30 Eine Wette

Ein sanfter Abendwind strich über die kleine Stadt Eianrod und legte sich schnell wieder. Rand saß auf der Steinbrüstung der breiten, niedrigen Brücke im Stadtzentrum. Der Wind schien heiß zu sein, doch nach all der Zeit in der Wüste hatte er kein Gefühl mehr dafür. Der Abend war sicher warm, aber nicht einmal warm genug, daß er sein rotes Wams aufgeknöpft hätte. Der unter ihm schimmernde Fluß war noch nie sehr breit gewesen und jetzt sogar noch auf die Hälfte seines üblichen Bettes zusammengeschrumpft, aber er genoß es trotzdem, das Wasser nach Norden fließen zu sehen. Die Schatten schnell dahineilender Wolken, die den Mond immer wieder verdeckten, spielten über die glitzernde, dunkle Wasseroberfläche. Deshalb befand er sich mitten in der Nacht hier draußen, nur um zur Abwechslung einmal wieder fließendes Wasser zu sehen. Seine Wachgewebe waren aktiviert und umgaben das Aiellager, das wiederum die Stadt umgab. Die Aiel hielten außerdem noch so scharf Wache, daß kaum ein Sperling unbemerkt hindurchschlüpfen würde. Er konnte es sich leisten, eine Stunde zu verschwenden, indem er sich von der Strömung eines Flusses einlullen ließ.

Das war auf jeden Fall besser als ein weiterer Abend, an dem er Moiraine praktisch hinauswerfen mußte, um mit Asmodean zu lernen. Sie hatte es sich sogar angewöhnt, ihm das Essen zu bringen und mit ihm zu sprechen, während er aß, als wolle sie ihm wirklich alles in den Kopf hineinstopfen, was sie wußte, bevor sie die Stadt Cairhien erreichten. Er brachte es nicht fertig, ihr ins Gesicht zu blicken, wenn sie ihn wieder darum bat — sie bettelte schon fast! —, bei ihm bleiben zu dürfen, wie sie es letzten Abend getan hatte. Für eine Frau wie Moiraine war dieses Verhalten so unnatürlich, daß er fast ja gesagt hätte, nur um sie davon abzuhalten. Wahrscheinlich war genau das ihre Absicht gewesen. Es war viel angenehmer, eine Stunde lang dem leisen Plätschern des Flusses zu lauschen. Mit etwas Glück würde sie ihn für diese Nacht in Ruhe lassen.

Die Schlammschicht an beiden Ufern, die das Wasser vom Schilf trennte, vielleicht acht oder zehn Schritt breit, war ausgetrocknet und gesprungen. Er spähte zu den Wolken hoch, die vor dem Mond vorbeitrieben. Er könnte ja versuchen, diese Wolken zum Abregnen zu bringen. Die beiden Brunnen im Ort waren ausgetrocknet, und in einem Drittel aller noch nicht restlos verseuchten Wasserlöcher fand sich nur Staub. Versuchen war allerdings der richtige Ausdruck. Er hatte schon einmal Regen erzeugt, aber das Schwierige war eben, sich noch daran zu erinnern, wie er das fertig gebracht hatte. Gelang es ihm, konnte er als nächstes versuchen, aus dem Regen keine allesverschlingende Flut zu machen und ihn diesmal auch nicht von einem bäumezerfetzenden Sturm begleiten zu lassen.

Asmodean konnte ihm nicht helfen, denn wie es schien, verstand er nicht viel vom Wetter. Bei allem, was er ihm beibrachte, tauchten gleich zwei neue Fragen auf, bei denen Asmodean hilflos die Hände hob oder sich geschlagen gab und ihm versprach, sich damit zu beschäftigen.

Einst hatte er die Verlorenen für allwissend, für beinahe allmächtig gehalten. Aber wenn die anderen wie Asmodean waren, dann hatten sie wohl alle ihre Schwächen und Wissenslücken. Es konnte sogar sein, daß er bereits jetzt über manche Dinge mehr wußte als sie. Oder jedenfalls mehr als einige von ihnen. Das Problem war nur, herauszufinden, wem er auf welchem Gebiet überlegen war. Semirhage beispielsweise konnte mit dem Wetter fast genausowenig anfangen wie Asmodean.

