53 Verblassende Worte

In den Tiefen des schrumpfenden Nichts sah Rand, wie Moiraine urplötzlich erschien und sich auf Lanfear warf und mit ihr rang. Der Angriff auf ihn hörte schlagartig auf, als die beiden Frauen in einem nicht enden wollenden grellweißen Lichtschein durch den Türrahmen des Ter'Angreal stürzten. Das Licht ließ das seltsam verdrehte Sandsteinrechteck hell erstrahlen. Es war, als wolle es hindurchfluten und werde nur von einer unsichtbaren Wand zurückgehalten. Silberne und blaue Blitze sprühten immer wilder um den Ter'Angreal, knisterten und prasselten ohrenbetäubend.

Rand taumelte hoch. Der Schmerz war noch nicht verflogen, aber der Druck war weg, und damit würde auch der Schmerz nicht mehr lange andauern. Er konnte den Blick nicht von dem Ter'Angreal wenden. Moiraine. Ihr Name erfüllte seinen Verstand und glitt in großen Lettern über die Blase des Nichts.

Lan schlurfte an ihm vorbei, den Blick stur auf den Wagen gerichtet. Er beugte sich vor, daß es aussah, als müsse er sich weiterbewegen, weil er sonst nach vorne wegkippen würde.

Mehr als dieses Aufstehen konnte Rand im Augenblick auch nicht bewältigen. Er verwob einen Strang aus Luft und fing damit den Behüter auf. »Ihr... Ihr könnt nichts tun, Lan. Ihr könnt ihr nicht folgen.«

»Ich weiß«, sagte Lan mit Hoffnungslosigkeit in der Stimme. Er wurde von dem Strang aus Luft im Schritt mit einem erhobenen Fuß festgehalten, kämpfte aber nicht dagegen an, sondern starrte nur auf diesen Ter'Angreal, der Moiraine verschlungen hatte. »Das Licht gebe mir Frieden, ich weiß es.«

Der Wagen selbst hatte mittlerweile Feuer gefangen. Rand versuchte, die Flammen zu ersticken, doch sobald er einem Brandherd die Hitze entzogen und sie abgeleitet hatte, entzündete ein Blitz einen neuen. Der Türrahmen selbst begann bereits zu qualmen, obwohl er ja aus Stein bestand. Der weiße, beißende Rauch stieg auf und ballte sich unter der grauen Kuppel zusammen. Nur ein kurzer Hauch ließ Rands Nase brennen und zwang ihn zum Husten. Seine Haut prickelte, und es stach, wo der Qualm sie berührte. Schnell löste er das Gewebe der Kuppel auf und wartete nicht erst darauf, daß sie von allein verschwand, sondern trieb ihre Reste auseinander. Dann webte er einen hohen Schornstein aus Luft über dem Wagen. Die Luftsäule schimmerte wie Glas. So konnte der Qualm nur noch nach oben entweichen. Erst dann ließ er Lan los. Bei diesem Mann hatte er es durchaus für möglich gehalten, daß er Moiraine trotz allem gefolgt wäre, hätte er nur den Wagen erreichen können. Der aber stand nun in hellen Flammen. Der steinerne Türrahmen schmolz wie Wachs, doch vielleicht hätte selbst das einen Behüter nicht abhalten können.

»Sie ist weg. Ich kann ihre Gegenwart nicht mehr spüren.« Es klang, als reiße sich Lan jedes Wort aus der Brust. Er wandte sich um und begann, ohne einen Blick zurück die Reihe der Wagen entlangzugehen.

Rand folgte dem Behüter mit den Augen, doch dann fiel ihm Aviendha auf, die immer noch auf den Knien lag und Egwene in den Armen hielt. Er ließ Saidin los und rannte den Kai entlang. Die körperlichen Schmerzen, die das Nichts auf Distanz gehalten hatte, brachen jetzt mit voller Wucht über ihn herein, doch er rannte, wenn auch mühsam, zu den Frauen hin. Auch Asmodean befand sich bereits dort und blickte sich ängstlich um, als erwarte er, daß Lanfear plötzlich hinter einem Planwagen oder einem umgestürzten Gemüsekarren hervortreten werde. Und Mat hockte daneben, den Speer an die Schulter gelehnt, und fächelte Egwene mit seinem Hut Luft zu.

Rand schlidderte zum Stand. »Ist sie...?«

»Ich weiß nicht«, sagte Mat kleinlaut.

»Sie atmet noch.« Das klang bei Aviendha, als wisse sie nicht, wie lange noch, doch als Amys und Bair sich mit Melaine und Sorilea im Schlepptau gewaltsam an Rand vorbeidrängten, schlug Egwene gerade die Augen auf. Die Weisen Frauen knieten sich neben die jungen Frauen nieder und sprachen leise miteinander, während sie Egwene untersuchten.

