Die Aura von Ruhm und Größe, blau und golden, flackerte unregelmäßig um Logains Kopf, obwohl er in sich zusammengesunken im Sattel hing. Min verstand nicht, wieso sie in letzter Zeit immer häufiger erschienen war. Er machte sich noch nicht einmal mehr die Mühe, den Blick von dem Unkraut vor den Hufen seines Pferdes zu heben und die niedrigen, bewaldeten Hügel zu betrachten, die sie auf allen Seiten umgaben.
Die beiden anderen Frauen ritten ein Stückchen vor ihr. Siuan hing so ungeschickt wie immer auf Bela, während Leane ihre graue Stute mit sicherer Hand lenkte, mehr durch Schenkeldruck als mit dem Zügel. Nur ein unnatürlich gerade verlaufender Streifen von großen Farnen, der sich über den von Blättern bedeckten Waldboden zog, deutete darauf hin, daß es hier jemals eine Straße gegeben hatte. Die zerfransten Farne welkten deutlich, und die Blätterschicht raschelte und knisterte trocken unter den Pferdehufen. Die dichten Äste gewährten ein wenig Schutz vor der Mittagssonne, doch kühl war es deshalb noch lange nicht. Schweiß rann über Mins Gesicht, und das trotz der gelegentlich auffrischenden Brise, die von hinten wehte.
Fünfzehn Tage lang waren sie nun schon von Lugard aus nach Südwesten geritten, nur von Siuans Hartnäckigkeit geleitet, die steif und fest behauptete, sie wisse genau, wohin sie sich begeben mußten. Natürlich sagte sie ihr nichts darüber. Siuan und Leane waren so verschlossen wie eine ausgelöste Bärenfalle. Min war sich nicht einmal sicher, ob Leane Bescheid wußte. Fünfzehn Tage, und die Dörfer und Städte wurden immer seltener, die Abstände zwischen ihnen immer größer, bis schließlich gar keine mehr kamen. Von Tag zu Tag waren Logains Schultern ein wenig mehr eingesunken, und Tag für Tag erschien diese Aura immer häufiger. Zuerst hatte er nur geknurrt, sie liefen hinter Irrlichtern her, doch Siuan hatte die Führung ohne Widerspruch von seiner Seite erneut an sich gerissen, während er immer mehr nach innen gekehrt erschien. Die letzten sechs Tage über schien er nicht mehr über die Energie zu verfügen, Interesse an ihrem Ziel zu bekunden oder auch nur zu fragen, ob sie es jemals erreichen würden.
Siuan und Leane unterhielten sich leise. Min konnte lediglich ein kaum hörbares Murmeln wahrnehmen, das möglicherweise der Wind in den Blättern verursacht hatte. Und wenn sie sich bemühte, näher an die beiden heranzureiten, sagten sie ihr lediglich, sie solle ein Auge auf Logain haben, oder sie sahen sie nur schweigend an, bis auch die letzte Närrin verstanden hätte, daß sie ihre Nase nicht in die Angelegenheiten anderer stecken solle. Das hatten sie bereits des öfteren praktiziert. Allerdings drehte sich Leane von Zeit zu Zeit im Sattel um und sah selbst nach Logain.
Schließlich nahm Leane Mondblume zurück und ritt neben seinem schwarzen Hengst einher. Die Hitze schien ihr nichts auszumachen. Nicht einmal ein leichter Glanz von Schweiß machte sich auf ihrem kupferfarbenen Gesicht bemerkbar. Min lenkte Wildrose zur Seite, um ihr Platz zu machen.
»Es dauert jetzt nicht mehr lang«, sagte Leane mit rauchiger Stimme zu ihm. Er blickte nicht auf. Sie beugte sich näher zu ihm hinüber und hielt sich an seinem Arm fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie drückte ihn regelrecht. »Noch eine kleine Weile, Dalyn. Ihr werdet Gelegenheit zu Eurer Rache bekommen.« Sein Blick war starr auf den Weg gerichtet.
»Selbst ein toter Mann würde noch besser aufpassen«, sagte Min, und das meinte sie auch fast wörtlich. Sie hatte sich alles gemerkt, was Leane tat, und abends hatte sie sich mit ihr ausführlich unterhalten und sie ausgefragt, ohne ihr zu sagen, warum. Sie würde sich nie so wie Leane bewegen können — es sei denn, ich trinke soviel, daß ich nicht mehr klar denken kann —, aber ein paar Fingerzeige könnten doch nützlich sein. »Vielleicht solltet Ihr ihn küssen?«
Leane warf ihr einen Blick zu, der einen reißenden Bach zum Gefrieren gebracht hätte, doch Min erwiderte ihn kaum. Sie hatte Leane gegenüber noch nie solche Probleme gehabt wie bei Siuan, oder jedenfalls nicht so viele, und die paar Unstimmigkeiten waren immer seltener geworden, seit die andere die Burg verlassen hatte. Und sie waren seltener geworden, seit sie begonnen hatten, sich über die Männer zu unterhalten. Wie könnte man sich von einer Frau einschüchtern lassen, die einem todernst versicherte, es gebe genau einhundertundsieben verschiedene Arten zu küssen und dreiundneunzig Arten, das Gesicht eines Mannes mit der Hand zu berühren? Leane schien diese Dinge aber tatsächlich zu glauben.