Ihn fror, als befinde er sich im Dreifachen Land mit seinen kalten Nächten. Asmodean hatte ihm nie etwas über solche Dinge berichtet. Besser, dem Wasser zu lauschen und nicht nachzudenken, damit er heute nacht überhaupt Schlaf fand.

Sulin näherte sich ihm. Sie hatte sich die Schufa um die Schultern gehängt und ihr kurzgeschnittenes weißes Haar entblößt. So lehnte sie sich ans Brückengeländer. Die drahtige Tochter des Speers war voll gerüstet mit Pfeil und Bogen, Speeren, Messer und Schild. Sie hatte heute abend das Kommando über seine Leibwache übernommen. Zwei Dutzend oder noch mehr Far Dareis Mai hockten etwa zehn Schritt entfernt ganz entspannt auf der Brücke. »Eine seltsame Nacht«, sagte sie. »Wir haben gespielt, aber mit einemmal hat jede nur noch Sechser gewürfelt.«

»Es tut mir leid«, erwiderte er ohne nachzudenken, und sie warf ihm einen eigenartigen Blick zu. Natürlich hatte sie keine Ahnung; er hatte nichts weitererzählt. Die Wellen, die von ihm als Ta'veren ausgingen, breiteten sich nicht regelmäßig, sondern oft scheinbar dem Zufall gehorchend aus. Wenn sie Bescheid wüßten, würden sich selbst die Aiel nicht mehr näher als zehn Meilen bei ihm aufhalten wollen. Heute war der Boden unter drei Steinhunden plötzlich zusammengebrochen, und sie waren in eine Schlangengrube gestürzt, doch die vielen Dutzend Bisse hatten stets nur die Kleidung getroffen. Ihm war klar, daß der Grund dafür in ihm lag und in der Art und Weise, wie er den Zufall beeinflußte. Tal Nethin, der Sattler, hatte Taien überlebt, aber diesen Mittag war er über einen Stein gestolpert und hatte sich beim Sturz auf dem ebenen, grasbewachsenen Boden das Genick gebrochen. Rand fürchtete, auch das sei seine Schuld gewesen. Andererseits hatten Bael und Jheran endlich die Blutfehde zwischen den Shaarad und den Goshien beendet, während er gemeinsam mit ihnen im Gehen ein Mittagsmahl einnahm — das übliche Trockenfleisch. Sie konnten sich deshalb noch immer nicht leiden und verstanden selbst wohl kaum, was sie da getan hatten, aber es war vollbracht, ganz korrekt mit Versprechen und Wassereid, wobei jeder der beiden Männer dem anderen den Becher zum Trinken hingehalten hatte. Bei den Aiel galt ein Wassereid mehr als jeder andere. Es mochte Generationen dauern, bis sich Shaarad und Goshien wieder einmal überfielen, um sich gegenseitig Schafe oder Ziegen oder Rinder zu stehlen.

Er hatte sich oft gefragt, ob diese Zufälligkeiten jemals auch zu seinen Gunsten wirken würden. Vielleicht war diesmal schon das Äußerste erreicht. Was heute sonst noch alles geschehen sein mochte, das ihm zuzuschreiben war, wußte er nicht. Er fragte auch nicht danach und wollte nichts hören. Die Baels und Jherans konnten den Tod Tal Nethins auch nicht wiedergutmachen.

»Ich habe Enaila und Adelin schon tagelang nicht mehr gesehen«, sagte er. Jeder Themenwechsel war ihm recht.