»Ich fühle mich...«, begann Egwene mit schwacher Stimme und hielt inne, um zu schlucken. Ihr Gesicht war blutleer und bleich. »Es ... tut weh.« Eine Träne quoll ihr aus dem Auge.

»Selbstverständlich«, sagte Sorilea kurz angebunden. »So etwas passiert eben, wenn man sich in die Angelegenheiten eines Mannes verwickeln laßt.«

»Sie kann nicht mit Euch gehen, Rand al'Thor.« Melaine mit dem sonnenfarbenen Haar war ganz offensichtlich wütend, blickte ihn aber nicht direkt an. Ihr Zorn mochte gegen ihn gerichtet sein, vielleicht aber auch allgemein gegen das, was nun einmal geschehen war.

»Ich ... bin bald wieder munter wie ein Fisch im Wasser ... wenn ich ... ein bißchen ausgeruht habe«, flüsterte Egwene.

Bair befeuchtete ein Tuch an einem Wasserschlauch und legte es auf Egwenes Stirn. »Es wird Euch wieder gut gehen, wenn Ihr lange genug geruht habt. Ich fürchte, heute abend werdet Ihr Euch nicht mit Nynaeve und Elayne treffen. Ihr werdet ein paar Tage lang von Tel'aran'rhiod fernbleiben, bis Ihr wieder stärker seid. Seht mich nicht so widerspenstig an, Kind.

Falls notwendig, werden wir Eure Träume überwachen, und wenn Ihr auch nur daran denkt, ungehorsam zu sein, werden wir Euch Sorilea zur Pflege übergeben.«

»Mir werdet Ihr höchstens einmal zuwiderhandeln, Aes Sedai oder nicht«, versprach Sorilea, aber das Mitgefühl in ihrer Stimme widersprach dem grimmigen Ausdruck auf ihrem wettergegerbten Gesicht. Egwenes Miene sprach von abgrundtiefer Niedergeschlagenheit.

»Ich wenigstens fühle mich gut genug, um zu unternehmen, was vollbracht werden muß«, sagte Aviendha. In Wirklichkeit sah sie nicht viel besser aus als Egwene, aber sie brachte einen trotzigen Blick in Rands Richtung zustande, von dem sie offensichtlich Widerspruch erwartete. Ihr Trotz verflog ein wenig, als ihr bewußt wurde, daß alle vier Weisen Frauen sie anblickten. »Es stimmt aber«, knurrte sie.

»Natürlich«, murmelte Rand mit flauem Gefühl im Magen.

»Wirklich«, beharrte sie darauf. Sie sprach mit ihm und mied ängstlich jeden Blick in die Augen der Weisen Frauen. »Lanfear hatte mich etwas kürzer in den Klauen als Egwene. Das macht einen entscheidenden Unterschied. Ich habe ein Toh dir gegenüber, Rand al'Thor. Ich glaube nicht, daß wir auch nur einige Augenblicke länger überlebt hätten. Sie war sehr stark.« Ihr Blick huschte zu dem brennenden Wagen hinüber. Das wilde Flammenmeer hatte ihn bereits zu einem formlosen, verkohlten Haufen innerhalb des gläsern wirkenden Schornsteins zusammensinken lassen. Von dem steinernen Ter'Angreal war nichts mehr zu sehen. »Ich habe nicht mehr beobachten können, was noch geschah.«

»Sie sind...« Rand mußte sich räuspern. »Sie sind beide weg. Lanfear ist tot und Moiraine auch.« Egwene begann zu weinen. Trotz Aviendhas festem Griff schüttelte das Schluchzen ihren ganzen Körper durch. Aviendha ihrerseits senkte den Kopf bis auf die Schulter der anderen, als wolle auch sie gleich in Tränen ausbrechen.

»Ihr seid ein Narr, Rand al'Thor«, sagte Amys und stand auf. Dieses so überraschend jugendliche Gesicht unter dem Kopftuch, das ihr weißes Haar bedeckte, wirkte steinhart. »In dieser Hinsicht und auch in bezug auf viele andere Dinge seid Ihr ein Narr.«

Er wandte sich vor der Anklage in ihrem Blick ab. Moiraine war tot. Tot, weil er sich nicht hatte dazu überwinden können, eine der Verlorenen zu töten. Er konnte sich nicht zwischen Lachen und Weinen entscheiden. Falls er eines von beiden tat, würde er nicht mehr aufzuhören in der Lage sein.

