Liandrin lenkte ihr Pferd durch die belebten Straßen Amadors. Ihr verächtlich verzogener Schmollmund wurde durch die breite, heruntergezogene Krempe ihres Huts verborgen. Sie hatte nur äußerst ungern ihre vielen kleinen Zöpfe aufgegeben und konnte auch die absurde Mode dieses grotesken Landes absolut nicht ausstehen: Der rotgelbe Hut und das dazu passende Reitkleid mochten ja noch angehen, aber doch nicht die langen Samtschleifen an beidem! Nun, wenigstens verbarg der Hut ihre Augen, denn zusammen mit dem honigblonden Haar hätten braune Augen augenblicklich ihrer Herkunft aus Tarabon verraten, und das war momentan in Amadicia keine Empfehlung. Und außerdem verbarg die Hutkrempe etwas noch viel Gefährlicheres: ihr typisches Aes-Sedai-Gesicht. Wohlbehütet konnte sie die Weißmäntel heimlich angrinsen, und das war so etwa jeder fünfte Mann auf der Straße. Nicht, daß die Soldaten, die ein weiteres Fünftel der Passanten ausmachten, besser gewesen wären. Natürlich kam keiner von ihnen auf den Gedanken, unter ihren Hut zu spähen. Aes Sedai waren hier nun einmal geächtet, und das bedeutete, es gab hier keine.
Trotzdem fühlte sie sich etwas erleichtert, als sie an dem kunstvollen schmiedeeisernen Tor vor Jorin Arenes Haus einbog. Ein weiterer erfolgloser Ritt auf der Suche nach Neuigkeiten aus der Weißen Burg. Sie hatte nichts mehr in Erfahrung bringen können, seit Elaida glaubte, die Herrschaft in der Burg erlangt zu haben, und seit man diese Sanchefrau beseitigt hatte. Sicher, Siuan war entkommen, aber jetzt war sie ein nutzloser Haufen Lumpen.
Der Garten hinter der grauen Steinmauer stand voller Pflanzen, die sich auf Grund der Dürre braun färbten. Sie waren wunderschön zurechtgeschnitten in Form von Würfeln und Kugeln, und ein Busch war sogar wie ein galoppierendes Pferd geformt. Nur einer natürlich. Kaufleute wie Arene imitierten häufig den Adel, aber sie wagten nicht, dabei zu weit zu gehen, damit niemand auf den Einfall kam, sie seien überehrgeizig und vielleicht gefährlich. An dem großen Holzhaus waren kunstvolle Balkone angebaut. Das Dach war mit roten Ziegeln gedeckt, und im Eingangsbereich stand sogar eine Reihe behauener Säulen, doch anders als in einem adligen Herrenhaus wirkte alles wie eine Kopie. Das Steinfundament war dementsprechend auch kaum zehn Fuß hoch. Ein lächerlicher Versuch, es wie das Herrenhaus eines Adligen erscheinen zu lassen.
Der drahtige, grauhaarige Mann, der unterwürfig heraneilte, ihren Steigbügel hielt, während sie abstieg, und dann die Zügel übernahm, war ganz in Schwarz gekleidet. Solche Kleidung wurde von den Menschen auf der Straße naserümpfend als ›Kaufmannslivree‹ bezeichnet. Liandrin verachtete den schwarzen Mantel des Burschen genauso wie Arenes Haus und Arene selbst. Eines Tages würde sie ein wirkliches Herrenhaus besitzen. Ganze Paläste. Das war ihr versprochen worden und auch die Macht, die so etwas mit sich brachte.
Sie streifte die Reithandschuhe ab und schritt die lächerliche Rampe hinauf, die sich entlang des Fundaments bis zum rankenbeschnitzten Tor hinzog. Die befestigten Herrenhäuser der Lords wiesen solche Rampen auf, und da konnte sich ja ein Kaufmann, der etwas auf sich hielt, nicht mit bloßen Stufen zufriedengeben. Eine in Schwarz gekleidete junge Zofe nahm ihr im runden Foyer Handschuhe und Hut ab. Viele Türen führten von hier ins Haus hinein, die Säulen waren prächtig geschnitzt und bunt bemalt, und rundherum zog sich ein Balkon. Die Decke war einem Mosaik ähnlich bemalt: Sterne innerhalb größerer Sterne, alle in Gold und Schwarz. »Ich werde in einer Stunde mein Bad nehmen«, sagte sie zu der Frau. »Diesmal wird das Wasser aber die richtige Temperatur haben, ja?« Die Zofe wurde blaß, knickste schnell, stammelte etwas Bestätigendes, und dann huschte sie davon.
