40 Das Rad webt

Sobald das Gebäude Galad verbarg, blickte Nynaeve schnell geradeaus und beobachtete die vor ihnen liegende Straße. Wut stieg in ihr auf, sowohl auf sie selbst wie auf Galadedrid Damodred. Du hirnloser Wollkopf! Sie befanden sich in einer engen Gasse wie so viele hier, mit runden Steinen gepflastert, rechts und links graue Ladengebäude und Wohnhäuser und Tavernen, von einer langsam dünner werdenden nachmittäglichen Menschenmenge belebt. Wenn du nicht in die Stadt gekommen wärst, hätte er dich nie entdeckt! Jedenfalls waren es nicht mehr genug Menschen, daß man sich dazwischen hätte verbergen können. Du mußtest ja unbedingt den Propheten sehen! Du mußtest unbedingt glauben, der Prophet würde dich wegzaubern, bevor Moghedien dich findet! Wann wirst du endlich lernen, dich auf niemanden zu verlassen als auf dich selbst? Einen Augenblick später hatte sie sich entschlossen. Wenn Galad um diese Ecke kam und sie nicht sah, würde er anfangen, in den Läden und vielleicht auch in den Tavernen zu suchen.

»Hier herüber.« Sie raffte ihre Röcke und huschte in die nächste Gasse, wo sie sich mit dem Rücken gegen die Mauer drückte. Niemand beachtete sie weiter, so unauffällig wie sie sich verhielt, und es interessierte sie nicht, was man über die Zustände in Samara sagte. Uno und Ragan standen neben ihr, bevor sie noch die Mauer berührte, und sie drängten sie noch ein Stück weiter in die staubige, ungepflasterte Gasse hinein, an einem alten, gesprungenen Eimer und einem Regenwasserbottich vorbei, der so ausgetrocknet war, daß er beinahe nach innen zusammenfiel. Wenigstens machten sie, was sie wollte. Auf gewisse Weise. Mit angespannten Muskeln und den Händen an den langen Griffen der Schwerter auf ihren Rücken waren sie bereit, sie zu beschützen, ob sie das nun wünschte oder nicht. Laß sie, du Närrin! Glaubst du etwa, du könntest dich selbst beschützen?

Zornig genug war sie. Galad! Ausgerechnet er! Sie hätte die Menagerie niemals verlassen dürfen! Eine törichte Laune, und die konnte ihnen nun alles verderben. Sie konnte hier so wenig die Macht benützen wie gegen Masema. Allein die Möglichkeit, daß sich Moghedien oder Schwarze Schwestern in Samara aufhalten könnten, zwang sie dazu, sich auf den Schutz durch die beiden Männer zu verlassen. Das reichte, um ihren Zorn noch weiter zu schüren. Sie hätte am liebsten in die Mauer hinter sich gebissen. Ihr war klar, warum die Aes Sedai ihre Behüter hatten, jedenfalls alle außer den Roten. Ihrem Verstand war das klar. In ihrem Herzen löste das nur den ohnmächtigen Wunsch aus, zu fauchen und kratzen und beißen...

Galad erschien und schritt mit suchenden Blicken langsam zwischen den anderen Passanten hindurch. Normalerweise hätte er vorbeigehen müssen — in der Tat! —, aber beinahe augenblicklich fiel sein Blick auf die Seitengasse und damit auf sie. Er besaß noch nicht einmal soviel Anstand, zufrieden oder wenigstens überrascht dreinzublicken.

Uno und Ragan traten nebeneinander, als sich Galad der Gasse zuwandte. Gedankenschnell hatte der Einäugige sein Schwert gezogen, und Ragan war nicht viel langsamer, obwohl er sich noch die Zeit nahm, sie tiefer in die enge Gasse hineinzustoßen. Sie stellten sich hintereinander auf. Sollte Galad an Uno vorbeikommen, müßte er sich immer noch Ragan zum Kampf stellen.

Nynaeve knirschte mit den Zähnen. Sie könnte dafür sorgen, daß all diese Schwerter völlig nutzlos und überflüssig wären. Sie spürte die Wahre Quelle wie ein unsichtbares Licht über ihrer Schulter, und sie wartete auf ihre Berührung. Sie könnte es tun. Falls sie es wagte.

Galad blieb am Eingang der Gasse stehen, den Umhang zurückgeworfen und eine Hand gelassen am Heft seines Schwertes ruhend, das Bild einer gespannten Stahlfeder. Wäre nicht der auf Hochglanz polierte Harnisch gewesen, hätte er sich auch auf einem Hofball befinden können, so elegant wirkte er.

»Ich will keinen von Euch töten, Schienarer«, sagte er ruhig zu Uno. Nynaeve hatte Elayne und Gawyn von Galads Geschick mit dem Schwert erzählen hören, aber zum erstenmal wurde ihr klar, daß er möglicherweise wirklich so gut war, wie sie behaupteten. Zumindest glaubte er daran. Zwei altgediente Soldaten mit gezogenen Klingen, und er sah sie an wie ein Wolfshund ein paar Schoßhündchen, suchte den Kampf nicht, war aber vollkommen sicher, daß er mit beiden fertig würde. Ohne den Blick ganz von den beiden Männern zu wenden, sagte er zu ihr: »Eine andere wäre vielleicht in einen Laden oder eine Schenke gelaufen, aber Ihr tut niemals, was man erwartet. Laßt Ihr mich mit Euch sprechen? Es ist nicht notwendig, mich zu zwingen, diese Männer zu töten.«

Keiner der Passanten blieb stehen, doch obwohl drei Männer ihr die Sicht nahmen, konnte sie sehen, wie sie sich die Köpfe verrenkten, um einen Blick darauf zu erhaschen, was den Weißmantel dahin gelockt hatte. Und natürlich bemerkten sie die gezogenen Schwerter. In diesen Köpfen würden bald neue Gerüchte ausgebrütet, und sie würden schneller durch die Stadt fliegen als die schnellsten Rauchschwalben.

»Laßt ihn vorbei«, befahl sie. Als sich Uno und Ragan nicht rührten, wiederholte sie den Befehl etwas schärfer. Dann traten sie ganz langsam zur Seite, soweit es die enge Gasse gestattete, und obwohl keiner von beiden ein Wort sagte, war etwas wie zorniges Gemurre zu vernehmen. Galad schritt geschmeidig an ihnen vorbei und schien die Schienarer zu vergessen. Sie vermutete aber, es sei ein Fehler, das zu glauben, und die Männer mit den Skalplocken glaubten es offensichtlich tatsächlich nicht.

Abgesehen von den Verlorenen konnte sie sich keinen Mann vorstellen, den sie im Augenblick weniger zu treffen wünschte, aber bei diesem Gesicht war sie sich ihrer beschleunigten Atmung und ihres Herzklopfens nur zu bewußt. Es war einfach lächerlich. Warum konnte dieser Mann nicht häßlich sein? Oder wenigstens durchschnittlich aussehen?

»Euch war klar, daß ich wußte, Ihr verfolgt mich.« Die Anschuldigung brach heftig aus ihr heraus, obwohl sie gar nicht wußte, wessen sie ihn eigentlich beschuldigte. Wahrscheinlich, weil er nicht getan hatte, was sie wollte und erwartete, dachte sie zerknirscht.

