37 Auftritt in Samara

Zum — wie es ihr schien — hundertstenmal ergriff Nynaeve eine ihrer Locken, blickte sie an und seufzte. Durch die dünnen Holzwände des Wohnwagens drang unaufhörliches Gemurmel und Gelächter aus Hunderten, wenn nicht gar Tausenden von Kehlen und ferne Musik, die von dem Volksgemurmel fast ganz übertönt wurde. Sie hatte gewiß nichts dagegen einzuwenden gehabt, die Parade durch die Straßen Samaras mit Elayne im Wohnwagen zu erleben. Gelegentliche Blicke durch die Fenster hatten ihr klargemacht, daß sie sich lieber nicht draußen in dieser dichtgedrängten, schreienden Menge befinden wolle, die den Wagen kaum Platz machte. Doch jedesmal, wenn sie ihre kupferroten Locken musterte, wäre es ihr lieber gewesen, zusammen mit den Chavanas vor dieser Menschenmenge Überschläge zu vollführen, als diese neue Haarfarbe.

Sie schlang ihren einfach gewebten, dunkelgrauen Schal um sich, wandte sich zur Tür und erschrak, als plötzlich Birgitte dort stand. Die Frau hatte sich während der großen Parade in Clarines und Petras Wagen aufgehalten. Clarine änderte für sie nämlich ein rotes Ersatzkleid, das auf Lucas Wunsch hin für Nynaeve angefertigt worden war. Luca hatte übrigens Clarine diese Anweisung erteilt, bevor Nynaeve überhaupt davon wußte, geschweige denn zustimmte. Birgitte trug nun dieses Kleid. Den schwarzgefärbten Zopf hatte sie über die Schulter nach vorn gezogen, damit er zwischen ihren Brüsten lag. Sie schien sich des tiefen Ausschnitts gar nicht bewußt zu sein. Ein Blick auf sie genügte, und Nynaeve zog den Schal enger um sich zusammen. Birgitte durfte nicht einmal eine fingernagelbreite Spur mehr von ihrem bleichen Busen zeigen, wenn sie überhaupt noch den geringsten Anspruch auf Anstand erheben wollte. Auch so war dieser Anspruch mehr eine Ausrede und höchstens einen Lacher wert. Wenn sie die andere ansah, zog sich Nynaeves Magen zusammen, allerdings nicht des Kleides und der entblößten Haut wegen.

»Wenn du schon das Kleid trägst, warum bedeckst du dich dann?« Birgitte trat ein und schloß die Tür hinter sich. »Du bist eine Frau. Warum zeigst du nicht, daß du stolz darauf bist?«

»Wenn Ihr meint, dann lasse ich es eben«, erwiderte Nynaeve zögernd und ließ langsam den Schal bis zu den Ellbogen herunterrutschen, wobei sie das Ebenbild des Kleids der anderen enthüllte. Sie fühlte sich beinahe nackt. »Ich dachte nur... Ich dachte...« Sie packte den Seidenrock, um die Hände still halten zu können, und bemühte sich, der anderen ruhig in die Augen zu blicken. So fiel es ihr leichter bei dem ständigen nagenden Bewußtsein, daß sie genau das gleiche trug.

Birgitte verzog das Gesicht. »Und wenn ich verlange, daß du den Ausschnitt noch zwei Fingerbreit tiefer machst?«

Nynaeve öffnete den Mund, wobei sie so rot anlief wie ihr Kleid, aber im Augenblick bekam sie kein Wort heraus. Als es ihr schließlich gelang, klang es, als sei jemand dabei, sie zu erwürgen. »Da gibt es keinen einzigen Fingerbreit, um den man den Ausschnitt noch vertiefen könnte. Nicht einmal ein Zehntel davon!«

Drei kurze Schritte, und Birgitte brachte ihr Gesicht mit heftig gerunzelter Stirn ganz nahe an das Nynaeves heran. »Und wenn ich verlange, daß du es doch um diese beiden Fingerbreit tiefer machst?« fauchte sie und zeigte ihre weißen Zähne. »Was, wenn ich dir das Gesicht anmalen würde, damit Luca seinen weiblichen Narren bekommt? Was, wenn ich dich ganz auszöge und von Kopf bis Fuß bemalte? Dann würdest du erst ein gutes Ziel abgeben! Jeder Mann innerhalb von fünfzig Meilen würde kommen, um dich zu sehen!«

Nynaeves Mund bewegte sich zwar, aber diesmal brachte sie nicht einen einzigen Laut heraus. Sie hätte am liebsten die Augen geschlossen. Wenn sie sie dann wieder öffnete, wäre dies alles vielleicht gar nicht geschehen.