Die Hafenstraßen, die sich schlagartig geleert hatten, als er die Kuppel schuf, füllten sich nun wieder, obwohl die meisten der Menschen sich nicht näher herantrauten als bis dorthin, wo die milchiggraue Kuppelwand sich befunden hatte. Weise Frauen gingen umher und kümmerten sich um die Menschen, die Brandwunden davongetragen hatten, und sie sprachen den Sterbenden Trost zu. Weißgekleidete Gai'schain und Männer im Cadin'sor waren ihnen behilflich. Das Stöhnen und Schreien traf ihn immer noch bis ins Mark. Er war nicht schnell genug gewesen. Moiraine tot, und so konnte niemand die am schlimmsten Verletzten mit Hilfe der Macht heilen. Weil er... Ich konnte nicht. Licht, hilf mir, ich habe es nicht fertiggebracht!

Andere Aielmänner standen da und beobachteten ihn. Manche legten den Schleier jetzt wieder ab. Er entdeckte immer noch keine einzige Tochter des Speers. Und nicht nur Aiel standen dort. Dobraine, der mit bloßem Haupt auf einem schwarzen Wallach saß, wandte den Blick nicht von Rand, und in der Nähe saßen Talmanes, Nalesean und Daerig auf ihren Pferden und sahen ebenfalls herüber. Sie allerdings beobachteten Mat fast genauso eindringlich wie Rand. Auf dem Wehrgang der großen Stadtmauer drängten sich die Menschen, von der aufgehenden Sonne von hinten angestrahlt so daß ihre Gesichter im Dunkel lagen, und weitere standen auf den Flankenmauern. Zwei dieser schattenhaften Gestalten wandten sich ab, als er emporblickte, erkannten sich auf nicht einmal zwanzig Schritt Entfernung und schienen voreinander zurückzuschrecken. Er hätte wetten können, daß es sich um Meilan und Maringil handelte.

Lan stand wieder hinten bei den Pferden am letzten Wagen in der Reihe und streichelte Aldiebs weiße Nase. Moiraines Stute.

Rand ging zu ihm hin. »Es tut mir so leid, Lan. Wäre ich schneller gewesen, hätte ich...« Er atmete schwer aus. Ich konnte die eine nicht töten, also tötete ich die andere. Licht, seng mich doch, bis ich blind bin! In diesem Moment wäre es ihm gleichgültig gewesen, hätte ihm das Licht wirklich die Augen ausgebrannt.

»Das Rad webt.« Lan ging hinüber zu Mandarb und überprüfte den Sattelgurt des schwarzen Hengstes —wohl nur, damit er etwas zu tun hatte. »Sie war eine Soldatin, auf ihre eigene Art ein Krieger, genau wie ich. Dasselbe hätte in den vergangenen zwanzig Jahren zweihundert Mal geschehen können. Dir war das immer bewußt, genau wie mir. Es war ein guter Tag zum Sterben.« Seine Stimme klang so hart wie immer, doch diese kalten, blauen Augen wiesen rote Ränder auf.

»Es tut mir trotzdem leid. Ich hätte eben...« Man konnte den Mann nicht mit ›hätte‹ oder ›sollte‹ trösten, und diese Worte rissen an Rands Seele. »Ich hoffe, Ihr könnt trotzdem noch mein Freund sein, Lan, nachdem... Ich schätze Euren Rat sehr — und Eure Übungsstunden mit dem Schwert — ich werde beides in den kommenden Tagen benötigen.«

»Ich bin Euer Freund, Rand. Aber ich kann nicht bleiben.« Lan schwang sich in seinen Sattel. »Moiraine hat etwas mit mir gemacht, was schon seit Jahrhunderten nicht mehr durchgeführt wurde, jedenfalls nicht mehr seit jener Zeit, als die Aes Sedai sich noch gelegentlich einen Mann gegen seinen Willen als Behüter zuschwören ließen. Sie hat meine Verbindung zu ihr so abgeändert daß ich bei ihrem Tod zu einer anderen gehören würde. Nun muß ich diese andere finden und einer ihrer Behüter werden. Ich bin es bereits. Ich kann sie ganz schwach spüren, irgendwo, weit im Westen, und sie kann auch mich fühlen. Ich muß gehen, Rand. Es ist ein Teil dessen, was Moiraine tat. Sie sagte, sie werde nicht zulassen, daß ich sterbe, nur weil ich sie rächen will.« Er hielt die Zügel gepackt, als wolle er Mandarb zurückhalten, als halte er sich selbst davon ab, ihn die Sporen spüren zu lassen. »Falls Ihr jemals Nynaeve wiederseht, sagt ihr...« Einen Moment lang verzog sich dieses ansonsten steinerne Gesicht vor Schmerz und Qual, doch nur diesen einen Moment lang, dann bestand es wieder aus Granit. Er murmelte leise etwas, das Rand aber doch verstehen konnte: »Eine saubere Wunde heilt am schnellsten und verkürzt den Schmerz.« Laut sagte er: »Sagt ihr, ich hätte jemanden anders gefunden. Grüne Schwestern stehen manchmal ihren Behütern so nahe wie andere Frauen ihren Ehemännern. In allem. Sagt ihr, ich wäre weg, um der Geliebte und das Schwert einer Grünen Schwester zu werden. So etwas passiert. Es ist ja schließlich schon lange her, daß ich sie das letzte Mal sah.«