»Das habe ich angenommen, sobald ich Euch erkannte, Nynaeve. Ich erinnere mich daran, daß Ihr gewöhnlich mehr seht, als Ihr zugebt.«

Sie würde sich nicht von ihm durch Komplimente ablenken lassen. Sie sah ja, wohin das bei Valan Luca geführt hatte. »Was macht Ihr in Ghealdan? Ich glaubte, Ihr wärt auf dem Weg nach Altara.«

Einen Augenblick lang sah er mit diesen dunklen, schönen Augen auf sie herab, und dann lachte er plötzlich. »Auf der ganzen Welt, Nynaeve, würdet nur Ihr allein mich das fragen, was eigentlich ich Euch fragen sollte. Also gut. Ich werde Euch die Frage beantworten, obwohl es eigentlich anders herum sein sollte. Ich hatte Marschorder nach Salidar in Altara, doch alle Befehle wurden abgeändert, als dieser Prophet... Was ist los mit Euch? Ist Euch schlecht?«

Nynaeve zwang sich dazu, eine unbeteiligte Miene zu machen. »Natürlich nicht«, antwortete sie gereizt. »Ich bin bei bester Gesundheit, danke der Nachfrage.« Salidar! Natürlich! Es war, als habe sich bei der Erwähnung dieses Namens eines von Aludras Feuerstöckchen in ihrem Hirn entzündet. All dieses Kopfzerbrechen, und dann gab ihr Galad so nebenbei diesen Namen, den sie aus eigener Kraft nicht aus ihrem Gedächtnis hatte ausgraben können. Wenn nur Masema schnell ein Schiff auftrieb! Wenn sie nur sicherstellen könnte, daß Galad sie nicht verriet. Natürlich nicht, indem sie ihn von Uno und Ragan umbringen ließ. Was Elayne auch sagen mochte, Nynaeve glaubte jedenfalls nicht, daß sie es gern hätte, wenn man ihren Bruder niederstach. Wenig Aussichten darauf, daß er glauben würde, Elayne befinde sich nicht bei ihr. »Ich komme nur noch nicht über die Überraschung hinweg, Euch hier zu anzutreffen.«

»Das dürfte eine Kleinigkeit sein gegen meine, als ich herausfand, daß Ihr aus Sienda entschlüpft wart.« Auch der plötzliche Ernst stand diesem schönen Männergesicht unglücklicherweise sehr gut, doch sein Tonfall minderte dessen Wirkung auf sie. Ein wenig. Er klang, als halte er einem kleinen Mädchen eine Strafpredigt, weil sie sich nach dem Schlafengehen noch aus dem Haus gestohlen hatte, um auf einen Baum zu klettern. »Mir war furchtbar schlecht vor Sorgen. Was beim Licht ist Euch da eingefallen? Habt Ihr eine Ahnung, welches Risiko Ihr dabei eingegangen seid? Und dann noch hierher zu kommen, ausgerechnet nach Samara. Elayne sattelt ja ein Pferd immer am liebsten im vollen Galopp, aber ich hoffte, daß wenigstens Ihr mehr gesunden Menschenverstand hättet. Dieser sogenannte Prophet...« Er brach ab und sah die beiden Männer an. Uno hatte sein Schwert auf den Boden gestützt, und seine vernarbten Hände ruhten auf dem Knauf. Ragan schien so konzentriert die Schneide seiner Klinge zu inspizieren, daß er nichts sah oder hörte.

»Ich habe Gerüchte vernommen«, fuhr Galad bedächtig fort, »daß er ein Schienarer sei. Ihr könnt doch wohl nicht so hirnlos sein, Euch irgendwie mit ihm einzulassen!« Es lag ein für ihren Geschmack viel zu fragender Unterton in seinen Worten.

»Keiner von beiden ist der Prophet, Galad«, sagte sie trocken. »Ich kenne sie schon eine ganze Weile, das kann ich Euch sagen. Uno, Ragan, Ihr solltet jetzt Eure Schwerter wegstecken, es sei denn Ihr hättet vor, Eure Zehennägel damit zu reinigen. Also?« Sie zögerten, gaben aber doch nach. Uno murrte ein wenig und blickte böse drein, aber sie steckten die Waffen weg. Männer reagierten meist, wenn man sie streng genug anfuhr. Die meisten jedenfalls.

Manchmal.

»Ich hätte es von ihnen auch kaum angenommen, Nynaeve.« Galads Tonfall, noch trockener als der ihre, ließ wieder Zorn in ihr aufsteigen, doch als er fortfuhr, klang es eher verärgert als überheblich. Und besorgt. Das allerdings verstärkte ihren Zorn zusätzlich. Er verursachte bei ihr beinahe Herzklopfen, und er besaß die Stirn, sich auch noch Sorgen zu machen! »Ich weiß nicht, worin Ihr und Elayne hier wieder verwickelt seid, und es ist mir auch gleich, solange ich Euch heraushelfen kann, bevor man Euch etwas antut. Der Handel auf dem Fluß ist fast erlegen, aber innerhalb der nächsten Tage sollte doch einmal ein passendes Schiff hier anlegen. Laßt mich wissen, wo ich Euch finden kann, und ich werde Euch eine Passage nach irgendeinem Ort in Altara buchen. Von dort aus könnt Ihr dann nach Caemlyn weiterziehen.«

Unwillkürlich blieb ihr der Mund offen stehen. »Ihr meint damit, daß Ihr uns ein Schiff suchen werdet?«

»Das ist alles, was ich jetzt noch tun kann.« Es klang entschuldigend und er schüttelte dabei den Kopf, als sei er mit sich selbst uneins. »Ich kann Euch nicht selbst in Sicherheit bringen, denn ich muß hier meine Pflicht erfüllen.«

»Wir wollen Euch keineswegs von Euren Pflichten abhalten«, sagte sie, vielleicht ein wenig zu atemlos. Wenn er sie mißverstehen wollte, dann nur zu. Das, was sie sich am meisten von ihm wünschte, war lediglich, in Ruhe gelassen zu werden.

Er schien es für notwendig zu halten, sich zu verteidigen. »Es ist wohl kaum sicher, wenn ich Euch allein wegschicke, aber ein Schiff bringt Euch fort, bevor hier die ganze Grenzregion explodiert. Und das wird sie früher oder später. Es genügt bereits ein Funke, und der Prophet wird mit Sicherheit zuschlagen, selbst wenn kein anderer mithält. Ihr müßt dafür sorgen, daß Ihr schnell nach Caemlyn kommt, Ihr und Elayne. Alles, was ich verlange, ist Euer Versprechen, dorthin zu reisen. Die Burg ist nicht der richtige Ort für Euch beide. Oder für...« Er schloß schnell den Mund, doch er hätte genausogut fortfahren und den Namen Egwenes nennen können.

Es konnte nicht falsch sein, wenn auch Galad nach einem Schiff Ausschau hielt. Falls Masema durchaus vergessen konnte, ob er vorhatte, die Tavernen zu schließen oder nicht, war es auch möglich, daß er vergaß, jemanden auf die Suche nach einem Flußschiff zu schicken. Besonders, wenn ein solcher Anfall von Vergeßlichkeit im passenden Augenblick dafür sorgte, daß sie hierbleiben und ihm für seine eigenen Zwecke dienlich sein müßten. Es war bestimmt nicht falsch — falls sie Galad trauen konnte. Falls nicht, mußte sie einfach hoffen, er sei im Umgang mit dem Schwert doch nicht so gut, wie er sich das selbst einbildete. Ein düsterer Gedanke, aber er entsprach noch nicht einmal dem, was geschehen könnte und würde, sollte er sich als nicht vertrauenswürdig erweisen.

»Ich bin, was ich bin, Galad, und für Elayne gilt das gleiche.« Sich bei Masema um die Wahrheit herumzudrücken hatte einen schlechten Geschmack in ihrem Mund hinterlassen. Auf die Art der Weißen Burg drumherumreden war das einzige, was sie jetzt noch fertigbrachte. »Und Ihr seid, was Ihr jetzt eben seid.« Sie zog die Augenbrauen bedeutungsvoll hoch und deutete auf seinen weißen Umhang. »Diese Leute hassen die Burg, und sie hassen Frauen, die mit der Macht arbeiten können. Jetzt, da Ihr zu ihnen gehört, könnte es doch sein, daß innerhalb einer Stunde fünfzig von Euch hinter mir her sind und versuchen werden, mir einen Pfeil in den Rücken zu verpassen, falls sie mich nicht in eine Zelle schleppen können, oder? Mich und genauso auch Elayne.«

Galad zuckte irritiert mit dem Kopf. Oder vielleicht war er auch beleidigt? »Wie oft muß ich Euch das sagen? Ich würde niemals meiner Schwester Schaden zufügen lassen! Oder Euch.«

Es ärgerte sie unheimlich, sich darüber klar zu sein, daß sie sich über die Pause zwischen Elaynes Namen und ihrem eigenen geärgert hatte. Na und? Hatte er eben erst hinterher an sie gedacht. Sie war doch kein dummes Bauernmädel, das den Verstand verlor, weil ein Mann einen Blick hatte, der gleichzeitig schmelzend und unwahrscheinlich durchdringend war. »Wenn Ihr meint«, sagte sie, und sein Kopf ruckte wieder hoch.