Und diese beiden hatten sonst ihre Plätze als Leibwächterinnen an seiner Seite besonders eifersüchtig verteidigt. »Sind sie krank?«

Wenn überhaupt, war der darauf folgende Blick Sulins noch eigenartiger. »Sie werden zurückkehren, wenn sie gelernt haben, nicht mehr mit Puppen zu spielen, Rand al'Thor.«

Er öffnete den Mund und schloß ihn gleich wieder. Die Aiel waren ein seltsames Volk, das wurde ihm durch Aviendhas Unterricht immer deutlicher, aber dies war nun lächerlich. »Nun, dann sagt ihnen einfach, sie seien erwachsene Frauen und sollten sich auch so verhalten.«

Selbst im trüben Mondschein konnte er erkennen, daß sie erfreut lächelte. »Es soll sein, wie es der Car'a'carn wünscht.« Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Sie blickte ihn einen Augenblick lang an und schürzte nachdenklich die Lippen. »Ihr habt heute abend noch nicht gegessen. Es gibt noch genug für alle, und Ihr werdet niemandem den Bauch füllen, indem Ihr selbst nichts eßt. Wenn Ihr nicht eßt, werden sich die Leute Sorgen machen, daß Ihr krank sein könntet. Und Ihr werdet krank!«

Er lachte leise. Es klang eher wie heiseres Keuchen. In einer Minute noch der Car'a'carn, und in der nächsten... Wenn er sich nicht selbst etwas zum Essen besorgte, würde ihm Sulin vermutlich etwas bringen. Und ihn auch noch zu füttern versuchen wie ein Kleinkind. »Ich werde schon essen. Moiraine sollte jetzt langsam in ihren Decken liegen.« Diesmal befriedigte ihn ihr eigenartiger Blick. Zur Abwechslung einmal hatte er etwas gesagt, das sie nicht verstand.

Als er von der Brüstung sprang, hörte er Hufgeklapper von der gepflasterten Straße her, die zur Brücke führte. Sämtliche Töchter waren augenblicklich auf den Beinen, hatten das Gesicht verschleiert, und einige hatten bereits Pfeile aufgelegt. Instinktiv fuhr seine Hand an die Hüfte, doch das Schwert hing nicht da. Den Aiel war es schon unangenehm genug, daß er auf einem Pferd ritt und das Ding am Sattel hängen hatte. Er mußte sie nicht noch mehr vor den Kopf stoßen, indem er es ständig mit sich herumtrug. Außerdem waren es nicht viele Pferde, und sie näherten sich im Schritt.

Als die Reiter erschienen, von mehr als fünfzig Aiel umringt, sah er, daß es weniger als zwanzig waren und sie erschöpft in ihren Sätteln hingen. Die meisten trugen Helme mit Rändern, tairenische Kurzmäntel mit gestreiften Puffärmeln und dazu Harnische. Die beiden Anführer allerdings trugen kunstvoll vergoldete Rüstungen und hatten an der Vorderseite ihrer Helme lange, weiße Federn befestigt. Die eingesetzten Streifen an ihren Ärmeln schimmerten wie Satin im Mondschein. Ein halbes Dutzend Männer am Ende der Gruppe waren kleiner und schlanker als die Tairener. Zwei von ihnen hatten kleine Fahnen, Con genannt, an kurzen Stöcken auf dem Rücken festgeschnallt. Dazu trugen sie dunkle Mäntel und glockenförmige Helme, die das Gesicht freiließen. In Cairhien war es üblich, mit Hilfe dieser Cons die Offiziere im Kampf leichter kenntlich zu machen. Außerdem kennzeichnete man so auch die persönlichen Gefolgsmänner eines Lords.

Die mit Federn geschmückten Tairener rissen die Augen auf, als sie ihn sahen, tauschten schnell erstaunte Blicke, stiegen von den Pferden und knieten vor ihm nieder, die Helme unter die Arme geklemmt. Sie waren jung, nicht viel älter als er selbst, und hatten beide ihre dunklen Bärte spitz zugeschnitten, wie es beim Adel Tears die Mode war. Die Harnische wiesen Dellen auf und die Vergoldung war teilweise abgesprungen. Irgendwo waren sie in Kämpfe verwickelt gewesen. Keiner würdigte die Aiel eines Blickes, als verschwänden sie, wenn man sie nur nicht beachtete. Die Töchter nahmen die Schleier ab, schienen aber immer noch bereit, jederzeit einem der knienden Männer einen Speer in den Leib zu stoßen oder ihn mit einem Pfeil zu durchbohren.

