätzen. Als er sich von einem Mann aufrichtete, dessen nackter Oberkörper stark bandagiert war, entdeckte er Rand und zögerte. Einen Augenblick später reichte er die Wasserschläuche einem Gai'schain und wand sich zwischen den Töchtern hindurch zu Rand. Die Töchter ignorierten Asmodean, denn sie schienen entweder Adelin und Enaila zu beobachten, wie sie mit Moiraine sprachen, oder Rand anzustarren, und so machte er eine beleidigte Miene, als er vor dem letzten Ring der Far Dareis Mai um Jeade'en angelangt war. Sie traten nur sehr zögernd beiseite, und die Lücke zwischen ihnen ließ ihn schließlich nur bis an Rands Steigbügel heran.

»Ich war sicher, daß Ihr unversehrt wärt. Ganz sicher.«

Seinem Tonfall nach log er. Als Rand nicht antwortete, zuckte Asmodean nervös die Achseln. »Moiraine bestand darauf, daß ich Wasser schleppe. Eine Frau mit einem zwingenden Wesen, die nicht einmal dem Barden des Lord Drachen gestattet...« Er ließ die Worte verklingen und leckte sich hastig die Lippen. »Was ist geschehen?«

»Sammael«, sagte Rand, aber es war nicht als Antwort gedacht. Er sprach einfach die Gedanken aus, die gerade durch das Nichts in ihm trieben. »Ich erinnere mich daran, als man ihn zum erstenmal als den Zerstörer aller Hoffnung bezeichnete. Als er die Tore von Hevan verräterisch geöffnet hatte und den Schatten hinunter ins Rorn M'doi und ins Herz von Satelle trug. An diesem Tag schien wirklich alle Hoffnung zu sterben. Culan Cuhan weinte. Was ist los?« Asmodeans Gesicht hatte sich so weiß wie Sulins Haar verfärbt, doch er schüttelte nur stumm den Kopf. Rand spähte zu der Hütte hinüber. Er kannte diejenige nicht, die nun das Wort ergriffen hatte. »Warten sie dort auf mich? Dann sollte ich hinübergehen.«

»Sie werden Euch jetzt noch nicht willkommen heißen«, sagte Lan. Er war so plötzlich neben Asmodean erschienen, daß der zusammenfuhr. »So wenig wie jeden anderen Mann.« Auch Rand hatte den Behüter weder gehört noch herankommen sehen, doch er wandte ihm lediglich das Gesicht zu. Selbst das kostete ihn Anstrengung. Der Kopf schien jemand anderem zu gehören. »Sie verhandeln mit den Weisen Frauen der Miagoma, der Codarra, der Schiande und der Daryne.«

»Die Clans schließen sich mir an«, sagte Rand mit tonloser Stimme. Aber ihr Warten hatte dazu geführt, daß an diesem Tag allzu viel Blut geflossen war. In den Legenden geschah so etwas niemals.

»Wie es scheint. Doch die vier Häuptlinge werden sich nicht mit Euch treffen, bevor nicht die Weisen Frauen ihre Abmachungen getroffen haben«, fügte Lan trocken hinzu. »Kommt. Moiraine kann Euch mehr darüber sagen als ich.«

Rand schüttelte den Kopf. »Was geschehen ist, ist geschehen. Ich kann mir die Einzelheiten später anhören. Wenn Han sie uns nun nicht mehr aus dem Rücken halten muß, brauche ich ihn. Sulin, schickt einen Läufer. Han...«

»Das ist schon geschehen, Rand«, sagte der Behüter eindringlich. »Alles ist beendet. Südlich der Stadt sind nur noch wenige Shaido übrig. Tausende wurden gefangengenommen, und die meisten anderen sind dabei, den Gaelin zu überqueren. Man hätte Euch davon schon vor einer Stunde berichtet, nur wußte niemand, wo Ihr euch aufhieltet. Ihr seid ständig in Bewegung gewesen. Kommt und laßt euch von Moiraine alles berichten.«

»Alles beendet? Wir haben gewonnen?«

»Ihr habt gewonnen. Vollständig.«

Rand spähte zu den Männern hinüber, die verbunden wurden, zu den geduldig wartenden Schlangen, die erst verbunden werden mußten, und zu denen, die frisch versorgt wieder gingen. Und zu den Reihen von Männern, die dort lagen und sich kaum rührten. Moiraine schritt noch immer diese Reihen ab und blieb hier und da erschöpft stehen, um jemandem Heilung zu bringen. Natürlich befanden sich nur wenige der Verwundeten überhaupt hier. Sie waren bestimmt den ganzen Tag über gekommen, wenn sie eine Gelegenheit dazu fanden, und waren wieder gegangen, sofern sie konnten. Falls sie überhaupt konnten. Keiner der Gefallenen würde hier liegen. Nur eine verlorene Schlacht ist noch trauriger als eine gewonnene. Er schien sich schwach daran zu erinnern, diese Worte schon einmal gesagt zu haben, vor langer, langer Zeit. Vielleicht hatte er es auch nur gelesen.

Nein. Es lebten viel zu viele, für die er verantwortlich war, um sich jetzt der Toten wegen Gedanken zu machen. Aber wie viele Gesichter werde ich erkennen, so wie das Joliens? Ich werde Ilyena niemals vergessen, und wenn die ganze Welt brennt!

Er runzelte die Stirn und griff mit einer Hand nach seinem Kopf. Diese Gedanken waren aus verschiedenen Quellen unabhängig voneinander gekommen. Er war so müde, daß er kaum noch denken konnte. Doch er mußte. Er brauchte Gedanken, die nicht fast außerhalb seiner Reichweite an ihm vorbeiglitten. Er ließ die Quelle und das Nichts los und verkrampfte sich, als Saidin ihn beinahe in diesem Augenblick des Rückzugs überwältigte. Er hatte kaum Zeit, seinen Fehler zu begreifen. Ohne die Hilfe der Macht brachen Erschöpfung und Schmerz gnadenlos über ihn herein.

Er nahm wahr, wie sich die Gesichter ihm zuwandten, als er aus dem Sattel fiel, wie sich die Münder bewegten, wie ihn Hände ergriffen und seinen Fall aufhielten.

»Moiraine!« schrie Lan. Seine Stimme klang ganz hohl in Rands Ohren. »Er blutet stark!«

Sulin hielt seinen Kopf in ihren Armen. »Haltet durch, Rand al'Thor«, sagte sie eindringlich. »Haltet durch!«

Asmodean sagte nichts, doch seine Miene war düster, und Rand spürte, wie von dem Mann her ein dünnes Rinnsal von Saidin durch seinen Körper strömte. Dann kam die Dunkelheit über ihn.

Загрузка...