»Sagt mir, wo Ihr Quartier bezogen habt, und ich bringe Euch die Kunde oder lasse sie überbringen, sobald ich ein geeignetes Schiff gefunden habe.«

Falls Elayne recht hatte, konnte er genausowenig lügen wie eine Aes Sedai, die ihre Drei Eide abgelegt hatte, und doch zögerte sie noch. Ein Fehler in dieser Angelegenheit könnte auch ihr letzter sein. Sie hatte wohl das Recht darauf, ihre eigenen Risiken einzugehen, aber hier war eben auch Elayne beteiligt. Und Thom und Juilin ebenfalls, denn sie war für die beiden verantwortlich, was sie selbst davon auch halten mochten. Doch sie war nun hier und mußte allein entscheiden. Genau besehen, war das wohl auch das Beste.

»Licht, Frau, was wollt Ihr denn noch von mir?« grollte Galad und hob die Hände ein Stück, als wolle er sie an den Schultern packen. Wie ein Blitz aus hellem Stahl war Unos Klinge zwischen ihnen, doch Elaynes Bruder schob sie einfach beiseite wie einen Zweig, der ihm im Weg war, und er beachtete sie nicht weiter. »Ich will Euch nicht schaden, weder jetzt noch jemals, das schwöre ich im Namen meiner Mutter. Ihr sagt, daß Ihr seid, was Ihr eben seid? Ich weiß, was Ihr seid. Und was Ihr nicht seid. Vielleicht zur Hälfte war der Grund, warum ich das trage«, er berührte einen Saum seines schneeweißen Umhangs, »weil Euch die Burg ausgesandt hat — Euch und Elayne und Egwene — das Licht mag wissen, warum, obwohl Ihr seid, was Ihr seid. Das war, als schicke man einen Jungen in eine Schlacht, der gerade erst gelernt hat, ein Schwert zu halten, und ich werde es ihnen niemals verzeihen. Ihr beide habt immer noch Zeit, Euch davon abzuwenden; Ihr müßt dieses Schwert nicht tragen. Die Burg ist zu gefährlich für Euch oder meine Schwester, besonders jetzt. Die halbe Welt ist mittlerweile zu gefährlich für Euch! Laßt mich helfen, Euch in Sicherheit zu bringen.« Die Anspannung wich aus seiner Stimme, doch sie klang nun rauher: »Ich bitte Euch, Nynaeve. Falls Elayne etwas zustoßen sollte... Ich wünschte so halb, Egwene sei bei Euch, damit ich... « Er fuhr sich mit einer Hand durch das Haar und blickte nach rechts und nach links, wohl im Bemühen, etwas zu entdecken, womit er sie überzeugen könne. Uno und Ragan hielten die Schwerter erhoben und bereit, sie ihm in den Leib zu stoßen, doch er schien sie gar nicht zu bemerken. »Im Namen des Lichts, Nynaeve, bitte erlaubt mir, zu tun, was mir möglich ist.«

Es war nur eine Kleinigkeit, die den Ausschlag für ihre Entscheidung gab. Sie befanden sich in Ghealdan. Amadicia war das einzige Land, in dem es offiziell als Verbrechen galt, wenn eine Frau die Macht benutzen konnte, und sie waren auf der anderen Seite des Flusses. Damit verblieb lediglich Galads Eid auf die Kinder des Lichts, der ihn zwingen könnte, gegen seine Pflicht Elayne gegenüber zu verstoßen. Sie glaubte, die Verwandtschaft werde sich in dieser Auseinandersetzung als stärker erweisen. Außerdem sah er wirklich einfach zu blendend aus, um ihn von Uno und Ragan töten zu lassen. Das hatte aber natürlich nichts mit ihrer Entscheidung zu tun. Selbstverständlich nicht.

»Wir sind bei Valan Lucas Truppe«, sagte sie schließlich.

Er blinzelte zunächst und runzelte die Stirn. »Valan Luca...? Meint Ihr damit etwa eine der Menagerien?« Ungläubigkeit und Abscheu schwangen in seiner Stimme mit. »Was im Namen des Lichts tut Ihr in solcher Gesellschaft? Die Leute, die solche Truppen führen, sind nicht besser als... Es macht nichts. Falls Ihr Geld benötigt, kann ich Euch welches geben. Genug, damit Ihr in eine anständige Schenke ziehen könnt.«

An seinen Worten zeigte sich die sichere Überzeugung, daß sie tun werde, was er wünschte. Nicht etwa: »Kann ich Euch mit ein paar Kronen aushelfen?« oder »Darf ich Euch ein Zimmer suchen?« Er glaubte, sie sollten in einer Schenke untergebracht werden, also würden sie in eine Schenke ziehen. Der Mann hatte sie vielleicht gut genug beobachtet, um vorauszusehen, daß sie sich in eine Gasse schleichen werde, aber wie es schien, kannte er sie überhaupt nicht. Außerdem gab es ja Gründe, bei Luca zu bleiben.

»Glaubt Ihr etwa, daß es in Samara noch ein Zimmer oder einen Heuboden gibt, der noch nicht besetzt wäre?« fragte sie ein wenig schnippischer, als sie vorgehabt hatte.

»Ich bin sicher, daß ich... «

Sie unterbrach ihn. »Der letzte Ort, an dem man nach uns suchen würde, ist eine der Menagerien.« Der letzte Ort zumindest, an dem alle außer Moghedien nach ihnen suchen würden. »Ihr seid doch auch der Meinung, daß wir uns soweit wie möglich verborgen halten sollen? Falls Ihr wirklich ein Zimmer finden solltet, ist es ziemlich wahrscheinlich, daß jemand anders hinausgewiesen würde. Ein Kind des Lichts, das ein Zimmer für zwei Frauen besorgt? Das würde den Tratsch geradezu herausfordern und die Blicke anziehen wie ein Abfallhaufen die Fliegen.«

Es gefiel ihm nicht. Er verzog das Gesicht und blickte Uno und Ragan so finster an, als sei es ihre Schuld. Immerhin hatte er genug Verstand, um es einzusehen. »Es ist kein angemessener Ort für eine von Euch, aber möglicherweise seid Ihr dort sicherer als irgendwo in der Stadt. Da Ihr wenigstens einverstanden wart, nach Caemlyn zu reisen, werde ich nichts mehr zu diesem Thema sagen.«

Sie machte eine nichtssagende Miene und ließ ihn denken, was er wollte. Wenn er glaubte, sie habe etwas versprochen, was sie keineswegs versprochen hatte, war das seine Angelegenheit. Aber sie mußte ihn soweit wie möglich von der Menagerie fernhalten. Der Anblick seiner Schwester in dieser pailettenbestickten weißen Hose würde einen Aufschrei hervorrufen, der jeden Ausbruch Masemas in den Schatten stellte. »Denkt aber daran, daß Ihr euch von der Menagerie fernhaltet. Jedenfalls, bis Ihr ein Schiff gefunden habt. Dann kommt bei Anbruch der Nacht zu den Wohnwagen der Truppe und fragt nach Nana.« Das gefiel ihm, wenn möglich, noch weniger, doch sie kam ihm energisch zuvor: »Ich habe kein einziges der Kinder des Lichts in den Vorstellungen gesehen. Wenn Ihr eine besucht, was glaubt Ihr, werden die Leute denken? Sie werden sich doch fragen, aus welchem Grund Ihr kommt!«

Sein Lächeln war immer noch berückend, doch zeigte er ein bißchen zu viele Zähne dabei. »Wie es scheint, habt Ihr auf alles eine Antwort. Habt Ihr wenigstens nichts dagegen, wenn ich Euch dorthin zurückbegleite?«