»Ich werde ihr ausrichten, was Ihr mir auftragt, Lan, aber ich weiß nicht, ob sie mir glauben wird.«

Lan beugte sich aus dem Sattel herunter und packte mit hartem Griff Rands Schulter. Rand dachte daran, wie er den Mann mit einem halb gezähmten Wolf verglichen hatte, aber diese Augen ließen einen Wolf gegen ihn wie ein Schoßhündchen erscheinen. »Wir sind uns in vielen Dingen ähnlich, Ihr und ich. In uns schlummert eine Dunkelheit. Dunkelheit, Schmerz, Tod. Wir strömen diese Dinge aus. Wenn Ihr je eine Frau liebt, Rand, dann verlaßt sie und laßt sie einen anderen finden. Das wird das größte Geschenk, daß Ihr dieser Frau geben könnt.« Er richtete sich auf und erhob eine Hand. »Der Friede sei Eurem Schwert gnädig. Tai'schar Manetheren.« Der uralte Gruß. ›Das wahre Blut von Manetheren‹.

Rand hob seine Hand zum Gruß. »Tai'schar Malkier.«

Lan ließ Mandarb die Fersen in den Flanken spüren, und der Hengst sprang vorwärts. Aiel und alle anderen brachten sich schnell in Sicherheit. Es war, als wolle er den letzten der Malkieri im Galopp bis an sein Ziel tragen, wo immer das auch lag.

»Die letzte Umarmung der Mutter soll Euch zu Hause willkommen heißen, Lan«, murmelte Rand, und dann überlief ihn ein Schaudern. Das war ein Teil der Beerdigungszeremonie in Schienar und überall in den Grenzlanden.

Sie beobachteten ihn noch immer, die Aiel, die Menschen auf der Stadtmauer. Die Burg würde von den heutigen Ereignissen erfahren, oder jedenfalls eine Darstellung davon erhalten, so schnell es eine Taube nur nach Tar Valon schaffen konnte. Falls Rahvin eine Möglichkeit besaß, ihn ebenfalls zu überwachen, und dazu benötigte er ja eigentlich nur einen Raben in der Stadt oder eine Ratte am Flußufer, würde er heute gewiß keinen Angriff von ihm erwarten. Elaida würde ihn für geschwächt halten und glauben, er sei vielleicht leichter zu beeinflussen, und Rahvin...

Ihm wurde bewußt, was er da tat, und er zuckte leicht zusammen. Hör auf! Eine Minute wenigstens kannst du aufhören und trauern! Er wollte nicht, daß ihn alle so beobachteten. Die Aiel wichen ihm beinahe genauso bereitwillig aus wie vorher Mandarb.

Die schiefergedeckte Hütte des Hafenmeisters besaß innen nur einen einzigen fensterlosen Raum mit Wänden voller Regale, auf denen Bücher, Schriftrollen und Papiere lagerten. Beleuchtet wurde er durch zwei Lampen auf einem groben, unlackierten Tisch, auf dem ansonsten vor allem Steuersiegel und Zollstempel herumlagen. Rand knallte die Tür hinter sich zu, um den vielen Augen zu entgehen.

Moiraine tot, Egwene verletzt und Lan fort. Ein hoher Preis für den Tod Lanfears.

»Traure gefälligst verdammt noch mal!« grollte er. »Das hat sie nun wirklich verdient! Hast du denn überhaupt kein Gefühl mehr?« Doch vor allem fühlte er sich wie betäubt. Sein Körper schmerzte, aber von den Schmerzen abgesehen war er wie tot.

Er zog die Schultern ein, steckte die Hände in die Taschen, und dort fanden seine Finger Moiraines Briefe. Langsam zog er sie heraus. Ein paar Dinge, über die er nachdenken sollte, hatte sie gesagt. Den an Thom steckte er zurück und brach dann das Siegel des anderen. Die Seiten waren dicht in Moiraines eleganter Handschrift beschrieben.

Diese Worte werden innerhalb von wenigen Augenblicken, nachdem Ihr dies aus der Hand legt, verblassen — ein auf Euch abgestimmtes Gewebe —, also geht vorsichtig damit um. Die Tatsache, daß Ihr dies lest, bedeutet, daß sich die Ereignisse im Hafen so entwickelt haben, wie ich hoffte...