Min hatte den Vorschlag mit dem Kuß wirklich nicht als Neckerei aufgefaßt. Leane hatte ihre Flirtkünste an ihm erprobt, hatte ihn angelächelt, daß ihm der Dampf aus den Ohren strömen sollte, und das seit jenem Tag, als sie ihn zum erstenmal aus den Decken holen mußten. Vorher war er immer als erster draußen gewesen und hatte die anderen als Spätaufsteher gescholten. Min wußte nicht, ob Leane wirklich etwas für den Mann empfand, konnte aber schwerlich daran glauben, oder ob sie ihn lediglich vom Aufgeben abhalten und ihn damit am Leben halten wolle, damit Siuan ihre Pläne mit ihm verwirklichen konnte.
Leane hatte es gewiß nicht aufgegeben, mit anderen außer ihm zu flirten. Sie hatte offensichtlich mit Siuan abgesprochen, daß die sich um die Frauen kümmern werde und Leane um die Männer. Das war seit Lugard so gelaufen. Ihr Lächeln und ihre Blicke hatten ihnen zweimal Zimmer zum Übernachten eingebracht, obwohl die Wirtin behauptet hatte, es seien keine frei, hatte dort und in drei weiteren Schenken ihre Rechnung erheblich gesenkt und ihnen in zwei Nächten wenigstens jeweils einen Schlafplatz in einer Scheune besorgt anstatt der Büsche am Straßenrand. Andererseits waren sie deshalb einmal von einer Bauersfrau mit einer Mistgabel verjagt worden, und eine andere hatte ihnen den kalten Haferbrei nachgeworfen, der von ihrem Frühstück übriggeblieben war. Leane hatte diese Vorkommnisse erheiternd gefunden, die anderen jedoch nicht. Im Verlauf der letzten Tage aber hatte Logain aufgehört, genauso auf sie zu reagieren wie jeder andere Mann, der sich mehr als zwei Minuten in ihrer Nähe aufhielt. Er hatte aufgehört, auf überhaupt irgend etwas zu reagieren.
Siuan nahm Bela steif und mit ausgestellten Ellbogen zurück. Sie brachte es fertig, auszusehen, als werde sie jeden Moment vom Pferd fallen. Die Hitze schien sie nicht zu berühren. »Habt Ihr heute schon etwas um ihn gesehen?« Sie blickte nicht einmal zu Logain hinüber.
»Es ist dasselbe wie immer«, sagte Min geduldig. Siuan weigerte sich, das Ganze zu verstehen oder zu glauben, so oft sie es ihnen auch sagte. Leane ging es genauso. Es hätte ja alles keine Rolle gespielt, wenn sie nicht diese Aura immer wieder gesehen hätte seit jenem ersten Mal in Tar Valon. Aber wenn Logain nun auch im Todeskampf röchelnd auf der Straße gelegen hätte, hätte sie doch gewettet, daß er sich auf wundersame Weise wieder erholen werde. Vielleicht würde eine Aes Sedai erscheinen und ihn heilen. Irgend etwas. Was sie an Visionen sah, stellte sich immer als richtig heraus. Und es geschah auch immer. Sie wußte das, genauso wie sie beim ersten Mal, als sie Rand al'Thor sah, gewußt hatte, sie würde sich hoffnungslos in ihn verlieben. Genauso hatte sie von Anfang an gewußt, daß sie ihn mit zwei anderen Frauen würde teilen müssen. Logain ging einem Ruhm entgegen, von dem nur wenige Männer auch nur jemals geträumt hatten.
»Sprecht nicht in diesem Ton mit mir«, mahnte Siuan, und der Blick aus ihren blauen Augen war scharf. »Es ist schon schlimm genug, daß wir diesen großen, haarigen Karpfen füttern müssen, damit er überhaupt etwas ißt. Da müßt Ihr nicht auch noch schmollen wie ein Kormoran im Winter. Mit ihm muß ich mich vielleicht abfinden, Mädchen, aber wenn Ihr mir auch noch Schwierigkeiten macht, werdet Ihr es schnell bereuen. Ist das klar genug?«
»Ja, Mara.« Wenigstens hättet Ihr es etwas sarkastisch klingen lassen können, dachte sie abfällig. Du mußt nicht gerade so folgsam wie eine Gans herumhocken. Leane hast du doch auch Kontra gegeben. Die Domanifrau hatte vorgeschlagen, sie solle das, was sie besprochen hatten, im letzten Dorf an einem Hufschmied ausprobieren. Er war ein hochgewachsener, gutaussehender Mann mit starken Händen und einem bedächtigen Lächeln, aber trotzdem... »Ich werde mich bemühen, nicht zu schmollen.« Das Schlimmste daran war, daß ihr klar wurde, daß sie es ernst gemeint hatte. Siuan hatte eine solche Wirkung auf andere. Min konnte sich nicht im geringsten vorstellen, daß Siuan einmal fragen würde, wie man einen Mann am erfolgversprechendsten anlächelte. Siuan sah einem Mann in die Augen, befahl ihm, was er zu tun habe und erwartete, daß er dem auch prompt nachkam. So machte sie es grundsätzlich immer. Falls sie es doch einmal anders machte, so wie im Fall von Logain, dann nur, weil es ohnehin keine große Rolle spielte.