»Ich habe allerdings etwas dagegen! Es wird auch so schon genügend Gerüchte geben — denn hundert Leute müssen uns hier beobachtet haben, wie wir uns unterhielten...« Sie konnte die Straße nicht sehen, da sie von den drei Männern verdeckt wurde, aber sie zweifelte nicht daran, daß die Passanten immer noch neugierig in die Gasse hineinblickten. Dazu hielten Uno und Ragan nach wie vor die blanken Schwerter in den Händen. »... aber wenn Ihr mich zurückbegleitet, werden uns zehnmal so viele sehen!«

Sein schmerzhaft verzogenes Gesicht drückte sowohl Bedauern als auch Heiterkeit aus. »Auf alles eine Antwort«, knurrte er leise, »aber Ihr habt ja recht.« Ganz klar, daß er sich wünschte, es sei anders. »Hört mich, Schienarer«, sagte er und wandte sich ihnen zu. Seine Stimme klang plötzlich stählern. »Ich bin Galadedrid Damodred, und diese Frau steht unter meinem Schutz. Was ihre Begleiterin betrifft, wäre es für mich das kleinste Opfer, zu sterben, um sie vor Schaden zu bewahren. Falls Ihr gestattet, daß einer von ihnen auch nur das Geringste zugefügt wird, werde ich Euch suchen und töten.« Er beachtete die plötzliche gefährliche Ausdruckslosigkeit ihrer Mienen genausowenig wie ihre Schwerter und wandte sich zu ihr um. »Ich schätze, Ihr werdet mir auch jetzt nicht sagen, wo sich Egwene befindet?«

»Alles, was Ihr wissen müßt, ist, daß sie sich fern von hier befindet.« Sie faltete die Arme unter den Brüsten und spürte, wie ihr Herz hinter den Rippen stark klopfte. Machte sie vielleicht einen gefährlichen Fehler, nur eines hübschen Gesichts wegen? »Und sicherer, als irgend etwas sie machen könnte, was Ihr unternehmt.«

Er sah aus, als schenke er ihr keinen Glauben, ging aber nicht weiter darauf ein. »Mit etwas Glück finde ich innerhalb von ein oder zwei Tagen ein Schiff für Euch. Bis dahin bleibt immer bei der... Truppe dieses... Valan Luca. Benehmt Euch nicht auffällig und vermeidet jedes Aufsehen. Soweit das möglich ist bei dieser Haarfarbe. Und richtet Elayne aus, sie solle das nächste Mal nicht wieder vor mir davonlaufen. Das Licht war Euch gnädig, daß ich Euch noch unbeschadet vorgefunden habe, und es wird doppelt so gnädig sein müssen, um jeden Schaden von Euch abzuhalten, wenn Ihr versucht, auf eigene Faust durch Ghealdan zu ziehen. Die blasphemischen Schurken des Propheten sind überall, haben keinen Respekt vor dem Gesetz und vor anderen Menschen, und dabei habe ich noch gar keine Briganten mitgezählt, die ihren Vorteil aus diesem Durcheinander ziehen. Samara selbst ist ein Wespennest, aber wenn Ihr euch ganz still verhaltet und meine halsstarrige Schwester dazu bringt, daß sie dasselbe tut, dann finde ich einen Weg, Euch herauszuholen, bevor Ihr gestochen werdet.«

Es kostete sie Mühe, den Mund zu halten. Er übernahm das, was sie ihm gesagt hatte, und machte es zur Bedingung! Als nächstes würde der Mann vermutlich wollen, daß man Elayne und sie in Wolle einpackte und auf ein Regalbrett stellte. Wäre es nicht das Beste, wenn jemand das unternähme? fragte eine kleine Stimme in ihrem Inneren. Hast du nicht schon genug Unheil angerichtet, weil du unbedingt deinen Weg gehen mußtest? Sie sagte der Stimme energisch, sie solle ruhig sein. Die hörte nicht auf sie und begann statt dessen, alle möglichen Katastrophen und Beinahe-Katastrophen aufzuzählen, die auf ihre Sturheit zurückzuführen waren.

Er nahm ihr Schweigen offensichtlich für Zustimmung, wandte sich von ihr ab — und hielt inne. Ragan und Uno hatten ihm den Weg zur Straße versperrt. Sie sahen mit dieser trügerischen Gelassenheit im Blick zu ihr herüber, die sich so oft bei Männern zeigte, wenn sie kurz davor standen, gewalttätig zu werden. Die Luft schien zu knistern, bis sie ihnen mit einer schnellen Bewegung bedeutete, den Weg freizugeben. Die Schienarer senkten daraufhin ihre Klingen und traten zur Seite. Auch Galad nahm die Hand vom Heft seines Schwertes, schob sich an ihnen vorbei und verschwand in der Menge, ohne noch einmal zurückzublicken.

Nynaeve warf Uno und Ragan jeweils noch einen strafenden Blick zu, bevor sie dann in entgegengesetzter Richtung davonstolzierte. Nun hatte sie alles einmal richtig gut geplant, und dann hätten die beiden fast alles ruiniert. Männer schienen doch immer zu glauben, man könne alles mit Gewalt lösen. Hätte sie einen kräftigen Stock zur Hand, dann hätte sie damit am liebsten alle drei so lange verprügelt, bis sie Einsicht zeigten. Gewalt, pah!

Die Schienarer schienen jetzt aber wirklich einzusehen, daß sie ein Recht darauf hatte, ihnen böse zu sein, denn sie hatten die Schwerter wieder in die Scheiden auf ihren Rücken gesteckt und folgten ihr, ohne ein Wort zu sagen. Sie äußerten nicht einmal etwas, als sie zum zweitenmal falsch in eine Straße abbog und daraufhin zurückgehen mußte. Es war auch besser für sie, gerade in diesem Moment den Mund zu halten. Sie hatte endgültig genug davon, zu allem und jedem schweigen zu müssen. Zuerst Masema und dann Galad. Alles, was sie sich wünschte, war eine hauchdünne Ausrede, um endlich jemandem die Meinung sagen zu können. Besonders regte sie die kleine Stimme in ihrem Hinterkopf auf, die sie wohl soweit wie möglich verdrängt hatte, die aber einfach nicht aufgeben wollte.

Als sie sich schließlich wieder im geringen Verkehr auf der Lehmstraße außerhalb Samaras befanden, konnte sie den Einfluß des Stimmchens einfach nicht mehr leugnen. Sie machte sich Gedanken über Rands Arroganz, aber ihre eigene hatte sie selbst und andere so nahe an eine Katastrophe geführt, daß sie lieber nicht darüber nachdenken wollte. Im Falle Birgittes war sicherlich die Grenze überschritten, obwohl sie doch wenigstens lebte. Das Beste für Nynaeve wäre, sich mit niemandem mehr auseinanderzusetzen, auch nicht mit den Schwarzen Ajah und Moghedien, bevor nicht irgend jemand Kompetentes entschied, was weiter zu geschehen habe. Widerstand machte sich in ihr breit, aber den knüppelte sie jetzt mit der gleichen Härte nieder wie sonst den Thoms oder Juilins.

Sie würde nach Salidar gehen und die ganze Sache den Blauen übergeben. So sollte es geschehen. Sie hatte entschieden.

»Habt Ihr etwas gegessen, was Ihr nicht vertragt?« fragte Ragan sie unschuldig. »Ihr habt den Mund verzogen, als hättet Ihr eine Handvoll Vogelbeeren gekaut.«

Sie warf ihm einen Blick zu, der ihn augenblicklich den Mund zuklappen ließ, und marschierte weiter. Die beiden Schienarer folgten Seite an Seite.

Was sollte sie nur mit ihnen anfangen? Natürlich gab es keinen Zweifel daran, daß sie sich die beiden auf irgendeine Weise zunutze machen würde. Allein schon ihre äußere Erscheinung war zu wirkungsvoll, um darauf zu verzichten. Außerdem würden zwei weitere Augenpaare —nun, drei Augen, um genauer zu sein; sie mußte sich nur an den Anblick von Unos Augenklappe gewöhnen, auch wenn es ihr schwerfiel — weitere Augen würden also nützlich sein, um möglicherweise noch eher ein Schiff zu entdecken. Alles in Ordnung, falls Masema oder Galad schneller wären, aber sie wollte die beiden möglichst nicht mehr als unbedingt notwendig über ihre Aktivitäten wissen lassen. Man konnte nie wissen, was der eine oder der andere unternehmen würde.

