50 Lehren und lernen

Etwa vier Stunden später rührte der Schweiß, der Nynaeve über das Gesicht rann, keineswegs mehr von der zu dieser Jahreszeit außergewöhnlichen Hitze her, und sie fragte sich, ob es nicht doch besser gewesen wäre, wenn Neres sie hereingelegt oder sich geweigert hätte, sie weiter als bis Boannda zu befördern. Der Sonnenschein dieses Spätnachmittags fiel schräg durch Fenster herein, die zumeist Sprünge aufwiesen. Nervös, verärgert und unruhig hielt sie die Hände in ihren Rock verkrampft und bemühte sich, jeden Blick hinüber zu den sechs Aes Sedai an einem der stabilen Tische in der Nähe der Wand zu vermeiden. Ihre Münder bewegten sich lautlos, als sie hinter einer Abschirmung aus Saidar miteinander diskutierten. Elayne hielt das Kinn hoch, hatte die Hände gelassen gefaltet, doch die würdevolle Erscheinung wurde durch die offensichtliche Anspannung um Augen und Mundpartie herum gemindert. Nynaeve war nicht sicher, ob sie überhaupt wissen wollte, was diese Aes Sedai besprachen; ein Tiefschlag nach dem anderen hatte ihre hochgeschraubten Erwartungen zerstört. Sie war wie betäubt. Noch ein weiterer Schock, und sie würde vermutlich losschreien, ob nun aus Wut oder purer Hysterie.

Beinahe alles außer ihrer Kleidung war auf dem Tisch ausgelegt, von Birgittes silbernem Pfeil, der vor der stämmigen Morvrin lag, über die drei Ter'Angreal vor Sheriam bis zu den vergoldeten Kästchen, die gleich unter Myrelles dunklen Augen ruhten. Keine einzige dieser Frauen wirkte erfreut. Carlinyas Gesicht schien wie aus Eis gehauen, selbst die mütterliche Anaiya hatte eine ernste Maske aufgesetzt, und in Beonins immer erstaunt wirkendem Blick aus den weit geöffneten Augen lag entschieden ein Hauch von Arger. Ärger und noch etwas mehr. Manchmal streckte Beonin die Hand nach dem weißen Tuch aus, das sie über das Cuendillar-Siegel gebreitet hatten, doch sie hielt jedesmal inne und zog die Hand wieder zurück.

Nynaeve riß sich von dem Tuch los. Sie wußte genau, an welchem Punkt alles angefangen hatte, schiefzugehen. Die Behüter, die sie im Wald umstellt hatten, waren höflich, wenn auch kühl gewesen, jedenfalls, nachdem sie Uno und die Schienarer dazu gebracht hatte, ihre Schwerter wegzustecken. Und Mins herzliche Begrüßung unter Lachen und Umarmungen hatte ihnen das Herz erwärmt. Doch die Aes Sedai und andere auf den Straßen waren so in ihre eigenen Aufgaben versunken gewesen, daß sie der von den Behütern hereinbegleiteten Gruppe keine Aufmerksamkeit schenkten. Salidar war ziemlich überfüllt und an beinahe jedem freien Fleck übten Bewaffnete sich im Kampf. Die erste Person außer den Behütern und Min, die ihnen überhaupt etwas Aufmerksamkeit gewidmet hatte, war die hagere Braune Schwester gewesen, zu der man sie führte, hier in dem einstigen Schankraum eines Gasthauses. Sie und Elayne hatten die von ihnen vereinbarte Geschichte also Phaedrine Sedai erzählt, oder zumindest versucht, sie ihr zu erzählen. Nach fünf Minuten ließ die Braune sie einfach stehen, nachdem sie ihnen noch befohlen hatte, sich nicht zu rühren und auf keinen Fall ein Wort zu sprechen, auch nicht zueinander. Zehn weitere Minuten lang blickten sie einander verwirrt an, während um sie herum zwischen den Tischen, an denen Aes Sedai über Papieren brüteten und kurz angebunden Aufträge ausgaben, reger Betrieb von Aufgenommenen und weißgekleideten Novizinnen, Behütern, Dienern und Soldaten herrschte, und dann hatte man sie so überstürzt vor Sheriam und die anderen gezerrt, daß es Nynaeve vorkam, als hätten ihre Füße kaum mehr als zweimal den Boden berührt. Und danach hatte das Verhör begonnen. So ging man wohl eher mit Sträflingen um als mit heimkehrenden Heldinnen. Nynaeve tupfte ihr Gesicht ab, doch sobald sie das Taschentuch in ihren Ärmel zurückgesteckt hatte, verkrampften sich ihre Hände wieder in den Rock.

Sie und Elayne waren nicht die einzigen, die auf dem bunten Seidenteppich standen. Siuan, in einem einfachen blauen Wollkleid, hätte sich ihrer Haltung nach freiwillig hier befinden können, hätte Nynaeve es nicht besser gewußt. So kühl und absolut beherrscht stand sie da. Sie schien gedankenverloren und sorglos in die Welt zu blicken. Leane dagegen beobachtete wenigstens die Aes Sedai, erschien aber genauso selbstbewußt. Sie wirkte sogar um einiges selbstbewußter, als Nynaeve sie in Erinnerung hatte. Und auch biegsamer, eleganter sah diese Frau mit der kupferfarbenen Haut aus, auf irgendeine Art lebendiger. Vielleicht lag es an ihrem schamlosen Kleid. Dieses blaßgrüne Seidenkleid war genauso hochgeschlossen wie das blaue Siuans, aber nicht nur, daß es sich jeder Kurve ihres Körpers anschmiegte, nein, der Stoff konnte nur noch mit äußerstem Wohlwollen überhaupt als ›durchscheinend‹ bezeichnet werden. Doch es waren ihre Gesichter, die Nynaeve am meisten verblüfften. Sie hatte ja überhaupt nicht erwartet, eine von ihnen lebendig vorzufinden, und ganz gewiß noch weniger, daß sie so jung aussehen würden — nicht mehr als höchstens ein paar Jahre älter als sie selbst. Sie warfen sich gegenseitig noch nicht einmal einen Blick zu. Tatsächlich glaubte sie sogar, eine gewisse Kälte zwischen den beiden wahrzunehmen.

Und es gab noch etwas, das sich an ihnen verändert hatte, obwohl Nynaeve das eben erst wahrzunehmen begann. Wenn auch alle, Min eingeschlossen, dieses Thema so gut wie möglich umgangen hatten, machte doch auch niemand ein echtes Geheimnis daraus, daß die beiden der Dämpfung unterzogen worden waren. Nynaeve spürte etwas von dieser Leere. Vielleicht lag es daran, daß sie sich in einem Raum befand, in dem alle anderen Frauen fähig waren, die Macht zu lenken, oder es lag an ihrem Wissen um die vollzogene Dämpfung, doch zum erstenmal war sie sich wirklich im Innersten dieser Fähigkeiten bei Elayne und den anderen bewußt. Und der Abwesenheit dieser Fähigkeiten bei Siuan und Leane. Man hatte ihnen etwas abgenommen, abgeschnitten. Es war wie eine Wunde. Vielleicht die schlimmste Wunde, die eine Frau empfangen konnte.

Die Neugier überkam sie. Welche Art von Wunde mochte das sein? Was genau hatte man ihnen abgeschnitten? Sie könnte die Warterei etwas verkürzen und gleichzeitig den Ärger ein wenig abbauen, der ihre Nervosität zu überlagern begann... So griff sie nach Saidar.

»Hat Euch irgend jemand die Erlaubnis erteilt, hier die Macht zu gebrauchen, Aufgenommene?« fragte Sheriam, und Nynaeve fuhr zusammen und ließ schleunigst die Wahre Quelle wieder los.

Die Aes Sedai mit den grünen Augen führte die anderen zurück zu ihrem buntgemischten Sortiment an Stühlen, die so ausgerichtet auf dem Teppich standen, daß sich die vier stehenden Frauen im Mittelpunkt eines Halbkreises befanden. Ein paar nahmen Gegenstände vom Tisch mit. Sie setzten sich hin und blickten Nynaeve an. Ihre kurz aufgeflammten Gefühle waren wieder der typischen Gelassenheit der Aes Sedai gewichen. Von keinem dieser alterslosen Gesichter war auch nur eine Spur der herrschenden Hitze abzulesen; kein einziger Schweißtropfen, nicht einmal Feuchtigkeit war darauf zu sehen. Schließlich sagte Anaiya mit sanft tadelndem Unterton; »Ihr wart sehr lange schon von uns entfernt, Kind. Was Ihr in der Zwischenzeit auch gelernt habt — Ihr habt wohl auch einiges dabei vergessen.«

Errötend knickste Nynaeve. »Vergebt mir, Aes Sedai. Ich wollte meinen Rang nicht überschreiten.« Sie hoffte, sie würden glauben, es sei die Scham, die ihre Wangen glühen ließ. Sie war ja tatsächlich auch lange Zeit weg gewesen. Vor nur einem Tag hatte sie die Befehle erteilt, und die Leute sprangen, wenn sie es ihnen sagte. Jetzt war sie es, von der man das erwartete. Das tat weh.

»Ihr habt uns eine interessante ... Geschichte erzählt.« Carlinya glaubte offensichtlich nur sehr wenig davon. Die Weiße Schwester drehte Birgittes silbernen Pfeil in den Händen. »Und Ihr habt einige eigenartige Besitztümer an Euch gebracht.«

»Die Panarchin Amathera hat uns viele Geschenke mitgegeben, Aes Sedai«, sagte Elayne. »Sie hat anscheinend geglaubt, wir hätten ihr den Thron gerettet.« Obwohl sie mit völlig ruhiger Stimme sprach, bewegte sie sich auf äußerst dünnem Eis. Nynaeve war nicht die einzige, die sich über ihre — mehr oder weniger — Gefangenschaft ärgerte. Carlinyas glatte Gesichtszüge spannten sich.

»Ihr bringt beunruhigende Nachrichten«, sagte Sheriam. »Und einige beunruhigende ... Gegenstände.« Ihre leicht schräg stehenden Augen blickten zum Tisch hinüber, zu dem silbrigen A'dam, und dann wanderte ihr Blick zu Elayne und Nynaeve zurück. Seit sie erfahren hatten, was das war und wozu es benützt wurde, behandelten die Aes Sedai das Ding wie eine lebende Giftschlange. Jedenfalls die meisten.