Er unterbrach sich, blickte ins Leere, und dann las er doch schnell weiter.

Seit dem ersten Tag, da ich Rhuidean erreichte, wußte ich — es muß Euch nicht kümmern, wie ich das erfuhr; manche Geheimnisse gebühren anderen, und ich werde sie nicht verraten —, daß der Tag kommen würde, da in Cairhien Nachrichten von Morgase einträfen. Ich wußte freilich nicht, wie sie lauteten. Falls das stimmt, was wir hörten, mag das Licht ihrer Seele gnädig sein. Sie war eigenwillig und halsstarrig, hatte zuweilen die Launen einer Löwin, und doch war sie eine wahrheitsliebende, gute und gnädige Königin.

Doch jedesmal führten uns diese Nachrichten am darauffolgenden Tag zum Hafen. Es gab drei Verzweigungen vom Hafen aus, aber wenn Ihr dies lest, bin ich fort, genauso wie Lanfear...

Rands Hände verkrampften sich um die Blätter. Sie hatte es gewußt. Bescheid gewußt, und dennoch hatte sie ihn hierhergebracht. Hastig glättete er die zerknitterten Blätter.

Die anderen beiden Verzweigungen waren viel schlimmer. In der einen tötete Lanfear Euch. Und in der anderen schleppte sie Euch weg, und als wir Euch das nächste Mal sahen, nanntet Ihr euch Lews Therin Telamon und wart ihr hingebungsvoller Liebhaber.

Ich hoffe, Egwene und Aviendha haben unversehrt überlebt. Wie Ihr seht, weiß ich nicht, was hinterher in der Welt geschieht, abgesehen vielleicht von einer Kleinigkeit die Euch nicht betrifft.

Ich konnte es Euch nicht vorher sagen, aus dem gleichen Grund, wie ich es Lan nicht sagen konnte. Auch wenn ich Euch vor die Wahl gestellt hätte, hätte ich nicht sicher sein können, welche Möglichkeit Ihr erwählt. Die Menschen von den Zwei Flüssen tragen in sich, wie es scheint, viele Züge des legendären Manetheren, Charakterzüge, die sie mit den Menschen der Grenzlande teilen. Man sagt, ein Grenzländer empfange lieber selbst eine Wunde durch einen Dolchstoß, als einer Frau ein Leid zufügen zu lassen, und er betrachte das als einen fairen Handel. Ich wagte nicht, das Risiko einzugehen, Ihr könntet mein Leben über das Eure stellen und Euch einbilden, Ihr könntet irgendwie das Schicksal umgehen. Kein Risiko, fürchte ich, sondern eine närrische Einbildung, wie der heutige Tag Euch sicher bewiesen hat...

»Meine eigene Entscheidung, Moiraine«, stammelte er. »Es war meine eigene Entscheidung.«

Noch ein paar Dinge zum Schluß.

Falls Lan noch nicht weg sein sollte, sagt ihm bitte, daß das, was ich ihm antat, zu seinem eigenen Besten war. Eines Tages wird er es verstehen, und ich hoffe, er wird mir dafür danken.

Vertraut keiner Frau in vollem Maße, die jetzt zu den Aes Sedai gehört. Ich spreche hier nicht nur einfach von den Schwarzen Ajah, obwohl Ihr immer nach ihnen Ausschau halten müßt. Hütet Euch vor Verin genauso wie vor Alviarin. Wir haben die Welt dreitausend Jahre lang nach unserer Pfeife tanzen lassen. Es ist schwierig, mit einer solchen Gewohnheit zu brechen, wie ich erkennen mußte, als ich nach Eurer Pfeife tanzte. Ihr müßt Euch frei bewegen, und selbst die wohlmeinendste meiner Schwestern könnte versuchen, Euch so zu führen, wie ich es einst tat.

Bitte übergebt Thom Merrilin den Brief, wenn Ihr ihn wiederseht. Es gibt da eine Kleinigkeit, von der ich ihm einst erzählte, die ich aufklären muß, damit seine Seele Ruhe findet.

Noch eines: Hütet Euch vor Meister Jasin Natael. Ich kann Euch nicht in vollem Maße zustimmen, aber ich verstehe Euch. Vielleicht ist es die einzige Möglichkeit. Und doch müßt Ihr Euch vor ihm in acht nehmen. Er ist der gleiche Mann, der er immer war. Denkt stets daran.

Möge das Licht Euch erleuchten und beschützen. Ihr werdet es gut machen.

Es war schlicht mit ›Moiraine‹ unterzeichnet. Sie hatte ihren Adelsnamen fast nie benützt.