»Folgt Ihr mir nun, weil Euch Masema sagte, Ihr solltet auf mich aufpassen«, verlangte sie zu wissen, »oder weil Galad dasselbe von Euch forderte?«

»Welchen verdammten Unterschied macht das schon?« knurrte Uno. »Wenn Euch der Lord Drache gerufen hat, dann müßt Ihr verflucht...« Er brach ab und runzelte die Stirn, als sie mahnend den Zeigefinger hob. Ragan betrachtete den Finger, als sei er eine Waffe.

»Werdet Ihr Elayne und mir helfen, Rand zu finden?«

»Wir haben nichts Besseres zu tun«, sagte Ragan trocken. »Wie die Lage ist, werden wir Schienar erst wiedersehen, wenn wir grau und zahnlos sind. Wir können genausogut mit Euch nach Tear reiten, oder wo er sich eben aufhält.«

Daran hatte sie noch gar nicht gedacht, aber es war sinnvoll. Zwei weitere Männer, die Thom und Juilin bei der Erledigung ihrer Aufgaben helfen und sich beim Wachestehen mit ihnen abwechseln konnten. Es war überflüssig, sie wissen zu lassen, wie lange das dauern und wie viele Unterbrechungen und Umwege es unterwegs geben werde. Es konnte sogar sein, daß die Blauen in Salidar niemand von ihnen weiterziehen lassen würden. Denn sobald sie die Aes Sedai fanden, waren sie lediglich wieder Aufgenommene. Hör auf, daran zu denken! Du tust es einfach und dann wirst du ja sehen!

Die Menschenmenge, die vor Lucas aufdringlichem Schild wartete, schien ihr keineswegs kleiner als zuvor. Ein stetiger Strom von Menschen schob sich über die Wiesen zum Eingang hin, während sich ein zweiter aus dem Tor unter erstauntem Gemurmel über die erlebten Wunder nach draußen ergoß. Von Zeit zu Zeit kam eines der ›Keilerpferde‹ in Sicht, wenn es sich hinter der Segeltuchmauer auf die Hinterbeine stellte, und von denen, die draußen auf Einlaß warteten, waren laute ›Oooohs‹ und ›Aaaahs‹ zu hören. Cerandin wickelte wieder ihr volles Programm ab. Trotzdem achtete die Seanchanfrau sorgfältig darauf, daß ihre S'redit genügend Ruhepausen bekamen. Da war sie unbeugsam, was Luca auch vorhaben mochte. Männer taten schon, was man ihnen sagte, wenn man überhaupt keinen Zweifel daran ließ, daß nichts anderes in Frage kam. Für gewöhnlich jedenfalls.

Bevor sie das niedergetrampelte, braune Gras erreichte, blieb Nynaeve stehen und drehte sich zu den beiden Schienarern um. Sie bemühte sich wohl, ruhig dreinzublicken, aber die beiden sahen sie trotzdem entsprechend mißtrauisch an. Im Falle Unos war ihr das durchaus unangenehm, denn er zog auf eine Weise an seiner Augenklappe herum, daß ihr fast schlecht wurde. Die Menschen, die sich zum Eingang schoben oder von dort herausschlenderten, beachteten sie nicht.

»Dann eben nicht Masema oder Galad zuliebe«, sagte sie energisch. »Wenn Ihr mich weiterhin begleiten wollt, werdet Ihr tun, was ich sage. Sonst könnt Ihr Eurer eigenen Wege gehen, denn dann will ich nichts mit Euch zu tun haben.«

Natürlich mußten sie erst wieder Blicke tauschen, bevor sie nickend ihr Einverständnis kundtaten. »Wenn es verdammt noch mal so sein muß«, grollte Uno, »dann also gut. Wenn Ihr keinen habt, der verflucht auf Euch aufpaßt, werdet Ihr niemals überleben und den Lord Drachen erreichen. Irgendein Schaf von Bauer wird Euch zum Frühstück verspeisen, Eurer spitzen Zunge wegen.« Ragan warf ihm einen verdeckten Blick zu, der ihm wohl sagen sollte, er stimme ihm zu, zweifle aber daran, daß es geschickt gewesen sei, dies zu äußern. Wie es schien, zeigte Ragan deutliche Ansätze, zu einem klugen Mann zu werden.

Es genügte ihr, wenn sie ihre Bedingungen akzeptierten, ganz gleich, warum. Jetzt war ihr das genug. Später war noch genügend Zeit, sie zurechtzurücken.

»Ich bezweifle nicht, daß auch die anderen zustimmen werden«, sagte Ragan.

»Die anderen?« Sie riß die Augen auf. »Wollt Ihr damit sagen, daß es noch mehr außer Euch beiden gibt? Wie viele?«

»Wir sind jetzt zusammen nur noch fünfzehn. Ich glaube nicht, daß Bartu oder Nengar mitkommen.«

»Kriechen bei dem verfluchten Propheten.« Uno wandte den Kopf und spuckte übertrieben bedeutungsvoll aus. »Nur fünfzehn. Sar ist in den Bergen von dieser verdammten Felswand gestürzt, und Mendao mußte dieses idiotische Duell gleich gegen drei Jäger des Horns eingehen, und... «

Nynaeve hatte alle Mühe, an sich zu halten und nicht mit offenem Mund zu staunen. Fünfzehn! Sie war versucht, im Kopf schnell zusammenzurechnen, was es kosten würde, fünfzehn Männer zu beköstigen. Auch dann, wenn sie nicht besonders hungrig waren, aßen Thom oder Juilin bereits einzeln mehr als Elayne und sie zusammen. Licht!

Andererseits bestand bei fünfzehn schienarischen Begleitsoldaten vielleicht gar keine Notwendigkeit, auf ein Schiff zu warten. Natürlich war es die schnellste Art zu reisen, wenn man ein Flußschiff benützte. Sie erinnerte sich nun daran, was sie über Salidar gehört hatte. Es war eine kleine Stadt am Fluß oder zumindest in dessen Nähe, und man konnte mit einem Schiff direkt hinkommen. Doch eine Eskorte von Schienarern würde ihren Wagen auch absichern — gegen Weißmäntel oder Banditen oder auch Anhänger des Propheten. Allerdings war der Wagen viel langsamer. Und ein einzelner Wagen, der mit einer solchen Eskorte aus Samara abfuhr, würde Aufmerksamkeit erregen. Ein Wegweiser für Moghedien oder die Schwarzen Ajah. Um die sollen sich die Blauen kümmern, und damit Schluß.

»Was ist los?« fragte Ragan und Uno fügte entschuldigend hinzu: »Ich hätte wohl nicht erwähnen dürfen, wie Sakaru gestorben ist.« Sakaru? Das hatte er wohl erzählt, nachdem sie bereits nicht mehr hingehört hatte. »Ich verbringe nicht viel Zeit mit verd..., mit Damen. Ich vergaß, daß Ihr einen schwachen Magen... oh... äh... etwas empfindlich seid.« Wenn er nicht gleich aufhörte, an seiner Augenklappe zu zupfen, würde sie ihm zeigen, wie empfindlich ihr Magen wirklich war.

