52 Entscheidungen

Rand legte sein Rasiermesser beiseite, wischte sich die letzten Schaumfetzen vom Gesicht und begann, sein Hemd zuzubinden. Frühmorgendlicher Sonnenschein drang durch die rechteckigen Fensteröffnungen zum Schlafzimmerbalkon. Man hatte wohl die schweren Wintervorhänge aufgehängt, sie aber zurückgebunden, um einen frischen Lufthauch hereinzulassen. Er wollte einen ordentlichen Eindruck machen, wenn er Rahvin tötete. Dieser Gedanke löste eine Zornblase in seinem Inneren. Sie schwebte aus seinem Bauch heraus nach oben. Er unterdrückte sie wieder. Er würde gepflegt und ruhig wirken. Kalt. Keine Fehler.

Als er sich von dem Spiegel mit dem Goldrand abwandte, setzte sich Aviendha auf ihrer vor der Wand aufgerollten Bettunterlage auf. Über ihr hing ein Gobelin, auf dem unglaublich hohe, goldene Türme aufragten. Er hatte ihr angeboten, ein weiteres Bett im Zimmer aufstellen zu lassen, doch sie behauptete, Matratzen seinen zu weich, um darauf zu schlafen. Sie beobachtete ihn eindringlich. Ihr Hemd hielt sie geistesabwesend in der Hand. Er hatte extra darauf geachtet, sich beim Rasieren nicht zu ihr umzudrehen, um ihr Zeit zum Anziehen zu geben, doch von ihren weißen Strümpfen abgesehen, trug sie keinen Fetzen am Körper.

»Ich würde dich nie vor anderen Menschen beschämen«, sagte sie mit einemmal.

»Mich beschämen? Was meinst du damit?«

Sie stand mit einer geschmeidigen Bewegung auf, überraschend bleich, wo die Sonne ihren Körper nicht berührt hatte, schlank und doch mit harten Muskeln, aber auch wieder an den richtigen Stellen rund und weiblich sanft. Das machte ihm sogar noch im Traum zu schaffen. Dies war jetzt das erste Mal, daß er sich erlaubte, sie ganz offen zu mustern, wenn sie sich so zur Schau stellte, doch sie schien sich dessen gar nicht bewußt zu sein. Diese großen, blaugrünen Augen blickten geradewegs in die seinen. »Ich habe damals, an diesem ersten Tag, Sulin nicht darum gebeten, Enaila oder Somara oder Lamelle mitzunehmen. Genausowenig habe ich sie darum gebeten, auf dich achtzugeben oder etwas zu unternehmen, solltest du ins Straucheln kommen. Das geschah nur aus ihrer eigenen Sorge um dich heraus.«

»Du hast mich lediglich im Glauben gelassen, sie würden versuchen, mich wie ein Kind wegzutragen, falls ich einmal wankte. Ein feiner Unterschied.«

Sein Sarkasmus kam bei ihr nicht an. »Das hat dich dazu gebracht, vorsichtig zu handeln, als es notwendig war.«

»Tatsächlich«, stellte er trocken fest. »Nun, auf jeden Fall danke ich dir für das Versprechen, mich nicht zu beschämen.«

Sie lächelte. »Das habe ich nicht gesagt, Rand al'Thor. Ich sagte: nicht vor anderen Menschen. Falls es zu deinem Besten notwendig sein sollte...« Ihr Lächeln wurde breiter.

»Willst du so mitkommen?« Er deutete gereizt auf sie, wobei er sie von Kopf bis Fuß musterte.

