Sonnenschein, der durch das Fenster auf ihr Gesicht fiel, weckte Nynaeve. Einen Moment lang lag sie bequem ausgestreckt auf der gestreiften Bettdecke. Elayne lag schlafend im anderen Bett. Es war bereits warm an diesem frühen Morgen, und in der Nacht war es nicht viel besser gewesen, doch das war nicht der Grund dafür, warum Nynaeves Hemd verknittert und verschwitzt war. Sie hatte keine guten Träume gehabt, nachdem sie das Erfahrene mit Elayne besprochen hatte. In den meisten dieser Träume war sie wieder in der Burg gewesen und vor die Amyrlin gezerrt worden. Manchmal war Elaida Amyrlin und manchmal Moghedien. In ein paar Träumen hatte Rand wie ein Hund neben dem Schreibtisch der Amyrlin gelegen, mit Halsband, Leine und Maulkorb. Auf gewisse Weise waren auch die Träume von Egwene so schlimm gewesen, denn gekochter Katzenfarn und zerstoßene Asblätter darin schmeckten im Traum genauso schlecht wie im wachen Zustand.
Sie schlich müde zum Waschtisch, säuberte ihr Gesicht und putzte die Zähne mit Salz und Soda. Das Wasser war wohl nicht heiß, kühl konnte man das aber auch nicht nennen. Das durchnäßte Hemd zog sie aus und zog aus einem der Reisekoffer ein frisches hervor, zusammen mit einer Haarbürste und einem Spiegel. Als sie ihr eigenes Spiegelbild musterte, bereute sie bereits, den Zopf aufgeflochten zu haben, damit sie bequemer schlafen konnte. Es hatte nicht geholfen, und nun hing ihr Haar verfilzt bis an die Hüfte herunter. So setzte sie sich auf einen Koffer und löste mühsam die verfilzten Stellen, bevor sie es ausgiebig bürstete.
Sie hatte drei lange Kratzer, die vom Hals her bis unter ihr Hemd verliefen. Sie waren nicht so stark gerötet, wie sie befürchtet hatte, dank einer Tinktur — einem wahren Allheilmittel —, die sie von dieser Macura mitgenommen hatte. Elayne hatte sie erzählt, sie habe sich an Brombeersträuchern aufgekratzt. Töricht, denn sie vermutete, Elayne habe das so oder so für unwahr gehalten. Sie hatte ihr wohl erzählt, sie habe sich nach Egwenes Abgang noch auf dem Burggelände umgesehen, aber wäre sie nicht so verwirrt gewesen, hätte sie eine solche Ausrede gar nicht erfunden. Mehrmals hatte sie die andere wütend angefahren, obwohl sie keinen Grund dazu gehabt hatte. Sie regte sich lediglich über die unfaire Behandlung durch Melaine und Egwene auf. Nicht, daß es ihr nicht gut täte, gelegentlich daran erinnert zu werden, daß sie hier nicht die Tochter-Erbin ist! Trotzdem war das Mädchen nicht schuld gewesen, und sie würde es wiedergutmachen müssen.
Im Spiegel beobachtete sie, wie Elayne aufstand und sich zu waschen begann. »Ich glaube nach wie vor, daß mein Plan der beste ist«, sagte das Mädchen, während sie ihr Gesicht abrieb. Ihr rabenschwarz gefärbtes Haar schien keine einzige verfilzte Stelle aufzuweisen, und das trotz ihrer Locken. »Wir könnten auf meinem Weg viel schneller in Tear sein.«
Ihr Plan bestand darin, die Kutsche stehenzulassen, sobald sie den Eldar erreichten. Das würde in einem kleinen Dorf geschehen, wo sich wahrscheinlich nicht viele Weißmäntel aufhielten und, genauso wichtig, auch kaum Augen-und-Ohren für die Burg zu finden sein würden. Dann sollten sie auf einem Flußkahn hinunter nach Ebou Dar fahren und von dort aus mit einem Schiff nach Tear. Sie bezweifelten beide nicht mehr, daß sie sich nach Tear begeben mußten. Tar Valon würden sie unter allen Umständen meiden.
»Wie lange kann es dauern, bis ein Flußkahn dort anlegt, wo wir den Eldar erreichen?« fragte Nynaeve geduldig. Sie hatte die Diskussion für beendet gehalten, als sie sich schlafen legten. Ihrer Meinung nach war jedenfalls alles klar gewesen. »Du hast doch selbst gesagt, daß vielleicht nicht jeder Kahn dort anlegt. Und wie lange müssen wir in Ebou Dar warten, bis wir ein Schiff nach Tear finden?« Sie legte die Bürste weg und begann, ihren Zopf zu flechten.
»Die Dorfbewohner hängen eine Fahne auf, wenn sie wollen, daß ein Kahn anlegt, und das tun dann auch die meisten. Und in einem Hafen von der Größe Ebou Dars finden sich immer Schiffe nach allen Richtungen.«
Als wäre das Mädchen jemals in einem größeren Hafen gewesen, bevor sie die Burg mit Nynaeve verließ! Elayne glaubte immer, alles, was sie nicht schon als Tochter-Erbin von Andor gelernt hatte, habe sie dann in der Burg erlernt, obwohl so vieles ihr bewies, daß das Gegenteil der Fall war. Und wie konnte sie es wagen, in diesem frechen Ton mit ihr zu sprechen? »Wir werden diesen Treffpunkt der Blauen wohl kaum auf einem Schiff finden, Elayne.«
Ihrem eigenen Plan zufolge sollten sie weiter mit der Kutsche reisen, den Rest Amadicias durchqueren, dann Altara und Murandy, bis nach Far Madding in den Hügeln von Kintara und weiter über die Ebenen von Maredo nach Tear. Das würde sicher länger dauern, aber abgesehen von der Möglichkeit, diese Versammlung doch unterwegs aufzuspüren, gingen Kutschen sehr selten unter. Sie konnte wohl schwimmen, aber sie fühlte sich ganz und gar nicht wohl, wenn kein Land mehr in Sicht war.