»Falls das Ding vollbringt, was diese Kinder davon behaupten«, sagte Morvrin geistesabwesend, »müssen wir es untersuchen. Und wenn Elavne wirklich der Meinung ist, sie könne einen Ter'Angreal herstellen... « Die Braune Schwester schüttelte den Kopf. Der größte Teil ihrer Aufmerksamkeit galt dem flachen Steinring mit Flecken und Streifen in Rot und Blau und Braun, den sie in einer Hand hielt. Die anderen beiden Ter'Angreal lagen auf ihrem breiten Schoß. »Ihr sagt Verin Sedai habe Euch das gegeben? Wieso wurde uns das nicht früher gesagt?« Die Frage galt nicht Nynaeve oder Elayne, sondern Siuan.

Siuan runzelte die Stirn, wirkte aber keineswegs so bissig, wie Nynaeve sie in Erinnerung hatte. Es lag sogar eine Andeutung von Unterwürfigkeit in ihrer Haltung, als sei ihr bewußt, daß sie mit Höhergestellten sprach, und das ging auch aus ihrem Tonfall hervor. Das war nun eine weitere Veränderung, die Nynaeve kaum glauben mochte. »Verin hat mir das nie gesagt. Ich würde ihr sehr gern ein paar Fragen stellen.«

»Und ich habe ein paar Fragen diesbezüglich.« Myrelles olivfarbenes Gesicht lief dunkel an, als sie ein wohlbekanntes Dokument entfaltete — warum hatten sie das nur aufgehoben? — und laut vorlas: »Was die Trägerin tut, geschieht auf meinen Befehl und kraft meiner Autorität. Gehorcht und schweigt auf meinen Befehl. Siuan Sanche, Behüterin der Siegel, Flamme von Tar Valon, der Amyrlin-Sitz.« Sie zerknüllte das Dokument mitsamt dem Siegel in einer Hand. »Wohl kaum etwas, das man Aufgenommenen in die Hand drückt.«

»Zu jener Zeit wußte ich nicht, wem ich überhaupt vertrauen könne«, sagte Siuan verbindlich. Die sechs Aes Sedai blickten sie an. »Es lag damals durchaus in meiner Machtbefugnis.« Die sechs Aes Sedai zuckten mit keiner Wimper. Ihre Stimme klang niedergeschlagen und verständnisheischend: »Ihr könnt mich nicht für das zur Verantwortung ziehen, was ich zu einer Zeit tun mußte, als ich das Recht dazu hatte. Wenn das Boot sinkt, verstopft man das Leck mit allem, was man zur Hand hat.«

»Und warum habt Ihr uns nichts davon gesagt?« fragte Sheriam ruhig, doch mit einer Andeutung von Stahl in der Stimme. Als Herrin über die Novizinnen hatte sie auch niemals die Stimme erhoben, aber manchmal wünschte man sich, sie würde schreien. »Drei Aufgenommene — Aufgenommene! — aus der Burg schicken, um dreizehn voll ausgebildete Schwarze Schwestern zu suchen! Benützt Ihr Kleinkinder, um das Leck in Eurem Boot zu stopfen, Siuan?«

»Wir sind ja wohl kaum Kleinkinder«, warf Nynaeve hitzig ein. »Mehrere dieser dreizehn sind tot, und wir haben zweimal ihre Pläne zunichte gemacht. In Tear haben wir... «

Carlinya schnitt ihr das Wort wie mit einem eisigen Messer ab: »Ihr habt uns bereits alles über Tear berichtet, Kind. Und über Tanchico. Und wie ihr Moghedien besiegt habt.« Sie verzog den Mund hämisch. Sie hatte Nynaeve bereits gesagt sie sei eine Närrin, sich auch nur auf eine Meile einer der Verlorenen zu nähern, und sie habe Glück gehabt, mit dem Leben davonzukommen. Carlinya wußte gar nicht, wie recht sie hatte, denn schließlich hatten sie ihnen nicht alles berichtet, und deshalb zog sich Nynaeves Magen doch etwas zusammen. »Ihr seid Kinder und habt Glück, wenn wir uns entschließen, Euch nicht übers Knie zu legen. Jetzt gebt Ruhe, bis man Euch zu reden gestattet.« Nynaeve lief tiefrot an, hoffte, sie sähen es als bloße Verlegenheit an, und schwieg.

Sheriam hatte den Blick nicht von Siuan gewandt. »Also? Warum habt Ihr nichts davon berichtet, daß Ihr drei Kinder auf die Jagd nach Löwen gesandt habt?«

Siuan holte tief Luft, faltete dann aber die Hände und neigte demütig den Kopf. »Es schien mir nicht wesentlich, Aes Sedai, in Anbetracht so vieler wichtiger Dinge. Ich habe nichts für mich behalten, wenn es auch nur den leisesten Grund gab, davon zu berichten. Ich habe jede Einzelheit berichtet, die ich über die Schwarzen Ajah wußte. Ich habe seit einiger Zeit nicht mehr gewußt, wo sich diese beiden aufhielten und was sie vorhatten. Das Wichtige ist doch nur, daß sie jetzt hier sind und diese drei Ter'Angreal dabeihaben. Es muß Euch doch klar sein, was es bedeutet Zutritt zu Elaidas Arbeitszimmer und zu ihren Papieren zu haben, wenn auch vielleicht nur bruchstückhaft. Ihr hättet sonst niemals erfahren, daß sie weiß, wo Ihr euch aufhaltet, bevor es zu spät wäre.«

»Das ist uns klar«, sagte Anaiya und sah Morvrin an, die immer noch mit finsterem Blick den Ring betrachtete. »Lediglich die angewandten Mittel, um dies zu erreichen, überraschen uns doch etwas.«

»Tel'aran'rhiod«, hauchte Myrelle. »Also, das war nur noch eine Angelegenheit, über die man unter Gelehrten in der Burg diskutierte, beinahe schon eine Legende. Und Traumgängerinnen unter den Aiel. Wer hätte sich vorgestellt, daß die Weisen Frauen der Aiel die Macht lenken können, geschweige denn dies?«

Nynaeve wäre es lieber gewesen, sie hätten das geheimhalten können, so, wie sie ja auch Birgittes wahre Identität und ein paar andere Dinge geheimgehalten hatten, aber es war schwierig, nichts entschlüpfen zu lassen, wenn man von Frauen verhört wurde, deren Blicke allein schon Löcher in Steine bohren konnten, wenn sie das wünschten. Nun, sie konnten sich wohl glücklich schätzen, wenigstens einiges für sich behalten zu haben. Sobald sie einmal Tel'aran'rhiod erwähnt hatten und ihre Fähigkeit, es zu betreten, hätte eher eine Maus die Katze auf den Baum treiben können, bevor sie mit Fragen aufhörten.

Leane trat einen halben Schritt vor und blickte betont an Siuan vorbei. »Das Wichtigste ist, daß Ihr mit Hilfe dieser Ter'Angreal mit Egwene sprechen könnt und durch sie mit Moiraine. Mit ihrer Hilfe solltet Ihr nicht nur in der Lage sein, Rand al'Thor im Auge zu behalten, Ihr solltet ihn sogar noch in Cairhien beeinflussen können.«

»Wohin er sich von der Aiel-Wüste aus wandte«, sagte Siuan, »wie ich es vorausgesagt hatte.« Falls ihr Blick und ihre Worte den Aes Sedai galten, war ihr beißender Tonfall ganz eindeutig Leane gewidmet, die nur kurz knurrte: »Das hat ja auch geholfen. Zwei Aes Sedai in die Wüste geschickt, um Enten zu jagen.«

O ja, ganz entschieden hatte sich das Verhältnis der beiden zueinander abgekühlt.

»Genug, Kinder«, sagte Anaiya, so, als wären sie wirklich noch Kinder und sie eine an die üblichen Streitigkeiten gewöhnte Mutter. Sie blickte die anderen Aes Sedai bedeutungsvoll an. »Es ist eine sehr gute Sache, daß wir in der Lage sein werden, mit Egwene zu sprechen.«

»Falls diese so funktionieren, wie es behauptet wird«, sagte Morvrin. Sie ließ den Ring auf ihrer Handfläche auf- und abhüpfen und tastete gleichzeitig nach den anderen Ter'Angreal auf ihrem Schoß. Diese Frau würde ohne Beweis nicht einmal glauben, daß der Himmel blau sei.

Sheriam nickte. »Ja. Das wird Eure erste Aufgabe sein, Elayne, Nynaeve. Ihr werdet eine Gelegenheit bekommen, Aes Sedai in ihrem Gebrauch zu unterweisen.«

Nynaeve knickste und fletschte die Zähne. Sie konnten es ja als Lächeln betrachten, wenn es ihnen gefiel. Sie unterweisen? Ja, und hinterher würden sie den Ring oder die anderen niemals mehr zurückbekommen. Elaynes Knicks fiel noch dürftiger aus, und ihr Gesicht war wie eine kühle Maske. Ihr Blick wanderte beinahe sehnsuchtsvoll zu diesem idiotischen A'dam hinüber.

»Die Kreditbriefe sind nützlich«, sagte Carlinya. Bei aller für die Weißen Ajah typischen Kühle und Logik zeigte sich doch an der Art, wie sie knapp und abgehackt sprach, eine gewisse Nervosität. »Gareth Bryne verlangt mehr Gold, als wir besitzen, aber damit könnten wir fast alles auftreiben, um ihn zufriedenzustellen.«

»Ja«, pflichtete Sheriam ihr bei. »Und wir müssen auch das meiste an Bargeld zurückbehalten. Es gibt zu viele hungrige Mäuler zu stopfen und von Tag zu Tag — hier wie anderswo — mehr Menschen zu bekleiden.«

Elayne nickte gnädig und tat so, als wollten sie das Geld auf keinen Fall zurückhaben, was immer Sheriam auch sagte. Nynaeve wartete ab, was noch kommen würde. Gold und Kreditbriefe und sogar die Ter'Angreal waren nur ein Teil des Ganzen.