Sie hatte noch nie auch nur die geringste Verlegenheit an den Tag gelegt, wenn sie nackt vor ihm stand — ganz gewiß nicht —, doch nun blickte sie an sich hinunter, dann sah sie ihn an, wie er dastand und sie musterte, und nun lief ihr Gesicht rot an. Plötzlich stand sie inmitten eines Wirbelsturms aus dunkelbrauner Wolle und weißer Algode und steckte so schnell in ihren Kleidern, daß er versucht war, zu glauben, sie hätte sie mit Hilfe der Macht angelegt. »Hast du alles vorbereitet?« fragte sie mittendrin. »Hast du mit den Weisen Frauen gesprochen? Du warst gestern abend weg. Wer kommt sonst noch mit uns? Wie viele kannst du überhaupt mitnehmen? Keine Feuchtländer, hoffe ich. Denen kannst du nicht trauen. Besonders den Baummördern nicht. Kannst du uns wirklich in einer Stunde nach Caemlyn bringen? Ist das so wie das, was ich damals in jener Nacht... ? Ich will damit sagen, also, wie stellst du das an? Es gefällt mir nicht, mich Dingen anzuvertrauen, die ich nicht kenne und nicht verstehe.«

»Alles ist vorbereitet, Aviendha.« Warum plapperte sie so drauflos? Und mied jeden Blick in seine Augen? Er hatte sich mit Rhuarc und den anderen Häuptlingen getroffen, soweit sie sich noch in der Nähe der Stadt aufhielten. Sein Plan hatte ihnen nicht unbedingt gefallen, aber sie sahen es vom Standpunkt des Ji'e'toh aus, und keiner von ihnen glaubte, er habe eine andere Wahl. Sie besprachen schnell alles, einigten sich, und dann wandte sich das Gespräch anderen Themen zu. Nichts, was mit Verlorenen oder Illian oder irgendwelchen Kämpfen zu tun gehabt hätte. Frauen, die Jagd, ob man den Branntwein aus Cairhien mit ihrem eigenen Oosquai vergleichen könne oder den Tabak der Feuchtländer mit dem, den sie in der Wüste anpflanzten. Eine Stunde lang hatte er fast vergessen gehabt, was ihm bevorstand. Er hoffte so sehr, daß sich die Prophezeiung von Rhuidean als falsch herausstellen würde, daß er diese Menschen nicht vernichten werde, wie es geschrieben stand. Dann kamen die Weisen Frauen zu ihm, eine Delegation von mehr als fünfzig Mitgliedern, die Aviendha aufgescheucht hatte, angeführt von Amys und Melaine und Bair, vielleicht aber auch von Sorilea. Bei den Weisen Frauen war es immer schwer, festzustellen, wer gerade die Führungsrolle innehatte. Sie waren nicht gekommen, um ihm etwas auszureden — Ji'e'toh wiederum —, sondern um ihm klarzumachen, daß seine Verpflichtung Elayne gegenüber nicht schwerer wog als die den Aiel gegenüber, und sie hatten ihn im Besprechungszimmer festgenagelt, bis sie zufriedengestellt waren. Wenn nicht, hätte er sie schon einzeln hochheben und aus dem Weg schleppen müssen, um bis zur Tür zu kommen. Wenn sie wollten, beherrschten es diese Frauen genausogut wie Egwene, nichts zu beachten, nicht einmal sein wütendes Brüllen. »Wir werden schon sehen, wie viele ich mitnehmen kann, wenn ich es versuche. Nur Aiel.« Mit etwas Glück würden Meilan und Maringil und die anderen überhaupt nichts bemerken, bis er längst weg war. Wenn die Burg schon ihre Spione in Cairhien sitzen hatte, dann möglicherweise auch die Verlorenen, und wie konnte er Menschen Geheimnisse anvertrauen, die nicht einmal die Sonne aufgehen sehen konnten, ohne diese Tatsache für Daes Dae'mar auszunutzen?

Als er sich endlich in einen roten, mit Gold bestickten Kurzmantel gezwängt hatte, dessen feine Qualität auch in einen Königspalast gepaßt hätte, sowohl in Caemlyn wie in Cairhien — dieser Gedanke bereitete ihm eine Art von morbidem Vergnügen —, als er also fertig angezogen war, war auch Aviendha fast fertig. Er staunte nur so darüber, wie sie sich so schnell hatte anziehen können, ohne irgend etwas zu verwechseln. »Gestern abend, während du abwesend warst, kam eine Frau.«