»Es ist nicht mehr sehr weit, oder?« mischte sich Leane resolut ein. Den anderen Tonfall hatte sie für Männer reserviert. »Mir gefällt sein Zustand nicht, und wenn wir eine weitere Nacht lang draußen bleiben müssen... Na ja, wenn er noch weniger mithilft als heute morgen, weiß ich nicht, ob wir ihn überhaupt noch einmal in den Sattel bekommen.«
»Nicht sehr, wenn die Auskünfte richtig waren, die ich zuletzt erhielt.« Siuan machte einen nervösen Eindruck. Sie hatte im letzten Dorf vor zwei Tagen noch gefragt. Min hatte natürlich nicht lauschen dürfen, und Logain hatte keinerlei Interesse gezeigt. Jedenfalls paßte es Siuan nicht, wenn sie daran erinnert wurde. Min hatte keine Ahnung, warum. Siuan konnte ja wohl nicht glauben, daß Elaida hinter ihnen her sei.
Auch sie hoffte, daß ihr Ziel nahe sei. Sie konnten nicht wissen, wie weit sie seit der Straße nach Jehannah nach Süden abgekommen waren. Die meisten Dorfbewohner hatten selbst keine rechte Ahnung, wo sich ihr Dorf in bezug auf andere Orte außer gerade einmal der nächsten Kleinstadt befand, aber als sie den Manetherendrelle in Richtung Altara überquerten, kurz bevor Siuan sie die belebte Straße verlassen hieß, hatte der ergraute, alte Fährmann aus irgendeinem Grund eine zerfledderte Landkarte studiert, die den gesamten Bereich bis zu den Verschleierten Bergen zeigte. Wenn sie sich nicht völlig verschätzte, mußten sie nach wenigen Meilen auf einen weiteren breiten Fluß stoßen. Entweder war das der Boern, was bedeuten würde, daß sie sich bereits in Ghealdan befanden, wo sich auch der Prophet und seine Anhänger aufhielten, oder es war der Eldar, auf dessen gegenüberliegender Seite Amadicia und die Weißmäntel auf sie warteten.
Sie tippte jedenfalls auf Ghealdan, Prophet hin oder her, und selbst das war eine Überraschung, falls sie sich wirklich so nahe an der Grenze befanden. Nur ein Narr erwartete eine Versammlung von Aes Sedai näher an Amadicia, als unbedingt notwendig war, und Siuan war nun wirklich keiner. Doch ob sie nun nach Ghealdan kamen oder nach Altara — in jedem Fall war Amadicia nicht allzu viele Meilen weit entfernt.
»Daß diese Dämpfung ihn ausgerechnet jetzt wieder voll erwischen mußte«, knurrte Siuan. »Wenn er nur noch ein paar Tage aushält...« Min hielt den Mund. Wenn die Frau sowieso nicht auf sie hörte, war Reden nutzlos.
Siuan schüttelte den Kopf und ließ Bela wieder die Führung übernehmen. Sie klammerte sich an die Zügel, als fürchte sie, daß die lammfromme Stute im nächsten Moment mit ihr durchging. Leane begann wieder mit seidiger Stimme Logain zu beschwatzen und seelisch aufzurichten. Vielleicht empfand sie ja wirklich etwas für ihn; das wäre auch nicht eigenartiger als Mins eigene Liebesgeschichte.
Bewaldete Hügel glitten an ihren Augen vorüber. Nichts änderte sich an dieser Landschaft, die nur aus Bäumen, verfilzten Kräutern und Dornbüschen zu bestehen schien. Die Farnreihe, wo einst die alte Straße gewesen war, zog sich pfeilgerade hin. Leane hatte gesagt, die Beschaffenheit der Erde sei anders, wo die Straße einst verlaufen war. Woher sollte Min das wissen? Manchmal keckerten ihnen Eichhörnchen mit Haarbüscheln an den Ohren von irgendeinem Ast aus zu, und gelegentlich sang ein Vogel. Min hatte keine Ahnung, welche Arten von Vögeln das sein konnten. Baerlon war vielleicht keine richtige Stadt, wenn man es mit Caemlyn oder Illian oder Tear verglich, aber sie war eben eine Stadtbewohnerin, und ein Vogel war nur ein Vogel für sie. Außerdem war ihr völlig gleichgültig, auf welcher Art von Boden Farne wuchsen.
Wieder traten Zweifel an die Oberfläche ihres Bewußtseins. Das war ihr seit Korequellen immer wieder passiert, aber anfangs war es noch leichter gewesen, sie zu unterdrücken. Doch seit Lugard waren sie ständig stärker geworden, und sie ertappte sich dabei, wie sie Siuan in einem ganz anderen Licht betrachtete als früher. Nicht, daß sie es gewagt hätte, Siuan tatsächlich damit zu konfrontieren — natürlich nicht! Aber das bereits ärgerte sie, auch wenn sie es nur vor sich selbst im stillen zugab. Aber vielleicht hatte Siuan ja wirklich keine Ahnung, wohin sie eigentlich zogen? Sie konnte ja nun lügen, denn einer Dämpfung unterzogen zu werden hieß auch, von den Drei Eiden entbunden zu sein. Vielleicht hoffte sie lediglich, eine fortgesetzte Suche werde sie endlich auf die Spur dessen bringen, wonach sie so verzweifelt suchte. Auf gewisse Weise, und ganz gewiß auf eine sehr eigenartige, hatte Leane damit begonnen, ihr eigenes Leben zu führen, losgelöst von den Banden der Politik, der Einen Macht und Rands. Sie hatte diese Dinge wohl nicht ganz aufgegeben, aber im Falle Siuans glaubte Min, daß diese überhaupt nichts anderes habe, woran sie sich klammern konnte. Die Weiße Burg und der Wiedergeborene Drache hatten ihr ganzes Leben ausgefüllt, und daran würde sie festhalten, auch wenn sie sich selbst belügen mußte.