Mit angeekeltem Kopfschütteln setzte sich Birgitte auf eines der Betten, einen Ellbogen auf ein Knie gestützt, und blickte Nynaeve scharf mit ihren blauen Augen an. »Das muß aufhören. Wenn ich dich ansehe, zuckst du zusammen. Du rennst herum und bedienst mich von vorn bis hinten. Wenn ich mich nach einem Hocker umsehe, holst du einen. Wenn ich mir die Lippen lecke, drückst du mir einen Becher Wein in die Hände, bevor ich selbst weiß, ob ich überhaupt Durst habe. Wenn ich dich ließe, würdest du mir den Rücken waschen und die Schuhe anziehen. Ich bin weder ein Ungeheuer, noch ein Invalide oder ein Kind, Nynaeve!«

»Ich versuche nur, etwas wiedergutzumachen, das...«, setzte sie schüchtern an, und dann fuhr sie gewaltig zusammen, als die andere losbrüllte: »Wiedergutmachen?

Du versuchst, mich zu erniedrigen!«

»Nein. Nein, das stimmt wirklich nicht! Es ist meine Schuld gewesen... «

»Du übernimmst die Verantwortung für mein Tun«, unterbrach Birgitte sie aufgebracht. »Ich habe beschlossen, in Tel'aran'rhiod mit dir zu sprechen! Ich habe beschlossen, dir zu helfen! Ich habe beschlossen, Moghedien aufzuspüren. Und ich habe beschlossen, dich mitzunehmen, damit du sie sehen konntest. Ich! Nicht du, Nynaeve, sondern ich! Ich war keineswegs deine Marionette oder dein Spürhund, und die Rolle werde ich auch jetzt nicht spielen!«

Nynaeve hatte schwer daran zu schlucken, und ihre Hände verkrampften sich in den Rock. Sie hatte kein Recht dazu, auf diese Frau böse zu sein. Überhaupt kein Recht. Aber Birgitte schon. »Ihr habt getan, worum ich Euch bat. Es ist mein Fehler, daß Ihr... daß Ihr euch hier befindet. Es ist alles meine Schuld!«

»Habe ich von irgendeiner Schuld gesprochen? Nur Männer und ausgesprochen dumme Mädchen suchen eine Schuld, wo es gar keine gibt, und du bist weder das eine noch das andere. Außerdem sprich mich bitte mit ›du‹ an und laß dieses steife ›Ihr‹ und ›Euch‹.«

»Mein törichter Stolz hat mich glauben lassen, ich könne sie noch einmal besiegen, und meine Feigheit hat dazu geführt... dazu geführt... Wenn ich mir nicht vor Angst beinahe in die Wäsche gemacht hätte, hätte ich rechtzeitig etwas unternehmen können.«

»Du und ein Feigling?« Birgitte hatte in offener Ungläubigkeit die Augen aufgerissen, und ihr Tonfall grenzte schon an Verachtung. »Du? Ich dachte, du hättest mehr Verstand im Kopf, um Furcht mit Feigheit zu verwechseln. Du hättest aus Tel'aran'rhiod fliehen können, nachdem Moghedien dich loslassen mußte, doch du bist geblieben, um zu kämpfen. Es ist gewiß nicht deine Schuld, daß es nicht ging.« Sie holte tief Luft und rieb sich einen Augenblick lang über die Stirn. Dann beugte sie sich wieder voll Eindringlichkeit nach vorn. »Hör mir gut zu, Nynaeve. Ich übernehme keine Verantwortung für das, was dir angetan wurde. Ich habe zwar zugesehen, konnte mich aber nicht rühren. Hätte Moghedien dich verknotet oder wie einen Apfel geschält, trüge ich trotzdem keine Verantwortung. Ich tat, was ich konnte, und zu der Zeit, als ich konnte. Und du hast genau dasselbe getan.«

»Es war nicht dasselbe.« Nynaeve bemühte sich, weniger hitzig zu sprechen. »Es war meine Schuld, daß Ihr — du — dich dort befunden hast. Und meine Schuld, daß... du jetzt hier bist. Wenn du...« Sie hielt inne und schluckte erstmal wieder. »Falls du... einen Fehlschuß tust, wenn du heute bei der Vorführung auf mich schießt, dann sollst du wissen, daß ich es verstehe.«