Rhuarc folgte den Tairenern zusammen mit einem grauäugigen Aiel, der etwas jünger und größer als er selbst war, und blieb hinter der Gruppe stehen. Mangin gehörte zu den Jindo Taardad und war einer derjenigen, die damals mit zum Stein von Tear gekommen waren. Die Reiter waren von Jindo hereinbegleitet worden.

»Mein Lord Drache«, sagte der feiste Adlige mit den rosigen Wangen. »Seng meine Seele, aber haben sie auch Euch zum Gefangenen gemacht?« Sein Begleiter, der mit seinen abstehenden Henkelohren und der Knollennase trotz des Spitzbarts eher wie ein Bauer wirkte, wischte sich nervös immer wieder Haarsträhnen aus der Stirn. »Sie sagten, sie würden uns zu irgendeinem Morgendämmerungsburschen führen. Dem Car'a'carn. Hat wohl was mit Häuptlingen zu tun, falls mich die Erinnerung an das nicht täuscht, was mein Hauslehrer gesagt hat. Vergebt mir, Lord Drache. Ich bin Edorion aus dem Hause Selorna, und das hier ist Estean aus dem Hause Andiama.«

»Ich bin Er, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt«, sagte Rand ruhig zu ihnen. »Und der Car'a'carn.« Jetzt hatte er sie eingeordnet: junge Lords, die ihre Zeit mit Trinken, Spielen und der Schürzenjagd verplempert hatten, als er sich im Stein aufhielt. Estean fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. Edorion blickte auch einen Moment lang verblüfft drein, nickte aber dann nachdenklich, als habe er jetzt durchschaut, was sich hier abspielte. »Steht auf. Wer sind Eure Begleiter? Sie kommen doch aus Cairhien, oder?« Es wäre interessant, ein paar Einheimische kennenzulernen, die nicht vor den Shaido und sämtlichen Aiel, denen sie begegneten, fortliefen. Außerdem könnten es, wenn sie sich schon bei Edorion und Estean befanden, seine ersten Anhänger sein, die er in diesem Land antraf; falls die Väter der beiden Tairener seinen Befehlen Folge geleistet hatten. »Bringt sie her.«

Estean blinzelte noch erstaunt, während er sich aufrichtete, aber Edorion zögerte nicht und schrie: »Meresin! Daricain! Kommt her!« Als riefe er nach seinen Hunden. Die Fähnchen der Offiziere aus Cairhien schwankten auf und ab, als sie langsam von den Pferden stiegen.

»Mein Lord Drache.« Estean zögerte und leckte sich die Lippen, als habe er Durst. »Habt Ihr... Habt Ihr die Aiel gegen Cairhien in den Kampf geschickt?«

»Also haben sie die Stadt angegriffen?«

Rhuarc nickt und Mangin sagte: »Wenn man diesen hier Glauben schenken kann, dann hält die Stadt bisher noch stand. Jedenfalls noch vor drei Tagen.« Er ließ kaum einen Zweifel daran, daß er nicht glaubte, daß sie dem Angriff noch immer standhielte, und noch weniger daran, daß ihm eine Stadt der Baummörder vollkommen gleichgültig sei.

»Ich habe sie nicht geschickt, Estean«, sagte Rand, als sich die beiden Offiziere aus Cairhien zu ihnen gesellten. Die zwei knieten nieder und nahmen die Helme ab. Sie waren wohl etwa so alt wie Estean und Edorion, hatten die Haare bis auf Ohrhöhe geschnitten und blickten mißtrauisch drein. »Diejenigen, die Eure Stadt angreifen, sind meine Feinde, die Shaido. Ich habe vor, Cairhien zu retten, wenn das noch möglich ist.«

Wieder mußte er den beiden aus Cairhien befehlen, sich zu erheben. Seine Zeit bei den Aiel hatte ihn beinahe die Bräuche auf dieser Seite des Rückgrats der Welt vergessen lassen, diese Verbeugerei und das Niederknien, mal mit dem linken und mal mit dem rechten Knie. Er mußte auch erst nach ihren Namen fragen, bevor sie sich vorstellten: Leutnant Lord Meresin aus dem Hause Daganred — sein Con zeigte senkrechte rote und weiße Wellenlinien — und Leutnant Lord Daricain aus dem Hause Annallin, dessen Con mit kleinen roten und schwarzen Quadraten ausgefüllt war. Es überraschte ihn, daß sie ebenfalls Lords waren. In Cairhien befehligten die Lords natürlich Soldaten und führten sie in den Kampf, doch sie ließen sich für gewöhnlich nicht die Haare schneiden und zu gewöhnlichen Soldaten machen. Jedenfalls früher nicht. Offensichtlich hatte sich doch manches geändert.