Amellia Arene, Jorins Frau, kam, in die Unterhaltung mit einem fetten Glatzkopf in blütenweißer Schürze vertieft, durch eine der Türen herein. Liandrin schnaubte verächtlich. Die Frau hielt sich für etwas Besseres, und doch sprach sie persönlich mit dem Koch und brachte den Mann aus seiner Küche mit hierher, um über die Speisenfolge am Tisch zu sprechen. Sie behandelte den Dienstboten wie — wie einen Freund!
Der fette Evon entdeckte sie zuerst und schluckte schwer. Seine Schweinsäugelchen blickten sofort in eine andere Richtung. Sie mochte es nicht, von Männern angesehen zu werden, und so hatte sie ihm das bereits am ersten Tag in scharfem Ton erklärt, nachdem sein Blick etwas zu lange auf ihr geruht hatte. Er bestritt das zwar, aber sie kannte ja die schmutzigen Angewohnheiten der Männer. Ohne darauf zu warten, daß ihn seine Herrin entließ, lief Evon schnell wieder hinaus.
Die leicht ergraute Gattin des Kaufmanns war schon eine Frau mit strengem, ernstem Gesicht gewesen, als Liandrin und die anderen hier eintrafen. Nun leckte sie sich die Lippen und strich sich das mit Schleifen verzierte grünseidene Kleid überflüssigerweise glatt. »Oben ist jemand bei den anderen, meine Lady«, sagte sie unterwürfig. Am ersten Tag hatte sie noch geglaubt, sie könne so einfach Liandrins Namen benutzen. »Im vorderen Ruheraum. Ich glaube, sie kommt aus Tar Valon.«
Liandrin fragte sich, wer das sein könne, und ging zur nächsten Wendeltreppe. Sie kannte natürlich nur wenige der anderen Schwarzen Ajah. Das war aus Sicherheitsgründen notwendig, denn was andere nicht wußten, konnten sie auch nicht verraten. In der Burg hatte sie nur die zwölf gekannt, die mitkamen, als sie fortging. Zwei der zwölf waren tot, und sie wußte, wem sie das zu verdanken hatte: Egwene al'Vere, Nynaeve al'Meara und Elayne Trakand. Und in Tanchico war alles so schiefgegangen, daß sie beinahe hätte glauben können, diese drei Emporkömmlinge unter den Aufgenommen seien dortgewesen, aber sie waren ja töricht genug gewesen, gleich zweimal seelenruhig geradewegs in ihre Fallen zu laufen. Daß sie entkommen waren, spielte keine weitere Rolle. Hätten sie sich in Tanchico befunden, wären sie ihr todsicher in die Hände gefallen, gleich, was Jeaine gesehen zu haben glaubte. Beim nächsten Zusammentreffen würden sie nicht mehr in der Lage sein, ihr jemals wieder zu entwischen. Sie würde dieses Kapitel beenden, obwohl ihre Befehle anders lauteten.