Licht! Er hatte Colavaere vollkommen vergessen. »Was hast du getan?«

Sie hielt im Zubinden ihrer Bluse inne und bemühte sich, mit Blicken ein Loch in seinen Kopf zu bohren, doch sie sprach im Plauderton weiter: »Ich habe sie in ihre eigenen Gemächer zurückbegleitet, wo wir uns eine Weile lang unterhielten. Künftig werden dir keine weiteren Baummörderflittchen mehr die Schlafzimmertür einrennen, Rand al'Thor.«

»Genau das, was ich erreichen wollte, Aviendha! Licht! Hast du sie schlimm zugerichtet? Du kannst nicht herumlaufen und so einfach Ladies verprügeln. Diese Leute machen mir schon genug Schwierigkeiten, ohne daß du sie noch mehr gegen mich aufbringst.«

Sie schnaubte vernehmlich und wandte sich wieder den Bändern an ihrer Bluse zu. »Ladies! Eine Frau ist eine Frau, Rand al'Thor. Außer, sie wäre eine Weise Frau«, fügte sie noch einschränkend hinzu. »Diese hier wird heute morgen Schwierigkeiten mit dem Sitzen haben, doch ihre Schwellungen kann sie gut verbergen, und wenn sie sich einen Tag lang ausruht, wird sie ihre Gemächer auch wieder verlassen können. Und sie weiß jetzt, wie sie dran ist. Ich sagte ihr, wenn sie dir noch einmal Unannehmlichkeiten bereite — gleich welche —, würde ich kommen und erneut mit ihr sprechen. Ein viel längeres Gespräch. Sie wird tun, was du sagst und wann immer du willst. Andere werden ihrem Beispiel folgen. Die Baummörder verstehen nichts anderes.«

Rand seufzte. Das war keine Methode, wie er sie vorgezogen hätte, aber sie könnte wirklich funktionieren. Oder aber Colavaere und die anderen würden von nun an noch heimlicher und hinterhältiger intrigieren. Aviendha machte sich vielleicht keine Sorgen in bezug auf Rachemaßnahmen ihr selbst gegenüber; er wäre überrascht gewesen, hätte sie diese Möglichkeit überhaupt in Betracht gezogen. Doch eine Frau, die den Hochsitz eines mächtigen Adelshauses repräsentierte, war nicht das gleiche wie eine junge Adlige von niederem Rang. Wie sich ihre Handlungsweise auch auf ihn auswirken mochte: Aviendha könnte sehr wohl erleben, daß sie in einem düsteren Flur überfallen würde und man ihr zehnfach heimzahlte, was sie Colavaere getan hatte, wenn nicht noch Schlimmeres. »Laß mich das nächstemal die Dinge auf meine Art erledigen. Ich bin der Car'a'carn, hast du das vergessen?«

»Du hast Rasierschaum auf dem Ohr, Rand al'Thor.«

Er knurrte in sich hinein, schnappte sich das gestreifte Handtuch und schrie: »Herein!«, da es an die Tür geklopft hatte.

Asmodean trat ein, weiße Spitzen am Hals und an den Manschetten seines schwarzen Rocks, den Harfenkoffer auf dem Rücken und ein Schwert an der Seite. Der Kühle seines Gesichtsausdrucks nach mochte Winter herrschen, doch seine dunklen Augen blickten mißtrauisch drein.

»Was wollt Ihr, Natael?« fragte Rand gereizt. »Ich habe Euch gestern abend Eure Anweisungen gegeben.«

Asmodean befeuchtete seine Lippen und warf Aviendha einen kurzen Blick zu. Sie hatte die Stirn gerunzelt. »Weise Befehle, ja. Ich glaube auch, ich könnte etwas zu Eurem Vorteil in Erfahrung bringen, wenn ich hierbliebe, um alles zu beobachten, aber heute morgen dreht sich das Tagesgespräch um die Schreie, die man letzte Nacht aus den Gemächern Lady Colavaeres hörte. Man sagt, sie habe Euch erzürnt, aber niemand weiß, wie und warum. Diese Unsicherheit bringt alle dazu, heute einen Bogen um Euch zu machen. Ich glaube fast, in den nächsten Tagen wird es keiner mehr wagen, auch nur laut zu atmen, aus Angst, was Ihr davon halten könntet.« Aviendhas Miene war ein Urbild unverschämter Selbstzufriedenheit.