Die Anzahl änderte im Grunde nichts. Wenn zwei Schienarer als Begleitung gut waren, dann waren fünfzehn ein Geschenk des Lichts. Ihr Privatheer. Keine Sorgen mehr in bezug auf Weißmäntel oder Briganten oder gewaltsame Ausschreitungen und nicht einmal mehr daran, ob sie im Falle Galads vielleicht doch einen Fehler begangen habe. Wie viele Schinken konnten fünfzehn Mann wohl an einem Tag verzehren? Also dann, und mit energischer Stimme: »In Ordnung. Jeden Abend gleich nach Einbruch der Dunkelheit wird einer von Euch — einer, hört Ihr! — hierherkommen und nach Nana fragen. Unter diesem Namen kennen sie mich.« Sie hatte eigentlich keinen Grund, diesen Befehl zu geben, doch sie wollte ihnen angewöhnen, genau das zu tun, was sie sagte. »Elayne heißt hier Morelin, aber Ihr fragt nach Nana. Wenn Ihr Geld braucht, kommt zu mir und nicht zu Masema.« Sie mußte allerdings ein bedauerndes Seufzen unterdrücken, als sie das sagte. Sie hatten im Herd des Wohnwagens immer noch einiges an Gold, aber Luca hatte ja seine versprochenen hundert Goldkronen noch nicht verlangt, und er würde das nicht vergessen. Nun, falls nötig, war da ja noch immer der Schmuck. Sie mußte sichergehen, sie von Masema fernzuhalten. »Abgesehen davon wird sich keiner von Euch mir oder der Truppe nähern.« Sonst würden sie vermutlich eine Wache oder etwas ähnlich Unsinniges aufstellen. »Nicht, bevor nicht ein Flußschiff anlegt. In diesem Fall kommt Ihr aber sofort her. Verstanden?«

»Nein«, knurrte Uno. »Warum sollen wir uns verflucht noch mal fernh...?« Sein Kopf zuckte zurück, als ihr mahnender Zeigefinger beinahe seine Nase berührte.

»Erinnert Ihr euch daran, was ich Euch über Eure Ausdrucksweise gesagt habe?« Sie mußte sich zwingen, ihn streng anzuschauen, denn diese böse starrende rote Augenklappe drehte ihr den Magen herum. »Entweder Ihr denkt künftig daran, oder Ihr werdet feststellen, warum sich die Männer von den Zwei Flüssen anständig ausdrücken.«

Sie beobachtete ihn, wie er darüber nachdachte. Er kannte ihre Verbindung zur Weißen Burg nicht, wußte nur, daß da etwas war. Sie konnte durchaus eine Agentin der Burg oder in der Burg ausgebildet sein. Oder sogar eine Aes Sedai, wenn sie auch die Stola bestimmt noch nicht lange trug. Außerdem war die Drohung so vage gehalten, daß er seine schlimmsten Befürchtungen hineininterpretieren konnte. Diese Methode hatte sie schon lange gekannt, bevor Juilin sie einmal Elayne beschrieb.

Als ihr schließlich schien, daß ihre Anweisung hinreichend verstanden worden sei und bevor er Fragen stellen konnte, senkte sie die Hand. »Ihr werdet Euch aus dem gleichen Grund fernhalten wie Galad. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Und außerdem, weil ich es so will. Wenn ich jede meiner Entscheidungen erst mit Euch diskutieren muß, habe ich keine Zeit mehr für etwas anderes. Also macht das Beste daraus.«

Das war ein typischer Kommentar, wie ihn eine Aes Sedai gab. Außerdem hatten sie gar keine andere Wahl, wenn sie ihr helfen wollten, zu Rand zu kommen, und das glaubten sie ja. Also: Es blieb ihnen nichts anderes übrig. Alles in allem war sie recht zufrieden mit sich, als sie die beiden nach Samara zurückschickte und an der wartenden Menge vorbei unter Lucas Schild hindurchschritt.

Zu ihrer Überraschung hatte ihre Truppe mittlerweile Verstärkung erhalten. Auf einer neuen Plattform unweit des Eingangs stand eine Frau in durchscheinender gelber Hose mit ausgestreckten Armen auf dem Kopf, auf jeder Hand ein Pärchen weißer Tauben. Nein, sie stand gar nicht auf dem Kopf. Die Frau hatte sich eine Art von Holzrahmen zwischen die Zähne geklemmt und balancierte darauf. Während Nynaeve verdattert zusah, senkte diese Akrobatin ihre Handflächen einen Augenblick lang auf die Plattform hinunter, während sie sich zusammenkrümmte, bis es schien, als sitze sie auf ihrem eigenen Kopf. Aber das reichte ihr immer noch nicht. Sie senkte nun die Beine vor sich und hob sie dann wieder empor, allerdings unter ihre Arme, woraufhin sie die Tauben auf ihre Fußsohlen hinübertrippeln ließ. Die waren nunmehr der höchste Punkt dieses verdrehten menschlichen Balles, zu dem sie sich verknotet hatte. Die Zuschauer schnappten nach Luft und applaudierten, doch der Anblick ließ Nynaeve schaudern. Er erinnerte sie zu deutlich daran, was Moghedien mit ihr angestellt hatte.

Aber deshalb will ich doch nicht die ganze Angelegenheit den Blauen übergeben, sagte sie sich im Stillen. Ich will nur nicht wieder eine Katastrophe auslösen. Das stimmte auch, doch sie fürchtete, beim nächsten Mal würde sie nicht so einfach und so leicht davonkommen. Das hätte sie vor niemandem sonst zugegeben. Sie gab es noch nicht einmal vor sich gern zu.

Sie warf noch einen letzten erstaunten Blick auf die Schlangenfrau. Wie diese Frau sich mittlerweile selbst verknotet hatte, würde ihr wohl immer rätselhaft bleiben. Dann wandte sie sich ab. Und erschrak, als Birgitte und Elayne plötzlich aus dem Durcheinander von Menschen an ihrer Seite heraustraten. Elayne hatte ihren Umhang geschlossen und verbarg so keusch den weißen Mantel und die Hose, während Birgitte stolz ihr tief ausgeschnittenes rotes Kleid zur Schau stellte. Sie stand sogar noch höher aufgerichtet da als sonst und hatte den Zopf auf dem Rücken hängen, um ja nichts zu verdecken. Nynaeve tastete nach dem Knoten, der ihren Schal an der Hüfte zusammenhielt und verwünschte den Anblick Birgittes, der sie nur zu sehr daran erinnerte, was sie selbst zeigen würde, machte sie den grauen Wollschal einmal los. Der Köcher hing am Gürtel der anderen, und sie trug den Bogen, den Luca für sie aufgetrieben hatte. Sicher war es doch heute schon viel zu spät, um noch ihre Schießkunststücke vorzuführen!

Ein Blick zum Himmel überzeugte Nynaeve allerdings davon, daß sie keineswegs recht behalten werde. Trotz aller Geschehnisse dieses Tages stand die Sonne immer noch ein gutes Stück über dem Horizont. Die Schatten waren wohl lang, aber nicht lang genug, um Birgitte davon abzuhalten, fürchtete sie.

Sie versuchte ihren Blick hoch zur Sonne zu vertuschen und nickte in Richtung der Frau mit der durchscheinenden Hose, die im Augenblick damit begann, sich zu etwas zu verknoten, das in Nynaeves Augen unmöglich erschien. Und das, obwohl sie immer noch auf dem Holzrahmen zwischen ihren Zähnen balancierte. »Wo kommt die denn her?«

»Luca hat sie angeheuert«, antwortete Birgitte gelassen. »Er hat auch noch ein paar Leoparden gekauft. Sie heißt Muelin.«

Während Birgitte wie das Urbild der beherrschten Kühle wirkte, bebte Elayne beinahe vor Erregung. »Wo sie herkommt?« sprudelte sie heraus. »Sie kam von einer Akrobatentruppe, die beinahe von der wütenden Volksmenge zerrissen worden wäre!«

»Davon habe ich gehört«, sagte Nynaeve, »aber das ist nicht so wichtig. Ich...«

»Nicht wichtig?« Elayne rollte die Augen in Richtung Himmel, als hoffe sie auf eine Erleuchtung. »Hast du auch gehört, warum? Ich weiß nicht, ob es die Weißmäntel waren oder dieser Prophet, aber jemand hat den Mob auf sie gehetzt, weil er glaubte...« Sie sah sich um, ohne innezuhalten, und senkte die Stimme, denn es war wohl niemand stehengeblieben, aber jeder Zuschauer starrte im Vorbeigehen die beiden Frauen an, die offensichtlich zu den Akrobaten der Truppe gehörten. »... daß eine Frau unter diesen Akrobaten möglicherweise eine gestreifte Stola trüge.« Das Wort ›Stola‹ betonte sie besonders. »Es sind Narren, wenn sie glauben, so eine befände sich in einer fahrenden Menagerie, aber gut, du und ich, wir tun das ja auch. Und du rennst einfach fort in die Stadt, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Wir haben alle möglichen Gerüchte gehört: Daß ein Glatzkopf dich über die Schulter geworfen und weggetragen habe, bis hin zu der Version, du hättest einen Schienarer geküßt und seist Arm in Arm mit ihm abgezogen.«