»Meine Lady«, stammelte Amellia, »mein Mann, Lady. Jorin. Bitte, kann eine von Euch ihm helfen? Er hat es nicht böse gemeint, Lady. Er hat seine Lektion ja erhalten.«
Liandrin blieb mit einer Hand auf dem geschnitzten Geländer stehen und blickte zu ihr zurück. »Er hätte nicht glauben dürfen, sein Eid dem Großen Herrn gegenüber könne so einfach mißachtet werden, oder?«
»Er hat es begriffen, meine Lady. Bitte. Er liegt den ganzen Tag unter Decken vergraben und zittert trotz der Hitze. Er weint, sobald ihn jemand berührt oder lauter spricht, als im Flüsterton.«
Liandrin tat so, als müsse sie überlegen, und dann nickte sie huldvoll. »Ich werde Chesmal bitten, zu sehen, was sie für ihn tun kann. Aber Ihr dürft nicht glauben, daß ich irgend etwas verspreche.« Die unsicheren Dankbezeugungen der Frau folgten ihr nach oben, aber sie achtete nicht darauf. Temaile hatte sich etwas hinreißen lassen. Sie war eine Graue Ajah gewesen, bevor sie zu den Schwarzen überging, und sie hatte immer Wert darauf gelegt, den Schmerz gleichmäßig zu verteilen, wenn sie vermittelte. So war sie als Vermittlerin sehr erfolgreich gewesen, denn es machte ihr Spaß, Schmerz zuzufügen. Chesmal meinte, er werde in ein paar Monaten wieder soweit sein, daß er kleinere Aufträge erfüllen könne, solange sie nicht zu schwierig waren und niemand ihn anschrie. Da sie unter den Gelben eine der besten Heilerinnen seit Generationen gewesen war, sollte sie es wissen.
Als sie den vorderen Ruheraum betrat, wurde sie doch überrascht. Neun der zehn Schwarzen Schwestern, die mit ihr gekommen waren, standen an der geschnitzten und bemalten Wandtäfelung, obwohl doch auf dem Teppich mit den Goldfransen genügend mit Seidenkissen ausgestattete Stühle standen. Die zehnte, Temaile Kinderode, reichte gerade einer dunkelhaarigen und auf maskuline Art gutaussehenden Frau in einem bronzefarbenen, langen Kleid unbekannten Schnitts eine dünne Porzellantasse mit Tee. Die Sitzende kam ihr irgendwie bekannt vor, obwohl sie keine Aes Sedai war. Offensichtlich näherte sie sich den mittleren Jahren, und trotz der straffen Haut ihrer Wangen hatte sie nichts von der für Aes Sedai typischen Alterslosigkeit an sich.
Die im Raum herrschende Stimmung machte Liandrin mißtrauisch. Temaile wirkte täuschend zerbrechlich mit ihren großen, blauen Kinderaugen, die sofort das Vertrauen der Menschen erweckten. Diese Augen blickten nun besorgt drein oder zumindest beunruhigt, und die Tasse klapperte ein wenig auf der Untertasse, bevor die andere sie ihr abnahm. Alle Gesichter blickten unruhig drein, außer dem dieser auf so eigenartige Weise bekannt wirkenden Frau. Jeaine Caide mit der kupferfarbenen Haut in einem dieser widerlichen Domanikleider, das sie hier im Haus trug, hatte sogar noch ein paar glitzernde Tränen auf den Wangen. Sie war einst eine Grüne gewesen und stellte sich noch lieber als die meisten Grünen den Männern zur Schau. Rianna Andomeran, einst eine Weiße und sogar dann noch arrogant und kalt, wenn sie jemand tötete, berührte immer wieder nervös die helle Strähne über dem linken Ohr in ihrem ansonsten schwarzen Haar. Ihre Arroganz schien einen Dämpfer erhalten zu haben.
»Was ist denn hier passiert?« wollte Liandrin wissen. »Wer seid Ihr und was...?« Plötzlich durchzuckte sie eine Erinnerung. Eine der Schattenfreunde, eine Dienerin aus Tanchico, die sich dauernd danebenbenommen hatte. »Gyldin!« fauchte sie. Diese Dienerin war ihnen offensichtlich irgendwie gefolgt und gab sich jetzt wohl als Kurier der Schwarzen aus. Wahrscheinlich hatte sie eine schlimme Nachricht überbracht. »Diesmal seid Ihr entschieden zu weit gegangen.« Sie griff nach Saidar, doch im gleichen Augenblick umgab das typische Glühen die andere Frau, und Liandrins Versuch endete an einer dicken, unsichtbaren Wand, die sie von der Wahren Quelle abschirmte. Die Quelle hing quälend und unerreichbar wie die Sonne außerhalb ihres Zugriff.