»Also wollt Ihr mitkommen?« fragte Rand leise. »Ihr wollt hinter mir stehen, wenn ich Rahvin gegenübertrete?«

»Welcher Ort wäre besser für den Barden des Lord Drachen geeignet? Aber vielleicht sollte ich mich da aufhalten, wo Ihr mich immer im Auge habt? Wo ich meine Loyalität unter Beweis stellen kann. Ich bin nicht stark.« Asmodeans traurige Grimasse schien natürlich für einen Mann, der so etwas zugab, doch einen Moment lang fühlte Rand, wie der Mann von Saidin durchströmt wurde, fühlte den Makel, und der war es, der Asmodean sein Gesicht so hatte verziehen lassen. Es war nur ein Augenblick gewesen, doch der reichte ihm, um es zu beurteilen. Sollte Asmodean alle Macht an sich gezogen haben, die er in seinem Zustand beherrschen konnte, würde er nur unter größten Schwierigkeiten einer der Weisen Frauen widerstehen können, die mit der Macht umgehen konnten. »Nicht stark, aber vielleicht kann auch eine Kleinigkeit helfen.«

Rand wünschte, er könne die Abschirmung sehen, die Lanfear gewoben hatte. Sie hatte behauptet, sie werde sich mit der Zeit auflösen, aber Asmodean schien jetzt keineswegs besser in der Lage, die Macht zu lenken, als am ersten Tag, den er sich in Rands Hand befunden hatte. Vielleicht hatte sie gelogen, um Asmodean trügerische Hoffnung zu bereiten, und um Rand glauben zu lassen, der Mann werde stark genug und könne ihn mehr lehren, als er tatsächlich konnte. Das würde ihr ähnlich sehen. Er wußte nicht genau, ob dieser Gedanke von ihm oder von Lews Therin stammte, doch er war sich sicher, daß es stimmte.

Die lange Pause machte Asmodean so nervös, daß er sich wieder die Lippen lecken mußte. »Ein oder zwei Tage hier spielen keine Rolle. Dann seid Ihr sowieso entweder zurück oder tot. Laßt mich meine Loyalität beweisen. Vielleicht kann ich etwas tun. Ein Hauch mehr Gewicht auf Eurer Seite könnte den Ausschlag für Euch geben.« Noch einmal floß Saidin in ihn, wenn auch wieder nur einen Moment lang. Rand spürte, wie er sich anstrengte, doch es blieb bei einem dünnen Rinnsal. »Ihr wißt ja, welche Wahl ich habe. Ich hänge an jenem Grasbüschel am Rande des Abgrunds und bete darum, daß es noch einen Herzschlag länger halten möge. Scheitert Ihr, bin ich schlimmer dran als nur einfach tot. Ich muß dafür sorgen, daß Ihr gewinnt und überlebt.« Plötzlich fiel ihm Aviendha wieder auf, und ihm schien bewußt zu werden, daß er möglicherweise zuviel gesagt hatte. Sein Lachen klang ziemlich hohl. »Wie könnte ich sonst Lieder zum Ruhm des Lord Drachen komponieren? Ein Barde braucht Material, das er verarbeiten kann.« Äußerlich machte sich die Hitze bei Asmodean nie bemerkbar. Er behauptete, das liege an seiner geistigen Einstellung und nicht am Gebrauch der Macht. Jetzt rannen ihm jedoch Schweißtropfen über die Stirn.