Elayne tupfte sich das Gesicht trocken, wechselte ihr Unterhemd und kam herüber, um ihr beim Flechten des Zopfes zu helfen. Nynaeve ließ sich nicht täuschen; sie würde später wieder mit dem Gerede über Schiffe anfangen. Ihr Magen vertrug keine Schiffe. Natürlich hatte das ihre Entscheidung keineswegs beeinflußt. Wenn sie Aes Sedai dafür gewinnen konnte, Rand zu helfen, wäre das ganz bestimmt die längere Reisezeit wert.
»Hast du dich endlich an den Namen erinnert?« fragte Elayne mit Nynaeves Haarsträhnen in den Händen.
»Wenigstens habe ich mich daran erinnert, daß ein Name erwähnt wurde. Licht, gib mir mehr Zeit!« Sie war sicher, einen Namen gelesen zu haben. Es war vermutlich eine Kleinstadt, vielleicht sogar eine größere. Sie hatte aber bestimmt keinen Ländernamen gelesen und dann wieder vergessen. Nun holte sie erst einmal tief Luft und beherrschte ihre Ungeduld, um dann in milderem Tonfall fortzufahren: »Ich werde mich schon daran erinnern, Elayne. Gib mir nur etwas Zeit.«
Elayne gab einen nichtssagenden Laut von sich und flocht fleißig weiter. Nach einer Weile sagte sie: »War es wirklich klug, Birgitte hinter Moghedien herzusenden?«
Nynaeve runzelte die Stirn und warf der jungen Frau einen finsteren Seitenblick zu, der allerdings von ihr ablief wie Wasser von eingeölter Seide. Wenn schon das Thema gewechselt werden mußte, dann nicht gerade so. »Besser, wir finden sie als sie uns.«
»Das mag wohl sein. Aber was tun wir, wenn wir sie gefunden haben?«
Darauf hatte sie keine Antwort parat. Doch es war immer besser, der Jäger zu sein als der Gejagte, und wenn es noch so hart zur Sache ging. Das hatte sie aus der Jagd nach den Schwarzen Ajah gelernt.
Der Schankraum war nicht sehr voll, als sie hinuntergingen, doch selbst zu dieser frühen Stunde war unter den Gästen viel Weiß zu sehen. Meist waren es diesmal ältere Weißmäntel — alles Offiziere. Zweifellos zogen sie das Frühstück aus der Küche der Schenke dem vor, was ihre eigenen Köche im Lager auf den Tisch brachten. Nynaeve hätte am liebsten wieder vom Tablett gegessen, aber ihr kleines Zimmer war denn doch zu sehr wie ein enger Käfig. Die Männer waren alle ganz auf ihr Frühstück konzentriert, die Weißmäntel nicht weniger als die anderen. Sicherlich konnten sie gefahrlos hier essen. Gerüche von Gekochtem erfüllten die Luft. Offensichtlich wollten diese Männer selbst am Morgen schon Rind- oder Hammelfleisch zu essen.
Kaum hatte Elaynes Fuß die letzte Stufe verlassen, da eilte auch schon Frau Jharen herbei und bot ihnen, oder besser ›Lady Morelin‹, ein getrenntes Speisezimmer an. Nynaeve warf Elayne keinen Blick zu, doch die sagte: »Ich glaube, wir essen hier. Ich habe selten Gelegenheit, in einer Schankstube zu essen, und es würde mir bestimmt Spaß machen. Laßt uns bitte von einem Eurer Mädchen etwas Erfrischendes bringen. Wenn es jetzt schon so warm ist, werden wir wohl zerlaufen, bevor wir das nächste Mal anhalten, fürchte ich.«
Nynaeve wunderte sich immer wieder, daß sie für dieses hochnäsige Getue nicht auf die Straße gesetzt wurden. Sie hatte mittlerweile genug Lords und Ladies kennengelernt, um zu wissen, daß sich fast alle so benahmen, aber trotzdem. Sie hätte das keine Minute lang geduldet. Die Wirtin jedoch knickste lächelnd, rang die Hände ein wenig und führte sie dann an einen Tisch in der Nähe eines Fensters zur Straße hin. Sodann huschte sie davon, um Elaynes Auftrag auszuführen. Vielleicht war das ihre Rache an dem Mädchen. Sie saßen wohl allein und weit genug von den Männern an den anderen Tischen entfernt, doch jeder, der eintrat, konnte sie anstarren, und falls ihr Essen doch heiß war, was sie nicht hoffte, saßen sie so weit von der Küche entfernt wie überhaupt möglich — zu weit, um sich ohne größere Umstände beschweren zu können.
Als sie bedient wurden, bestand das Frühstück aus würzigen Teigstücken, die in ein weißes Tuch gewickelt und noch warm waren, aber trotzdem gut schmeckten, gelben Birnen, blauen Trauben, die ein wenig verschrumpelt wirkten, und irgendwelchen roten Früchten, die von der Serviererin als ›Erdbeeren‹ bezeichnet wurden, obwohl sie keiner Beere ähnlich sahen, die Nynaeve jemals gesehen hatte. Sie schmeckten auch nicht gerade nach Erde, besonders mit geschlagener Sahne obenauf. Elayne behauptete, schon von ihnen gehört zu haben, aber das war ja typisch für sie. Zusammen mit einem leicht gewürzten Wein, der angeblich im Quellhaus gekühlt worden war —die Quelle konnte aber nicht sehr kühl sein, stellten sie nach einem Nippen fest —, ergab das ein erfrischendes Morgenmahl.
Der nächste Mann saß drei Tische entfernt und trug einen dunkelblauen Wollmantel. Vielleicht war er ein wohlhabender Kaufmann. Sie unterhielten sich trotzdem nicht. Genug Zeit zum Unterhalten, wenn sie sich wieder auf der Straße befanden und keine Lauscher mehr in der Nähe waren. Nynaeve war erheblich früher als Elayne mit dem Essen fertig. So, wie sich das Mädchen Zeit ließ, um eine Birne aufzuschneiden, konnte man denken, sie hätten den ganzen Tag über Zeit, am Tisch zu sitzen.
Plötzlich riß Elayne die Augen vor Schreck weit auf, und das kurze Obstmesser fiel klappernd auf den Tisch. Nynaeve fuhr herum und sah, daß ein Mann auf der gegenüberliegenden Bank an ihrem Tisch Platz nahm.