Übergangslos gelangten sie aus dem Wald heraus zu einem großen Dorf. Min blickte ganz verblüfft drein. Süßholz und Eichen und ein paar kümmerliche Kiefern —diese Baumarten kannte sie immerhin — standen bis auf fünfzig Schritt Entfernung von den strohgedeckten Häusern, erbaut aus rundgeschliffenen Flußsteinen, die sich an niedrige Hügel schmiegten. Sie hätte darauf wetten können, daß sich vor nicht allzu langer Zeit der Wald noch durch das ganze Dorf hindurchgezogen hatte. Zwischen einigen der Häuser standen nämlich tatsächlich noch kleine Baumgruppen, teilweise direkt an den Hauswänden, und hier und da sah sie frische Baumstümpfe vor den Häusern stehen. Die Straßen wirkten auch noch wie frisch angelegt. Ihre Oberfläche war noch nicht von Generationen von Füßen hartgetreten. Männer in Hemdsärmeln deckten gerade drei große Steinwürfel mit Strohbündeln ab. Das mußten wohl Schenken sein. Bei einer hing sogar noch ein verblaßtes, verwittertes Schild über dem Eingang, aber sie konnte nirgendwo Reste früherer Strohdächer entdecken. Wenn man es an der Anzahl der sichtbaren Männer maß, befanden sich viel zu viele Frauen draußen, und wiederum an deren Zahl gemessen, spielten zu wenige Kinder auf der Straße. Das einzig Normale an diesem Ort war der Geruch nach Mittagessen, der in der Luft lag.
Wenn schon der erste Anblick Min überrascht hatte, dann wäre sie bei näherem Hinsehen beinahe aus dem Sattel gefallen. Die jüngeren Frauen, die aus den Fenstern Decken ausschüttelten oder mit irgendeinem Auftrag unterwegs waren, trugen einfache Wollkleider, aber sie hatte noch nie in einem Dorf derart viele Frauen in Reitkleidern aus Seide oder feinster Wolle gesehen, in jeder möglichen Farbe und jedem Schnitt. Um diese Frauen herum und auch um die meisten Männer flackerten Auren, und Bilder schwammen in ihr Blickfeld hinein, änderten sich ständig... Bei den meisten Menschen konnte sie kaum jemals so etwas sehen, doch Aes Sedai und Behüter boten ihrem inneren Auge dauernd und höchstens mit kurzen Unterbrechungen Visionen. Die Kinder mußten den Dienern gehören, die wohl aus der Burg mitgekommen waren. Es gab nur wenige verheiratete Aes Sedai, aber wie sie diese kannte, hatten sie jede Anstrengung unternommen, ihre Diener mitsamt deren Familien mitzunehmen, wenn sie selbst sich zur Flucht entschlossen hatten. Siuan hatte tatsächlich die geflohenen Aes Sedai gefunden!
Es herrschte eine unheimliche Stille, als sie in das Dorf einritten. Niemand sprach ein Wort. Die Aes Sedai standen bewegungslos da und beobachteten sie, genauso wie die jüngeren Frauen und Mädchen, die wahrscheinlich Aufgenommene oder gar erst Novizinnen waren. Männer, die sich noch einen Moment zuvor mit der Grazie eines Wolfs bewegt hatten, standen nun erstarrt da, eine Hand im Stroh verborgen oder in einen offenen Eingang gestreckt, wo sie zweifellos Waffen versteckt hatten. Die Kinder verschwanden, schnell von den Erwachsenen, wahrscheinlich Dienern, verscheucht. Unter all diesen starren Blicken stellten sich Mins Nackenhärchen auf.
Leane schien nervös und sah immer wieder zur Seite hin auf die Menschen, an denen sie vorbeiritten, doch Siuan verzog keine Miene und führte sie ganz ruhig geradewegs zu der größten der Schenken hin, jener mit dem nicht mehr lesbaren Schild. Sie stieg ab und band Belas Zügel an den eisernen Ring an einem der Haltepfosten, die anscheinend erst kürzlich aufgestellt worden waren. Min half Leane dabei, Logain vom Pferd zu holen. Siuan bot ihnen niemals ihre Hilfe an, wenn sie ihn hinauf- oder herunterbringen mußten. Dann blickte sie sich hastig um. Alle starrten sie an, und niemand rührte sich. »Ich habe ja nicht erwartet, wie eine lange verschollene Tochter begrüßt zu werden«, murmelte sie, »aber warum sagt denn niemand wenigstens guten Tag?«
Bevor Leane antworten konnte, falls sie es denn vorgehabt hatte, sagte Siuan: »Also, hört nicht mit Rudern auf, bevor die Küste erreicht ist. Bringt ihn herein.« Sie verschwand nach drinnen, während Min und Leane immer noch damit beschäftigt waren, Logain zur Tür zu führen. Er ging brav mit, doch sobald sie ihn losließen, machte er nur noch einen Schritt und blieb stehen.