»Hör auf, mich so anzustarren, Liandrin«, sagte die Frau gelassen. »Du siehst aus wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ich bin nicht Gyldin, sondern Moghedien. In diesen Tee muß mehr Honig, Temaile.« Die schlanke Frau mit dem Fuchsgesicht eilte schwer atmend herbei, um die Tasse entgegenzunehmen.
Es mußte stimmen. Wer sonst könnte die anderen derart beherrschen? Liandrin sah sie an, wie sie ängstlich an die Wand gedrückt dastanden. Eldrith Jhondar mit dem runden Gesicht wirkte diesmal gar nicht geistesabwesend, trotz des Tintenflecks auf ihrer Nase. Sie nickte lebhaft. Die anderen hatten wohl sogar Angst, sich überhaupt zu rühren. Warum sich eine der Verlorenen — die Bezeichnung durften sie eigentlich gar nicht verwenden, taten es aber, wenn sie unter sich waren —, warum sich also Moghedien hinter der Maske einer Dienerin verborgen hatte, war ihr unverständlich. Die Frau hatte alles oder konnte zumindest alles haben, was sie wollte. Nicht nur die Beherrschung der Einen Macht in einem Maße, von dem sie selbst nur träumen konnte, sondern vor allem Macht. Macht über andere, Macht über die Welt. Und Unsterblichkeit. Macht für ein ganzes Leben, das niemals enden würde. Sie und ihre Schwestern hatten bereits über Unstimmigkeiten zwischen den Verlorenen diskutiert. Befehle hatten sich widersprochen, und Befehle anderen Schattenfreunden gegenüber hatten wiederum ganz anders gelautet. Vielleicht hatte sich Moghedien vor den übrigen Verlorenen versteckt gehalten?
Liandrin breitete ihr geteiltes Reitkleid so gut sie konnte aus, während sie tief knickste. »Wir heißen Euch willkommen, Herrin. Wenn uns die Auserwählten führen, werden wir ganz sicher triumphieren, bevor der Tag der Wiederkehr des Großen Herrn kommt.«
»Hübsch ausgedrückt«, sagte Moghedien trocken und nahm die Tasse wieder von Temaile entgegen. »Ja, nun schmeckt er entschieden besser.« Temaile wirkte auf absurde Weise dankbar und erleichtert. Was hatte Moghedien mit ihnen angestellt?
Plötzlich kam Liandrin ein Gedanke, und der war ihr nicht gerade willkommen. Sie hatte eine der Auserwählten als Dienerin betrachtet und behandelt. »Große Herrin, in Tanchico wußte ich nicht, daß Ihr... «
»Natürlich wußtet Ihr das nicht«, sagte Moghedien gereizt. »Was nützte es, meine Zeit im Schatten verborgen zu verbringen, wenn Ihr und diese anderen von mir wüßten?« Mit einemmal umspielte ein leichtes Lächeln ihre Lippen. Ihr übriges Gesicht blieb davon unberührt. »Macht Ihr euch Sorgen wegen der vielen Male, die Ihr Gyldin zum Koch schicktet, um sich verprügeln zu lassen?« Auf Liandrins Gesicht standen plötzlich Schweißperlen. »Glaubt Ihr im Ernst, ich hätte das zugelassen? Zweifellos hat Euch der Mann Bericht erstattet, aber er berichtete nur, woran er sich erinnerte woran sich zu erinnern ich ihm gestattete. Ihm tat Gyldin wirklich leid, da sie von ihrer Herrin so mißhandelt wurde.« Das schien sie sehr zu amüsieren. »Er gab mir einige der Desserts, die er für Euch bereitet hatte. Es würde mich freuen, wenn er noch lebte.«
Liandrin atmete erleichtert auf. Sie würde also nicht sterben. »Große Herrin, es ist überflüssig, mich abzuschirmen. Ich diene doch genauso dem Großen Herrn. Ich leistete meinen Eid als Schattenfreund, bevor ich noch in die Weiße Burg kam. Ich suchte von dem Tage an die Schwarzen Ajah, an dem ich erfuhr, daß ich die Macht lenken könne.«
»Also seid Ihr dann wohl die einzige in diesem schlecht geführten Rudel, die nicht erst lernen muß, wer ihre Herrin ist?« Moghedien zog eine Augenbraue hoch. »Das hätte ich gar nicht von Euch erwartet.« Das Glühen um sie herum verschwand. »Ich habe Aufgaben für Euch. Für Euch alle. Ihr werdet vergessen, was immer Ihr zu tun vorhattet. Wie in Tanchico bewiesen wurde, seid Ihr eine unfähige Meute. Mit meiner Hand an der Peitsche werdet Ihr vielleicht erfolgreicher jagen.«