»Ich dachte mir doch, daß du das bist, Elayne, nur hat mich das Haar zunächst etwas verwirrt.«
Nynaeve starrte Galad an, Elaynes Halbbruder. Anstarren war der passende Ausdruck dafür. Hochgewachsen und schlank wie eine Stahlfeder, dunkelhaarig und dunkeläugig, war er der bestaussehende Mann, den sie je kennengelernt hatte. Gutaussehend war noch zu schwach ausgedrückt: Er sah phantastisch aus. Sie hatte gesehen, wie sich in der Burg die Frauen um ihn drängten, sogar Aes Sedai, und alle hatten Augen gemacht wie die Mondkälber. Sie hörte bei dem Gedanken an die anderen sofort mit Lächeln auf. Doch sie konnte nichts gegen die Beschleunigung ihres Herzschlags unternehmen oder wenigstens wieder gleichmäßig atmen. Sie empfand nicht das Geringste für ihn, aber er war derart schön! Beherrsche dich, Frau!
»Was macht Ihr denn hier?« Sie war froh, daß es sich nicht wie erstickt anhörte. Es war nicht fair, daß ein Mann so gut aussah.
»Und wieso trägst du so etwas?« Elaynes Stimme war leise, aber trotzdem beißend.
Nynaeve riß noch einmal die Augen auf, denn erst jetzt wurde ihr bewußt, daß er einen hochglänzenden Harnisch trug und dazu einen weißen Umhang mit zwei goldenen Rangknoten unter der strahlenden Sonnenscheibe. Sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. Einen Mann so fasziniert anzustarren, daß sie noch nicht einmal seine Kleidung bemerkte! Sie hätte vor Scham am liebsten ihr Gesicht verborgen.
Er lächelte, und Nynaeve mußte tief Luft holen. »Ich bin hier, weil ich zu den Kindern gehöre, die aus dem Norden zurückgerufen wurden. Und ich gehöre zu den Kindern des Lichts, weil es der richtige Weg zu sein schien. Elayne, als du und Egwene verschwunden wart, haben Gawyn und ich nicht lange gebraucht, um herauszufinden, daß ihr keineswegs Strafdienst auf einem Bauernhof leisten mußtet, auch wenn man uns das weismachen wollte. Sie hatten kein Recht, dich in ihre Intrigen einzubeziehen, Elayne. Keine von Euch.«
»Ihr scheint sehr schnell einen Offiziersrang erreicht zu haben«, sagte Nynaeve. War dem törichten Mann nicht klar, daß dieses Geschwätz von den Intrigen der Aes Sedai ihnen beiden hier ganz leicht den Tod einbringen konnte?
»Eamon Valda schien zu glauben, daß meine Erfahrung es rechtfertige, gleich, wo ich sie gewonnen hatte.« Sein Achselzucken ließ den Rang als unwichtig erscheinen. Es war, genau gesprochen, keine Bescheidenheit, aber auch kein Vorwand. Er war unter den Schülern der Behüter in der Burg der beste Schwertkämpfer gewesen, aber auch sehr gut in Strategie und Kampftaktik, doch Nynaeve konnte sich nicht daran erinnern, daß er je mit seinen Fähigkeiten angegeben hätte, noch nicht einmal im Scherz. Das Erreichte bedeutete ihm nichts, vielleicht, weil es ihm so leicht fiel.
»Weiß Mutter davon?« wollte Elayne wissen, immer noch mit gefährlich leiser Stimme. Ihre Miene hätte allerdings auch einem wilden Keiler Angst eingejagt.
Galad rutschte nur ein ganz klein wenig nervös auf der Bank umher. »Ich hatte noch gar keine Zeit, ihr zu schreiben. Aber sei nicht so sicher, daß sie etwas dagegen haben wird, Elayne. Sie steht nicht mehr auf so gutem Fuße mit dem Norden wie früher. Ich hörte sogar, daß ein gesetzlicher Bannspruch im Gespräch sei.«
»Ich habe ihr einen Brief mit Erklärungen geschrieben.« Elaynes zorniges Funkeln hatte einem fragenden Blick platzgemacht. »Sie muß es doch verstehen. Sie wurde doch selbst auch in der Burg ausgebildet.«
»Sprich leiser«, sagte er mit leiser und harter Stimme. »Vergiß nicht, wo du dich befindest.« Elayne lief dunkelrot an, aber Nynaeve wußte nicht, ob aus Ärger oder Verlegenheit.
Mit einemmal wurde ihr bewußt, daß er genauso leise wie sie gesprochen hatte und sich auch vorsichtig ausdrückte. Er hatte nicht ein einziges Mal die Burg erwähnt oder die Aes Sedai.
»Ist Egwene bei Euch?« fuhr er fort.
»Nein«, erwiderte sie, und er seufzte tief.
»Ich hatte gehofft... Gawyn war beinahe außer sich vor Sorge, als sie verschwand. Ihm liegt auch viel an ihr. Sagt Ihr mir, wo sie sich aufhält?«
Nynaeve bemerkte das ›auch‹ sehr wohl. Der Mann war wohl ein Weißmantel geworden, aber ›ihm lag viel‹ an einer Frau, die eine Aes Sedai werden wollte. Männer waren so seltsam, daß sie ihr manchmal kaum menschlich vorkamen.