»Was alles andere angeht«, fuhr Sheriam fort, »sind wir uns einig, daß Ihr die Burg auf Befehl verlassen habt, wenn es auch falsch war, und dafür kann man Euch nicht zur Rechenschaft ziehen. Jetzt, da Ihr euch wieder bei uns und in Sicherheit befindet, werdet Ihr eure Studien wieder aufnehmen.«

Nynaeve atmete ganz langsam aus, nachdem sie die Luft angehalten hatte. Sie hatte nichts anderes erwartet, seit ihr Verhör begonnen hatte. Nicht, daß es ihr paßte, aber ausnahmsweise einmal würde niemand in der Lage sein, ihr vorzuwerfen, sie könne sich nicht beherrschen. Nicht jetzt, wo ihr das aller Wahrscheinlichkeit nach nicht helfen könnte.

Elayne allerdings platzte mit einem scharfen: »Aber...!« heraus, was Sheriam jedoch sofort mit gleicher Schärfe unterband.

»Ihr werdet Eure Studien wieder aufnehmen. Ihr seid wohl beide sehr stark, aber eben noch keine Aes Sedai.« Diese grünen Augen hielten sie fest, bis sie sicher war, voll und ganz verstanden worden zu sein, und dann sprach sie mit milderer Stimme weiter. Milder, doch fest und energisch. »Ihr seid zu uns zurückgekehrt, und auch wenn Salidar nicht die Weiße Burg ist, sollt Ihr es dennoch als solche betrachten. Ihr habt uns in der letzten Stunde sehr viel berichtet, und es ist klar, daß Ihr noch um ein Beträchtliches mehr zu berichten habt.« Nynaeve stockte der Atem, doch Sheriams Blick wanderte zu dem A'dam zurück. »Wie schade, daß Ihr diese Seanchanfrau nicht mitgebracht habt. Das hättet Ihr wirklich tun sollen.« Aus irgendeinem Grund lief Elayne puterrot an und wirkte ärgerlich zugleich. Was sie selbst betraf, war Nynaeve nur deshalb erleichtert, weil die Frau lediglich von der Seanchan gesprochen hatte. »Aber man kann Aufgenommenen nicht vorwerfen, daß sie noch nicht wie Aes Sedai denken«, fuhr Sheriam fort. »Siuan und Leane werden ebenfalls viele Fragen an Euch haben. Ihr werdet mit ihnen zusammenarbeiten und alles nach bestem Wissen beantworten. Ich denke, ich muß Euch nicht daran erinnern, daß Ihr ihren augenblicklichen Zustand nicht ausnützt. Einige Aufgenommene und sogar ein paar Novizinnen wollten sie für die Ereignisse verantwortlich machen und sogar eigenhändig bestrafen.« Aus dem milden Tonfall wurde blanker Stahl. »Diese jungen Frauen tun sich jetzt selbst sehr, sehr leid. Muß ich noch mehr hinzufügen?«

Nynaeve hatte es keineswegs eiliger als Elayne, ihr zu versichern, daß sie nichts hinzufügen müsse, und das hieß, sie überschlugen sich beinahe, um ihre Beteuerungen schnell herauszubekommen. Nynaeve hatte erst gar nicht daran gedacht, Schuldzuweisungen vorzunehmen, denn ihrer Meinung nach lag die Schuld für alles sowieso bei allen Aes Sedai, aber sie wollte auch nicht, daß Sheriam böse auf sie war. Als ihr das selbst klar wurde, stieß ihr die Wirklichkeit sauer auf: Die Tage ihrer Freiheit waren wohl endgültig vorüber.

»Gut, nun mögt Ihr die Juwelen an Euch nehmen, die Euch die Panarchin schenkte, und den Pfeil — wenn Zeit dafür ist, müßt Ihr mir erzählen, warum sie Euch ein solches Geschenk machte — und gehen. Eine der anderen Aufgenommenen wird Euch Schlafplätze suchen. Es wird vermutlich schwieriger werden, Eurem Rang entsprechende Kleidung aufzutreiben, doch man wird Kleider für Euch finden. Ich erwarte, daß Ihr eure ... Abenteuer ... nun hinter Euch zurücklaßt und Euch wieder problemlos einfügt.« Klar, wenn auch unausgesprochen, blieb die Drohung, daß sie Probleme bekommen würden, sollten sie sich nicht wieder einfügen. Sheriam nickte zufrieden, als sie sah, daß beide begriffen hatten.

Beonin hatte kein Wort gesagt, seit die Saidar-Abschirmung aufgelöst worden war, doch als nun Nynaeve und Elayne zum Abschied knicksten, erhob sich die Graue Schwester und schritt zu dem Tisch hinüber, auf dem ihre Sachen ausgebreitet lagen. »Und wie steht es damit?« wollte sie im schwerfälligen Taraboner Dialekt wissen. Sie riß das Tuch weg, mit dem sie das Siegel zum Gefängnis des Dunklen Königs bedeckt hatten. Zur Abwechslung blickten ihre blaugrauen Augen einmal eher zornig als überrascht drein. »Wird es keine weiteren Fragen mehr dazu geben? Habt Ihr alle vor, dies zu ignorieren?« Da lag die schwarz und weiß unterteilte Scheibe vor ihnen, neben dem Waschlederbeutel, in ein Dutzend oder mehr Stücke zerbrochen und wie ein Puzzle zusammengefügt, so gut das eben möglich war.

»Es war noch ganz, als wir es in die Tasche steckten.« Nynaeve schwieg einen Moment, weil ihr Mund plötzlich wie ausgetrocknet war. So sehr sie auch vorher jeden Blick zu dem Tuch hin vermieden hatte, so sehr klebte ihr Blick nun an dem Siegel fest. Leane hatte hämisch gegrinst, als sie das rote Kleid sah, mit dem sie das Siegel umwickelt gehabt hatte, und sie hatte gesagt... Nein, nicht noch einmal davor weglaufen, nicht einmal in Gedanken! »Warum hätten wir besonders darauf achtgeben sollen? Es ist aus Cuendillar!«

»Wir haben es nicht mehr angesehen oder berührt«, sagte Elayne atemlos, »als unbedingt sein mußte. Es hat ein schmutziges, böses Gefühl ausgestrahlt.« Jetzt nicht mehr. Carlinya hatte jeder von ihr ein Bruchstück in die Hand gedrückt und zu wissen verlangt, von welchem schlimmen Gefühl sie da sprächen.

Sie hatten das alles bereits zuvor gesagt, mehr als einmal, und jetzt beachtete niemand mehr ihre Worte.

Sheriam erhob sich und stellte sich neben die Graue mit dem honigfarbenen Haar. »Wir ignorieren nichts, Beonin. Es nützt aber nichts, wenn wir diesen Mädchen noch mehr Fragen stellen. Sie haben uns alles gesagt, was sie wissen.«

»Weitere Fragen sind immer gut«, sagte Morvrin, aber sie hatte wenigstens aufgehört, mit dem Ter'Angreal herumzuspielen, und starrte nun genauso angestrengt wie die anderen das zerbrochene Siegel an. Es mochte ja aus Cuendillar bestehen — sowohl sie wie Beonin hatten es untersucht und waren sich einig darüber —, und doch hatte sie eines der Bruchstücke mit eigenen Händen weiter zerbrochen.

»Wie viele der sieben halten noch?« fragte Myrelle leise, als führe sie ein Selbstgespräch. »Wie lange noch, bis der Dunkle König ausbricht und die Letzte Schlacht beginnt?« Jede Aes Sedai beteiligte sich im Grunde an allen Aufgaben, je nach ihren Talenten und Neigungen, und doch hatte auch jede Ajah ihre ganz eigene Existenzberechtigung. Grüne, die sich selbst als Kampf-Ajah bezeichneten, sahen ihren Lebenszweck darin, sich für die Letzte Schlacht bereitzuhalten und dort den neuen Schattenlords gegenüberzutreten. In Myrelles Stimme lag fast etwas wie Vorfreude.

»Drei«, sagte Anaiya mit brüchiger Stimme. »Drei halten noch. Falls wir alles wissen. Laßt uns beten, daß uns alles bekannt ist. Laßt uns beten, daß drei ausreichen.«

»Laßt uns beten, daß diese drei stärker sind als das hier«, knurrte Morvrin. »Cuendillar kann man doch nicht so einfach zerbrechen. Nicht, wenn es noch Cuendillar ist. Das geht doch nicht.«

»Wir sprechen über alles zu seiner Zeit«, sagte Sheriam. »Nachdem wir einige vorrangige Dinge erledigt haben, die für uns lösbare Aufgaben darstellen.« Sie nahm Beonin das Tuch ab und bedeckte das zerbrochene Siegel wieder. »Siuan, Leane, wir sind zu einer Entscheidung gekommen, was... « Sie hielt inne, als sie sich umdrehte und Elayne und Nynaeve bemerkte. »Hat man Euch nicht gesagt, Ihr solltet gehen?« Trotz aller äußeren Ruhe machte sich der Aufruhr in ihrem Innern bemerkbar. Sie hatte glatt ihre Anwesenheit vergessen.

Nynaeve war nur zu schnell dabei, noch einmal zu knicksen und mit einem hastigen »Mit Eurer Erlaubnis, Aes Sedai« zur Tür zu eilen. Unbeweglich beobachteten die Aes Sedai und Siuan und Leane, wie sie und Elayne hinaustraten. Nynaeve fühlte ihre Blicke, als schöben sie sie hinaus. Elayne war kein bißchen langsamer, obwohl sie dem A'dam schnell noch einen Blick zuwarf.

Sobald Nynaeve die Tür geschlossen hatte und sich erleichtert an deren rohe, ungestrichene Bretter lehnte, den vergoldeten Kasten an die Brust gedrückt, konnte sie zum erstenmal, wie es ihr schien, wieder tief und ungehemmt durchatmen, seit sie den alten Steinbau der Schenke betreten hatten. Sie wollte nicht über das zerbrochene Siegel nachdenken. Noch ein zerbrochenes Siegel. Nein, kein weiterer Gedanke daran! Diese Frauen konnten mit ihren Blicken Schafe scheren. Beinahe freute sie sich auf das erste Zusammentreffen dieser Aes Sedai mit den Weisen Frauen, jedenfalls, wenn sie nicht gerade zwischen beiden Gruppen stand. Es war ihr schon mehr als schwer gefallen, als sie zur Burg kam, sich zu beugen und zu tun, was man ihr befahl. Nach den langen Monaten, während derer sie die Befehle erteilt hatte, nun, meist nach Beratung mit Elayne, wußte sie nicht wie sie es verkraften würde, wieder vor den anderen auf dem Bauch zu kriechen.