Nynaeve hatte den Mund noch nicht zu, da setzte Birgitte noch eins drauf: »Luca regte sich ganz schön auf, gleich bei welcher Version. Er sagte...« Sie räusperte sich und sprach mit tiefer Stimme: »›Also gefallen ihr harte Männer, ja? Na ja, ich kann auch so hart sein wie ein Maiskolben im Winter !‹ Und ab ging's, zusammen mit zwei Burschen, die Schultern wie die Steinbrecher hatten, um Euch zurückzuholen. Thom Merrilin und Juilin Sandar gingen auch mit, und ihre Laune war bestimmt nicht besser. Das hat wiederum Luca aufgeregt, aber alle waren so verstört ob Eures Verschwindens, daß sie keine Zeit hatten, aufeinander wütend zu werden.«

Einen Augenblick lang schien Nynaeve vollkommen verwirrt. Sie mochte harte Männer? Was meinte er denn damit? Dann verstand sie so langsam und stöhnte laut auf. »Ach, das ist genau das, was ich noch brauchen kann.« Und Thom rannte mit Juilin in Samara herum. Das Licht mochte wissen, was sie dort wieder anstellen würden.

»Ich will endlich wissen, was dir eigentlich im Kopf herumgespukt ist, als du so plötzlich verschwunden bist«, sagte Elayne, »doch hier verschwenden wir im Augenblick unsere Zeit.«

Nynaeve ließ es zu, daß sie mit ihr in der Mitte durch die Menge losmarschierten, aber trotz all dieser Neuigkeiten von Luca und den anderen war sie mit dem zufrieden, was sie an diesem Tag geleistet hatte. »Mit Glück sollten wir in ein oder zwei Tagen hier herauskommen. Wenn Galad kein Schiff für uns auftreibt, dann eben Masema. Wie sich herausstellte, ist er nämlich dieser Prophet. Du erinnerst dich doch noch an Masema, Elayne. Dieser Schienarer mit der ewig sauren Miene, den wir...« Ihr wurde bewußt, daß Elayne stehengeblieben war, und so hielt sie inne, damit die andere wieder aufholen konnte.

»Galad?« sagte die jüngere Frau ungläubig. Sie vergaß ganz, ihren Umhang geschlossen zu halten. »Du hast mit —mit Galad gesprochen? Und mit dem Propheten? Das mußt du haben, denn wie kämen sie sonst darauf, ein Schiff zu suchen? Hast du deinen Tee mit ihnen zusammen getrunken, oder hast du sie bloß einfach in einem Schankraum getroffen? In den dich zweifellos dieser glatzköpfige Mann geschleppt hatte. Vielleicht war auch der König von Ghealdan dabei? Würdest du mich bitte davon überzeugen, daß ich träume, damit ich aufwachen kann?«

»Beherrsch dich bitte«, sagte Nynaeve energisch. »Jetzt regiert hier eine Königin und kein König, und ja, sie war auch da. Und er hatte keinen Glatzkopf, sondern trug eine Skalplocke. Der Schienarer, meine ich. Nicht der Prophet. Der ist so kahl wie ein...« Sie funkelte Birgitte an, bis die mit ihrem Kichern aufhörte. Das Funkeln wurde ein wenig schwächer, als sie sich daran erinnerte, wer diese Frau war und was sie ihr angetan hatte, aber hätte die andere jetzt nicht schnell ihre Züge geglättet, dann hätten sie wohl gesehen, ob sie es wirklich fertigbrachte, Birgitte so lange zu ohrfeigen, bis sie schielte. Sie setzten sich wieder in Bewegung, und sie sagte, so beherrscht, wie es ihr nur möglich war: »Das ist also geschehen: Ich habe Uno getroffen, einen der Schienarer, die auch in Falme dabei waren, als er dich auf dem Seil bewunderte, Elayne. Er hält übrigens auch nicht mehr davon als ich, daß die TochterErbin von Andor ihre Beine so herzeigt. Wie auch immer, Moiraine hat sie von Falme aus hierhergeschickt, aber... «

Sie berichtete schnell alles, während sie sich durch die Menge schoben, und beachtete Elaynes immer erstauntere Ausrufe gar nicht. Alle Fragen beantwortete sie so knapp wie möglich. Trotz ihres schnell erwachenden Interesses an dem ständigen Wechsel auf dem Thron Ghealdans konzentrierte sich Elayne vor allem auf den genauen Wortlaut der Äußerungen Galads und auf die Frage, wieso Nynaeve so verrückt gewesen sei, ausgerechnet den Propheten anzusprechen, wer immer das nun auch sei. Sie benützte das Wort ›verrückt‹ so häufig, daß Nynaeve sehr an sich halten mußte, um nicht die Fassung zu verlieren. Sie zog vielleicht ihre Fähigkeit in Zweifel, Birgitte zu ohrfeigen, aber bei Elayne hätte sie keine Hemmungen, Tochter-Erbin hin oder her. Birgitte dagegen interessierte sich mehr für die Absichten Masemas einerseits und die Schienarer andererseits. Wie es schien, hatte sie bereits in früheren Leben mit den Männern aus den Grenzlanden zu tun gehabt, obgleich ihre Länder damals anders hießen. Sie hielt im großen und ganzen einiges von ihnen. Sie sagte eigentlich wenig, schien aber doch der Idee positiv gegenüberzustehen, an den Schienarern festzuhalten.

Nynaeve erwartete, daß die anderen auf ihre Neuigkeiten Salidar betreffend überrascht oder erregt reagieren würden, aber nichts dergleichen! Birgitte nahm es genauso selbstverständlich auf, als habe sie erzählt, sie würden heute abend mit Thom und Juilin zusammen essen. Offensichtlich hatte sie vor, bei Elayne zu bleiben, wohin auch immer das führen würde, und alles andere spielte kaum eine Rolle. Elayne selbst blickte zweifelnd drein. Zweifelnd!

»Bist du sicher? Du hast dich so angestrengt, um dich daran zu erinnern, und... Na, es scheint ja schon ein seltsamer Zufall zu sein, daß ausgerechnet Galad es dir gegenüber erwähnen sollte.«

Nynaeve kochte. »Natürlich bin ich sicher! Zufälle geschehen nun mal. Das Rad webt, wie das Rad es wünscht. Das hast du vielleicht auch schon einmal gehört. Ich erinnere mich jetzt auch daran, daß er es bereits in Sienda erwähnte, aber ich habe mich dort zu sehr mit dir und deiner Reaktion auf ihn beschäftigt, um...« Sie hörte mit Sprechen auf.

Sie waren auf einem langen, schmalen Streifen nahe der nördlichen Umzäunung angekommen, der mit Seilen abgesperrt war. An einem Ende stand etwas wie ein Teil eines Holzzaunes, zwei Schritt breit und zwei hoch. Die Zuschauer standen vier Reihen tief. Die Kinder kauerten vor ihnen oder klammerten sich an das Bein des Vaters oder den Rockzipfel der Mutter. Die Gespräche wurden lauter, als die Frauen erschienen. Nynaeve wäre auf dem Fleck stehengeblieben, aber Birgitte hatte sie am Arm gepackt, und so blieb ihr nichts übrig, als weiterzugehen.

»Ich dachte, wir gingen zu den Wohnwagen«, sagte sie lahm. Sie hatte vor lauter Reden nicht aufgepaßt, wohin sie gingen.

»Höchstens, wenn du willst, daß ich im Dunklen schieße«, erwiderte Birgitte. Es klang, als sei sie durchaus gewillt, es zu versuchen.