»Ich treffe immer das, worauf ich ziele«, sagte Birgitte trocken, »und ich werde nicht auf dich zielen.« Sie begann damit, Gegenstände aus einer der Kommoden zu nehmen und auf den kleinen Tisch zu legen: halbfertige Pfeile, abgeschnittene Pfeilschäfte, stählerne Pfeilspitzen, ein Steingutgefäß mit Leim, eine Rolle feinen Fadens, graue Gänsefedern für die Pfeilenden. Sie hatte gesagt, sie werde sich auch einen eignen Bogen anfertigen, sobald sie dazu käme. Lucas Bogen bezeichnete sie als ›einen verknorzten Zweig von einem verkrüppelten Baum, den ein blinder Idiot mitten in der Nacht abgebrochen habe‹. »Ich habe dich gern gehabt, Nynaeve«, sagte sie, während sie alles auslegte. »Mit all deinen Mucken und Dornen. Aber so, wie du jetzt bist, mag ich dich nicht mehr...«

»Du hast ja auch keinen Grund mehr, mich zu mögen«, sagte Nynaeve gedrückt, aber die andere Frau fuhr ihr gleich über den Mund, ohne aufzublicken: »... und ich werde dir nicht gestatten, mich zu erniedrigen, meine Entscheidungen zu erniedrigen, indem du die Verantwortung dafür übernimmst. Ich habe im Laufe der Zeit nur wenige Freundinnen gehabt, und die meisten davon hatten Launen wie die Schneegeister.«

»Ich wünschte, du könntest wieder meine Freundin sein.« Was beim Licht war ein Schneegeist? Zweifellos etwas aus einem anderen Zeitalter. »Ich würde niemals versuchen, dich zu erniedrigen, Birgitte. Ich habe nur... «

Birgitte achtete gar nicht weiter auf sie, erhob aber die Stimme. Ihre Aufmerksamkeit schien ganz den Pfeilschäften zu gelten. »Ich würde dich auch gern wieder mögen können, ob du das nun erwiderst oder nicht, aber das geht erst dann, wenn du wieder du selbst bist. Wenn du eine honigsüße Kriecherin wärst, könnte ich damit leben. Ich nehme die Menschen, wie sie sind, und nicht, wie ich sie gerne sehen würde, sonst verlasse ich sie. Aber du bist nicht so und ich akzeptiere deine Gründe nicht, aus denen du dich so benimmst. Also. Clarine hat mir von deiner Auseinandersetzung mit Cerandin erzählt. Jetzt weiß ich, was ich beim nächstenmal tun werde, wenn du die Verantwortung für meine Entscheidungen übernimmst.« Sie ließ einen Eschenschaft durch die Luft sausen und auf den Tisch knallen. »Ich bin sicher, Latelle wird mir nur zu gern eine Rute für dich besorgen.«

Nynaeve zwang ihre Kiefer dazu, sich wieder zu entspannen, und bemühte sich, so verbindlich wie möglich zu sprechen: »Du hast absolut das Recht, mit mir zu machen, was du willst.« Die in ihren Rock verkrampften Fäuste bebten mehr als ihre Stimme dabei.

»Zeigt sich da doch ein wenig Zorn? Nur so am Rande?« Birgitte grinste sie an, gleichzeitig belustigt und überraschend wild. »Wie lange braucht er, um voll auszubrechen? Ich bin gewillt, jede beliebige Anzahl von Ruten an dir kaputtzuschlagen, falls es notwendig ist.« Das Grinsen verflog und machte Ernsthaftigkeit Platz. »Entweder schaffe ich es, daß du einsiehst, wie recht ich habe, oder ich jage dich davon. Eines oder das andere. Ich kann und werde Elayne nicht verlassen. Diese Bindung ehrt mich, und ich werde sie zu ehren wissen. Und ich werde dir nicht gestatten, zu glauben, daß du meine Entscheidungen triffst oder trafst. Ich bin ich selbst und nicht dein Anhängsel. Jetzt geh. Ich muß diese Pfeile fertig bekommen, wenn ich wenigstens ein paar haben will, die richtig geradeaus fliegen. Ich habe nicht vor, dich umzubringen, und ich will auch nicht, daß so etwas durch Zufall passiert.« Sie nahm den Deckel vom Leimtopf und beugte sich über den Tisch. »Vergiß nicht, wie ein braves Mädchen zu knicksen, wenn du gehst.«

Nynaeve schaffte es bis zum Fuß der Treppe, bevor sie sich wütend mit der Faust gegen die Hüfte schlug. Wie konnte diese Frau so mit ihr sprechen? Glaubte sie vielleicht, sie könne so einfach...? Glaubte sie, Nynaeve würde sich das gefallen lassen und...? Ich dachte, sie könne alles mit dir machen, flüsterte eine kleine Stimme in ihrem Hinterkopf. Ich sagte, sie könne mich umbringen, fauchte sie zurück, aber nicht demütigen! Noch eine Weile, und jede würde ihr mit dieser verdammten Seanchanfrau drohen!