Der Schankraum mit seiner schlecht ausgebesserten Gipsdecke und den beinahe zusammenbrechenden kalten Kaminen war der gleiche Bienenstock wie zuvor, als man sie hereingeführt hatte. Jetzt schenkte ihnen niemand mehr besondere Beachtung und sie ihnen ebensowenig. Eine kleine Gruppe erwartete sie und Elayne.

Thom und Juilin, die auf einer grob gezimmerten Bank an einer Wand saßen, von der der Putz abblätterte, hatten die Köpfe mit Uno zusammengesteckt der vor ihnen am Boden hockte. Das lange Heft seines Schwertes ragte über seine Schulter empor. Areina und Nicola, die beide erstaunt ihre Umgebung anstarrten und sich vergebens bemühten, das zu verbergen, saßen mit Marigan zusammen auf einer weiteren Bank. Marigan wiederum beobachtete Birgittes Versuche, Jaril und Seve zu unterhalten. Sie jonglierte ungeschickt mit drei bunten Holzbällen, die sie wohl von Thom bekommen hatte. Min kniete hinter den Jungen und kitzelte sie, flüsterte ihnen auch etwas ins Ohr, aber sie klammerten sich dennoch aneinander und blickten schweigend mit diesen viel zu großen Augen in die Welt.

Nur zwei andere im ganzen Raum eilten nicht geschäftig umher. Zwei von Myrelles drei Behütern lehnten wie zufällig ein paar Schritte hinter den Bänken, aber noch vor dem Hinterausgang zum Küchenflur an der Wand und unterhielten sich: Croi Makin, ein blonder junger Kerl aus Andor mit einem feingeschnittenen Profil, und Avar Hachami mit einer Adlernase und einem kantigen Kinn, dessen angegrauter Schnurrbart aussah wie zwei nach unten gekrümmte Büffelhörner. Niemand konnte behaupten, Hachami sehe irgendwie gut aus, aber der Blick aus seinen dunklen Augen ließ die meisten erst einmal schlucken. Natürlich sahen sie keineswegs Uno oder Thom oder sonst jemanden direkt an. Es war ja nur reiner Zufall, daß sie nichts zu tun und dafür gerade diesen Fleck ausgewählt hatten.

Birgitte ließ einen der Bälle fallen, als sie Nynaeve und Elayne sah. »Was habt ihr ihnen gesagt?« fragte sie leise und sah den silbernen Pfeil in Elaynes Hand kaum an. Der Köcher hing an ihrem Gürtel, doch ihren Bogen hatte sie an die Wand gelehnt.

Nynaeve trat naher zu ihr heran und mied sorgfältig jeden Blick in Richtung Makin und Hachami. Genauso vorsichtig senkte sie die Stimme und vermied jede besondere Betonung. »Wir sagten ihnen alles, wonach sie uns fragten.«

Elayne berührte Birgitte am Arm. »Sie wissen, daß du eine gute Freundin bist, die uns geholfen hat. Du bist hier willkommen und kannst bleiben, genau wie Areina, Nicola und Marigan.«

Erst als etwas von der Anspannung aus Birgitte wich, erkannte Nynaeve, wie nervös die Frau mit den blauen Augen gewesen war. Sie hob schnell den heruntergefallenen gelben Ball auf und warf mit einer geschmeidigen Bewegung alle drei zu Thom zurück, der sie nacheinander mit einer Hand aus der Luft schnappte und sie mit einer einzigen kurzen Bewegung verschwinden ließ. Auf ihrer Miene zeigte sich der Anflug eines erleichterten Grinsens.

»Ich kann euch gar nicht sagen, wie froh ich bin, euch beide hier zu sehen«, sagte Min mindestens zum vierten oder fünften Mal. Ihr Haar war länger als früher, wenn es auch noch wie eine dunkle Kappe um ihren Kopf lag, und auf irgendeine andere Art wirkte sie ebenfalls verändert, ohne daß Nynaeve hätte sagen können, wie. Überraschenderweise waren die Aufschläge ihrer Jacke offensichtlich ganz neu mit Blumen bestickt; früher hatte sie immer nur einfache Kleidung ohne jeden Zierrat getragen. »Hier sind freundliche Gesichter sehr rar.« Ihr Blick huschte einen ganz kurzen Augenblick lang zu den Behütern hinüber. »Wir müssen uns irgendwo hinsetzen und ausführlich miteinander sprechen. Ich kann es nicht erwarten, zu hören, was ihr alles erlebt habt, seit ihr aus Tar Valon abgereist seid.« Und zu berichten, was sie erlebt hatte, wenn sich Nynaeve nicht gewaltig irrte.

»Ich würde auch sehr gern mit dir sprechen«, sagte Elayne in sehr ernstem Tonfall. Min blickte sie forschend an, seufzte dann und nickte, wenn auch nicht so begierig wie noch einen Augenblick zuvor.

Thom, Juilin und Uno traten nun hinter Birgitte und Min. Ihre Mienen waren die von Männern, die Dinge zu sagen hatten, die eine Frau nicht gerne hören würde. Bevor sie allerdings den Mund aufmachen konnten, schob sich eine Frau mit lockigem Haar im Kleid einer Aufgenommenen zwischen Juilin und Uno durch, funkelte sie zornig an und pflanzte sich vor Nynaeve auf.

Faolains Kleid mit den sieben Farbstreifen am Saum für die verschiedenen Ajah war nicht ganz so sauber, wie es sein sollte, und ihr dunkelhäutiges Gesicht trug einen finsteren Ausdruck. »Ich bin überrascht, Euch hier anzutreffen, Wilde. Ich glaubte. Ihr wärt in Euer Dorf zurückgerannt und unsere feine TochterErbin zu ihrer Mutter.«

»Geht Ihr immer noch Eurem Hobby nach, Milch zu säuern, Faolain?« fragte Elayne süßlich.

Nynaeve bemühte sich, ihre freundliche Miene zu bewahren. Es gelang ihr auch beinahe. Zweimal war Faolain damals in der Burg beauftragt worden, ihr Unterricht zu erteilen. Ihrer eigenen Meinung nach, um ihr ihren Platz zuzuweisen. Wenn sowohl Lehrerin wie auch Schülerin Aufgenommene waren, besaß die Lehrerin für die Dauer des Unterrichts oder der Lektion den Status einer Aes Sedai, und das nützte Faolain weidlich aus. Die Frau mit dem Lockenkopf war acht Jahre lang Novizin gewesen und nun bereits seit fünf Jahren Aufgenommene. Es paßte ihr natürlich überhaupt nicht, daß Nynaeve gar nicht erst Novizin werden mußte oder daß Elayne das weiße Kleid der Novizinnen nur weniger als ein Jahr getragen hatte. Zwei Lektionen durch Faolain hatten zweimal den Weg in Sheriams Arbeitszimmer für Nynaeve bedeutet, weil sie widerspenstig gewesen sei, launisch... Die Liste war so lang wie ihr Arm. Sie sprach betont leichthin: »Wie ich hörte, sind Siuan und Leane von irgend jemandem schlecht behandelt worden. Ich denke, Sheriam will in dieser Angelegenheit ein für allemal ein Exempel statuieren.« Sie blickte der anderen fest in die Augen, und die weiteten sich vor Schreck.

»Ich habe nichts getan, seit Sheriam...« Faolains Mund klappte zu, und sie lief hochrot an. Min verbarg ihren Mund hinter einer vorgehaltenen Hand, und Faolain riß den Kopf herum. Sie musterte die anderen Frauen, von Birgitte bis Marigan. Dann bedeutete sie mit herrischer Geste Nicola und Areina, mitzukommen. »Ihr zwei werdet genügen, denke ich. Kommt mit mir. Sofort. Keine Trödelei.« Sie erhoben sich langsam. Areina blickte sie mißtrauisch an, und Nicola nestelte an ihrem Kleid herum.

Elayne trat zwischen sie und Faolain und kam damit Nynaeve zuvor. Ihr Kinn hielt sie hoch und ihr wahrhaft majestätischer Blick wirkte wie blaues Eis. »Was wollt Ihr von ihnen?«

»Ich gehorche Sheriam Sedais Befehl«, antwortete Faolain. »Ich bin ja der Meinung, sie sind zu alt für eine Überprüfung, aber ich folge meinem Befehl. Auch die Werber Lord Brynes werden von einer Schwester begleitet, die sogar noch Frauen im Alter Nynaeves auf das Talent überprüft.« Ihr plötzliches Lächeln hätte das einer Viper sein können. »Soll ich Sheriam Sedai davon unterrichten, daß Ihr das mißbilligt, Elayne? Soll ich ihr sagen, daß Ihr eure Gefolgsleute nicht überprüfen laßt?« Während sie sprach, senkte sich Elaynes Kinn ein wenig, aber sie konnte jetzt natürlich keinen Rückzieher machen. Sie benötigte eine Ablenkung.