Den vorletzten Abschnitt las er noch einmal ganz genau durch. Irgendwie hatte sie also Asmodean erkannt. Etwas anderes konnte das nicht bedeuten. Sie hatte gewußt, daß sich einer der Verlorenen unmittelbar vor ihrer Nase befand, und dennoch nicht mit der Wimper gezuckt. Und auch den Grund hatte sie wohl erkannt, falls er das richtig verstand. Er hätte ja eigentlich annehmen können, daß sie sich in einem Brief, der verschwand, sobald er ihn weglegte, klarer ausdrücken würde und geradeheraus sagen, was sie meinte. Nicht nur, was Asmodean betraf. Wie sie das alles über die Aes Sedai in Rhuidean erfahren hatte beispielsweise. Es mußte wohl etwas mit den Weisen Frauen zu tun haben, wenn er richtig vermutete, und aus diesem Brief würde er genausowenig weiteres erfahren wie von ihnen. Gab es einen Grund, daß sie gerade Verin erwähnt hatte? Und wieso Alviarin anstatt Elaida? Und was war denn nun mit Thom und Lan? Aus irgendeinem Grund glaubte er nicht, sie habe auch einen Brief für Lan hinterlassen; der Behüter war nicht der einzige, der saubere Wunden für das Beste hielt. Beinahe hätte er den Brief an Thom aus der Tasche geholt und gelesen, aber möglicherweise hatte sie ihn genauso präpariert wie jenen an ihn. Als typische Einwohnerin Cairhiens und noch dazu als Aes Sedai hatte sie sich bis zum bitteren Ende in Geheimnisse und Intrigen gehüllt. Bis zum bitteren Ende.

Das war es, was er wie die Pest zu vermeiden suchte, indem er lieber über ihre Geheimniskrämerei schimpfte. Sie hatte gewußt, was geschehen würde, und hatte es genauso tapfer und mutig hingenommen wie ein Aiel. Sie ging in vollem Bewußtsein, was sie erwartete, in den Tod. Sie war gestorben, weil er sich nicht dazu überwinden konnte, Lanfear selbst zu töten. Er hatte eine Frau nicht töten können, und dafür mußte eine andere sterben. Sein Blick fiel wieder auf ihre letzten Worte.

.. Ihr werdet es gut machen.

Das schnitt tief in ihn wie ein kaltes Rasiermesser.

»Warum weint Ihr hier allein und verlassen, Rand al'Thor? Ich habe gehört, einige Feuchtländer schämten sich, wenn man sie weinen sieht.«

Er funkelte Sulin an, die im Eingang stand. Sie war kampfmäßig ausgerüstet, den Bogen in seinem Futteral auf dem Rücken, den Köcher am Gürtel, den runden Lederschild und drei Speere in der Hand. »Ich wei...« Seine Wangen waren irgendwie feucht geworden. Er wischte sie schnell ab. »Es ist so heiß hier drinnen. Ich schwitze wie ein... Was wollt Ihr? Ich glaubte, Ihr hättet Euch alle entschlossen, mich zu verlassen und ins Dreifache Land zurückzukehren.«

»Es sind nicht wir, die Euch verlassen hätten, Rand al'Thor.« Sie schieß die Tür hinter sich, setzte sich auf den Boden und legte zwei der Speere und den Schild neben sich. »Ihr habt uns verlassen!« Mit schnellen Bewegungen stemmte sie zuerst einen Fuß gegen den dritten Speer, den sie mit beiden Händen festhielt, drückte und zerbrach ihn in zwei Teile.

»Was macht Ihr da?« Sie warf die Teile zur Seite und hob einen weiteren Speer auf. »Ich sagte, was macht Ihr da?« Der Gesichtsausdruck der weißhaarigen Tochter des Speers hätte wohl selbst Lan zum Innehalten gebracht, aber Rand bückte sich und packte den Speer, den sie nun in den Händen hielt. Ihre weiche Stiefelsohle drückte auf sein Handgelenk. Und das nicht gerade sanft.

»Wollt Ihr uns in Röcke stecken, uns verheiraten, damit wir uns künftig um Heim und Herd kümmern? Oder sollen wir uns an Euer Feuer legen und Euch die Hand lecken, wenn Ihr uns einen Brocken Fleisch gebt?« Ihre Muskeln spannten sich, und der Speer zerbrach. Ein paar Splitter trafen seine Handfläche.