»Mein Lord Drache.« Meresin hatte Schwierigkeiten, das herauszubringen. Er und Daricain waren beide hellhäutige, schlanke Männer mit schmalen Gesichtern und langen Nasen, doch er war ein wenig kräftiger gebaut. Keiner von beiden sah aus, als habe er in letzter Zeit besonders viel zu essen bekommen. Meresin fuhr so schnell fort, als befürchte er, unterbrochen zu werden. »Mein Lord Drache, Cairhien kann ihnen widerstehen.

Bestimmt noch tagelang, zehn oder zwölf vielleicht, aber wenn Ihr es retten wollt, müßt Ihr schnell kommen.«

»Deshalb kamen wir ja her«, sagte Estean und warf Meresin einen düsteren Blick zu. Die beiden aus Cairhien erwiderten den Blick, doch ihr Trotz war mit Resignation gemischt. Estean strich sich das strähnige Haar aus der Stirn. »Um Hilfe zu suchen. Kleine Truppen wurden in alle Richtungen ausgesandt, Lord Drache.« Er schauderte, obwohl ihm Schweiß auf der Stirn stand. Seine Stimme klang nun dumpf und wie aus der Ferne. »Als wir aufbrachen, waren wir noch mehr. Ich sah Baran schreiend mit einem Speer im Bauch fallen. Er wird nie mehr beim Wendespiel eine Karte umdrehen. Ich könnte einen Krug starken Schnaps gebrauchen.«

Edorion drehte seinen Helm in den von Kampfhandschuhen geschützten Händen und machte eine finstere Miene. »Lord Drache, die Stadt kann sich zwar noch eine Weile halten, aber selbst wenn diese Aiel hier gegen die anderen kämpfen, frage ich mich, wie Ihr sie rechtzeitig dorthin bringen wollt? Ich glaube, zehn oder zwölf Tage sind ein wenig übertrieben. Ich kam in Wirklichkeit nur mit, weil ich lieber mit einem Speer im Leib sterben möchte, als in Gefangenschaft zu geraten, wenn sie einmal über die Mauer sind. Die Stadt ist mit Flüchtlingen überfüllt, die sich vor den Aiel retten wollten. In der ganzen Stadt ist kein Hund und keine Taube mehr zu finden, und ich glaube nicht, daß es dort bald noch Ratten geben wird. Das einzig Gute an der ganzen Sache ist, daß keiner mehr danach zu fragen scheint, wer den Sonnenthron besteigen wird, seit dieser Couladin vor den Toren steht.«

»Am zweiten Tag hat er uns aufgefordert, uns Dem zu übergeben, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt«, warf Daricain ein, was ihm einen scharfen Blick Edorions einbrachte.

»Couladin veranstaltet Menschenjagden mit den Gefangenen«, sagte Estean. »Außer Reichweite der Bogenschützen, aber so, daß jeder auf der Mauer zusehen kann. Man kann sie sogar schreien hören. Das Licht senge meine Seele, ich weiß nicht, ob er einfach unsere Moral untergraben will oder ob es ihm Spaß macht. Manchmal lassen sie Bauern zur Stadt hin rennen, und dann, wenn sie fast in Sicherheit sind, spicken sie die armen Leute mit Pfeilen. Soweit Cairhien irgend jemandem Sicherheit bieten kann. Zwar sind es nur Bauern, aber...« Er verstummte und schluckte schwer, als habe er sich gerade daran erinnert, was Rand von der Bemerkung ›nur Bauern‹ hielt. Rand blickte ihn einfach nur an, aber er schien unter diesem Blick zu schrumpfen und murmelte nur etwas von Schnaps vor sich hin.