Der Schankraum unterschied sich nun doch von jedem, den Min jemals gesehen hatte. Die Kamine waren natürlich kalt und wiesen Lücken auf, wo einzelne Steine herausgefallen waren, die Gipsdecke wirkte brüchig, und es waren kopfgroße Löcher darin zu sehen, wo die Deckenverschalung durchschien. Die Tische von jeder nur denkbaren Größe und Form paßten überhaupt nicht zueinander, und der Fußboden war altersschwach und abgesplittert. Mehrere Mädchen waren gerade am Kehren. Frauen mit alterslosen Gesichtern saßen an den Tischen, lasen in Dokumenten, gaben den Behütern Befehle, von denen einige ihre farbverändernden Umhänge trugen, oder gaben anderen Frauen Aufträge, die wohl Aufgenommene oder Novizinnen sein mußten. Andere waren zu alt dafür, zur Hälfte schon ergraut, und sie zeigten deutlich ihre fortgeschrittenen Jahre. Es gab auch Männer, die keine Behüter sein konnten. Sie eilten davon, als überbrächten sie Botschaften, oder holten Papiere oder Becher mit Wein für die Aes Sedai. Das Gewusel wirkte ganz so, als würde hier einiges getan. Auren und Bilder tanzten durch den Raum und umkränzten Köpfe, so viele, daß sie sich bemühen mußte, alle zu ignorieren, bevor sie von dieser Masse überwältigt wurde. Das war nicht leicht, aber sie hatte dieses Geschick entwickeln müssen, seit sie sich jeweils unter einer Handvoll oder noch mehr Aes Sedai gleichzeitig befunden hatte.
Vier Aes Sedai kamen nach vorn und begrüßten die Neuankömmlinge. In ihren Hosenröcken und mit ihren eleganten Bewegungen waren sie ganz unterkühlte Grazie. Für Min war der Anblick ihrer vertrauten Gesichter ein Gefühl, als kehre sie nach langer Irrfahrt nach Hause zurück.
Sheriams schrägstehende grüne Augen richteten sich sofort auf Mins Gesicht. Silberne und blaue Strahlen flimmerten über ihren feuerroten Haar auf, und ein sanfter goldener Schein lag darüber. Min wußte nicht, was das bedeutete. Die ältere Frau wirkte in ihrem dunkelblauen Seidenkleid ein wenig mollig und war im Moment außerordentlich ernst. »Ich wäre glücklicher, Euch hier vorzufinden, Kind, wenn ich wüßte, wie Ihr von unserer Gegenwart hier erfahren habt, und wenn ich eine Ahnung hätte, wieso Ihr auf die idiotische Idee kamt, ihn hierher mitzubringen.« Ein halbes Dutzend Behüter war herangekommen, die Hände an den Schwertern und die scharfen Blicke auf Logain gerichtet. Er schien sie überhaupt nicht zu sehen.
Min stand mit offenem Mund da. Warum fragte sie ausgerechnet sie? »Meine idio...?« Sie hatte keine Gelegenheit, mehr herauszubringen.
»Es wäre viel besser gewesen«, warf Carlinya mit den bleichen Wangen in eisigem Tonfall ein, »wenn er gestorben wäre, wie es die Gerüchte besagten.« Es war nicht das Eis des Zorns, sondern der kalten Vernunft. Sie war eine Weiße Ajah. Ihr elfenbeinfarbenes Kleid wirkte, als habe es schwere Zeiten gesehen. Einen Augenblick lang sah Min das Abbild eines Raben neben ihrem dunklen Haar — mehr die Zeichnung dieses Vogels als der Vogel selbst. Sie hielt es für eine Tätowierung, doch die Bedeutung kannte sie nicht. Sie konzentrierte sich auf die Gesichter und versuchte, sonst nichts zu sehen. »Er scheint ja sowieso ziemlich tot«, fuhr Carlinya fort, wobei sie kaum Luft holte. »Was Ihr euch auch dabei gedacht haben mögt, so habt Ihr eure Mühe doch verschwendet. Aber auch ich würde gern wissen, wie Ihr nach Salidar kamt.«
Siuan und Leane standen da und tauschten amüsierte Blicke, während die anderen weiterhin Min schlachteten. Keine sah die beiden auch nur an.
Myrelle, eine dunkle Schönheit in grüner Seide, das Oberteil mit schräg verlaufenden goldenen Strahlen geschmückt, das Gesicht ein perfektes Oval, lächelte oft so damenhaft und überlegen, daß sie es mit Leanes neu erlernten Tricks aufnehmen konnte. Jetzt allerdings lächelte sie nicht und hieb sofort in die gleiche Kerbe wie ihre Weiße Schwester. »Sagt etwas, Min. Steht nicht mit offenem Mund herum.« Sie war ihres feurigen Temperaments wegen verschrien, sogar bei den Grünen.
»Ihr müßt es uns sagen«, fügte Anaiya mit sanfterer Stimme hinzu, auch wenn Enttäuschung hindurchklang. Die Frau hatte nichtssagende Gesichtszüge und wirkte mütterlich trotz der für die Aes Sedai typischen Glätte ihrer Wangen. Im Augenblick strich sie ihren hellgrauen Rock glatt und wirkte noch mehr wie eine Mutter, die sich zurückhalten mußte, zur Rute zu greifen. »Wir werden schon einen Platz für Euch und diese beiden anderen Mädchen finden, aber Ihr müßt uns verraten, wie Ihr hierherkamt.«
Min schüttelte sich und schloß den Mund. Natürlich. Diese beiden anderen Mädchen. Sie hatte sich so an den neuen Zustand der beiden gewöhnt, daß sie gar nicht mehr daran dachte, wie sehr sie sich verändert hatten. Sie bezweifelte, daß eine der anwesenden Frauen sie seit jener Zeit gesehen hatten, als sie in das Verließ unter der Weißen Burg gebracht worden waren. Leane schien gleich loslachen zu wollen, und Siuan schüttelte beinahe den Kopf über soviel Unachtsamkeit der Aes Sedai.