Er riß mit einem Fluch die Hand zurück und schüttelte einige Blutstropfen ab. »Ich habe nichts von alledem vor. Ich dachte. Ihr würdet es verstehen.« Sie nahm den letzten Speer in die Hand, stemmte den Fuß dagegen, und er lenkte schnell einen Strang aus Luft, um sie an Ort und Stelle unbeweglich festzuhalten. Sie blickte ihn lediglich wortlos an. »Seng mich, Ihr habt schließlich nichts dagegen gesagt! Ja, ich habe die Töchter aus dem Kampf gegen Couladin herausgehalten. An dem Tag hat eben nicht jeder gekämpft. Und Ihr habt kein Wort dagegen geäußert.«

Sulin riß die Augen ungläubig auf. »Ihr habt uns vom Tanz der Speere abgehalten? Wir haben Euch da herausgehalten! Ihr wart wie ein Mädchen, das erst ganz frisch mit dem Speer verheiratet wurde, bereit, hinauszustürmen und Couladin zu töten, ohne an den Speer zu denken, der Euch von hinten treffen könnte. Ihr seid der Car'a'carn. Ihr habt kein Recht, Euer Leben unnötig aufs Spiel zu setzen.« Ihre Stimme klang nun wieder tonlos und vorwurfsvoll zugleich: »Jetzt geht Ihr weg, um gegen die Verlorenen zu kämpfen. Das Geheimnis ist wohlbehütet, aber ich habe genug aus dem herauslesen können, was die sagten, die andere Kriegergemeinschaften führen.«

»Und auch von diesem Kampf wollt Ihr mich fernhalten?« fragte er ruhig.

»Seid kein Narr, Rand al'Thor. Jeder hätte den Tanz der Speere mit Couladin tanzen können. Ihr habt wie ein Kind gedacht, als Ihr dieses Risiko eingehen wolltet. Doch keiner von uns kann den Schattenseelen entgegentreten. Das könnt nur Ihr.«

»Warum dann ber...?« Er schwieg, denn er ahnte die Antwort bereits. Nach jenem blutgetränkten Tag des Kampfes gegen Couladin hatte er sich eingeredet, sie hätten nichts dagegen gehabt. Er hatte das jedenfalls glauben wollen.

»Es wurden die auserwählt, die mit Euch gehen sollen.« Jedes Wort war wie ein geworfener Stein. »Männer aus jeder Kriegergemeinschaft. Männer. Aber keine Töchter des Speers, Rand al'Thor. Die Far Dareis Mai tragen Eure Ehre, doch Ihr nehmt uns die unsere.«

Er atmete tief durch und suchte nach den richtigen Worten: »Ich ... kann keine Frau sterben sehen. Ich hasse das, Sulin. Es dreht sich mir alles im Innern um. Ich könnte keine Frau töten, und wenn auch mein Leben davon abhinge.« Die Blätter von Moiraines Brief knisterten in seiner Hand. Tot, weil er nicht in der Lage gewesen war, Lanfear zu töten. Nicht nur sein Leben hing manchmal daran. »Sulin, ich würde lieber ganz allein gegen Rahvin kämpfen, als auch nur eine von Euch sterben zu sehen.«

»Das ist doch närrisch! Jede braucht eine andere, um ihr den Rücken zu decken. Also ist es Rahvin. Selbst Riodan von den Donnergängern und Turol von den Steinhunden rückten damit nicht heraus.« Sie sah ihren erhobenen Fuß an, der von dem gleichen Strang am Speer festgehalten wurde, der auch ihre Arme fesselte. »Befreit mich, und wir sprechen darüber.«

Nach einem Augenblick des Zögerns löste er den Strang. Er verkrampfte sich sprungbereit, um sie notfalls sofort wieder zu fesseln, doch sie schlug die Beine übereinander, saß ruhig da und ließ den Speer auf ihren Handflächen auf und ab tanzen. »Manchmal vergesse ich, daß Ihr außerhalb unseres Bluts erzogen wurdet, Rand al'Thor. Hört mich an. Ich bin, was ich bin. Das ist es, was ich bin.« Sie hob den Speer.

»Sulin...«

»Hört mir zu, Rand al'Thor. Ich bin der Speer. Als ein Liebhaber zwischen mich und den Speer trat, habe ich den Speer gewählt. Manche wählen den Mann. Andere entscheiden, daß sie lange genug mit den Speeren gerannt sind und nun einen Mann und ein Kind haben wollen. Ich selbst wollte nie etwas anderes. Jeder Häuptling würde mich, ohne zu zögern, dorthin schicken, wo der Tanz am heißesten ist. Sollte ich dort sterben, würden meine Erstschwestern um mich trauern, aber keinen Deut mehr als zu der Zeit, da mein Erstbruder fiel. Ein Baummörder, der mir im Schlaf seinen Dolch ins Herz stößt, würde mir damit mehr Ehre zuteil werden lassen als Ihr. Versteht Ihr mich jetzt?«

»Ich verstehe, aber...« Er verstand sie wirklich. Sie wollte nicht, daß er etwas anderes aus ihr machte, als sie eben war. Alles, was man von ihm erwartete, war die Bereitschaft, sie sterben zu sehen. »Was geschieht, wenn Ihr den letzten Speer brecht?«

»Dann besitze ich in diesem Leben keine Ehre mehr. Vielleicht in einem anderen.« Sie sagte das so, als sei es lediglich eine nüchterne Erklärung. Er brauchte einen Augenblick, um ihre Worte richtig zu begreifen. Man forderte von ihm nur die Bereitschaft, sie sterben zu sehen.