»Wir erwarten Befehle aus der Burg, Große Herrin«, sagte Liandrin. Unfähig! Sie hatten doch beinahe gefunden, was sie in Tanchico gesucht hatten, doch dann explodierte die Stadt förmlich in Unruhen und sie waren denkbar knapp der Vernichtung durch Aes Sedai entgangen, die ihrem Plan irgendwie in die Quere gekommen waren. Hätte sich Moghedien dort zu erkennen gegeben oder vielleicht sogar zu ihren Gunsten eingegriffen, dann hätten sie sicher triumphiert. Wenn ihr Versagen auf einen Fehler einer Seite zurückzuführen war, dann auf Moghedien selbst. Liandrin griff nach der Wahren Quelle, nicht, um die Macht an sich zu ziehen, sondern um nachzuprüfen, ob die Abschirmung nicht nur einfach vernabelt worden war. Sie war weg. »Man hat uns große Verantwortung anvertraut, große Werke, die wir durchzuführen haben, und sicher wird man uns anweisen, weiter damit fort...«
Moghedien unterbrach sie in scharfem Tonfall: »Ihr dient jedem der Auserwählten, der oder die Euch gerade brauchen kann. Wer Euch auch von der Weißen Burg her Befehle schickt, nimmt nun selbst ihre befehle von uns entgegen und kriecht dabei vermutlich auf dem Bauch. Ihr werdet mir dienen, Liandrin, verlaßt Euch darauf.«
Moghedien wußte also nicht, wer die Schwarzen Ajah anführte. Das war eine Offenbarung. Moghedien wußte doch nicht alles. Liandrin hatte die Verlorenen immer für nahezu allmächtig gehalten, weit jenseits aller gewöhnlichen Sterblichen. Vielleicht war die Frau in Wirklichkeit auf der Flucht vor den anderen Verlorenen. Sie ihnen zu übergeben würde ihr dann bestimmt eine hohe Führungsposition einbringen. Sie könnte sogar eine von ihnen werden. Sie hatte da einen Trick, den sie aus ihrer Kindheit kannte. Und sie konnte die Wahre Quelle berühren. »Große Herrin, wir dienen dem Großen Herrn genau wie Ihr. Auch uns versprach man ewiges Leben und Macht, wenn der Große Herr zur... «
»Glaubt Ihr, daß Ihr mir ebenbürtig seid, kleine Schwester?« Moghedien verzog angewidert das Gesicht. »Habt Ihr im Krater des Verderbens gestanden, als Ihr Eure Seele dem Großen Herrn verschwort? Habt Ihr die Süße des Triumphes bei Paaran Disen geschmeckt oder die bittere Asche am Asar Don? Ihr seid ein schlecht erzogener Welpe und nicht die Leithündin der Meute, und Ihr werdet springen, wohin ich zeige, bis ich der Meinung bin, Euch gehöre ein besserer Platz. Auch diese anderen glaubten, mehr zu sein, als sie sind. Wollt Ihr Eure Kraft mit der meinen messen?«
»Selbstverständlich nicht, Große Herrin.« Nicht, wenn sie gewarnt war und bereit zum Zuschlagen. »Ich...«
»Ihr werdet es aber früher oder später probieren, und ich ziehe es vor, so etwas gleich hinter mich zu bringen, jetzt, zu Beginn. Warum wohl, glaubt Ihr, blicken Eure Begleiterinnen so fröhlich drein? Ich habe jeder von ihnen heute bereits die gleiche Lehre erteilt. Ich werde nicht darauf warten, bis ich dazu bei Euch ebenfalls gezwungen bin. Das erledige ich jetzt auf der Stelle. Versucht es.«
Liandrin fuhr sich ängstlich mit der Zunge über die Lippen und blickte sich unter den Frauen um, die so steif an der Wand standen. Nur Asne Zaremene wagte es, sich zu rühren: Sie schüttelte ganz leicht den Kopf. Asnes schrägstehende Augen, hohe Backenknochen und kräftige Nase zeigten deutlich, daß sie aus Saldaea stammte, und sie besaß all die Kühnheit, die man den Menschen dieses Landes nachsagte. Wenn selbst sie abriet, wenn in ihren dunklen Augen ein Hauch von Furcht stand, dann war es am besten, zu kriechen, bis Moghedien zufriedengestellt war und in ihrer Aufmerksamkeit nachließ. Und doch war da dieser kleine Trick.