»Ich bin nicht diejenige, mit der Ihr sprechen solltet«, sagte Min zu Sheriam. Laß sie zur Abwechslung diese ›beiden anderen Mädchen so kalt anstarren. »Fragt statt dessen Siuan oder Leane.« Sie sahen sie an, als sei sie verrückt geworden, bis sie in Richtung ihrer beiden Begleiterinnen nickte.
Vier Aes-Sedai-Augenpaare richteten sich auf die beiden Angesprochenen, doch erkannten sie sie nicht sofort. Sie musterten die Frauen und tauschten Blicke untereinander. Keiner der Behüter wandte den Blick von Logain oder nahm auch nur die Hand vom Schwertgriff.
»Eine Dämpfung könnte solche Resultate hervorbringen«, murmelte Myrelle schließlich. »Ich habe Berichte gelesen, die so etwas andeuten.«
»Die Gesichter sind auf viele Arten ähnlich«, sagte Sheriam bedächtig. »Man könnte Frauen gesucht haben, die ihnen so ähnlich sehen, aber warum?«
Siuan und Leane wirkten nun nicht mehr so überlegen. »Wir sind, wer wir sind«, sagte Leane knapp. »Befragt uns. Keine Doppelgängerin könnte wissen, was wir wissen.«
Siuan wartete nicht auf die Fragen. »Mein Gesicht mag sich verändert haben, aber wenigstens weiß ich, was ich tue und warum. Ich wette, das ist mehr, als man von Euch behaupten kann.«
Min stöhnte ob ihres strengen Tonfalls, aber Myrelle nickte und sagte: »Das ist die Stimme Siuan Sanches. Sie ist es.«
»Stimmen kann man nachmachen«, sagte Carlinya, immer noch kühl und beherrscht.
»Aber inwieweit kann man sich Erinnerungen anderer einprägen?« Anaiya runzelte ernst die Stirn. »Siuan falls Ihr das wirklich seid —, wir haben uns an Eurem zweiundzwanzigsten Namenstag gestritten, Ihr und ich. Wo geschah das und was kam dabei heraus?«
Siuan lächelte die mütterliche Frau selbstbewußt an. »Das war während Eurer Unterrichtsstunde bei den Aufgenommenen, und Ihr habt erklärt, warum so viele der aus Artur Falkenflügels Reich hervorgegangenen Nationen nicht überleben konnten. Übrigens bin ich nach wie vor nicht in allen Punkten Eurer Meinung. Es ging so aus, daß ich zwei Monate lang täglich drei Stunden in der Küche gearbeitet habe. ›In der Hoffnung, daß die Hitze Euren Übereifer bremsen und abbauen möge‹, habt Ihr, glaube ich, gesagt.«
Falls sie geglaubt hatte, diese eine Antwort werde den anderen reichen, hatte sie sich geirrt. Anaiya hatte weitere Fragen an beide Frauen auf Lager, genau wie Carlinya und Sheriam, die offensichtlich zur gleichen Zeit Novizinnen und Aufgenommene gewesen waren. In den Fragen ging es immer um Dinge, die keine Doppelgängerin wissen konnte, Streitigkeiten, in die sie verwickelt gewesen war, erfolgreiche oder weniger erfolgreiche Streiche, ihre Meinung und die allgemein vertretenen Meinungen über bestimmte Aes-Sedai-Lehrerinnen. Min konnte kaum glauben, daß die Frauen, aus denen später die Amyrlin und die Behüterin der Chronik geworden waren, so oft ins Fettnäpfchen getreten waren, und dabei hatte sie noch das Gefühl, das Gehörte sei nur die Spitze des Eisbergs gewesen, und wie es schien, war ihnen Sheriam auch noch ziemlich nahe gekommen. Myrelle, die jüngste von ihnen, beschränkte sich auf amüsierte Kommentare, bis Siuan etwas von einer Forelle erwähnte, die jemand in Saroiya Sedais Bad geworfen hatte, und von einer Novizin, die daraufhin ein halbes Jahr lang Strafdienst tun mußte. Nicht, daß Siuan viele Gelegenheiten hatte, über andere zu sprechen, die für einen Streich bestraft worden waren. Hatte sie tatsächlich als Novizin die Hemden einer Aufgenommenen mit Juckpulver bestreut? Hatte sie sich aus der Burg geschlichen, um zu angeln? Selbst die Aufgenommenen benötigten eine Erlaubnis, um sich — außer zu bestimmten Stunden — vom Burggelände zu entfernen. Siuan und Leane hatten sogar gemeinsam gewagt, einen Eimer Wasser so abzukühlen, daß es beinahe gefroren wäre, und dann hatten sie den Eimer so plaziert, daß eine Aes Sedai die Dusche abbekam, die sie vorher, ungerechtfertigt, wie sie glaubten, hatte verprügeln lassen. Dem Glitzern in Anaiyas Augen nach zu schließen, war es gut für sie gewesen, daß man sie damals nicht erwischt hatte. Mins Kenntnissen der Regeln für die Ausbildung der Novizinnen und der Aufgenommenen zufolge konnten sich diese Frauen glücklich schätzen, daß man ihnen gestattete, lange genug zu bleiben, um Aes Sedai zu werden, und das auch noch mit heiler Haut.