Nynaeve berührte Faolain an der Schulter. »Haben sie viele gefunden?«

Unwillkürlich drehte die Frau den Kopf ein wenig, und als sie sich zurückwandte, beruhigte Elayne gerade Areina und Nicola und erklärte ihnen, man werde ihnen nichts tun und sie zu nichts zwingen. Soweit wäre Nynaeve gar nicht gegangen. Wenn die Aes Sedai eine Frau fanden, die wie Elayne oder Egwene mit diesem Funken geboren worden war und die irgendwann einmal, absichtlich oder nicht, die Macht benützen würde, dann packten sie sie und steckten sie in die Ausbildung, ob sie selbst das wollte oder nicht. Etwas nachlässiger schienen sie mit Frauen umzugehen, die man wohl ausbilden konnte, die aber ohne eine gründliche Schulung von selbst Saidar niemals erreichen konnten; und ebenso mit Wilden, die jene Eins-zu-vier-Chance überlebt und sich selbst das meiste beigebracht hatten, gewöhnlich ohne daß ihnen überhaupt bewußt war, was sie taten, und die oftmals auf irgendeine Weise blockiert waren, so wie Nynaeve. Angeblich konnten diese wählen, ob sie kommen oder bleiben wollten. Nynaeve hatte sich für die Burg entschieden, aber sie vermutete, man hätte sie sonst auch gegen ihren Willen hingebracht, und wenn man sie an Händen und Füßen hätte fesseln müssen. Die Aes Sedai ließen Frauen, die eine auch noch so geringe Möglichkeit zeigten, eine von ihnen zu werden, nicht mehr Chancen als einem Lamm an einem Festtag.

»Drei«, sagte Faolain nach kurzem Nachdenken. »All diese Mühe, und sie haben nur drei gefunden. Eine davon war eine Wilde.« Sie konnte Wilde wirklich nicht leiden. »Ich weiß nicht, warum sie sich so anstrengen, neue Novizinnen zu bekommen. Die Novizinnen hier bei uns können ja ohnehin nicht erhoben werden, bis wir die Burg zurückgewinnen. Das ist alles Siuan Sanches Schuld, ihre und die Leanes.« Ein Muskel in ihrer Wange zuckte, als ihr bewußt wurde, daß diese Bemerkung als feindselig der früheren Amyrlin und der ehemaligen Behüterin gegenüber aufgefaßt werden konnte, und so packte sie schnell Areina und Nicola an den Armen. »Kommt mit. Ich folge den Befehlen, und wenn Ihr überprüft werden sollt, dann werdet ihr es eben, ob man damit Zeit verschwendet oder nicht.«

»Eine böse Frau«, murmelte Min und schielte hinter Faolain her, als sie die beiden durch den Schankraum zerrte. »Man sollte denken, falls es noch Gerechtigkeit gibt, hätte sie eine äußerst ungemütliche Zukunft vor sich.«

Nynaeve hätte Min gern gefragt, welche Vision sie bei dieser Aufgenommenen mit dem Lockenkopf gehabt hatte — sie wollte ihr am liebsten hundert Fragen stellen —, aber nun pflanzten sich Thom und die anderen beiden Männer entschlossen vor ihr und Elayne auf, Juilin und Uno auf einer Seite, Thom auf der anderen, damit sie nach allen Richtungen blicken konnten. Birgitte führte inzwischen Jaril und Seve zu ihrer Mutter und hielt diese so von ihrer Gruppe fern. Min wußte offensichtlich auch, was die Männer vorhatten, so bedauernd schaute sie sie an. Sie schien etwas sagen zu wollen, aber am Ende zuckte sie lediglich die Achseln und schloß sich Birgitte an.

Thoms Gesichtsausdruck nach hätte er über das Wetter sprechen können oder fragen, was es zum Abendessen gebe. Völlig nebensächliche Dinge. »Dieser Ort steckt voll von gefährlichen Narren und Träumern. Sie glauben, Elaida absetzen zu können. Deshalb befindet sich Gareth Bryne hier. Er soll ein Heer für sie aufstellen.«

Juilins Grinsen war unwahrscheinlich breit. »Keine Narren. Verrückte — Frauen wie Männer. Es ist mir völlig gleich, selbst wenn Elaida schon geherrscht hätte, als Logain geboren wurde. Sie spinnen, wenn sie glauben, von hier aus eine Amyrlin vorn Thron stürzen zu können, die sicher in der Weißen Burg sitzt. Wir könnten vielleicht in einem Monat in Cairhien sein.«

»Ragan und die anderen haben sich bereits Pferde ausgesucht, die sie ... borgen ... könnten.« Auch Uno grinste, was ganz im Widerspruch zu dem böse blickenden roten Auge auf seiner Augenklappe stand. »Die Wachen wurden so aufgestellt, daß sie nach Leuten Ausschau halten, die herkommen, aber nicht nach solchen, die weggehen. Wir könnten sie im Wald abhängen. Es wird bald dunkel. Sie finden uns nie.« Als die Frauen noch nach Verlassen des Schiffes am Flußufer ihre Großen Schlangenringe übergestreift hatten, hatte das eine bemerkenswerte Auswirkung auf seine Ausdrucksweise gehabt. Allerdings schien er das ›wiedergutmachen‹ zu wollen, wenn er glaubte, sich außerhalb ihrer Hörweite zu befinden.

Nynaeve sah Elayne an, die den Kopf leicht schüttelte. Elayne würde alles dafür geben, Aes Sedai zu werden. Und sie selbst? Die Chance, die Aes Sedai dazu zu bringen, Rand zu unterstützen, war wohl sehr gering, falls sie sich wirklich endgültig entschlossen hatten, ihn unter ihre Kontrolle zu bringen. Überhaupt keine Chance, wenn sie es realistisch beurteilte. Und doch... Und doch gab es da die Kunst, mit Hilfe der Macht zu heilen. In Cairhien konnte sie das nicht erlernen, aber hier... Keine zehn Schritt von ihr entfernt hakte Therva Maresis, eine schlanke Gelbe mit langer Nase, methodisch mit ihrer Feder Punkte auf einer Liste ab, die auf Pergament geschrieben war. Ein kahlköpfiger Behüter mit schwarzem Vollbart unterhielt sich im Stehen in der Nähe der Tür mit Nisao Dachen. Er überragte sie um mehr als Haupteslänge, obwohl er keineswegs größer als der Durchschnitt war. Dagdara Finchey, so stämmig wie der kräftigste Mann im Raum und größer als die meisten, sprach vor einem der feuerlosen Kamine zu einer Gruppe Novizinnen. Mit knappen Befehlen schickte sie eine nach der anderen mit Aufträgen los. Nisao und Dagdara gehörten auch zu den Gelben Ajah. Man erzählte sich, Dagdara, deren angegrautes Haar sie zu einer der ältesten Aes Sedai machte, verstünde mehr vom Heilen als zwei andere zusammengenommen. Wenn Nynaeve sich zu Rand begab, konnte sie nicht erwarten, viel Nützliches tun zu können. Sie würde ihn wahrscheinlich bestenfalls dabei beobachten können, wie er dem Wahnsinn verfiel. Wenn sie dagegen weitere Fortschritte im Heilen machte, könnte sie vielleicht ein Mittel finden, ihm diesen Weg zu ersparen. Es gab für ihren Geschmack viel zu viel, was die Aes Sedai einfach als hoffnungslos und unheilbar bezeichneten und deshalb auch gar nicht zu heilen versuchten.

All das ging ihr durch den Kopf, während sie Elayne anblickte und sich wieder den Männern zuwandte. »Wir werden hierbleiben. Uno, wenn Ihr und die anderen zu Rand gehen wollt, dann seid Ihr frei, was mich betrifft. Ich fürchte, ich habe kein Geld mehr, um Euch zu unterstützen.« Das Gold, das die Aes Sedai an sich genommen hatten, wurde gebraucht, so, wie sie es gesagt hatten, aber sie konnte nicht anders, als schmerzerfüllt das Gesicht zu verziehen, wenn sie an die wenigen übriggebliebenen Silbermünzen in ihrer Börse dachte. Diese Männer waren ihr — und natürlich Elayne — aus den falschen Motiven heraus gefolgt, aber das machte ihre Verantwortung für sie nicht weniger schwerwiegend. Ihre Loyalität gehörte Rand. Sie hatten keinen Grund, sich an einem Kampf um die Weiße Burg zu beteiligen. Nach einem Blick auf das vergoldete Kästchen fügte sie zögernd hinzu: »Aber ich habe noch ein paar Dinge, die Ihr unterwegs verkaufen könntet.«

»Ihr müßt auch gehen, Thom«, sagte Elayne. »Und Ihr, Juilin. Es hat doch keinen Zweck, hierzubleiben. Wir brauchen Euch hier nicht, aber Rand wird Euch benötigen.« Sie versuchte, Thom ihr Schmuckkästchen in die Hände zu drücken, aber er wies es zurück.

Die drei Männer tauschten daraufhin Blicke, so irritierend, wie das für sie typisch war, und Uno ging sogar soweit, sein eines Auge zu rollen. Nynaeve glaubte zu verstehen, wie Juilin leise etwas knurrte wie, er habe ja gleich gesagt, sie würden sich auf stur stellen.

»Vielleicht in ein paar Tagen«, sagte Thom.

»Ein paar Tage«, pflichtete ihm Juilin bei.

Uno nickte. »Ich könnte ein wenig Ruhe gebrauchen, wenn ich anschließend den halben Weg nach Cairhien vor den Behütern davonlaufen muß.«

Nynaeve blickte sie so streng wie möglich an und zupfte absichtlich an ihrem Zopf. Elayne hatte das Kinn erhoben wie eh und je, und mit dem Blick aus ihren blauen Augen hätte man Eis zerkleinern können. Thom und die anderen mußten diese Anzeichen mittlerweile wohl erkennen. Man würde ihren Unsinn einfach nicht durchgehen lassen. »Falls Ihr glaubt, daß Ihr immer noch Rand al'Thors Befehl Folge leistet, uns zu beschützen...«, setzte Elayne in unterkühltem Tonfall an, während Nynaeve gleichzeitig zu poltern begann: »Ihr habt versprochen, zu tun, was man Euch sagt, und ich werde dafür sorgen...«

»Das hat damit nichts zu tun«, unterbrach Thom die beiden. Mit einem knorrigen Finger strich er Elayne eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Überhaupt nichts. Kann ein humpelnder alter Mann etwa nicht ein wenig Ruhe verlangen?«

»Um die Wahrheit zu sagen«, fügte Juilin hinzu, »bleibe ich lediglich hier, weil Thom mir noch Geld schuldet. Beim Würfeln gewonnen.«

»Erwartet Ihr von uns, daß wir ausgerechnet Behütern zwanzig Pferde auf einmal stehlen, ohne mit der Wimper zu zucken?« grollte Uno. Er schien vergessen zu haben, daß er genau dies vorher angeboten hatte.