»Das werden wir nicht«, sagte Elayne mit fester Stimme. Das Rot wich langsam aus ihren Wangen. »Ist Gawyn auch hier? Ich will nicht glauben, daß er...« Sie senkte die Stimme noch weiter, sprach es aber trotzdem aus: »... ein Weißmantel geworden ist!«
»Er bleibt im Norden, Elayne.« Nynaeve vermutete, er meine damit Tar Valon, aber sicher war Gawyn doch von dort weggegangen. Er konnte doch wohl nicht Elaida unterstützen. »Du kannst ja nicht wissen, was dort alles geschehen ist, Elayne«, fuhr er fort. »All die Verderbtheit und Bösartigkeit an diesem Ort ist schließlich an die Oberfläche gekommen. Das mußte wohl so kommen. Die Frau, die Euch wegschickte, wurde beseitigt.« Er sah sich um und senkte die Stimme bis zu einem Flüstern, obwohl sich niemand nahe genug befand, um sie zu belauschen. »Einer Dämpfung unterzogen und dann hingerichtet.« Er holte tief Luft und gab einen angewiderten Laut von sich. »Das war nie der richtige Ort für dich. Oder für Egwene. Ich bin noch nicht lange bei den Kindern des Lichts, aber ich bin sicher, mein Hauptmann gibt mir die Genehmigung, meine Schwester heimzugeleiten. Dort solltest du dich befinden, bei Mutter. Sag mir, wo Egwene ist, und ich werde dafür sorgen, daß auch sie nach Caemlyn gebracht wird. Dort seid ihr beide in Sicherheit.«
Nynaeves Gesicht war aschfahl. Dämpfung. Und hingerichtet. Also kein Unfall und keine Krankheit. Daß sie auch diese Möglichkeit in Erwägung gezogen hatte, machte den Schock nicht geringer. Rand mußte der Grund dafür sein. Falls es je eine schwache Hoffnung gegeben hatte, daß sich die Burg doch nicht gegen ihn stellen werde, war die nun gestorben. Elayne blickte ausdruckslos drein. Ihre Augen blickten ins Leere.
»Wie ich sehe, hat Euch meine Neuigkeit erschüttert«, sagte er mit leiser Stimme. »Ich weiß nicht, wie tief diese Frau Euch in ihre Intrige mit eingesponnen hatte, aber jetzt seid Ihr sie endlich los. Laßt mich Euch sicher nach Caemlyn geleiten. Niemand muß erfahren, daß Ihr weitergehende Kontakte zu ihr hattet als die anderen Mädchen, die zum Lernen dorthin gingen. Keine von Euch.«
Nynaeve zeigte ihm die Zähne, in der Hoffnung, es wirke wie ein Lächeln. Es war immerhin nett, endlich mit eingeschlossen zu werden. Sie hätte ihm eine kleben können. Wenn er nur nicht so gut aussähe.
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte Elayne bedächtig. »Was du sagst, ist wohl vernünftig, aber du mußt mir Zeit zum Nachdenken geben. Ich muß einfach nachdenken.«
Nynaeve starrte sie entgeistert an. Das sollte vernünftig sein? Das Mädchen plapperte baren Unsinn.
»Ich kann dir ein wenig Zeit geben«, sagte er, »aber ich habe nicht viel, wenn ich noch um Genehmigung bitten soll. Es kann sein, daß wir ganz schnell Order erhal...«
Plötzlich klatschte ein schwarzhaariger Weißmantel mit kantigem Gesicht Galad auf die Schulter und grinste breit. Er war älter und trug dieselben beiden Rangknoten auf dem Umhang. »Na, junger Galad, Ihr könnt doch nicht alle hübschen Frauen ganz für Euch beanspruchen. Jedes Mädchen im Ort seufzt, wenn Ihr vorbeigeht, und die meisten ihrer Mütter sind nicht anders. Stellt mich vor.«
Galad schob seine Bank nach hinten und stand auf. »Ich... glaubte, daß ich sie kenne, als sie herunterkamen, Trom. Aber welchen Charme ich auch Eurer Meinung nach versprühe, so scheint er doch auf diese Lady nicht zu wirken. Sie mag mich nicht, und ich glaube, sie wird auch keinen meiner Freunde mögen. Wenn Ihr heute nachmittag mit mir Schwertfechten übt, könnt Ihr vielleicht auch eine oder zwei anlocken.«
»Niemals, wenn Ihr dabei seid«, grollte Trom gutmütig. »Und ich würde lieber dem Grobschmied gestatten, mir seinen Hammer über den Kopf zu ziehen, als gegen Euch Übungskämpfe auszufechten.« Aber er ließ sich von Galad zur Tür schieben; wobei er den beiden Frauen lediglich einen bedauernden Blick zuwarf.
Kaum waren sie außer Sicht, da stand Elayne auf. »Nana, ich brauche dich oben.« Frau Jharen tauchte an ihrer Seite auf und fragte, ob ihnen das Frühstück geschmeckt habe, worauf Elayne lediglich sagte: »Ich benötige sofort meinen Kutscher und den Lakaien. Nana wird die Rechnung bezahlen.« Sie war bereits unterwegs zur Treppe, als sie noch nicht einmal ausgesprochen hatte.
Nynaeve blickte hinter ihr her, kramte dann ihre Geldbörse hervor und bezahlte die Frau. Sie versicherte ihr auch, daß ihre Herrin keinerlei Klagen habe. Bei dem Preis zuckte sie aber doch leicht zusammen. Sobald sie die Frau los war, eilte sie hinauf. Elayne stopfte bereits ihre Sachen in die Koffer, gleich, wo sie landeten. Sogar die schweißnassen Hemden, die sie zum Trocknen auf die Bettgestelle gehängt hatten, wanderten mit hinein.
»Elayne, was ist los?«
»Wir müssen sofort weg, Nynaeve. Sofort.« Sie blickte nicht auf, bevor nicht das letzte Gepäckstück verstaut war. »Genau in dieser Minute, wo er jetzt auch sein mag, knobelt Galad an einem Problem herum, wie es ihm noch nie untergekommen ist. Zwei Dinge, die beide rechtens sind, sich aber vollkommen widersprechen. Seinem Verständnis nach ist es richtig, mich notfalls auf ein Packpferd zu binden und zu Mutter zu schleppen, um sowohl ihre Sorgen zu lindern, wie auch mich davor zu bewahren, eine Aes Sedai zu werden, ob ich nun will oder nicht. Und es ist auch richtig, uns auszuliefern, entweder den Weißmänteln oder dem königlichen Heer oder beiden. Das ist Gesetz in Amadicia und auch Gesetz bei den Weißmänteln. Aes Sedai sind hier geächtet, genau wie jede Frau, die in der Burg ausgebildet wurde. Mutter ist einst mit Ailron zusammengetroffen, um einen Handelsvertrag zu unterzeichnen, und das mußten sie in Altara tun, weil Mutter Amadicia nicht betreten durfte. Ich habe nach Saidar gegriffen, sobald ich ihn erblickte, und ich werde nicht davon lassen, bis wir weit weg von ihm sind.«
»Du übertreibst doch sicher, Elayne. Er ist dein Bruder!«
»Er ist nicht mein Bruder!« Elayne holte tief Luft und atmete dann langsam wieder aus. »Wir hatten den gleichen Vater«, sagte sie mit ruhigerer Stimme, »aber er ist nicht mein Bruder. Ich erkenne ihn nicht an. Nynaeve, ich habe dir das immer wieder gesagt, doch du willst es nicht begreifen. Galad tut, was richtig und rechtens ist. Immer. Er lügt niemals. Hast du gehört, was er diesem Burschen Trom gesagt hat? Er hat nicht gesagt, er wisse nicht, wer wir sind. Jedes Wort, das er sprach, entsprach auch der Wahrheit. Er tut, was recht ist, gleich, wen er dabei verletzt, und wenn er selbst der betroffene ist. Oder ich. Er hat Gawyn und mich immer verpetzt, bei jeder Gelegenheit, und er hat sogar sich selbst verpetzt. Wenn er die falsche Entscheidung trifft, warten die Weißmäntel bereits auf uns, bevor wir den Rand des Dorfes erreicht haben.«
An der Tür ertönte ein Klopfen und Nynaeve hielt unwillkürlich die Luft an. Sicher würde doch Galad nicht... Elayne machte eine entschlossene, kampfbereite Miene.