Sie fiel mit gesenktem Kopf auf die Knie nieder. Dann blickte sie mit einer Furcht zu der Verlorenen auf, die nur teilweise geheuchelt war. Moghedien saß entspannt auf dem Stuhl und nippte an ihrem Tee. »Große Herrin, ich bitte Euch, mir zu vergeben, wenn ich hochmütig war. Ich weiß, daß ich nur wie ein Wurm unter Eurem Fuß bin. Ich bitte Euch als eine, die Eure treue Jagdhündin sein möchte, um Gnade für diesen verlorenen Welpen.« Moghedien blickte in ihre Tasse, und blitzschnell, während sie noch diese Worte stammelte, riß Liandrin die Macht an sich und lenkte sie auf Moghedien, suchte den Riß im Selbstvertrauen der Verlorenen, den Riß, den jede Fassade von Kraft und Stärke aufwies.
Im gleichen Augenblick, als sie losschlug, war die andere Frau vom Glühen Saidars umgeben, und Schmerz hüllte Liandrin ein. Sie brach auf dem Teppich zusammen und versuchte, laut zu heulen, doch eine Qual jenseits aller Schmerzen, die sie jemals gefühlt hatte, ließ ihren weit aufgerissenen Mund verstummen. Ihre Augen wollten ihr aus dem Kopf bersten; ihre Haut wollte in Streifen abreißen. Eine Ewigkeit lang zuckte sie, und als es ebenso plötzlich aufhörte, wie es begonnen hatte, konnte sie nur noch daliegen, zittern und mit offenem Mund weinen.
»Fangt Ihr nun zu begreifen an?« fragte Moghedien gelassen und reichte Temaile die leere Tasse mit einem im Plauderton gesprochenen: »Das war sehr gut. Nächstesmal möchte ich ihn aber etwas stärker.« Temaile sah aus, als werde sie gleich in Ohnmacht fallen. »Ihr seid nicht schnell genug, Liandrin, Ihr seid nicht stark genug, und Ihr wißt nicht genug. Dieser armselige Angriff, mit dem Ihr mich überraschen wolltet. Möchtet Ihr sehen, wie das wirklich ist?« Sie wob die Macht.
Liandrin blickte bewundernd zu ihr auf. Sie kroch über den Fußboden und stammelte zwischen den Schluchzern, die sie nicht unterdrücken konnte: »Vergebt mir, Große Herrin.« Diese prachtvolle Frau war wie ein Stern am Himmel, wie ein Komet, und sie stand noch über allen Königen und Königinnen, so wundervoll war sie. »Bitte vergebt«, bettelte sie und küßte immer wieder den Saum von Moghediens Rock. Dazwischen stammelte sie weiter: »Vergebt mir. Ich bin eine Hündin, ein Wurm.« Sie schämte sich zu Tode, weil sie diese Dinge vorher wohl gesagt, aber nicht ernst gemeint hatte. Dabei stimmte das alles. Vor dieser Frau entsprach alles der Wahrheit. »Laßt mich Euch dienen, Große Herrin. Gestattet mir, Euch zu dienen. Bitte. Bitte.«
»Ich bin nicht Graendal«, sagte Moghedien und stieß sie mit einem Fuß im Samtpantoffel grob zur Seite.