Die Wagen standen leer und verlassen da. Nur ein paar nachlässig gekleidete Pferdeknechte standen als Wachen an der Zeltplane, die Luca wie einen Zaun um den Vorführplatz herum hatte spannen lassen. Von dieser großen, braun versengten Grasfläche, eine halbe Meile von Samara entfernt, war die graue Stadtmauer gut sichtbar, die an den Toren viereckige Türme aufwies. Darüber lugten ein paar strohgedeckte oder Ziegeldächer der höheren Gebäude hinweg. Außerhalb der Mauer sprossen überall ganze Hüttendörfer und Gruppen anderer primitiver Behausungen wie Pilze aus dem Boden, voll von Anhängern des Propheten. Sie hatten jeden Baum auf mehrere Meilen Entfernung gefällt, um Bau- oder Feuerholz zu bekommen.

Der Eingang für die Besucher der Vorstellung befand sich auf der anderen Seite, aber zwei der Pferdeknechte, mit kräftigen Knüppeln bewaffnet, standen auch hier bereit, um jeden zu entmutigen, der nicht bezahlen wollte, um die Vorstellung zu sehen. Nynaeve stand schon fast vor ihnen, nachdem sie im Sturmschritt und unter zornigen Selbstgesprächen gar nicht beachtet hatte, wohin sie ging, aber ihr törichtes Grinsen ließ ihr bewußt werden, daß sie immer noch den Schal unten um die Ellbogen trug. Ihr böser Blick wischte ihnen das Grinsen von den Gesichtern. Erst dann zog sie den Schal wieder hoch und bedeckte sich züchtig, außerdem noch ganz langsam, denn sie wollte diesen grobschlächtigen Kerlen nicht den Eindruck vermitteln, sie in Verlegenheit gebracht zu haben. Der knochigere der beiden, dessen Nase fast die Hälfte seines Gesichts einnahm, zog für sie die Segeltuchplane zur Seite, und sie duckte sich und trat in den Höllenlärm hinaus.

Überall drängten sich die Menschen. Lärmend schoben sich Männer, Frauen und Kinder durcheinander und der Menschenstrom wälzte sich von einer Attraktion zur anderen. Alle bis auf die S'redit führten ihre Künste auf Holzbühnen vor, die Luca für diesen Zweck errichten lassen hatte. Cerandins Keilerpferde zogen die größte Menschenansammlung an. Die riesigen grauen Tiere balancierten mit schlangenähnlich gekrümmten Nasen sogar auf den Vorderbeinen, selbst das Baby. Die kleinste Ansammlung fand sich vor Clarines Hundedressur, obwohl die Tiere sogar Überschläge rückwärts und ähnliches über die Rücken der anderen hinweg vollführten. Sehr viele Leute blieben bei den Löwen stehen und den haarigen, wildschweinartigen Caparen, die ebenfalls in Käfigen gehalten wurden. Aber auch die eigenartig gehörnten Hirsche aus Arafel und Saldaea und Arad Doman wurden bestaunt, genauso wie jene bunten Vögel von wer weiß woher und ein paar watschelnde Geschöpfe mit braunem Fell, großen Augen und runden Ohren, die gemütlich dasaßen und die Blätter von den Zweigen fraßen, die sie in ihren Vorderpfoten hielten. Luca hatte verschiedene Erzählungen bereit, wo sie hergekommen waren, und sie nahm an, er wisse es selbst nicht. Ihm war auch nicht einmal ein zufriedenstellender Name für diese Tiere eingefallen. Eine riesige Schlange aus den Sumpfgebieten Illians, viermal so lang wie ein Mensch, wurde beinahe genauso ungläubig angestarrt wie die S'redit, obwohl sie einfach nur dalag und anscheinend schlief. Es freute Nynaeve, zu sehen, daß Latelles Bären, obwohl sie im Augenblick auf großen roten Holzkugeln balancierten, die sie mit den Hinterbeinen in Kreisen herumrollten, wenig mehr Zuschauer anlockten als die Hunde. Bären konnten diese Menschen in ihren eigenen Wäldern beobachten, auch wenn diese hier weiße Gesichter hatten.