Unter seinen Augen oder lieber zurücklassen? Vielleicht würde er sich irgendein Versteck suchen, wenn er sich zu fragen begann, was in Caemlyn geschehen sei? Asmodean würde immer derselbe Mann bleiben, bis er starb und wiedergeboren wurde, und vielleicht sogar noch danach. »Unter meinen Augen«, sagte Rand leise. »Und falls ich auch nur vermute, jener Hauch könne die Wagschale zur falschen Seite hin neigen... «

»Ich setze mein ganzes Vertrauen in die Gnade des Lord Drachen«, murmelte Asmodean, wobei er sich verbeugte. »Mit Erlaubnis des Lord Drachen werde ich draußen warten.«

Rand sah sich im Zimmer um, während der Mann rückwärts und unter weiteren Verbeugungen hinausging. Sein Schwert lag auf der goldbeschlagenen Truhe am Fuß des Bettes. Der Schwertgürtel mit der Drachenschnalle war gleichzeitig um die Scheide und den Seanchan-Kurzspeer gewickelt. Heute würde nicht durch Stahl getötet werden, jedenfalls nicht, was ihn betraf. Er berührte seine Manteltasche und spürte den harten Umriß der Skulptur des fetten, kleinen Mannes mit dem Schwert. Das war das einzige Schwert, das er heute benötigen würde. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er ein Tor nach Tear Öffnen und benutzen sollte, um Callandor zu holen, oder ob er vielleicht sogar nach Khuidean gehen sollte um das mitzunehmen, was dort verborgen lag. Mit beidem könnte er Rahvin vernichten, bevor der Mann überhaupt etwas von seiner Anwesenheit ahnte. Er konnte sogar Caemlyn mit jedem der zwei Dinge zerstören. Doch konnte er sich selbst vertrauen? Soviel Macht. Soviel der Einen Macht. Saidin hing dort draußen, gerade außerhalb seiner Sicht. Das Verderben Saidins schien bereits ein Teil seiner selbst zu sein. Der Zorn wütete direkt unter der Oberfläche, Zorn auf Rahvin, Zorn auf sich selbst. Falls er ihm freien Lauf ließ und auch nur Callandor in Händen hielt... Was würde er tun? Er wäre unbesiegbar. Mit Hilfe des anderen könnte er sogar direkt zum Shayol Ghul gehen und allem ein Ende bereiten, so oder so. So oder so. Nein. Er befand sich ja nicht allein in dieser Lage. Er konnte sich nichts anderes als einen Sieg leisten.

»Die Welt ruht auf meinen Schultern«, murmelte er. Plötzlich jaulte er kurz und klatschte mit der Hand auf seine linke Pobacke. Er hatte das Gefühl, von einer Nadel gestochen worden zu sein, aber er mußte nicht einmal die Gänsehaut an seinen Armen sehen, um zu wissen, was geschehen war. »Wofür war das?« grollte er Aviendha an.

»Ich wollte nur sehen, ob der Lord Drache immer noch aus Fleisch und Blut besteht wie wir anderen Sterblichen.«

»Allerdings«, sagte er undeutlich und griff nach Saidin — all diese Süße, all dieser Schmutz —, und zwar gerade lange genug, um die Macht kurz einzusetzen.

Sie riß die Augen auf, zuckte aber nicht zusammen. Sie sah ihn nur an, als sei gar nichts geschehen. Trotzdem — als sie durch den Vorraum schritten, rieb sie sich heimlich den Po, weil sie glaubte, er blicke weg. Also bestand auch sie aus gewöhnlichem Fleisch und Blut. Seng mich. Ich glaubte doch, ich hätte ihr Manieren beigebracht.

Er zog die Tür auf, trat hinaus und stand staunend da. Mat stützte sich auf seinen eigenartigen Speer. Die breite Krempe seines Huts hatte er weit herabgezogen. Unweit von ihm stand Asmodean. Doch das war es nicht, was Rand so verblüffte. Es waren keine Töchter des Speers zu sehen. Er hätte ja wissen müssen, daß etwas nicht stimmte, als Asmodean unangekündigt hereingekommen war. Aviendha blickte sich erstaunt um, als glaube sie, die anderen hätten sich hinter den Wandbehängen versteckt.