Mit einemmal war diese Verehrung wie weggeblasen. Liandrin lag weinend wie ein Häufchen Unglück am Boden und erinnerte sich deutlich daran, wie sie diese Frau hündisch verehrt hatte. Sie starrte die Verlorene angsterfüllt an.
»Seid Ihr jetzt überzeugt, Liandrin?«
»Ja, Große Herrin«, brachte sie heraus. Sie war überzeugt. Überzeugt davon, nicht mehr an einen Angriff denken zu dürfen, bis ihr der Erfolg sicher war. Ihr Trick war nur ein schwacher Abklatsch dessen, was Moghedien fertiggebracht hatte. Wenn sie das nur erlernen könnte...
»Wir werden ja sehen. Ich glaube, Ihr gehört zu denen, die eine solche Lehre ein zweites Mal benötigen. Betet darum, daß es nicht notwendig wird, Liandrin, denn beim zweiten Mal reagiere ich mit größter Härte. Nehmt jetzt Euren Platz bei den anderen ein. Ihr werdet sehen, daß ich einige der mit der Macht behafteten Gegenstände aus Eurem Zimmer entfernt habe; die restlichen Spielzeuge könnt Ihr behalten. Bin ich nicht gut zu Euch?«
»Die Große Herrin ist so gut zu uns«, pflichtete ihr Liandrin abgehackt und unter gelegentlichem Schluchzen bei, das sie noch immer nicht unterdrücken konnte.
Erschöpft und schlaff taumelte sie hoch und ging hinüber, wo sie sich neben Asne stellte. Die Wandtäfelung an ihrem Rücken half ihr, aufrecht stehen zu bleiben. Sie sah, wie Stränge aus Luft verwoben wurden, nur aus Luft, doch sie zuckte zusammen, als sie ihren Mund verschlossen und jeden Laut von ihren Ohren fernhielten. Ganz sicher versuchte sie nicht, sich dem entgegenzustemmen. Sie ließ noch nicht einmal einen Gedanken an Saidar bei sich aufkommen. Wer wußte schon, was eine der Verlorenen alles vollbringen konnte? Vielleicht sogar ihre Gedanken lesen? Dieser Gedankengang ließ sie beinahe flüchten. Aber nein. Wenn Moghedien ihre Gedanken kannte, dann wäre sie jetzt schon tot. Oder läge noch immer schreiend auf dem Boden. Oder küßte Moghediens Füße und bettelte darum, dienen zu dürfen. Liandrin zitterte unwillkürlich wieder. Hätte das Luftgewebe ihren Mund nicht geknebelt, dann hätten jetzt ihre Zähne geklappert.
Moghedien webte die gleichen Fesseln um sie alle bis auf Rianna. Die holte sie mit einem Wink ihres Fingers zu sich heran und ließ sie vor sich niederknien. Nach kurzer Zeit stand Rianna wieder auf und ging. Nun wurde Marillin Gemalphin von ihren Knebeln erlöst und herangerufen.
Von ihrem Standpunkt aus konnte Liandrin ihre Gesichter sehen, auch wenn sich ihre Münder für sie völlig lautlos bewegten. Eindeutig empfing jede Frau nun Befehle, von denen die anderen nichts wissen sollten. Den Gesichtern war aber kaum etwas abzulesen. Rianna lauschte lediglich mit einer Andeutung von Erleichterung im Blick. Dann neigte sie den Kopf in schweigender Zustimmung und verließ den Raum. Marillin blickte erst überrascht und dann eifrig drein, aber sie war eben eine Braune gewesen, und die Braunen konnten sich für alles begeistern, was ihnen eine Gelegenheit verschaffte, irgendein verschimmeltes Fragment verlorenen Wissens auszugraben. Jeaine Caides Gesicht wandelte sich langsam zu einer Maske unverhohlenen Schreckens. Zuerst schüttelte sie den Kopf und versuchte, sich und dieses widerlich durchscheinende Kleid mit den Händen zu verdecken, doch dann verhärtete sich Moghediens Miene, und Jeaine nickte hastig und floh, nicht ganz so von Eifer erfüllt wie Marillin, aber genauso schnell. Berylla Naron, so mager, daß sie fast schwindsüchtig wirkte, aber eine der klügsten Intrigantinnen, die es gab, und Falion Bhoda mit ihrem langen und trotz ihrer offensichtlichen Furcht kalt wirkenden Gesicht zeigten genausowenig Ausdruck wie Rianna zuvor. Ispan Shefar, die wohl dunkelhaarig war, aber genau wie Liandrin aus Tarabon kam, küßte sogar Moghediens Rocksaum, bevor sie sich wieder erhob.