Zögernd öffnete Nynaeve die Tür einen Spaltbreit. Es waren Thom und Juilin. Letzterer trug diesen närrischen Hut in der Hand. »Die Lady wünschte uns zu sehen?« fragte Thom mit einem Hauch jener Unterwürfigkeit, die jeder zufällige Zuhörer erwartet hätte.
Sie war wieder zu atmen in der Lage, und jetzt war ihr ganz gleich, wer lauschte. Sie riß die Tür vollends auf. »Herein mit Euch, Ihr beiden!« Sie hatte langsam genug davon, daß jeder erst einmal den anderen anblickte, wenn sie mit ihnen sprach.
Bevor sie die Tür auch nur geschlossen hatte, sagte Elayne: »Thom, wir müssen sofort abfahren.« Ihre Miene wirkte nun nicht mehr so entschlossen, sondern eher ängstlich. So klang auch ihre Stimme. »Galad ist hier. Ihr erinnert Euch bestimmt daran, welches Ungeheuer er schon als Kind war. Also, jetzt ist er keineswegs besser, und außerdem ist er nun ein Weißmantel geworden. Er könnte...« Die Worte schienen ihr im Hals steckenzubleiben. Sie blickte Thom an. Ihr Mund bewegte sich, doch es kam nichts heraus. Er blickte sie allerdings mit genauso weit aufgerissenen Augen an wie sie ihn.
Er ließ sich auf eine der Reisekisten fallen, wandte aber den Blick nicht von Elayne. »Ich...« Er räusperte sich erst einmal laut und fuhr fort: »Ich glaubte, ihn gesehen zu haben, wie er die Schenke beobachtete. Ein Weißmantel. Doch er sah aus wie der Mann, der einst aus dem Jungen werden könnte. Ich denke, es sollte uns gar nicht wundern, daß er zu einem Weißmantel heranwuchs.«
Nynaeve ging zum Fenster. Elayne und Thom schienen kaum wahrzunehmen, daß sie zwischen ihnen hindurchging. Auf der Straße wurde der Verkehr langsam lebhaft. Bauern mit ihren Karren und Dorfbewohner vermischten sich mit Weißmänteln und Soldaten. Auf der gegenüberliegenden Seite saß ein Weißmantel auf einem umgekippten Faß. Das makellose Gesicht war unverkennbar.
»Hat er...?« Elayne schluckte. »Hat er Euch erkannt?«
»Nein. Fünfzehn Jahre verändern einen Mann stärker als einen Jungen. Elayne, ich glaubte, Ihr hättet es vergessen.«
»Ich habe mich in Tanchico wieder daran erinnert, Trom.« Mit unsicherem Lächeln streckte Elayne ihre Hand aus und zupfte ihn an einem Ende seines langen Schnurrbarts. Thom lächelte beinahe genauso unsicher zurück. Er wirkte, als überlege er, ob er sich aus dem Fenster stürzen solle.
Juilin kratzte sich am Kopf, und Nynaeve wünschte, sie hätte eine Ahnung, wovon die beiden eigentlich sprachen, doch es gab wirklich wichtigere Dinge im Moment. »Wir müssen trotzdem abreisen, bevor er uns die ganze Garnison auf den Hals hetzt. Es wird nicht leicht, wenn er die Schenke beobachtet. Ich habe keinen anderen Gast gesehen, der aussah, als besitze er eine Kutsche.«
»Unsere ist die einzige, die im Hof steht«, sagte Juilin.
Thom und Elayne blickten sich immer noch gegenseitig an und hörten offensichtlich kein Wort.