»Melindhra hat letzte Nacht versucht, mich umzubringen«, sagte Mat, und Rand hörte auf, sich über die abwesenden Töchter Gedanken zu machen. »Eine Minute zuvor unterhielten wir uns noch, und in der nächsten tat sie ihr Bestes, mir den Kopf abzutreten.«

Mat berichtete in kurzen, präzisen Sätzen. Von dem Dolch mit den goldenen Bienen. Seine Folgerungen daraus. Er schloß die Augen, als er erzählte, wie alles ausgegangen sei — ein knappes, nüchternes: »Ich habe sie getötet« —, und dann öffnete er sie schnell wieder, als habe er hinter den Augenlidern Dinge gesehen, die er nicht sehen wollte.

»Es tut mir so leid, daß du das tun mußtest«, sagte Rand leise, worauf Mat niedergeschlagen die Achseln zuckte.

»Besser sie als ich, schätze ich. Sie gehörte zu den Schattenfreunden.« Es klang bei ihm nicht, als sei das ein großer Unterschied.

»Ich werde Sammael zur Strecke bringen. Sobald ich darauf vorbereitet bin.«

»Und wie viele sind dann noch übrig?«

»Die Verlorenen befinden sich nicht hier«, fauchte Aviendha. »Genausowenig wie die Töchter des Speers. Wo sind sie? Was hast du getan, Rand al'Thor?«

»Ich? Als ich gestern abend ins Bett ging, standen zwanzig von ihnen vor meiner Tür. Seither habe ich keine mehr gesehen.«

»Vielleicht liegt es an dem, was Mat...«, begann Asmodean, aber er schwieg, als ihn Mat anblickte, soviel Anspannung und Schmerz und Aggressivität lagen in diesem Blick.

»Seid keine Narren«, sagte Aviendha mit fester Stimme. »Die Far Dareis Mai würden daraus keinesfalls ein Toh gegen Mat Cauthon machen. Sie versuchte, ihn zu töten, und er tötete sie. Selbst Nächstschwestern würden in diesem Falle nichts unternehmen, falls sie welche gehabt hätte. Und niemand würde ein Toh gegen Rand al'Thor in Anspruch nehmen für das, was ein anderer getan hat, es sei denn, er hätte es befohlen. Du hast aber etwas getan, Rand al'Thor, etwas Großes und Schlimmes, sonst wären sie jetzt hier.«

»Ich habe überhaupt nichts getan«, erwiderte er in scharfem Ton. »Und ich habe auch nicht vor, hier stehenzubleiben und zu diskutieren. Bist du für den Ritt nach Süden fertig angezogen, Mat?«

Mat steckte eine Hand in seine Rocktasche und tastete nach etwas. Für gewöhnlich bewahrte er seine Würfel und den Würfelbecher dort auf. »Caemlyn. Ich habe es satt, immer wieder hinterrücks überfallen zu werden. Zur Abwechslung möchte ich mich einmal an jemanden anders von hinten anschleichen. Ich hoffe nur, ich ernte ein Lob dafür und keine verdammten Blumen«, fügte er noch hinzu und verzog das Gesicht.

Rand fragte nicht, was er damit meine. Ein anderer Ta'veren. Zwei gemeinsam könnten vielleicht sogar den Zufall beeinflussen. Keine Ahnung, auf welche Weise und ob überhaupt, aber... »Also scheint es, daß wir noch ein wenig länger zusammenbleiben.« Mat sah aus, als habe er sich in sein Schicksal ergeben.

Kaum hatten sie sich in dem mit Wandbehängen geschmückten Korridor in Bewegung gesetzt, tauchten auch schon Moiraine und Egwene auf, die nebeneinander herschritten, als stehe ihnen an diesem Tag höchstens ein Spaziergang in einem der Gärten bevor.

Egwene, mit kühlem Blick, gelassen, den goldenen Ring mit der Großen Schlange am Finger, hätte wirklich eine Aes Sedai sein können, trotz ihrer Aielkleidung, des Schals und des zusammengerollten Tuchs um ihre Stirn, Moiraine jedoch... Goldfäden glitzerten im Lampenschein, eingewebt in die blauschimmernde Seide von Moiraines langem Kleid. Der kleine blaue Edelstein auf ihrer Stirn, dessen Goldkettchen in ihren schwarzen Locken befestigt war, glitzerte genauso strahlend wie die großen, mit Gold eingefaßten Saphire, die sie um den Hals trug. Kaum die richtige Kleidung für das, was sie vorhatten, aber Rand in seinem prunkvollen roten Mantel konnte sich wohl auch nicht darüber beklagen.