Latelle glitzerte mit ihren schwarzen Pailetten im Schein der Nachmittagssonne. Cerandin glitzerte fast genauso, aber in Blau, und Clarine in Grün, doch keine von beiden hatte so viele Pailetten aufgenäht wie Latelle. Jedes dieser Kleider war hochgeschlossen bis zum Kinn. Natürlich trugen Petra und die Chavanas bei ihren Kunststücken lediglich hellblaue Hosen, aber sie sollten ja auch mit ihren Muskeln angeben. Durchaus verständlich. Die Akrobaten standen jeder auf den Schultern des anderen, vier Mann hoch. Unweit von ihnen packte der Starke Mann der Truppe, dort, wo die Bühne am stabilsten gebaut war, eine lange Eisenstange mit einer Eisenkugel an jedem Ende —zwei Mann wurden benötigt, um ihm das Ding überhaupt hochzureichen — und begann sofort damit, sie mit seinem mächtigen Pratzen herumzuwirbeln, sogar um seinen Hals und über den Rücken.

Thom jonglierte und schluckte Feuer. Acht flammende Stäbe flogen in einem perfekten Kreis, und dann plötzlich hatte er vier davon in jeder Hand, wobei einer immer senkrecht aus jedem Bündel nach oben stand. Energisch steckte er sich nacheinander vier brennende Enden in den Mund, schien zu schlucken, und nahm die Stäbe gelöscht wieder heraus. Er wirkte, als habe er gerade etwas Wohlschmeckendes gegessen. Nynaeve konnte nicht fassen, wieso er sich nie die Schnurrbartenden versengte, ganz zu schweigen davon, daß er sich nicht die Kehle verbrannte. Eine geschickte Drehung aus dem Handgelenk, und die gelöschten Stäbe mischten sich fächerförmig unter die noch brennenden. Einen Augenblick später wirbelte er zwei ineinander verschlungene Kreise über seinen Kopf. Er trug den gleichen braunen Mantel wie immer, obwohl Luca ihm einen roten, mit Pailetten bestickten gegeben hatte. So, wie Thom seine buschigen Augenbrauen hochzog, als er an ihr vorbeistolzierte, verstand er wohl gar nicht, wieso sie ihn so böse anblickte. Sein eigener Mantel, ha! Und sie...

Sie eilte weiter auf eine dichte, ungeduldig summende Menschenansammlung zu, die zwei hohe Masten umstand, zwischen denen das Hochseil straff gespannt war. Sie mußte die Ellbogen gebrauchen, um die vorderste Reihe zu erreichen. Zwei Frauen blickten sie böse an und zogen ihre Männer weg, als aus Versehen ihr Schal ein Stück herunterrutschte. Sie hätte sie ja ebenfalls angefunkelt, wenn sie nicht so damit beschäftigt gewesen wäre, zu erröten und sich schamhaft zu bedecken, denn da stand Luca. Er wirkte so ängstlich besorgt wie ein Ehemann vor dem Geburtszimmer. Neben ihm stand ein dicker Bursche, dessen Schädel bis auf eine Skalplocke glattrasiert war. Sie stellte sich an Lucas andere Seite. Der Mann mit dem rasierten Schädel wirkte schurkisch. Eine lange Narbe zog sich über seine linke Wange, und über dem linken Auge trug er eine Augenklappe, auf die ziemlich unbeholfen ein Auge aufgemalt worden war, als Ersatz vermutlich. Nur wenige der Männer, die sie hier erblickte, waren mit mehr als einem Messer am Gürtel bewaffnet, doch er hatte sich ein Schwert über den Rücken geschnallt. Das lange Heft ragte über seine rechte Schulter hoch. Aus irgendeinem Grund kam er ihr bekannt vor, doch ihre Aufmerksamkeit galt ganz und gar dem Hochseil. Luca runzelte die Stirn, als er ihren Schal entdeckte, lächelte sie dann aber an und versuchte, ihr einen Arm um die Taille zu legen.

Während er dann damit beschäftigt war, sich von ihrem Ellbogenstoß mühsam zu erholen, und sie, ihren Schal wieder anständig hochzuziehen, kam Juilin ihnen gegenüber aus der Menschenmenge herausgewankt, den kegelförmigen roten Hut kokett schief auf dem Kopf, den Mantel auf einer Seite halb von der Schulter gerutscht und mit einem Holzkrug in der Hand, aus dem das Bier herausschwappte. Mit den typischen übervorsichtigen Schritten eines Mannes, in dessen Kopf sich mehr Alkohol befindet als Gehirn, wankte er hinüber zu der Strickleiter, die zu einer der obengelegenen Plattformen hinaufführte, und starrte sie nachdenklich an.