»Ihr laßt mir wohl keine andere Wahl, oder?« Moiraine hatte auch keine andere gehabt.

»Man hat immer die Wahl, Rand al'Thor. Ihr habt die Wahl, wie Ihr euch entscheiden wollt, und ich habe eine. Ji'e'toh läßt uns keine weiteren.«

Er hätte sie am liebsten angefaucht wie ein Tier und fi'e'toh und alle, die dieser Lehre folgten, verflucht. »So wählt denn Eure Töchter aus, Sulin. Ich weiß nicht, wie viele ich mitnehmen kann, aber es werden genauso viele Far Dareis Mai sein, wie aus den anderen Kriegergemeinschaften. «

Er stolzierte an ihr und ihrem plötzlichen Lächeln vorbei. Keine Erleichterung. Freude. Freude, weil sie eine Chance zum Sterben bekam. Er hätte sie durch Saidin gefesselt zurücklassen und sich dann mit ihr befassen sollen, wenn er aus Caemlyn zurück war. Er riß die Tür auf, schritt hinaus auf den Kai — und blieb unvermittelt stehen.

Enaila stand an der Spitze einer Reihe von Töchtern des Speers, alle mit je drei Speeren in der Hand, die sich von der Tür des Hafenmeisters den Kai entlang zog und schließlich hinter dem nächsten Tor zur Stadt verschwand. Einige der Aiel am Hafen spähten neugierig zu ihnen herüber, aber es war offensichtlich eine Sache zwischen den Far Darei Mai und dem Car'a'carn und ging die anderen Kriegergemeinschaften nichts an. Amys und drei oder vier andere Weise Frauen, die selbst einst Töchter des Speers gewesen waren, beobachteten die Szenerie allerdings etwas genauer. Die meisten der Stadtbewohner und Schauerleute waren weg, bis auf ein paar Mann, die sich damit abplagten, umgestürzte Getreidekarren wieder aufzurichten. Sie bemühten sich betont, jeden Blick zu den Töchtern hin zu meiden. Enaila trat auf Rand zu, blieb dann aber stehen und lächelte, als sie Sulin herauskommen sah. Keine Erleichterung in diesem Lächeln. Freude. Ein Lächeln purer Freude wanderte die lange Reihe der Töchter entlang. Auch die Weisen Frauen lächelten, und Amys nickte ihm kurz anerkennend zu, als habe er sein idiotisches Verhalten eingesehen und geändert.

»Ich glaubte schon, sie müßten vielleicht eine nach der anderen hineingehen, um dich aus deiner trüben Stimmung herauszuküssen«, sagte Mat.

Rand blickte ihn düster an, wie er dastand, auf seinen Speer gestützt, grinsend, den breitkrempigen Hut weit nach hinten geschoben. »Wie kannst du nur so guter Dinge sein?« Der Gestank nach verbranntem Fleisch hing noch immer in der Luft, und das Stöhnen der Männer und Frauen, die Verbrennungen erlitten hatten und nun von den Weisen Frauen versorgt wurden, hatte nicht nachgelassen.

»Weil ich noch lebe«, knurrte Mat. »Was willst du von mir? Soll ich heulen?« Er zuckte unangenehm berührt die Achseln. »Amys sagt, Egwene wird in ein paar Tagen wieder in Ordnung sein.« Dann sah er sich um, aber so, als wolle er eigentlich nicht sehen, was vor seinen Augen lag. »Seng mich, wenn wir diese Sache erledigen wollen, dann laß uns aufbrechen. Dovie'andi se tovya sagain.«

»Was?«

»Ich sagte, es sei Zeit, die Würfel rollen zu lassen. Hat Sulin dir die Ohren verstopft?«

»Zeit, daß die Würfel rollen«, bestätigte Rand. Die Flammen in dem glasartigen Schornstein aus Luft waren erloschen, doch der weiße Qualm stieg noch immer darin auf, als brenne der Ter'Angreal unablässig weiter. Moiraine. Er hätte... Was vorbei war, war vorbei. Die Töchter versammelten sich um Sulin, so viele, wie überhaupt nur auf dem Kai Platz fanden. Vorbei war vorbei, und damit mußte er nun leben. Der Tod wäre eine Erlösung von all diesen Dingen, mit denen er leben mußte. »Also packen wir's an.«

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