Vielleicht lag es daran, daß sie sich hier aufhielt, wo das Haus Damodred einst den Sonnenthron innegehabt hatte, jedenfalls wirkte Moiraines elegante Haltung noch edler, als er sie je erlebt hatte. Nicht einmal die überraschende Anwesenheit ›Jasin Nataels‹ störte diese königliche Würde im geringsten, aber es überraschte dann doch, als sie Mat ein warmes Lächeln schenkte. »Also kommt Ihr auch mit, Mat. Lernt, dem Muster zu vertrauen. Vergeudet Eure Leben nicht, indem Ihr versucht, zu ändern, was nicht zu ändern ist.« An Mats Gesicht konnte man ablesen, daß er mittlerweile bereute, überhaupt hierzusein, aber die Aes Sedai wandte sich ungerührt von ihm ab. »Die sind für Euch, Rand.«

»Weitere Briefe?« fragte er. Auf dem einen stand sein Name in einer eleganten Handschrift, die er augenblicklich erkannte. »Von Euch, Moiraine?« Auf dem anderen stand Thom Merrilins Name. Beide hatte sie mit blauem Wachs versiegelt, offensichtlich mit ihrem Großen Schlangenring, denn aufgeprägt war das Bild einer Schlange, die in den eigenen Schwanz biß. »Warum schreibt Ihr mir einen Brief? Und noch dazu versiegelt? Ihr seid doch nie davor zurückgeschreckt, mir ins Gesicht zu sagen, was immer Ihr mir sagen wolltet. Und falls ich das je vergesse, hat mich Aviendha daran erinnert, daß auch ich nur aus Fleisch und Blut bestehe.«

»Ihr habt Euch sehr verändert, seit ich Euch zum erstenmal als Junge vor der Weinquellenschenke sah.« Ihre Stimme klang wie das leise Klingeln kleiner Silberglöckchen. »Ihr seid kaum noch der selbe. Ich hoffe nur, Ihr habt Euch in genügendem Maße verändert.«

Egwene murmelte leise etwas vor sich hin. Rand glaubte zu verstehen: »Ich hoffe, du hast dich nicht zu stark verändert.« Sie blickte mit gerunzelter Stirn die Briefe an, als frage auch sie sich, was darin stehen mochte. Genau wie Aviendha.

Moiraine fuhr etwas gelöster, wenn auch knapp, fort: »Siegel bewahren die Privatsphäre. In diesem hier stehen Dinge, von denen ich mir wünsche, daß Ihr über sie nachdenkt. Nicht jetzt gleich, sondern wann immer Euch Zeit zum Nachdenken bleibt. Was den Brief an Thom betrifft, wüßte ich keine besseren Hände als Eure, in die ich ihn legen könnte. Gebt ihn ihm, wenn Ihr ihn wiederseht. So, und nun gibt es etwas im Hafen, das Ihr sehen müßt.«

»Im Hafen?« fragte Rand nach. »Moiraine, ausgerechnet an diesem einen Morgen habe ich keine Zeit, um... «

Doch sie schritt bereits den Korridor entlang, als sei sie ganz sicher, daß er ihr folgen werde. »Ich habe Pferde bereitstellen lassen. Auch eins für Euch, Mat, für den Fall der Fälle.« Egwene zögerte nur einen Moment, und dann folgte sie ihr.

Rand öffnete den Mund, um Moiraine zurückzurufen. Sie hatte geschworen, ihm zu gehorchen. Was sie ihm auch zeigen wollte, es konnte doch wohl warten.

»Was kann eine Stunde schon ausmachen?« murrte Mat. Vielleicht überlegte er es sich doch noch?