»Geh schon rauf!« brüllte jemand. »Brech dir das dumme Genick!«

»Wartet, mein Freund«, rief Luca und trat lächelnd und mit elegantem Schwung seines Umhangs vor. »Dort hat ein Mann in Eurem Zustand nichts verlo... «

Juilin stellte den Krug auf den Boden, kletterte ungeschickt die Leiter hoch und stand schließlich wankend auf der Plattform. Nynaeve hielt die Luft an. Der Mann konnte sich auch in großer Höhe gut bewegen, was ja wohl auch sein mußte, wenn er ständig Diebe über die Dächer von Tear jagte, aber trotzdem...

Juilin wandte sich suchend um, als habe er sich verirrt. Er schien zu betrunken zu sein, um die Leiter zu sehen oder sich wenigstens daran zu erinnern. Sein Blick fiel auf das Seil. Probeweise stellte er einen Fuß auf diese schmale Brücke und zog ihn wieder zurück.

Dann schob er erstmal den Hut nach hinten, um sich am Kopf zu kratzen. Er betrachtete das straffe Seil, und plötzlich erhellte sich seine Miene sichtlich. Langsam kniete er nieder und krabbelte schwankend auf Händen und Knien auf das Seil hinaus. Luca schrie, er solle herunterkommen und die Menge brüllte vor Lachen.

Auf halbem Weg hinüber hielt Juilin inne, schwankte ungeschickt und spähte nach unten. Sein Blick fiel auf den Krug, den er am Boden hatte stehen lassen. Offensichtlich überlegte er, wie er zu dem Krug zurückkommen könne. Langsam und mit größter Vorsicht stand er auf und wandte sich zurück zu der Plattform, von der er gekommen war. Das Seil schwankte von einer Seite auf die andere. Die Menge schnappte nach Luft, als sein Fuß abglitt und er stürzte. Doch irgendwie fing er sich und hing an einer Hand, das eine Bein über das Seil gehakt. Luca fing den Taraboner Hut auf, bevor er zu Boden fallen konnte, und rief allen zu, der Mann sei verrückt und er sei nicht verantwortlich dafür, was immer geschehen mochte. Nynaeve preßte beide Hände gegen ihren Bauch; sie konnte sich gut vorstellen, dort oben zu sein, und sogar der Gedanke daran reichte aus, daß ihr schlecht wurde. Der Mann war ein Narr. Ein ganz verdammter idiotischer Narr!

Nach einigen Fehlversuchen brachte Juilin es fertig, auch mit der freien Hand das Seil zu ergreifen, und dann zog er sich Hand über Hand daran entlang zur gegenüberliegenden Plattform. Stehend schwankte er noch wild, klopfte sich den nicht existierenden Staub vom Mantel und versuchte, ihn wieder gerade zu ziehen, was letzten Endes dazu führte, daß er ihm nun von der anderen Schulter rutschte. Dann entdeckte er wieder den Krug am Fuß des anderen Mastes. Er deutete glückstrahlend hin und trat wieder auf das Seil hinaus.

Diesmal riefen ihm mindestens die Hälfte der Zuschauer zu, er solle zurückgehen und hinter ihm befinde sich eine Leiter, während die anderen schallend lachten und zweifellos darauf warteten, daß er sich das Genick brach. Diesmal jedoch ging er ganz problemlos hinüber, glitt — die Hände und Füße an den Außenseiten der Taue — die Strickleiter hinunter und hob den Holzkrug auf, um einen langen Zug daraus zu tun. Erst als Luca den roten Hut auf Juilins Kopf setzte und sie sich beide verbeugten, wobei Luca seinen Umhang derart schwenkte, daß Juilin die meiste Zeit über dahinter verborgen war, merkten die Zuschauer, daß alles Teil der Vorführung gewesen war. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, und dann explodierten förmlich der Beifall, das Geschrei und Gelächter. Nynaeve hatte beinahe befürchtet, sie würden es übelnehmen, daß man sie so geleimt hatte. Der Bursche mit der Skalplocke wirkte selbst beim Lachen noch schurkisch.

Luca ließ Juilin an der Strickleiter stehen und stellte sich an seinen Platz zwischen Nynaeve und dem Mann mit der Skalplocke. »Ich hatte mir gedacht, daß ihnen das gefällt.« Es klang unwahrscheinlich selbstzufrieden, und er machte noch kleine Verbeugungen zur Menschenmenge hin, als sei er derjenige auf dem Hochseil gewesen.