Mit geschlossenen Vorhängen abzufahren war also auch keine Lösung. Nynaeve hätte wetten können, daß Galad bereits genau erfahren hatte, wie sie nach Sienda gekommen waren. »Gibt es einen Hinterausgang vom Stallhof aus?«
»Eine Tür, die breit genug ist, daß immer gerade einer von uns durch kann«, sagte Juilin trocken. »Und auf der anderen Seite befindet sich sowieso auch nur eine Art von schmaler Gasse. Es gibt in diesem Dorf nicht mehr als zwei oder drei Straßen, die breit genug sind, um mit der Kutsche durchzukommen.« Er betrachtete diesen zylindrischen Hut, den er in den Händen hin und her drehte. »Ich könnte nahe genug an ihn herankommen, um ihm eins über den Schädel zu verpassen. Wenn Ihr bereit seid, könnt Ihr dann in der allgemeinen Verwirrung wegfahren. Ich kann Euch dann später auf der Straße wieder einholen.«
Nynaeve schnaubte laut. »Wie denn? Auf Schmoller hinterhergaloppieren? Selbst wenn Ihr nicht innerhalb einer Meile aus dem Sattel fallen würdet, glaubt Ihr doch nicht im Ernst, Ihr würdet überhaupt noch ein Pferd erreichen, nachdem Ihr einen Weißmantel auf offener Straße angegriffen habt?« Galad befand sich nach wie vor an seinem Platz dort drüben, und Thom hatte sich ihm angeschlossen. Das Paar plauderte anscheinend angeregt. Sie beugte sich vor und riß kräftig an Thoms Schnurrbart. »Habt Ihr irgend etwas hinzuzufügen? Einen brillanten Plan vielleicht? Ihr hört doch immer auf alle Gerüchte. Hat sich da etwas ergeben, was uns helfen könnte?«
Er schlug eine Hand vors Gesicht und warf ihr einen beleidigten Blick zu. »Nichts, außer Ihr haltet die Tatsache für hilfreich, daß Ailron Anspruch auf irgendein Grenzdorf in Altara erhebt. Einen Landstrich, der sich die ganze Grenze entlangzieht, von Salidar nach So Eban und bis Mosra. Kann das irgendwie helfen, Nynaeve? Tatsächlich? Versucht, einem Mann den Schnurrbart aus dem Gesicht zu reißen! Jemand sollte zur Abwechslung Euch einmal eins hinter die Ohren geben.«
»Warum will Ailron einen ganzen Landstreifen an der Grenze haben, Thom?« fragte Elayne. Vielleicht interessierte sie sich wirklich dafür, denn sie schien immer an jeder törichten Wendung in Politik und Diplomatie interessiert, vielleicht versuchte sie aber auch nur, einen Streit zu verhindern. Sie hatte die ganze Zeit über die Wogen geglättet, bis sie begann, mit Thom zu flirten.
»Es ist nicht der König, Kind.« Seine Stimme klang im Gespräch mit ihr viel sanfter. »Es ist Pedron Niall. Ailron macht gewöhnlich, was man ihm sagt, obwohl er und Niall so tun, als sei er ganz selbständig. Die meisten dieser Dörfer stehen seit dem Weißmantelkrieg leer. Die Kinder bezeichnen den immer als ›Auseinandersetzung‹. Niall war zu der Zeit der Oberkommandierende des Heeres, und ich bezweifle, daß er den Gedanken jemals aufgegeben hat, Altara zu erobern. Falls er beide Ufer des Eldar beherrscht, kann er den Flußhandel nach Ebou Dar abschnüren, und wenn er dann Ebou Dar erst in der Hand hat, fällt ihm der Rest Altaras zu wie eine reife Frucht.«
»Das ist ja alles schön und gut«, warf Nynaeve entschlossen ein, bevor er oder das Mädchen noch etwas sagen konnte. Irgend etwas an seinen Worten hatte in ihrem Gedächtnis eine Glocke läuten lassen, doch sie konnte nicht sagen, was oder warum. Jedenfalls hatten sie keine Zeit für Unterrichtsstunden über die Beziehungen zwischen Amadicia und Altara, wenn draußen Galad und Trom standen und den Eingang der Schenke beobachteten. Das sagte sie denn auch und fügte noch hinzu: »Wie steht es mit Euch, Juilin? Ihr bewegt Euch doch oft in der Unterwelt.« Der Diebfänger suchte sich immer die Taschendiebe und Einbrecher und Straßenräuber in einer Stadt als Gesellschaft aus, denn er behauptete, sie wüßten mehr von dem, was wirklich vorging, als alle Stadtbeamten. »Gibt es hier Schmuggler, die wir bestechen können, damit sie uns heimlich hinausbringen, oder... oder... Na ja, Ihr wißt doch genau, was wir jetzt brauchen, Mann.«
»Ich habe nur wenig herausbekommen. In Amadicia halten sich die Diebe gut versteckt, Nynaeve. Bei der ersten Verurteilung werden sie gebrandmarkt, bei der zweiten verlieren sie die rechte Hand und bei der dritten werden sie aufgehängt, gleich, ob sie die Königskrone gestohlen haben oder einen Laib Brot. In einem Ort von dieser Größe gibt es nicht viele Diebe, jedenfalls solche, die damit ihren Lebensunterhalt verdienen« — er verachtete Amateurdiebe —, »und die wollten meistens nur über zwei Dinge sprechen: ob der Prophet tatsächlich nach Amadicia kommt, wie die Gerüchte besagen, und ob die Stadtväter klein beigeben und diese Reisemenagerie doch in den Ort lassen, um ihre Vorführung zu veranstalten. Sienda liegt zu weit von der Grenze entfernt, als daß Schmuggler...«
Sie unterbrach ihn höchst befriedigt: »Das ist es! Die Menagerie!« Sie blickten sie alle an, als sei sie verrückt geworden.
»Selbstverständlich«, sagte Thom in betont sanftem Tonfall. »Wir bringen Luca dazu, seine Keilerpferde hierherzuführen, und dann fliehen wir, während sie noch etwas mehr vom Ort zerstören. Ich weiß nicht, was Ihr ihm gegeben habt, Nynaeve, aber er hat uns einen Stein hinterhergeworfen, als wir wegfuhren.«
Ausnahmsweise einmal vergab ihm Nynaeve den Sarkasmus, so milde er auch gewesen war. Und auch seine Unfähigkeit, zu sehen, was sie sah. »Das mag ja alles sein, Thom Merrilin, aber Meister Luca braucht einen Geldgeber, und Elayne und ich werden seine Gönnerinnen. Wir müssen ja trotzdem die Kutsche und das Gespann zurücklassen und durch den Hinterausgang hinausschleichen.« Das tat weh, denn für den Preis der Kutsche und des Gespanns hätten sie zu Hause an den Zwei Flüssen ein gemütliches Haus bauen können. Sie klappte den Deckel des Koffers mit den blattförmigen Scharnieren auf und kramte zwischen Kleidern und Decken und Töpfen und all dem anderen herum, das sie nicht bei dem Wagen mit den Farbstoffen hatte zurücklassen wollen. Sie hatte dafür gesorgt, daß die Männer alles einpackten bis auf das Pferdegeschirr. Dann fand sie die vergoldeten Schatullen und die Geldbörsen. »Thom, Ihr geht mit Juilin zur Hintertür hinaus und sucht uns irgendeinen Wagen und ein Gespann. Kauft auch etwas Proviant und trefft uns dann an der Straße zurück zu Lucas Lager.« Mit bedauernder Miene füllte sie Thoms Hand mit Goldstücken und machte sich noch nicht einmal die Mühe, nachzuzählen. Sie hatte keine Ahnung, was das alles kosten würde, und sie wollte nicht, daß er ihre Zeit mit langem Feilschen verschwendete.