Elayne starrte sie entgeistert an und fand keine Worte. Nynaeve hatte plötzlich ebenfalls Schwierigkeiten mit ihrer sprachlichen Ausdrucksfähigkeit. Wie tief waren sie gesunken. Nicht einmal einer der drei, der wenigstens nervös von einem Fuß auf den anderen getreten wäre. Das Dumme war, daß sie selbst hin-und hergerissen war. Sie war entschlossen gewesen, sie wegzuschicken. Auf jeden Fall, und das nicht nur, damit sie nicht sehen konnten, wie sie laufend knicksen und bei den Aes Sedai kriechen mußte. Doch da in Salidar fast nichts so war, wie sie erwartet hatte, mußte sie auch innerlich zugeben, zaudernd, aber immerhin, daß es ... beruhigend ... wäre, zu wissen, sie und Elayne hätten nicht nur Birgitte, auf die sie sich verlassen konnten. Dieses Angebot, zu fliehen —denn so sollte man ruhig das Kind beim Namen nennen —, würde sie natürlich unter gar keinen Umständen annehmen. Ihre Gegenwart wäre eben nur ... beruhigend. Allerdings durfte sie sich das vor den Männern nicht anmerken lassen. Das mußte nicht sein, denn sie würden gehen, ob sie das wollten oder nicht. Rand konnten sie höchstwahrscheinlich nützlich sein, während sie hier nur im Weg stünden. Außer...

Die ungestrichene Tür öffnete sich, und Siuan schritt heraus, gefolgt von Leane. Sie blickten sich kalt und abweisend an. Dann schnaubte Leane und ging überraschend geschmeidig und elegant um Croi und Avar herum in den Flur, der zur Küche führte. Nynaeve runzelte ein wenig die Stirn. Mitten in dieser Eiseskälte war es einen Moment gewesen, einen ganz kurzen Augenblick lang, so daß sie es fast übersehen hätte, obwohl es direkt vor ihrer Nase war, als ob...

Siuan wandte sich ihr zu und erstarrte dann plötzlich. Ihre Miene wurde vollkommen ausdruckslos. Jemand hatte sich ihrer kleinen Versammlung angeschlossen.

Gareth Bryne, der seinen verbeulten Harnisch über den einfachen, lederbraunen Rock geschnallt und die stahlverstärkten Kampfhandschuhe in den Schwertgürtel gesteckt hatte, strahlte Autorität aus. Mit seinem größtenteils grauen Haar und dem derben Gesicht machte er den Eindruck eines Mannes, der alles gesehen und alles überstanden hatte; eines Mannes, der fähig war, alles zu überdauern.

Elayne lächelte und nickte wohlwollend. Das war nicht mehr der verblüffte Blick von ihrer Ankunft in Salidar, als sie ihn am anderen Ende der Straße entdeckt und erkannt hatte. »Ich kann nicht sagen, daß es mir eine reine Freude sei, Euch zu begrüßen, Lord Gareth. Ich habe von Streitigkeiten zwischen meiner Mutter und Euch gehört, aber ich bin sicher, daß sich das ändern läßt. Ihr wißt ja, daß Mutter gelegentlich etwas voreilig ist. Sie wird es sich überlegen und Euch bitten, den Euch zustehenden Platz in Caemlyn wieder einzunehmen, da könnt Ihr sicher sein.«

»Was geschehen ist, ist geschehen, Elayne.« Er ignorierte ihr Erstaunen. Nynaeve bezweifelte, daß irgend jemand, der Elaynes Rang kannte, sie jemals so kurz abgefertigt hatte. Er wandte sich statt dessen Uno zu. »Habt Ihr euch überlegt, was ich sagte? Schienarer sind die beste schwere Kavallerie auf der Welt, und ich habe Burschen hier, die genau passen würden, wenn man sie nur richtig ausbildete.«

Uno runzelte die Stirn. Der Blick aus seinem Auge wanderte zu Elayne und Nynaeve hinüber. Dann nickte er bedächtig. »Ich habe nichts Besseres zu tun. Ich werde mit den anderen sprechen.«

Bryne klopfte ihm auf die Schulter. »Das genügt mir schon. Und wie steht es mit Euch, Thom Merrilin?« Thom hatte sich bei der Ankunft des Mannes zur Seite hin weggedreht, den Schnurrbart nervös gestrichen und zu Boden geblickt, als wolle er möglichst nicht auffallen. Jetzt blickte er hoch und Bryne geradewegs in die Augen. »Ich kannte einst einen Burschen mit einem sehr ähnlichen Namen wie Ihr«, sagte Bryne. »Was ein bestimmtes Spiel betrifft, war er äußerst geschickt.«

»Ich kannte einst einen Burschen, der Euch sehr ähnlich sah«, erwiderte Thom. »Er bemühte sich redlich, mich in Ketten zu legen. Ich glaube, er hätte mir den Kopf abgeschlagen, hätte er mich jemals in die Hände bekommen.«

»Das muß aber lange Zeit her sein, oder? Männer tun manchmal seltsame Dinge, wenn es um Frauen geht.« Bryne sah Siuan an und schüttelte den Kopf. »Kommt Ihr mit auf ein Brettspiel, Meister Merrilin? Ich wünsche mir manchmal einen Mann herbei, der das wirklich gut spielt, so, wie man es in höheren Kreisen zu spielen pflegt.«

Thoms buschige, weiße Augenbrauen zogen sich eng zusammen, fast wie die Unos, aber er wandte den Blick nicht von Bryne. »Ich wage vielleicht ein oder zwei Spielchen«, sagte er schließlich, »wenn ich den Einsatz kenne. Solange Euch klar ist, daß ich nicht vorhabe, für den Rest meines Lebens mit Euch zu spielen. Ich mag nicht mehr gern zu lange am gleichen Ort verweilen. Manchmal jucken mir die Füße.«

»Solange sie Euch nicht gerade mitten in einem entscheidenden Spiel jucken«, stellte Bryne trocken fest. »Kommt mit mir, Ihr beiden. Und erwartet nicht zuviel Schlaf in nächster Zeit. In dieser Gegend muß alles vorgestern erledigt werden, außer den Dingen, die schon letzte Woche erledigt werden sollten.« Er schwieg einen Augenblick und sah Siuan an. »Meine Hemden waren heute keineswegs sauber genug.« Damit führte er Thom und Uno davon. Siuan blickte ihm hinterher und dann mit finsterer Miene auf Min. Die verzog das Gesicht und eilte in die gleiche Richtung wie Leane zuvor.

Nynaeve verstand überhaupt nicht, was da zwischen Bryne und den Frauen vorging. Und die Frechheit dieser Männer regte sie auf: Sie glaubten anscheinend, einfach über ihren Kopf hinweg oder vor ihrer Nase über Dinge sprechen zu können, die sie nicht verstand. Jedenfalls zum großen Teil!

»Gut, daß er keinen Diebfänger brauchen kann«, sagte Juilin. Er schielte aus dem Augenwinkel nach Siuan und schien sich in ihrer Gegenwart offensichtlich nicht wohl zu fühlen. Er war noch nicht über den Schreck hinweg, als er ihren Namen erfahren hatte. Nynaeve war nicht sicher, ob er wirklich begriffen hatte, daß sie einer Dämpfung unterzogen worden und keine Amyrlin mehr war. Bei ihr trat er auf jeden Fall nervös von einem Fuß auf den anderen. »Dann kann ich mich wenigstens gemütlich hinsetzen und mich unterhalten. Ich habe eine Menge Leute gesehen, die bestimmt bei einem Krug Bier auftauen.«

»Er hat mich praktisch überhaupt nicht beachtet!« sagte Elayne in ungläubigem Staunen. »Es ist mir gleich, was für Streitigkeiten er mit meiner Mutter hat, aber er hat kein Recht... Nun, um Lord Gareth Bryne werde ich mich später kümmern. Ich muß mich mit Min unterhalten, Nynaeve.«

Nynaeve wollte ihr folgen, als Elayne zum Korridor vor der Küche eilte, denn Min würde ihnen ein paar klare Antworten geben, aber Siuan packte sie mit eisernem Griff am Arm und hielt sie fest.

Die Siuan Sanche, die vor diesen Aes Sedai demütig das Haupt gebeugt hatte, war nicht mehr. Hier trug niemand die Stola. Sie erhob nicht einmal die Stimme; das hatte sie nicht nötig. Sie fixierte Juilin mit einem Blick, der ihn fast aus der Haut fahren ließ. »Paßt gut auf, welche Fragen Ihr stellt, Diebfänger, sonst schlachtet Ihr euch vielleicht selbst, um auf dem Markt feilgeboten zu werden.« Der Blick aus den kalten blauen Augen erfaßte Birgitte und Marigan. Marigan verzog den Mund, als spüre sie einen schlechten Geschmack, und sogar Birgitte wirkte nervös. »Ihr zwei sucht eine Aufgenommene namens Theodrin und fragt sie nach Schlafplätzen für heute nacht. Diese Kinder sehen aus, als sollten sie längst im Bett liegen. Also, was ist? Bewegt Euch gefälligst!« Bevor die beiden noch einen Schritt getan hatten — und Birgitte war dabei genauso schnell, wenn nicht noch schneller als Marigan —, fuhr sie Nynaeve an: »Und Ihr, ich habe Fragen an Euch! Man hat Euch gesagt, Ihr solltet mir zur Verfügung stehen, und ich schlage vor, Ihr haltet Euch daran, falls Ihr wißt, was gut für Euch ist!«

Es war, als sei sie in einen Wirbelwind geraten. Bevor Nynaeve wußte, wie ihr geschah, scheuchte Siuan sie eine wacklige Treppe mit einem zusammengenagelten Geländer aus ungestrichenen Latten hoch und einen Gang mit unebenem Fußboden entlang in eine winzige Kammer mit zwei engen Stockbetten, die an der Wand befestigt waren. Siuan nahm den einzigen Hocker und bedeutete ihr, sie solle sich auf das untere Bett setzen. Nynaeve entschloß sich allerdings, stehenzubleiben, wenn auch nur, um zu beweisen, daß sie sich nicht herumstoßen ließ. Sonst wies die Kammer nur wenige Einrichtungsgegenstände auf. Auf einem Waschtisch, bei dem man einen Ziegelstein unter ein Bein gelegt hatte, damit er nicht kippte, standen ein angeschlagener Wasserkrug und eine Schüssel. Ein paar Kleider hingen an Haken, und in einer Ecke lag etwas wie eine zusammengerollte Bettunterlage. Sie war ja schon innerhalb eines Tages tief gesunken, aber Siuan war noch viel tiefer gesunken, als sie es sich jemals vorgestellt hatte. Sie glaubte nicht, von dieser Frau zu viele Schwierigkeiten erwarten zu dürfen. Obwohl Siuans Augen immer noch die selben waren.