Sie sah ihn mit säuerlicher Miene an, hatte aber keine Zeit, den beißenden Kommentar loszuwerden, der ihr auf der Zunge lag, denn Elayne kam durch die Menge gehüpft, stellte sich neben Juilin, breitete die Arme aus und beugte ein Knie zu den Zuschauern hin.

Nynaeve verzog den Mund und rückte gereizt ihren Schal zurecht. Was sie auch von dem roten Kleid hielt, in dem sie sich mit einemmal wiedergefunden hatte, ohne richtig zu wissen, wie sie hineingekommen war, jedenfalls konnte man Elaynes Kostüm als noch gewagter bezeichnen. Die Tochter-Erbin von Andor stand ganz in Schneeweiß da. Auf ihrer kurzen Weste und der eng anliegenden Hose waren reichlich glitzernde Pailetten aufgestickt. Nynaeve hatte nicht glauben können, daß Elayne tatsächlich mit dieser Kleidung in der Öffentlichkeit auftreten werde, aber sie hatte sich derart mit ihrer eigenen Aufmachung beschäftigt, daß sie ganz vergessen hatte, Elayne die Meinung zu sagen. Weste und Hose ließen sie an Min denken. Es hatte ihr nie gefallen, wenn Min Jungenkleidung anzog, aber diese Farbe nun und der Zierrat ließen Elaynes Kleidung noch — schamloser erscheinen.

Juilin hielt die Strickleiter fest, damit Elayne hinaufklettern konnte, obwohl das gar nicht notwendig gewesen wäre. Sie kletterte ebenso gelenkig hoch wie er es getan hätte. Er verschwand in der Menge, sobald sie oben angekommen war. Dort posierte sie wieder und strahlte über den donnernden Applaus wie über die Bewunderung ihrer Untertanen. Als sie auf das Seil hinaustrat, das nun irgendwie noch dünner erschien als bei Juilin, stockte Nynaeve der Atem, und sie dachte überhaupt nicht mehr an Elaynes Kleidung oder gar ihre eigene.

Elayne ging mit weit ausgebreiteten Armen auf das Seil hinaus, und sie benützte keineswegs die Macht, um auf einem sicheren Pfad aus dem Element Luft laufen zu können. Langsam schritt sie weiter, setzte graziös einen Fuß vor den anderen und wirkte vollkommen sicher, obwohl sie nur auf dem dünnen Seil stand. Die Macht anzuwenden wäre viel zu gefährlich gewesen, falls Moghedien eine Ahnung hatte, wo sie sich aufhielten. Die Verlorene oder die Schwarzen Schwestern konnten sich durchaus bereits in Samara aufhalten, und sie würden das Gewebe der Macht sofort fühlen. Und falls sie tatsächlich noch nicht in Samara waren, könnte es doch bald geschehen. Auf der gegenüberliegenden Plattform blieb Elayne stehen und bekam erheblich mehr Beifall als Juilin zuvor, was Nynaeve überhaupt nicht verstehen konnte. Dann ging sie zurück. Als sie fast am anderen Ende angekommen war, drehte sie eine elegante Pirouette, ging den halben Weg zurück und wiederholte die Pirouette dort. Diesmal wankte sie ein wenig, fing sich aber sofort wieder. Nynaeve hatte das Gefühl, von einer kräftigen Hand an der Kehle gepackt zu werden. Mit langsamen, gleichmäßigen Schritten ging Elayne anschließend zu der Plattform zurück und posierte erneut unter tosendem Beifall.

Nynaeve schluckte ihre Angst hinunter und atmete auf, wenn auch ziemlich unsicher. Sie wußte, es war noch nicht vorüber.

Elayne erhob die Hände über ihren Kopf, und mit einemmal schlug sie ein Rad nach dem anderen auf dem Seil. Ihre schwarzen Locken flogen und die Pailetten an den in Weiß gehüllten Beinen blitzten im Sonnenschein. Nynaeve schrie auf und packte Luca am Arm, als das Mädchen die andere Plattform erreichte, bei der Landung ins Stolpern kam und sich gerade noch vor der Kante abfing.

»Was ist los?« knurrte er leise in das Aufstöhnen der Menge hinein. »Ihr habt doch zugesehen, wie sie das seit Sienda jeden Abend geübt hat. Und in einer Menge anderer Orte zuvor auch, sollte man denken.«

»Sicher«, erwiderte sie mit weichen Knien. Ihr Blick war auf Elayne fixiert, und so bemerkte sie kaum, wie er ihr einen Arm um die Schultern legte. Es war ihr nicht genügend bewußt, um etwas dagegen zu unternehmen. Sie hatte versucht, das Mädchen zu überreden, einen verstauchten Knöchel vorzutäuschen, aber Elayne bestand darauf, daß sie nach all der Übung mit Hilfe der Macht diese jetzt wirklich nicht mehr benötigte. Vielleicht traf das auf Juilin zu, offensichtlich sogar, aber Elayne war noch nie nachts über die Dächer einer Stadt geklettert.