»Das ist eine tolle Idee«, sagte Elayne grinsend. »Galad wird nach zwei Frauen Ausschau halten und nicht nach einer Truppe von Jongleuren und Tieren. Und er würde niemals glauben, daß wir nach Ghealdan ziehen.«
Daran hatte Nynaeve noch gar nicht gedacht. Sie hatte vorgehabt, Luca geradewegs nach Tear ziehen zu lassen. Eine Menagerie, wie er sie zusammengestellt hatte, mit Akrobaten und Jongleuren und außerdem sowieso den Tieren, konnte überall gut verdienen, da war sie sicher. Doch falls Galad nach ihnen suchte oder jemanden hinter ihnen herschickte, würde er sich bestimmt nach Osten wenden. Und er war vielleicht wirklich schlau genug, um auch in einer Menagerie nach ihnen zu suchen. Männer zeigten manchmal tatsächlich Gehirn, gewöhnlich dann, wenn man es am wenigsten erwartete. »Daran habe ich natürlich gleich gedacht, Elayne.« Sie ignorierte den plötzlich auftauchenden schwachen Geschmack in ihrem Mund, eine ätzende Erinnerung an gekochten Katzenfarn mit zerstoßenen Asblättern.
Thom und Juilin protestierten heftig. Die Idee an sich war ihnen recht, aber sie schienen zu glauben, wenn einer von ihnen zurückblieb, könne er sie und Elayne vor Galad und jeder möglichen Anzahl Weißmäntel beschützen. Ihnen schien überhaupt nicht der Gedanke zu kommen, daß sie mit Hilfe der Macht zehnmal soviel wie sie beide vollbringen konnten. Sie ließen sich auch kaum überzeugen, doch schließlich brachte sie es fertig, beide mit strenger Stimme hinauszuschicken: »Und wagt es nicht, hierher zurückzukehren. Wir treffen Euch an der Straße.«
»Wenn es dazu kommt, daß wir die Macht anwenden müssen«, sagte Elayne leise, als die Tür wieder geschlossen war, »werden wir uns sehr bald der gesamten Garnison von Weißmänteln gegenüberfinden und möglicherweise auch noch sämtlichen regulären Soldaten hier. Die Macht läßt uns nicht unbesiegbar werden. Alles, was nötig ist, sind zwei Pfeile.«
»Darüber machen wir uns Gedanken, wenn es soweit ist«, entgegnete ihr Nynaeve. Sie hoffte, die Männer hätten daran nicht gedacht. Falls doch, würde sich höchstwahrscheinlich einer in der Nähe herumtreiben und Galads Verdacht auf sich ziehen, wenn er nicht sehr vorsichtig war. Sie würde ihre Hilfe natürlich annehmen, wenn sie gebraucht wurde, das hatte sie durch Ronde Macura gelernt, auch wenn es ihr immer noch sauer aufstieß, daß man sie wie die Kätzchen aus dem Brunnen herausgeholt hatte, aber ob es notwendig war oder nicht, das bestimmte sie und nicht die Männer.
Nynaeve ging schnell hinunter und spürte Frau Jharen auf. Ihre Lady habe sich nun doch anders entschieden. Sie wolle nicht so schnell wieder Hitze und Staub der Reise ertragen und statt dessen lieber ein Nickerchen machen. Sie wolle nicht gestört werden, bis sie ein spätes Abendessen bestellte. Hier sei die Bezahlung für eine weitere Nacht. Die Wirtin hatte großes Verständnis für die zarte Natur einer adligen Lady und die Wankelmütigkeit ihrer Bedürfnisse. Nynaeve hatte das Gefühl, Frau Jharen würde für alles Verständnis haben, was nicht gerade nach Mord aussah, solange man dafür bezahlte.
Nynaeve verließ die mollige Frau und schnappte sich ganz kurz eine der Bedienungen. Ein paar Silberpfennige wechselten die Besitzerin, und das Mädchen eilte mit ihrer Schürze angetan weg, um ihnen zwei der breitrandigen Hüte zu besorgen, von denen Nynaeve behauptete, sie wirkten so schattenspendend und kühl. Natürlich sei so etwas nichts für eine Lady, aber ihr würde es gut stehen.
Als sie in ihr Zimmer zurückkehrte, hatte Elayne die vergoldeten Schatullen zusammen mit dem dunklen, glänzenden Kästchen, in dem der wiedergewonnene Ter'Angreal lag, und den Waschlederbeutel mit dem Siegel auf eine Decke gelegt. Auf dem anderen Bett lagen die dicken Geldbörsen neben Nynaeves Kräutertasche. Elayne faltete die Decke und schnürte das Bündel mit einem kräftigen Strick aus einem ihrer Koffer zu. Nynaeve hatte wirklich alles aufgehoben.
Sie bedauerte, nun doch so vieles zurücklassen zu müssen. Es ging ihr nicht nur darum, daß es teure Sachen gewesen waren. Das war nicht der einzige Grund. Man wußte schließlich nie, wann man etwas gebrauchen konnte. Beispielsweise die beiden Wollkleider, die Elayne auf ihrem Bett ausgebreitet hatte. Sie waren nicht fein genug für eine Lady, jedoch wieder zu gut für eine bloße Zofe. Hätten sie die beiden in Mardecin zurückgelassen, wie Elayne vorgehabt hatte, dann wären sie jetzt in Schwierigkeiten, was die Kleidung betraf.
Kniend durchwühlte Nynaeve einen anderen Koffer. Ein paar Unterhemden und zwei weitere Wollkleider zum Wechseln. Die beiden gußeisernen Bratpfannen in einem Segeltuchbeutel waren ausgezeichnet, aber zu schwer, und die Männer würden bestimmt daran denken, sie durch andere zu ersetzen. Das Nähzeug in dem ordentlichen Kästchen mit schöner Einlegearbeit mußte mit, denn sie würden niemals darauf kommen, auch nur eine Stecknadel zu kaufen. Doch nur mit einem Teil ihres Verstands traf sie diese Auswahl.