Dann wurden die Stränge um Liandrin gelöst. Sie dachte sich, jetzt sei sie an der Reihe, mit einem der Schatten wußte wie auch immer gearteten Auftrag losgeschickt zu werden. Doch dann sah sie, daß auch die Bande um die anderen verbliebenen Frauen gleichzeitig gelöst wurden. Moghediens Finger winkte herrisch, und Liandrin kniete zwischen Asne und Chesmal Emry, einer hochgewachsenen, gutaussehenden Frau mit dunklem Haar und dunklen Augen nieder. Chesmal, die ehemalige Gelbe, konnte mit gleicher Leichtigkeit heilen wie töten, doch so eindringlich und konzentriert, wie sie nun Moghedien anblickte, und so, wie sie die Hände in ihren Rock verkrampfte, wußte Liandrin, daß sie jetzt nur noch an Gehorsam dachte.
Sie würde sehr genau beobachten und sich an solche Beobachtungen auch halten müssen, überlegte Liandrin. Falls sie einer der anderen sagte, sie glaube, eine Belohnung erhalten zu können, wenn sie Moghedien den anderen Verlorenen übergab, konnte sich das möglicherweise katastrophal auswirken, denn vielleicht hatte sich die Angesprochene ja dafür entschieden, daß es in ihrem Interesse läge, Moghediens Schoßhündchen zu werden und wiederum sie zu verraten. Bei dem Gedanken an eine zweite ›Belehrung‹ dieser Art hätte sie beinahe gewimmert.
»Euch werde ich bei mir behalten«, erklärte die Verlorene nun, »und zwar für die wichtigste Aufgabe überhaupt. Was die anderen zu tun haben, mag ja süße Früchte tragen, aber für mich werdet Ihr die wichtigste Ernte einbringen. Eine ganz persönliche Ernte. Es gibt da eine Frau namens Nynaeve al'Meara.« Liandrins Kopf ruckte hoch, und der Blick aus Moghediens dunklen Augen wurde schärfer. »Wißt Ihr von ihr?«
»Ich verachte sie«, erwiderte Liandrin der Wahrheit entsprechend. »Sie ist eine schmutzige Wilde, die man niemals zur Burg hätte zulassen dürfen.« Sie verabscheute alle Wilden. Während sie davon träumte, eine Schwarze Ajah zu werden, hatte sie sich ein ganzes Jahr lang bemüht, den Gebrauch der Macht allein zu erlernen, bevor sie zur Burg ging, aber natürlich war sie deshalb auf keinen Fall eine Wilde.
»Sehr gut. Ihr fünf werdet sie für mich suchen. Ich will sie lebend haben. O ja, ich brauche sie lebendigen Leibs.« Moghediens Lächeln ließ Liandrin schaudern. Ihr Nynaeve und die beiden anderen zu übergeben mochte sich als ausgesprochen vorteilhaft erweisen. »Vorgestern befand sie sich in einem Dorf namens Sienda, etwa sechzig Meilen östlich von hier, zusammen mit einer anderen jungen Frau, an der ich möglicherweise Interesse habe, doch dann sind sie verschwunden. Ihr werdet...«
Liandrin lauschte hingebungsvoll. Was diese Sache betraf, würde sie eine zuverlässige Jägerin sein. Was die andere betraf, mußte sie sich in Geduld hüllen und abwarten.