Die Räder, die sie auf dem Rückweg schlug, klappten perfekt. Diesmal kam sie auch ganz sicher auf. Doch Nynaeve konnte den Blick nicht von ihr wenden und hielt sich an Lucas Ärmel fest. Nach der, wie es nun schien, unvermeidlichen Pause, um den Applaus entgegenzunehmen, ging Elayne wieder auf das Seil hinaus, drehte weitere Pirouetten, hob elegant ein Bein und senkte es ganz schnell, hob und senkte weiter, daß es schien, das Bein sei die ganze Zeit über gestreckt, und dann bückte sie sich und stemmte sich ganz langsam zu einem Handstand hoch —gestreckt wie ein Dolch, und die Zehenspitzen zeigten zum Himmel. Aus dem Handstand heraus folgte ein Überschlag rückwärts, nach dem die Menge stöhnte und sie von einer Seite zur anderen schwankte. Sie gewann das Gleichgewicht jedoch mit Mühe wieder. Thom Merrilin hatte ihr das und den Handstand beigebracht.

Aus dem Augenwinkel sah Nynaeve Thom, der zwei Plätze entfernt von ihr stand, die Augen auf Elayne gerichtet und nervös auf den Zehenspitzen balancierend. Er wirkte stolz wie ein Pfau. Andererseits schien er bereit, nach vorn zu stürzen und sie aufzufangen, sollte sie fallen. Und falls sie wirklich abstürzte, wäre das zum Teil ja auch seine Schuld. Er hätte ihr niemals solche Sachen beibringen dürfen!

Ein letztes Mal schlug Elayne ihre Räder mit im Sonnenschein blitzenden weißbekleideten Beinen, und noch schneller als zuvor. Diese Passage war Nynaeve gegenüber nie erwähnt worden! Fast wäre sie auf Luca losgegangen, hätte der nicht ärgerlich gemurmelt, daß es eine gute Methode sei, sich den Hals zu brechen, wenn man nur des Beifalls wegen etwas Unvorbereitetes hinzufügt. Eine letzte Pause, die elegante, beifallheischende Pose, und endlich kletterte Elayne herab.

Lärmend schloß sich die Menge um sie. Luca und vier mit Knüppeln bewaffnete Pferdeknechte tauchten plötzlich bei ihr auf, doch Thom war noch schneller da, obwohl er doch hinkte.

Nynaeve hüpfte hoch, so gut sie konnte, und schaffte gerade noch, Elayne über die Köpfe der Menge hinweg zu erspähen. Das Mädchen schien überhaupt keine Angst zu haben oder von den vielen winkenden Händen abgestoßen zu sein, die die Zuschauer zwischen ihren Wächtern durchstreckten, um sie einmal zu berühren. Mit hoch erhobenem Kopf und von der Anstrengung gerötetem Gesicht strahlte sie doch eine kühle und königliche Eleganz und Würde aus, während sie weggeführt wurde. Wie sie das bei der Kleidung fertigbrachte, konnte sich Nynaeve einfach nicht vorstellen.

»Ein Gesicht wie eine verdammte Königin«, murmelte der einäugige Mann in sich hinein. Er war nicht mit den anderen zu ihr hin gerannt, sondern hatte den Menschenstrom lediglich vorbeigelassen. In seinem grobgewebten, einfachen Mantel aus dunkelgrauer Wolle wirkte der Mann so standfest, daß er gewiß nicht fürchten mußte, umgestoßen und niedergetrampelt zu werden. Er sah aus, als könne er mit diesem Schwert umgehen. »Seng mich doch wie einen feigen Bauern, aber sie ist verdammt noch mal tapfer genug, um eine verfluchte Königin zu sein.«

Nynaeve blickte ihm mit offenem Mund nach, als er durch die Menge wegschritt, und das lag nicht an seiner Ausdrucksweise. Jedenfalls nur zum Teil. Jetzt erinnerte sie sich daran, wo sie ihn kennengelernt hatte, einen einäugigen Mann mit Skalplocke, der keine zwei Sätze herausbrachte, ohne dabei die ekelhaftesten Flüche auszustoßen.

So vergaß sie Elayne, die nun gewiß in Sicherheit war, und begann, sich hinter ihm durch die Menge zu schieben.

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