Edorion sprach in die plötzliche Stille hinein: »Mein Lord Drache, der springende Punkt ist doch, daß sich die Stadt halten kann, bis Ihr kommt, falls Ihr schnell kommt. Wir haben die erste Angriffswelle nur zurückgeschlagen, weil das Vortor in Flammen aufging...«

»Das Feuer hätte beinahe die gesamte Stadt erfaßt«, warf Estean ein. Das Vortor, eine Stadt für sich außerhalb der Stadtmauer Cairhiens, war zumeist aus Holz erbaut gewesen, wie sich Rand erinnerte. »Es wäre zur Katastrophe gekommen, wenn der Fluß nicht wäre.«

Der andere Tairener redete einfach weiter: »... aber Lord Meilan hat die Verteidigung gut organisiert, und die Leute aus Cairhien scheinen im Moment auch den Mut nicht zu verlieren.« Das brachte ihm finstere Blicke von Meresin und Daricain ein, die er entweder nicht bemerkte oder aber nicht zu bemerken vorgab. »Mit Glück sieben Tage, vielleicht auch höchstens acht. Wenn Ihr...« Ein tiefer Seufzer ließ Edorions rundliche Figur einen Moment lang schlanker erscheinen. »Ich habe aber kein einziges Pferd gesehen«, sagte er mehr zu sich selbst. »Die Aiel reiten nicht. Ihr werdet niemals in der Lage sein, ein Heer zu Fuß in so kurzer Zeit hinzuführen.«

»Wie lange?« fragte Rand Rhuarc.

»Sieben Tage«, war die Antwort. Mangin nickte, und Estean lachte.

»Seng meine Seele, so lange haben wir gebraucht, um herzureiten! Wenn Ihr glaubt, den Weg zu Fuß genauso schnell zurücklegen zu können, müßt Ihr...« Er wurde sich der Blicke der Aiel bewußt, die auf ihm ruhten, und so strich er sich wieder nervös die Haare aus dem Gesicht. »Gibt es in dieser Stadt irgendwo Schnaps?« murrte er.

»Wichtig ist nicht, wie schnell wir den Weg zurücklegen«, sagte Rand ruhig, »sondern wie schnell Ihr das könnt, wenn wir ein paar Eurer Männer zu Fuß mitnehmen und die anderen deren Pferde zum Wechseln benützen können. Ich will Meilan und Cairhien wissen lassen, daß Hilfe auf dem Weg ist. Doch diejenigen, die das unternehmen, müssen sicher sein, daß sie den Mund halten können, falls die Shaido sie gefangennehmen. Ich will Couladin nicht mehr wissen lassen, als er von selbst herausbekommen kann.« Estean wurde noch bleicher als die beiden aus Cairhien.

Meresin und Daricain lagen beide wieder auf den Knien, und jeder umfaßte eine von Rands Händen, um sie zu küssen. Er ließ es mit soviel Geduld zu, wie er eben aufbringen konnte. Einer von Moiraines Ratschlägen, die wirklich vernünftig gewesen waren, hatte besagt, er solle möglichst nicht gegen die Sitten der Menschen verstoßen, wie eigenartig und abstoßend sie ihm auch scheinen mochten, es sei denn, es wäre unbedingt notwendig, und selbst dann sollte er es sich zweimal überlegen.

»Wir werden gehen, Lord Drache«, versicherte Meresin atemlos. »Ich danke Euch, Lord Drache. Danke. Beim Licht schwöre ich, daß ich eher sterben will, als auch nur ein Wort zu verraten, außer natürlich meinem Vater und dem Hochlord Meilan.«

»Das Licht sei Euch gnädig, mein Lord Drache«, fügte der andere hinzu. »Das Licht sei Euch gnädig und erleuchte Euch für immer. Ich bin Euer Mann bis zum Tod!« Rand ließ auch Meresin noch beteuern, er sei sein Mann, bevor er energisch die Hände zurückzog und ihnen befahl, aufzustehen. Es gefiel ihm nicht, wie sie ihn ansahen. Edorion hatte sie wie Hunde herbeigerufen, aber Männer sollten niemanden so ansehen, als seien sie Hunde, die zu ihrem Herrn aufblicken.