Nynaeve hätte lieber einen schlauen Kommentar abgegeben, aber sie quiekste nur erschrocken auf. Sie sah ausschließlich das Stückchen Zaun vor sich, als sie den langen Grasstreifen entlangschritten, und bemerkte die Zuschauer kaum. Selbst das immer stärker werdende Volksgemurmel klang irgendwie weit entfernt. Es war, als sei der Zaun eine Meile von dem Punkt entfernt, an dem Birgitte stehen sollte.

»Bist du sicher, daß er bei... bei unserer Mutter schwor?« fragte Elayne leicht verstimmt. Selbst auf diese Weise Galad als Bruder anzuerkennen fiel ihr schwer.

»Was? Ja. Das habe ich doch gesagt, oder? Hör zu. Wenn sich Luca in der Stadt befindet, weiß er nicht, was wir unternommen haben, und es könnte zu spät sein, bis er...« Nynaeve war bewußt, daß sie aus lauter Angst sinnlos drauflos redete, aber sie konnte nichts dagegen tun. Ihr war bisher noch nie bewußt gewesen, wie weit hundert Schritt tatsächlich waren. An den Zwei Flüssen schossen die erwachsenen Männer immer auf doppelt so weit entfernte Ziele. Aber da war sie keines dieser Ziele gewesen! »Ich denke, es ist wirklich schon sehr spät. Die Schatten... Das grelle Licht... Wir sollten das am Morgen tun. Wenn das Licht bes... «

»Wenn er bei ihr schwor«, unterbrach Elayne sie, als habe sie gar nicht hingehört, »dann hält er sich auch unter allen Umständen daran. Er würde eher einen Eid auf seine Errettung und Wiedergeburt brechen als den. Ich glaube... nein, ich weiß, daß wir ihm in diesem Fall vertrauen können.« Es klang aber nicht danach, als gefalle ihr das sonderlich.

»Das Licht ist gerade richtig«, sagte Birgitte, und in ihrer ruhigen Stimme schwang ein Hauch von Heiterkeit mit. »Vielleicht versuche ich es mit verbundenen Augen. Diese Zuschauermenge wünscht bestimmt, daß es möglichst schwierig aussieht, glaube ich jedenfalls.«

Nynaeve öffnete den Mund, aber nichts kam heraus. Diesmal hätte ihr schon ein Krächzen genügt. Birgitte leistete sich natürlich nur einen schlechten Scherz. Es konnte nicht anders sein.

Sie stellten sie mit dem Rücken an den groben Holzzaun, und Elayne begann, an dem Knoten in ihrem Schal zu ziehen, während Birgitte den Weg zurückging, den sie gekommen waren, und dabei einen Pfeil aus dem Köcher zog. »Diesmal hast du wirklich etwas Verrücktes angestellt«, knurrte Elayne. »Ich bin wohl sicher, daß wir auf Galads Eid vertrauen können, aber du konntest schließlich nicht wissen, was er zuvor alles anstellen würde. Und dann auch noch den Propheten anzusprechen!« Sie riß Nynaeve grob den Schal von den Schultern. »Du hattest schließlich nicht die geringste Ahnung, was er unternehmen würde. Du hast jedem Sorgen bereitet und alles riskiert!«

»Ich weiß«, brachte Nynaeve gerade noch heraus. Die Sonne schien ihr ins Gesicht, und sie konnte Birgitte so gut wie nicht mehr erkennen. Doch Birgitte konnte sie sehen. Das war das Wichtigste.

Elayne blickte sie mißtrauisch an. »Das war dir klar?«

»Ich weiß, daß ich alles riskiert habe. Ich hätte mit dir sprechen und dich fragen sollen. Ich weiß, daß ich mich töricht verhalten habe. Man sollte mich ohne Aufpasserin überhaupt nicht hinauslassen.« Alles brach atemlos aus ihr heraus. Birgitte mußte sie doch gut erkennen können!

Aus Mißtrauen wurde Sorge. »Geht es dir gut? Wenn du das hier wirklich nicht tun willst... «

Dieses Weib glaubte doch glatt, sie habe Angst! Das konnte und wollte Nynaeve nicht auf sich sitzen lassen. Sie zwang sich zu einem Lächeln und hoffte, sie habe die Augen dabei nicht zu weit aufgerissen. Ihre Gesichtshaut war angespannt. »Natürlich will ich. Ich freue mich sogar darauf.«

Elayne zog zweifelnd die Augenbrauen hoch, nickte aber schließlich. »Und du bist ganz sicher, was Salidar betrifft?«

Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern setzte sich schnell zur Seite ab, wobei sie den Schal zusammenfaltete. Aus irgendeinem Grund konnte sich Nynaeve dieser Frage wegen nicht gebührend aufregen, genausowenig wie Elayne in der Lage gewesen war, ab zuwarten. Sie atmete so schnell, daß ihr die bange Befürchtung kam, ihr Busen könne oben aus dem tiefen Ausschnitt herausrutschen, doch selbst das konnte sie nicht aus ihrer Lähmung reißen. Der Sonnenschein blendete sie. Hätte sie geblinzelt, hätte sie vielleicht Birgitte gerade noch sehen können, aber ihre Augen entwickelten ein Eigenleben und wurden immer größer. Jetzt konnte sie ohnehin nichts mehr tun. Es war ihre Strafe dafür, unnötige Risiken einzugehen. Sie konnte nicht einmal Ärger darüber verspüren, daß sie bestraft wurde, nachdem alles so gut gelaufen war. Und Elayne glaubte ihr das mit Salidar nicht! Sie mußte alles mit stoischer Ruhe nehmen. Sie würde...

Anscheinend aus dem Nichts heraus krachte ein Pfeil in die Holzfläche und vibrierte direkt an ihrem rechten Handgelenk. Mit einem leisen klagenden Laut zerbrach der Anflug stoischer Ruhe. Sie hatte größte Mühe, ihre Knie durchzudrücken, damit sie nicht nachgaben. Der Luftzug von einem zweiten Pfeil streifte ihr anderes Handgelenk und brachte ein etwas höheres Quieken hervor. Sie hätte Birgittes Pfeile sowenig aufhalten können wie diese Angstlaute. Pfeil um Pfeil steigerte sich die Tonhöhe, und ihr schien es sogar, die Menge bejuble ihre Schreie. Je lauter sie schrie, desto lauter wurde gejubelt und applaudiert. Als die Pfeile schließlich den Umriß ihres Körpers vom Kopf bis zu den Knien auf die Holzfläche zeichneten, konnte man den Applaus nur noch als donnernd bezeichnen. Tatsächlich hinterließ dieser Abschluß sie leicht gereizt, denn die Menge strömte herein und drängte sich um Birgitte, während sie allein dastand und die Pfeilschäfte neben ihrem Körper betrachtete. Einige bebten immer noch. Sie zitterte ebenfalls.

Sie gab sich selbst einen Stoß und eilte zu den Wohnwagen, so schnell sie konnte, damit niemand bemerkte, wie weich ihre Knie wirklich waren. Nicht, daß irgend jemand überhaupt auf sie achtete. Alles, was sie vollbracht hatte, war, dazustehen und zu hoffen, daß Birgitte nicht niesen mußte oder plötzlich einen Juckreiz verspürte. Und morgen mußte sie das Ganze wieder durchmachen. Entweder das, oder sie mußte Elayne und, was noch schlimmer war, Birgitte, wissen lassen, daß sie sich zu sehr fürchtete.

Als Uno an diesem Abend kam und nach Nana fragte, sagte sie ihm überdeutlich, er solle gefälligst Masema auf die Füße steigen, soweit er das wage, und auch Galad suchen und ihm sagen, er müsse ganz schnell ein Schiff finden, was immer dazu nötig sei. Dann ging sie ohne Abendessen ins Bett und versuchte, sich selbst glauben zu machen, sie könne morgen Elayne und Birgitte davon überzeugen, daß sie zu krank sei, um sich vor die Wand zu stellen. Nur war sie eben sicher, daß die anderen sofort wüßten, was ihre Krankheit zu bedeuten habe. Daß sogar Birgitte vermutlich viel Mitgefühl zeigen würde, machte alles nur noch schlimmer. Einer dieser verfluchten Männer mußte einfach ein Schiff auftreiben!

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