Siuan schnaubte. »Wie es Euch gefällt, Mädchen. Der Ring. Man muß dazu die Macht nicht einsetzen?«

»Nein. Ihr habt doch gehört, wie ich Sheriam sagte... «

»Jeder kann ihn benützen? Auch eine Frau, die mit der Macht nicht umgehen kann? Auch ein Mann?«

»Möglicherweise auch ein Mann.« Ter'Angreal, die keinen Gebrauch der Macht verlangten, funktionierten gewöhnlich sowohl bei Frauen wie auch bei Männern.

»Eine Frau auf jeden Fall.«

»Dann werdet Ihr mir beibringen, wie man ihn benützt.«

Nynaeve hob eine Augenbraue. Das konnte vielleicht ein Druckmittel sein, um zu bekommen, was sie wollte. Falls nicht, hatte sie noch eines zur Verfügung. Vielleicht. »Wissen sie denn davon, was ihr vorhabt? Sie haben doch nur davon gesprochen, ich solle ihnen zeigen, wie er funktioniert. Von Euch war nie die Rede.«

»Sie wissen es nicht.« Siuan machte keineswegs einen angeschlagenen Eindruck. Sie lächelte sogar, wenn auch nicht gerade freundlich. »Und sie werden es nicht erfahren. Sonst erfahren sie nämlich auch, daß Elayne und Ihr euch als vollwertige Schwestern ausgegeben habt, seit Ihr Tar Valon verlassen habt. Moiraine mag das ja bei Egwene durchgehen lassen. Falls sie es allerdings nicht auch versucht hat, will ich keine Seilschlinge mehr von einem Schifferknoten unterscheiden können. Aber Sheriam und Carlinya und...? Bevor sie mit Eurer Bestrafung fertig sind, werdet Ihr quieken wie ein Ferkel! Lange vorher schon.«

»Das ist lächerlich.« Nynaeve wurde bewußt, daß sie auf der Bettkante saß. Sie erinnerte sich überhaupt nicht daran, daß sie sich hingesetzt hatte. Thom und Juilin würden den Mund halten. Sonst wußte niemand davon. Sie mußte unbedingt mit Elayne sprechen. »Wir haben nichts dergleichen behauptet.«

»Lügt mich nicht an, Mädchen. Falls ich eine Bestätigung brauchte, hat Euer Blick mir die geliefert. Euer Magen flattert ganz ordentlich, oder?«

Allerdings war der ins Flattern gekommen. »Natürlich nicht. Wenn ich Euch etwas beibringe, dann nur, weil ich es will.« Sie würde sich von dieser Frau nicht herumstoßen lassen. Der letzte Rest von Mitleid war wie weggeblasen. »Falls ich es tue, will ich etwas dafür haben. Ich will Euch und Leane untersuchen. Ich will wissen, ob man die Folgen einer Dämpfung rückgängig machen kann.«

»Kann man nicht«, behauptete Siuan entschieden. »Jetzt... «

»Man sollte eigentlich alles heilen können bis auf den Tod.«

»›Sollte‹ heißt nicht ›kann‹, Mädchen. Man hat Leane und mir versprochen, daß man uns in Ruhe läßt. Sprecht mit Faolain oder mit Emara, wenn Ihr wissen wollt, was mit einer geschieht, die uns belästigt. Sie waren nicht die ersten und nicht die schlimmsten, aber sie haben am längsten geweint.«

Ihr anderes Druckmittel. Sie wäre beinahe in Panik geraten und hätte es vergessen. Falls es überhaupt existierte. Ein Blick nur. »Was würde Sheriam sagen, wenn sie wüßte, daß Ihr und Leane keineswegs so böse aufeinander seid, daß Ihr euch gegenseitig die Haare ausreißen möchtet?« Siuan blickte sie nur an. »Sie glauben, Ihr wärt nun gezähmt, ja? Je schneller Ihr auf eine losgeht, die nicht zurückschlagen kann, desto eher werden sie es als Beweis dafür ansehen, wenn ihr schon springt kaum, daß eine Aes Sedai hustet. Reichte es, ein bißchen die Duckmäuser zu spielen, um sie vergessen zu machen, daß Ihr beiden viele Jahre lang Hand in Hand gearbeitet habt? Oder habt Ihr sie davon überzeugen können, daß die Dämpfung alles an Euch verändert habe und nicht bloß Euer Gesicht? Wenn sie herausfinden, daß Ihr hinter ihrem Rücken intrigiert und sie manipuliert, dann werdet Ihr lauter quieken als irgendein Ferkel.« Die andere zuckte mit keiner Wimper. Siuan würde die Beherrschung bestimmt nicht verlieren und irgend etwas entschlüpfen lassen; etwas zugeben. Und doch hatte etwas in diesem kurzen Blick gelegen, den Nynaeve beobachtet hatte, da war sie sicher. »Ich will Euch — und Leane — untersuchen, wann immer ich möchte. Und Logain.« Vielleicht konnte sie auch in seinem Fall einiges feststellen. Männer waren anders, und so wäre es, als betrachte sie ein Problem aus anderem Blickwinkel. Nicht, daß sie ihn heilen würde, und fände sie auch einen Weg dazu. Rands Gebrauch der Macht war notwendig. Sie hatte nicht vor, noch einen Mann auf die Welt loszulassen, der mit der Macht umgehen konnte. »Wenn nicht, könnt Ihr den Ring und Tel'aran'rhiod vergessen.« Was wollte Siuan eigentlich damit erreichen? Wahrscheinlich wollte sie nur wieder ein Gefühl genießen, beinahe wie eine Aes Sedai zu sein. Energisch unterdrückte Nynaeve das gerade wieder aufgetauchte Mitleid. »Und wenn Ihr weiterhin behauptet, wir hätten uns als Aes Sedai ausgegeben, werde ich keine andere Wahl haben und ihnen von Euch und Leane berichten. Man mag ja Elayne und mir solange die Hölle heiß machen, bis die Wahrheit ans Licht kommt, aber sie wird, und diese Wahrheit wird zur Folge haben, daß Ihr länger weint als Faolain und Emara zusammen.«

Das Schweigen dehnte sich. Wie brachte es die andere fertig, so kühl zu wirken? Nynaeve hatte immer geglaubt, es habe mit den typischen Eigenschaften einer Aes Sedai zu tun. Ihre Lippen fühlten sich trocken an, aber das war auch das einzige Trockene an ihr. Wenn sie sich geirrt hatte, wenn Siuan bereit war, die Herausforderung anzunehmen, dann wußte sie, wer am Ende weinen würde.

Schließlich murrte Siuan: »Ich hoffe, Moiraine hat Egwene nicht auch so aufmüpfig werden lassen.« Nynaeve verstand nichts, aber sie hatte auch kaum Zeit zum Überlegen. Im nächsten Augenblick beugte sich die andere Frau mit ausgestreckter Hand vor. »Ihr hütet meine Geheimnisse und ich die Euren. Unterrichtet mich im Gebrauch des Rings, und dafür könnt Ihr nach Herzenslust die Ergebnisse einer Dämpfung untersuchen.«

Nynaeve konnte gerade noch ein erleichtertes Seufzen unterdrücken, als sie die angebotene Hand drückte. Sie hatte es geschafft. Zum erstenmal in einer Zeitspanne, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, hatte jemand versucht, sie einzuschüchtern, und war damit gescheitert. Sie fühlte sich beinahe schon stark genug, um Moghedien gegenüberzutreten. Beinahe.

Elayne holte Min gerade noch am Hinterausgang der Schenke ein und schritt neben ihr her. Min hatte sich etwas, das aussah wie zwei oder drei weiße Männerhemden, unter einen Arm geklemmt. Die Sonne stand genau über den Baumwipfeln, und in ihrem langsam in Dämmerung übergehenden Schein wirkte der Erdboden im Stallhof, als habe man ihn vor nicht allzu langer Zeit mit der Harke gewendet. Genau in der Mitte stand ein mächtiger Baumstumpf; wahrscheinlich der einer Eiche. Der Steinbau des Stalles mit seinem Strohdach wies keine Torflügel auf, und so konnte man die Männer gut beobachten, die zwischen den besetzten Boxen arbeiteten. Zu ihrer Überraschung stand Leane am Rand des Schattens neben dem Stall und unterhielt sich mit einem hochgewachsenen Mann. Er war grob gekleidet und wirkte wie ein Schmied oder auch wie ein Wirtshausschläger. Das Überraschende war, wie nahe sich Leane bei ihm befand, als sie den Kopf im Nacken hielt und zu ihm aufblickte. Und dann tätschelte sie doch tatsächlich seine Wange, bevor sie sich abwandte und zur Schenke zurückeilte. Der große Mann sah ihr noch einen Moment lang hinterher und verschmolz dann mit dem Schatten.

»Frage mich bitte nicht, was sie vorhat«, sagte Min.