Edorion atmete tief ein, blies die rosigen Wangen auf und ließ die Luft langsam wieder aus. »Ich schätze, wenn ich ohne weiteres hierher gekommen bin, kann ich es auch zurück schaffen. Mein Lord Drache, vergebt mir, wenn ich Euch erzürnen sollte, aber würdet Ihr eine Wette annehmen, sagen wir, tausend Goldkronen, daß Ihr wirklich in sieben Tagen dort seid?«

Rand starrte ihn sprachlos an. Der Mann war ja genauso schlimm wie Mat. »Ich habe nicht einmal hundert Silberkronen, geschweige denn tausend in... «

Sulin unterbrach ihn. »Er hat genug, Tairener«, sagte sie energisch. »Er wird Eure Wette annehmen, wenn Ihr zehntausend annehmt.«

Edorion lachte. »Gemacht, Aiel. Und es ist mir jede einzelne Kupfermünze wert, wenn ich verliere. Wenn ich es richtig sehe, werde ich allerdings meinen Gewinn nicht mehr abholen können, sollte ich wirklich die Wette gewinnen. Kommt, Meresin, Daricain.« Es hörte sich immer noch so an, als rufe er seine Hunde zur Jagd. »Wir reiten.«

Rand wartete ab, bis die drei sich verbeugt hatten und halbwegs wieder bei ihren Pferden waren, bevor er die weißhaarige Tochter des Speers anfuhr: »Was meint Ihr denn damit, ich hätte tausend Goldkronen? Ich habe noch niemals tausend Goldkronen gesehen, geschweige denn zehntausend!«

Die Töchter tauschten Blicke, als hielten sie ihn für senil, und Rhuarc und Mangin schauten nicht anders drein. »Ein Fünftel der Schätze aus dem Stein von Tear gehören denjenigen, die den Stein einnahmen, und sie werden beansprucht, sobald man sie wegschaffen kann.« Sulin sprach mit ihm wie mit einem Kind, das man über die einfachsten Dinge des Lebens aufklärt. »Als Häuptling und Führer in der Schlacht dort steht Euch ein Zehntel dieses Fünftels zu. Tear hat sich Euch als dem Häuptling nach dem Fall des Steins ergeben, also gehört Euch auch ein Zehntel der Beute aus Tear. Und Ihr habt gesagt, wir könnten uns das Fünftel in diesen Ländern nehmen, als... Steuer, wie Ihr es nanntet.« Sie hatte Schwierigkeiten mit dem Ausdruck, denn die Aiel kannten keine Steuern.

»Auch davon gebührt Euch der zehnte Teil als Car'a'carn.«

Rand schüttelte den Kopf. Bei all seinen Gesprächen mit Aviendha war er nie auf den Gedanken gekommen, sie zu fragen, inwieweit das mit dem fünften Teil auf ihn zutreffe. Er war kein Aiel, ob Car'a'carn oder nicht, und es schien nichts mit ihm zu tun zu haben. Nun, es war vielleicht keine richtige Steuer, aber er konnte es genausogut verwenden wie ein König die Steuergelder. Unglücklicherweise hatte er nur wenig Ahnung davon, wie sie die Steuern verwendeten. Er würde Moiraine fragen müssen. Das war etwas, was er bisher von ihr nicht gelernt hatte. Vielleicht hielt sie das für so offensichtlich, daß es jeder wissen müsse.

Elayne wußte bestimmt, wozu man Steuern verwendete. Es hatte schon erheblich mehr Spaß gemacht, sich von ihr beraten zu lassen als von Moiraine. Er hätte so gern gewußt, wo sie sich aufhielt. Wahrscheinlich immer noch in Tanchico. Egwene hatte ihm wenig mehr ausgerichtet als immer wieder Grüße. Zu gern hätte er Elayne vor sich gehabt und von ihr eine Erklärung für diese beiden Briefe gehört. Ob Tochter des Speers oder Tochter-Erbin von Andor: Frauen waren schon eigenartig. Außer vielleicht Min. Sie hatte ihn ausgelacht, aber bei ihr hatte er nie das Gefühl sie spreche eine andere Sprache als er. Jetzt würde sie nicht mehr lachen. Falls er sie je wiedersah, würde sie wohl auf und davon laufen vor ihm, dem Wiedergeborenen Drachen.