»Ich bin zufrieden«, sagte die mütterliche Frau schließlich, wobei sie die anderen anblickte.
Myrelle nickte, nachdem Sheriam zugestimmt hatte, aber Carlinya sagte: »Da ist ja immer noch die Frage, was wir mit ihnen machen sollen.« Sie blickte Siuan unverwandt an, und die anderen schienen plötzlich unsicher zu werden. Myrelle schürzte die Lippen, und Anaiya betrachtete intensiv den Fußboden. Sheriam strich ihr Kleid glatt und schien überhaupt jeden Blick auf die Neuankömmlinge zu vermeiden.
»Wir haben immer noch all unsere Kenntnisse von vorher«, sagte ihnen Leane. Ihr plötzliches Stirnrunzeln entsprang wohl zum Teil der Sorge. »Wir können nützlich sein.«
Siuans Gesicht war dunkel verfärbt. Leane hatte sich wohl über ihre jugendlichen Missetaten und Strafen amüsiert, aber Siuan hatte das ganz und gar nicht gepaßt. Doch im Gegensatz zu ihrem beinahe wütenden Blick klang ihre Stimme nur ein wenig hart: »Ihr wolltet wissen, wie wir Euch fanden. Ich habe mich mit einer meiner Agentinnen in Verbindung gesetzt, die auch für die Blauen arbeitet, und sie hat mir von Sallie Daera erzählt.«
Min verstand das mit Sallie Daera überhaupt nicht. Wer war sie? Aber Sheriam und die anderen nickten sich gegenseitig zu. Siuan hatte etwas anderes getan, als ihnen einfach zu sagen, wie sie es angestellt hatte, wurde Min jetzt klar. Sie hatte die anderen auch wissen lassen, daß sie immer noch Zugang zu ihren Augen-und-Ohren hatte, die ihr schon als Amyrlin gedient hatten.
»Setzt Euch hier drüben hin, Min«, sagte Sheriam zu ihr und deutete auf den einzigen unbesetzten Tisch in einer Ecke. »Oder seid Ihr immer noch Elmindreda? Und bleibt bitte bei Logain.« Sie und die drei anderen führten Siuan und Leane zum hinteren Teil des Schankraums. Zwei weitere Frauen in Reitkleidern schlossen sich ihnen an, bevor sie durch eine ganz neu aus rohen Brettern gezimmerte Tür verschwanden.
Seufzend nahm Min Logains Arm und führte ihn an den Tisch, setzte ihn einfach auf eine rauhe Bank und nahm sich selbst einen Stuhl mit hoher Rippenlehne. Zwei der Behüter postierten sich in der Nähe. Sie lehnten wachsam an der Wand. Wohl schienen sie Logain gar nicht zu beobachten, aber Min kannte die Gaidin. Sie sahen alles und sie konnten selbst im Schlaf noch innerhalb eines Herzschlags ihr Schwert ziehen.
Also waren sie doch nicht mit offenen Armen empfangen worden, obwohl sie Siuan und Leane schließlich erkannt hatten. Nun, was hatte sie eigentlich erwartet? Siuan und Leane waren die beiden mächtigsten Frauen der Weißen Burg gewesen. Nun waren sie nicht einmal mehr Aes Sedai. Die anderen wußten höchstwahrscheinlich überhaupt nicht, wie sie sich ihnen gegenüber verhalten sollten. Und dann erschienen sie auch noch mit einem falschen Drachen, den man der Dämpfung unterzogen hatte. Siuan sollte besser nicht lügen oder sich wünschen, sie habe einen konkreten Plan für ihn bereit. Min glaubte nicht, daß Sheriam und die anderen soviel Geduld beweisen würden wie Logain.
Und zumindest Sheriam hatte sie erkannt. Wieder stand sie auf und spähte durch ein Fenster mit einem Sprung in der Scheibe auf die Straße hinaus. Ihre Pferde standen noch an den Haltepfosten, aber einer der Behüter, die so taten, als beobachteten sie sie gar nicht, würde sie erwischen, bevor sie auch nur Wildroses Zügel losgebunden hätte. Beim letzten Mal, damals in der Burg, hatte sich Siuan große Mühe gegeben, sie zu verkleiden. Wie es schien, war das sinnlos gewesen. Allerdings glaubte sie nicht, daß eine von ihnen etwas von ihren Visionen wußte. Siuan und Leane hatten dieses Geheimnis ängstlich gehütet. Min konnte sich glücklich schätzen, wenn das so blieb. Falls diese Aes Sedai davon erfuhren, würden sie sie sofort in ihre Machenschaften verwickeln, genau wie Siuan zuvor, und sie würde Rand niemals erreichen. Sie würde ihm niemals beweisen können, was sie von Leane gelernt hatte, wenn sie hier an der Leine hing.
Siuan zu helfen, diese Versammlung hier aufzuspüren, die Aes Sedai Rand zu Hilfe zu bringen, das war alles schön und gut, aber sie hatte immer noch ihr ganz persönliches Ziel: einen Mann, der ihr noch niemals auch nur einen zweiten Blick geschenkt hatte, dazu bringen, daß er sich in sie verliebte, bevor er dem Wahnsinn verfiel. Vielleicht war sie schon genauso verrückt, wie er es seinem angeblichen Schicksal nach werden mußte. »Dann passen wir wenigstens zusammen«, murmelte sie in sich hinein.