»Seltsame Leute kommen und besuchen Siuan und sie, und einige der Männer... Nun, du hast es ja selbst gesehen.«

Elayne war es eigentlich gleichgültig, was Leane machte. Doch nun, da sie mit Min allein war, wußte sie nicht, wie sie das Thema ansprechen sollte, an dem sie interessiert war. »Was machst du so?«

»Wäsche waschen«, knurrte Min und nahm gereizt ihre Hemden auf den anderen Arm. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie gut es tut, Siuan zur Abwechslung mal als die Maus zu sehen. Sie weiß nicht, ob der Adler sie fressen oder zum Haustier machen wird, aber sie hat die gleiche Entscheidungsfreiheit, die sie anderen immer läßt. Gar keine nämlich!«

Elayne beschleunigte ihren Schritt, um mitzuhalten, als sie über den Hof gingen. Was das auch sollte, jedenfalls gab es ihr keine Möglichkeit, auf ihr Thema zu sprechen zu kommen. »Hast du geahnt, was Thom vorschlagen würde? Wir bleiben jedenfalls.«

»Das habe ich ihnen vorhergesagt. Dazu brauchte ich keine Vision.« Min verlangsamte ihren Schritt. Sie befanden sich zwischen dem Stall und einer bröckligen Mauer in einer schmalen Gasse von niedergetrampeltem Gestrüpp und Unkraut. »Ich habe einfach nicht glauben können, daß ihr euch die Chance entgehen laßt, weiterzustudieren. Du warst doch immer so ehrgeizig. Auch Nynaeve, aber sie gibt es nicht zu. Ich wünschte, ich hätte unrecht. Ich würde mit euch kommen. Zumindest...« Sie knurrte wütend irgend etwas vor sich hin. »Die drei, die ihr mitgebracht habt, bedeuten Schwierigkeiten, und das ist eine Vision.«

Da war er. Der Ansatzpunkt, den sie benötigte. Doch anstatt zu fragen, was sie auf der Zunge hatte, sagte sie: »Du meinst damit Marigan und Nicola und Areina? Wie könnten sie denn Schwierigkeiten bedeuten?« Nur ein Idiot mißachtete Mins Visionen.

»Ich weiß auch nicht genau. Ich habe lediglich aus dem Augenwinkel so etwas wie eine Aura entdeckt. Nie, wenn ich sie direkt anblickte, wo ich etwas hätte erkennen können. Es gibt nicht viele, die die gesamte Zeit über eine Aura tragen, weißt du. Schwierigkeiten. Vielleicht klatschen sie zuviel. Habt ihr etwas unternommen, wovon die Aes Sedai nichts erfahren sollten?«

»Bestimmt nicht«, sagte Elayne knapp. Min sah sie von der Seite her an, und sie fügte hinzu: »Na ja, jedenfalls nichts, wozu wir nicht gezwungen gewesen wären. Und davon können sie eigentlich unmöglich etwas wissen.« Das brachte das Gespräch auch nicht dorthin, wo sie es haben wollte. So holte sie tief Luft und wagte den Sprung ins kalte Wasser. »Min, du hattest doch eine Vision in bezug auf Rand und mich, ja?« Sie ging zwei Schritte weiter, bevor ihr bewußt wurde, daß die andere stehengeblieben war.

»Ja.« Es klang sehr vorsichtig.

»Du hast gesehen, daß wir uns verlieben würden.«

»Nicht genau. Ich sah, daß du dich in ihn verlieben würdest. Ich weiß nicht, was er für dich empfindet, nur, daß er auf irgendeine Weise an dich gebunden ist.«

Elaynes Mundpartie spannte sich. Das war ungefähr, was sie erwartet hatte, aber nicht unbedingt hören wollte. Über ›ich wünschte‹ und ›ich möchte‹ kann man stolpern, aber ›es ist‹ gibt einen glatten Pfad. Das hatte Lini gesagt. Man mußte sich an das halten, was wirklich war, und nicht, was man gerne hätte. »Und du hast gesehen, daß da noch jemand war. Jemand, mit der ich ... ihn teilen ... mußte.«

»Zwei«, sagte Min heiser. »Zwei andere. Und ... und ich bin eine davon.«

Elayne hatte den Mund bereits zur nächsten Frage geöffnet, doch nun schnappte sie nach Luft. »Du?« brachte sie schließlich mühsam heraus.

Min fauchte: »Ja, ich! Glaubst du etwa, ich könnte mich nicht verlieben? Ich wollte ja nicht, aber es ist eben passiert und damit hat sich's.« Sie stolzierte an Elayne vorbei die Gasse hinunter. Diesmal brauchte Elayne länger, um sie einzuholen.

Das erklärte natürlich einiges. Warum Min immer so nervös das Thema umgangen hatte. Die Stickerei auf ihren Aufschlägen. Und wenn sie sich nicht täuschte, trug Min auch etwas Rouge auf den Wangen. Was empfinde ich nun eigentlich dabei? fragte sie sich. Sie kam nicht ganz klar damit. »Wer ist die dritte?« fragte sie leise.

»Keine Ahnung«, murmelte Min. »Ich weiß nur, daß sie ziemlich launisch sein muß. Aber es ist nicht Nynaeve, dem Licht sei Dank.« Sie lachte schwach. »Ich glaube, das hätte ich nicht überlebt.« Noch einmal warf sie Elayne einen vorsichtig forschenden Seitenblick zu. »Was wird das für uns beide bedeuten? Ich mag dich. Ich hatte niemals eine Schwester, aber manchmal habe ich das Gefühl, daß du... Ich will deine Freundin sein, Elayne, und ich werde dich weiterhin mögen, gleich, was passiert, aber ich kann auch nicht einfach aufhören, ihn zu lieben.«

»Mir gefällt der Gedanke nicht besonders, einen Mann teilen zu müssen«, sagte Elayne verkrampft. Das war wohl die Untertreibung ihres Lebens.

»Mir auch nicht Nur... Elayne, ich schäme mich ja, es zugeben zu müssen, aber ich werde ihn nehmen, ganz gleich, wie ich ihn bekommen kann. Nicht, daß eine von uns überhaupt eine Wahl hätte. Licht, er hat mein ganzes Leben durcheinandergebracht. Wenn ich bloß an ihn denke, dreht sich mir schon der Kopf.« Es klang, als könne sich Min nicht entscheiden, ob sie lachen oder weinen solle.

Elayne atmete langgezogen aus. Es war nicht Mins Schuld. War es besser, daß es Min war und nicht beispielsweise Berelain oder eine andere, die sie nicht leiden konnte? »Ta'veren«, sagte sie. »Er formt die Welt um sich herum. Wir sind Splitter in einem Wasserstrudel. Aber ich glaube mich erinnern zu können, daß du und ich und Egwene schworen, wir würden niemals einen Mann zwischen uns und unsere Freundschaft treten lassen. Irgendwie werden wir schon damit fertig, Min. Und wenn wir herausfinden, wer die dritte ist... Na ja, auch damit werden wir fertig. Irgendwie.« Eine dritte! Konnte das Berelain sein? Ach, Blut und Asche!

»Irgendwie«, sagte Min niedergeschlagen. »Inzwischen sitzen wir beide hier in einer Falle. Ich weiß, daß es eine andere gibt, ich weiß, daß ich nichts dagegen unternehmen kann, aber es war schon schwierig genug, mich an den Gedanken zu gewöhnen, daß du und... Die Frauen in Cairhien sind keineswegs alle wie Moiraine. Ich habe einst in Baerlon eine Adlige aus Cairhien kennengelernt. Verglichen mit ihr wirkte Moiraine bestenfalls wie Leane, aber manchmal sagte sie Sachen, machte Andeutungen... Und ihre Auren!

Ich glaube nicht, daß man irgendeinen Mann in der ganzen Stadt mit ihr hätte allein lassen dürfen, außer er war häßlich, lahm, oder noch besser, tot.«

Elayne schnaubte, aber sie brachte es fertig, im leichten Plauderton zu sprechen: »Mach dir darüber keine Sorgen. Wir haben eine weitere Schwester, du und ich, eine, die du noch nicht kennengelernt hast. Aviendha paßt genau auf Rand auf, und er kann keine zehn Schritte tun, ohne von einer Wache aus Töchtern des Speers begleitet zu werden.« Eine Frau aus Cairhien? Berelain hatte sie wenigstens schon kennengelernt und wußte einiges von ihr. Nein, sie würde sich nicht wie ein hirnloser Backfisch den Kopf zerbrechen. Eine erwachsene Frau stellte sich der Welt, wie sie wirklich war, und machte das Beste daraus. Wer konnte es nur sein?

Sie waren auf einen offenen Hof hinausgetreten, auf dem einige erkaltete Aschehaufen verteilt waren. Mächtige Kessel, häufig leicht eingedellt, wo man den Rost abgeschmirgelt hatte, standen an der Außenmauer, die an mehreren Stellen eingestürzt war, wohl durch den Druck der Bäume, die in den Lücken wuchsen. Trotz der tiefer werdenden Schatten im Hof standen immer noch zwei Kessel auf ihren Feuern, während drei Novizinnen mit schweißnassen Haaren und hochgebundenen weißen Rücken hart an Waschbrettern arbeiten mußten, die in breiten Fässern mit Seifenbrühe steckten.

Nach einem Blick auf die Hemden auf Mins Arm griff Elayne nach Saidar. »Laß mich bei denen helfen.«

Es war verboten, die Macht zu irgendwelchen ihnen zugeteilten Arbeiten zu benützen, denn man war der Meinung, körperliche Arbeit schule den Charakter, aber das hier zählte nicht dazu. Wenn sie die Hemden im Wasser schnell genug herumwirbeln ließ, gab es doch keinen Grund, nasse Hände zu bekommen. »Erzähle mir alles. Sind Siuan und Leane wirklich so verändert, wie es scheint? Wie bist du hierhergekommen? Ist Logain wirklich auch hier? Und warum wäschst du die Sachen eines Mannes? Alles!«

Min lachte. Offensichtlich war sie froh, das Thema wechseln zu können. »›Alles‹ würde eine ganze Woche brauchen. Aber ich werde mir Mühe geben. Zuerst habe ich Siuan und Leane geholfen, aus dem Kerker zu entkommen, in den Elaida sie gesteckt hatte, und dann... «

Elayne gab sich gebührend erstaunt und wob derweil Stränge aus Luft, um die Kessel mit kochendem Wasser von den Feuern zu heben. Sie bemerkte die ungläubigen Blicke der Novizinnen kaum. Sie war mittlerweile an ihre eigene Kraft gewöhnt, und es kam ihr nur selten in den Sinn, daß sie gedankenlos Dinge vollbrachte, die viele vollwertige Aes Sedai nie leisten konnten. Wer war die dritte Frau? Aviendha sollte auf jeden Fall sehr gut auf ihn achtgeben!

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