Edorion ließ alle seine Männer absitzen, nahm eines der Pferde und ließ die anderen zusammen mit demjenigen Esteans an einer langen Leine festmachen. Zweifellos hielt er sein eigenes für das letzte Stück durch das Shaidoheer hindurch zurück. Meresin und Daricain machten es mit ihren Männern genauso. Obwohl das bedeutete, daß jedem der Cairhiener ganze zwei Ersatzpferde blieben, schien niemand auch nur daran zu denken, bei den Tairenern um Pferde zu bitten. Dann trabten sie, begleitet von einigen Jindo, in westlicher Richtung davon.

Estean gab sich Mühe, niemandem in die Augen zu sehen, und ging langsam zu den Soldaten hinüber, die nervös und von Aiel eingekreist am Fuß der Brücke zusammenstanden. Mangin packte ihn am rotgestreiften Ärmel. »Ihr könnt uns über die Lebensbedingungen in Cairhien berichten, Feuchtländer.« Der Mann mit dem plumpen Gesicht wirkte, als wollte er im nächsten Moment in Ohnmacht fallen.

»Ich bin sicher, er wird alle Fragen beantworten, die Ihr ihm stellt«, sagte Rand scharf, wobei er das Wort ›Fragen‹ betonte.

»Er wird lediglich gefragt werden«, sagte Rhuarc und packte den Tairener am anderen Arm. Er und Mangin schienen den viel kleineren Mann zwischen sich aufrecht zu halten. »Die Verteidiger der Stadt vorzuwarnen ist ja schön und gut, Rand al'Thor«, fuhr Rhuarc fort, »aber wir sollten Kundschafter aussenden. Wenn sie laufen, können sie genauso schnell dort sein wie die Reiter, und wenn sie zurückkommen, können sie uns berichten, wie Couladin die Shaido postiert hat.«

Rand fühlte die Blicke der Töchter auf sich ruhen, aber er blickte nur Rhuarc an. »Donnergänger?« schlug er vor.

»Sha'mad Conde«, stimmte Rhuarc zu. Er und Mangin drehten Estean einfach um — sie hielten ihn tatsächlich aufrecht! — und gingen zu den anderen Soldaten hinüber.

»Fragt ihn!« rief Rand ihnen nach. »Er ist Euer Verbündeter und mein Vasall.«

Er hatte keine Ahnung, ob man Estean als solchen bezeichnen konnte oder nicht — das war auch etwas, wonach er Moiraine fragen mußte; er wußte noch nicht einmal, inwieweit er tatsächlich ein Verbündeter war, denn sein Vater, Hochlord Torean, hatte genügend Intrigen gegen Rand geschmiedet, aber er würde nichts zulassen, das Couladins Methoden glich.

Rhuarc wandte den Kopf und nickte.

»Ihr behandelt Eure Untertanen gut, Rand al'Thor.« Sulins Stimme klang so ausdruckslos wie ein gehobeltes Brett.

»Ich bemühe mich«, antwortete er ihr. Er würde ihr nicht auf den Leim gehen. Wer auch als Kundschafter zu den Shaido gesandt würde — einige von ihnen würden nicht zurückkehren, das war alles. »Ich denke, ich werde jetzt etwas essen. Und dann schlafen.« Es waren bestimmt nicht viel mehr als zwei Stunden bis Mitternacht, und zu dieser Jahreszeit ging die Sonne noch recht früh auf. Die Töchter folgten ihm und beobachteten mißtrauisch jeden Schatten, als erwarteten sie einen Angriff. Dabei unterhielten sie sich allerdings lebhaft. Aber schließlich schienen die Aiel immer einen Angriff zu erwarten.

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