Ein grünäugiges Mädchen mit Sommersprossen, wahrscheinlich eine Novizin, blieb an ihrem Tisch stehen. »Möchtet Ihr etwas zu essen oder zu trinken? Es gibt Hirschragout mit Birnen. Vielleicht ist auch noch etwas Käse da.« Sie gab sich solche Mühe, Logain nicht anzusehen, daß sie ihn genausogut neugierig hätte anstarren können.
»Birnen und Käse klingen schon ganz hervorragend«, sagte Min zu ihr. Die letzten beiden Tage über hatten sie hungern müssen. Siuan hatte es wohl fertig gebracht, ein paar Fische in einem Bach zu fangen, aber vorher war eben doch Logain ihr Jäger gewesen, wenn sie nicht in einer Schenke oder auf einem Bauernhof eine Mahlzeit bekamen. Ihrer Meinung nach konnte man getrocknete Bohnen nicht als Mahlzeit betrachten. »Und etwas Wein, wenn Ihr welchen habt. Aber zuerst hätte ich gern eine Auskunft. Wo befinden wir uns hier, falls das nicht auch ein Geheimnis ist? Heißt dieses Dorf Salidar?«
»In Altara befinden wir uns. Der Eldar liegt etwa eine Meile westlich. Auf der anderen Seite liegt Amadicia.« Das Mädchen bemühte sich um eine schwache Nachahmung der typischen Geheimnistuerei der Aes Sedai. »Welcher Ort wäre besser geeignet, um sich zu verstecken als einer, an dem niemand jemals nach Aes Sedai suchen würde?«
»Wir sollten uns überhaupt nicht verstecken müssen!« fauchte eine junge Frau mit dunklem Teint und einem Lockenkopf, die neben ihr stehengeblieben war. Min erkannte sie: eine Aufgenommene namens Faolain. Sie hätte erwartet, daß diese Frau in der Burg geblieben wäre. Faolain hatte niemals Zuneigung zu irgend jemandem oder irgend etwas empfunden, soweit Min das beurteilen konnte, und hatte oft davon gesprochen, sich nach ihrer Erhebung den Roten Ajah anzuschließen. Eine perfekte Anhängerin für Elaida. »Warum seid Ihr hergekommen? Und noch dazu mit ihm? Warum ist sie gekommen?« Es gab keinen Zweifel daran, wen sie meinte. »Es ist ihre Schuld, daß wir uns verbergen müssen. Ich habe nicht geglaubt, daß sie Mazrim Taim geholfen hat zu entkommen, aber wenn sie mit ihm im Schlepptau hier erscheint, dann ist alles möglich.«
»Das reicht dann wohl, Faolain«, sagte eine schlanke Frau mit schwarzem Haar, das ihr bis zur Hüfte herunterreichte, zu der Aufgenommenen mit dem runden Gesicht. Min glaubte, die Frau in ihrem dunkelgoldenem Reitkleid zu erkennen. Edesina. Eine Gelbe, wie sie vermutete. »Geht wieder an Eure Arbeit«, sagte Edesina. »Und wenn Ihr vorhabt, das Essen zu bringen, Tabiya, dann tut es gefälligst.« Edesina beachtete Faolains mürrischen Knicks nicht. Die Novizin machte es besser und huschte dann davon. Doch Edesina legte Logain eine Hand auf den Kopf. Sein Blick ruhte auf dem Tisch, und er schien es nicht zu bemerken.
In Mins Blickfeld erschien plötzlich ein silbernes Halsband, das genau um den Hals der Frau paßte, und genauso plötzlich schien es dann zu zerspringen. Min schauderte. Sie mochte Visionen nicht, die mit den Seanchan zusammenhingen. Wenigstens würde Edesina auf irgendeine Art davonkommen. Doch selbst wenn Min gewillt gewesen wäre, sich zu offenbaren, hätte eine Warnung der Frau nichts genützt, denn sie würde gar nichts ändern.
»Es liegt an der Dämpfung«, sagte die Aes Sedai nach einem Augenblick. »Ich denke, er hat einfach aufgegeben, leben zu wollen. Ich kann nichts für ihn tun. Ich bin auch nicht sicher, daß ich etwas für ihn tun sollte, falls er es wollte.« Der Blick, den sie Min im Weggehen zuwarf, war alles andere als freundlich.
Eine elegante, kräftig gebaute Frau in rostbrauner Seide blieb ein paar Schritte entfernt kurz stehen und musterte Min und Logain mit kühlen und ausdruckslosen Augen. Kiruna war eine Grüne und für ihr edles Benehmen bekannt. Wie Min gehört hatte, war sie die Schwester des Königs von Arafel, aber sie hatte sich in der Burg Min gegenüber sehr freundlich verhalten. Min lächelte, doch diese großen, dunklen Augen blickten, ohne sie zu erkennen, über sie hinweg. Dann glitt Kiruna aus der Schenke, vier Behüter, ganz unterschiedliche Männer, aber alle mit dieser tödlichen Grazie in der Bewegung, im Gefolge.
Min wartete auf ihr Essen und hoffte, daß Siuan und Leane einen freundlicheren Empfang erlebten.