»Du hast Thom schon früher gekannt?« fragte sie so ganz nebensächlich. Sie hoffte jedenfalls, daß es so klinge. Dabei beobachtete sie Elayne aus dem Augenwinkel, während sie so tat, als konzentriere sie sich darauf, Strümpfe einzurollen.
Das Mädchen hatte damit begonnen, ihre eigenen Kleider herauszuholen. Sie seufzte, als sie die Seidenkleider beiseitelegte. Bei der Frage erstarrte sie mit den Händen tief in einer der Reisetruhen, sah aber Nynaeve nicht an. »Er war Hofbarde in Caemlyn, als ich noch klein war«, sagte sie ruhig.
»Aha.« Das sagte ihr nicht viel. Wie wurde aus einem Mann, einem Hofbarden, der die Königsfamilie zu unterhalten hatte und nicht weit von einem Adelstitel entfernt war, ein Gaukler, der von Dorf zu Dorf wanderte?
»Er war Mutters Liebhaber, nachdem Vater gestorben war.« Elayne war wieder mit Auswählen beschäftigt und sagte das so selbstverständlich, daß Nynaeve Augen und Mund aufriß.
»Deiner Mutter...«
Die andere blickte sie trotzdem noch immer nicht an. »Ich habe mich bis Tanchico nicht mehr an ihn erinnert. Ich war noch sehr klein. Es war sein Schnurrbart, als ich nahe genug vor ihm stand und zu seinem Gesicht aufblickte, während er Stücke aus der Großen Jagd nach dem Horn rezitierte. Er glaubte, ich hätte es wieder vergessen.« Ihr Gesicht lief ein wenig rot an. »Ich... trank zuviel Wein, und am nächsten Tag gab ich vor, ich könne mich an nichts mehr erinnern.«
Nynaeve konnte nur noch den Kopf schütteln. Sie erinnerte sich an den Abend, als dieses törichte Mädchen sich mit Wein hatte vollaufen lassen. Wenigstens hatte sie es dann nie wieder getan; der Zustand ihres Kopfes am nächsten Tag hatte sie wohl unwiderruflich davon geheilt. Nun war ihr klar, wieso sich das Mädchen Thom gegenüber so verhielt. Sie hatte zu Hause an den Zwei Flüssen ein paarmal Ähnliches beobachtet. Ein Mädchen, das gerade alt genug war, um sich selbst als Frau zu fühlen. An wem sonst konnte sie sich messen als an ihrer Mutter? Mit wem sonst konnte sie in Wettbewerb treten, um zu beweisen, daß sie eine Frau war? Gewöhnlich führte das höchstens dazu, daß sie versuchte, alles besser zu machen, vom Kochen bis zum Nähen, oder daß sie auf harmlose Art mit ihrem Vater flirtete, aber im Falle einer Witwe hatte Nynaeve zusehen müssen, wie sich die beinahe erwachsene Tochter zum Narren machte, als sie versuchte; sich den Mann zu angeln, den ihre Mutter heiraten wollte. Das Problem war, daß Nynaeve keine Ahnung hatte, was sie gegen Elaynes Torheit unternehmen solle. Trotz ernsthafter Mahnungen und noch mehr aus dem Frauenzirkel, hatte sich Sari Ayellin nicht beruhigt, bis schließlich ihre Mutter wieder verheiratet war und sie selbst ebenfalls einen Ehemann gefunden hatte.
»Ich schätze, er muß wie ein zweiter Vater für dich gewesen sein«, sagte Nynaeve rücksichtsvoll. Sie tat so, als konzentriere sie sich auf das Packen. So hatte jedenfalls Thom das Mädchen auch betrachtet. Und das erklärte soviel.
»Ich betrachte ihn aber nicht als solchen.« Elayne schien zu überlegen, wie viele Seidenhemden sie mitnehmen solle, doch sie blickte traurig drein. »Ich kann mich an meinen Vater wirklich nicht mehr erinnern. Ich war nur ein Baby, als er starb. Gawyn sagt, daß er sich die ganze Zeit mit Galad beschäftigte. Lini versuchte, das Beste daraus zu machen, aber ich weiß, daß er niemals ins Kinderzimmer kam, um Gawyn und mich zu besuchen. Ich weiß, er hätte das getan, wenn wir alt genug gewesen wären, daß er uns hätte unterrichten können, so wie Galad. Aber er starb, bevor das der Fall war.«
Nynaeve probierte es noch einmal: »Zumindest ist Thom für einen Mann in seinem Alter körperlich sehr gut beieinander. Wir wären ganz schön in der Klemme, wenn er bereits unter steifen Gelenken litte. Das ist doch oft bei alten Männern der Fall.«
»Er könnte immer noch einen Überschlag rückwärts machen, wenn nicht sein Hinken wäre. Und mir ist es gleich, ob er hinkt oder nicht. Er ist intelligent und weltgewandt und kennt sich überall gut aus. Er ist auch sanftmütig, und ich fühle mich ziemlich sicher bei ihm. Ich glaube aber nicht, daß ich ihm das sagen sollte. Er versucht auch so schon genug, mich zu beschützen.«
Seufzend gab Nynaeve auf. Jedenfalls für den Augenblick. Thom mochte ja Elayne als Tochter betrachten, aber wenn das Mädchen so weitermachte, würde er sich vielleicht irgendwann daran erinnern, daß sie das nicht war, und dann saß Elayne im Einmachglas. »Thom mag dich sehr gern, Elayne.« Zeit, das Thema zu wechseln. »Bist du sicher in bezug auf Galad? Elayne? Bist du sicher, daß uns Galad vielleicht ausliefert?«
Die andere fuhr zusammen, und die Falten auf ihrer Stirn verschwanden. »Was? Galad? Ich bin ganz sicher, Nynaeve. Und wenn er erfährt, daß wir nicht vorhaben, uns von ihm nach Caemlyn bringen zu lassen, wird ihm das diese Entscheidung nur noch erleichtern.«
Nynaeve knurrte etwas in sich hinein und zog ein seidenes Reitkleid aus ihrem Koffer. Manchmal glaubte sie, der Schöpfer habe die Männer nur erschaffen, um den Frauen Schwierigkeiten zu bereiten.