»Es wäre nicht schlecht, wenn man Euch heute morgen in der Stadt sieht«, warf Asmodean ein. »Es könnte sein, daß Rahvin Bescheid weiß, sobald Ihr etwas unternehmt. Falls er einen Verdacht hegt — er könnte ja Spione haben, die an Schlüssellöchern lauschen —, würde sie das für heute beruhigen.«

Rand sah Aviendha an. »Bist du der gleichen Meinung?«

»Ich bin der Meinung, du solltest auf Moiraine Sedai hören. Nur Narren mißachten das Wort einer Aes Sedai.«

»Was kann denn im Hafen sein, das wichtiger als Rahvin wäre?« grollte er und schüttelte den Kopf. Es gab eine Redensart an den Zwei Flüssen, die allerdings kein Mann in Gegenwart von Frauen gebrauchen würde: ›Der Schöpfer schuf die Frau, um dem Auge zu gefallen und den Verstand zu trüben.‹ In gewisser Hinsicht unterschieden sich die Aes Sedai auch nicht von anderen Frauen. »Eine Stunde.«

Die Sonne stand noch nicht hoch genug am Himmel, und so lag der lange Schatten der Stadtmauer über dem gepflasterten Kai, auf dem die Kolonne von Kaderes Wagen stand. Trotzdem wischte er sich bereits mit einem großen Taschentuch das Gesicht ab. Es lag nur teilweise an der Hitze, daß er so schwitzte. Hohe graue Flankenmauern schoben sich zu beiden Seiten der Hafenanlagen in den Fluß hinaus und machten den Kai zum Inneren einer düsteren Schachtel. Er war mittendrin gefangen. Hier hatten ausschließlich breite, am Bug abgerundete Getreidekähne angelegt, und weitere warteten am Fluß vor Anker darauf, daß sie an die Reihe kämen und ihre Ladung löschen konnten. Er hatte schon überlegt, ob er sich auf einen davon schleichen solle, wenn er ablegte, aber das hätte bedeutet, das meiste von dem zurückzulassen, was er noch besaß. Wenn er allerdings glaubte, am Ende der langsamen Fahrt flußabwärts erwarte ihn etwas anderes als sein Tod, wäre er das Risiko eingegangen. Lanfear war ihm nicht wieder im Traum erschienen, aber er hatte ja die Brandnarben auf der Brust, die ihn an ihre Befehle erinnerten. Nur der bloße Gedanke daran, einer der Verlorenen den Gehorsam zu verweigern, ließ ihn schaudern, obwohl ihm der Schweiß über das Gesicht lief.

Wenn er nur wüßte, wem er vertrauen konnte, soweit es überhaupt möglich war, einem der anderen Schattenfreunde zu vertrauen. Der letzte seiner Fahrer, der ebenfalls die Eide abgelegt hatte, war vor zwei Tagen verschwunden, vermutlich mit einem der Getreidekähne. Er wußte immer noch nicht, welche Aielfrau ihm diesen Zettel unter der Tür durchgeschoben hatte: ›Ihr seid nicht allein unter Fremden. Ein Weg wurde auserwählt.‹ Er hatte allerdings mehrere mögliche Kandidaten. Auf den Kais traf man beinahe genausoviele Aiel wie Schauerleute. Sie kamen, um den Fluß zu betrachten. Ein paar dieser Gesichter hatte er häufiger erblickt, als ihm unter den Umständen normal erschien, und ein paar hatten ihn abschätzend gemustert. Auch ein paar der Leute aus Cairhien und sogar ein tairenischer Lord. Das hatte natürlich nicht unbedingt etwas zu bedeuten, aber falls er ein paar Männer auftrieb, mit denen er zusammenarbeiten konnte...

Eine Gruppe Berittener tauchte unter einem der Tore auf. Moiraine und Rand al'Thor führten sie zusammen mit dem Behüter der Aes Sedai an, als sie sich den Weg zwischen den Karren hindurch suchten, mit denen man die Getreidesäcke in die Lagerhäuser schaffte. Eine Welle des Jubels begleitete sie.

»Aller Ruhm dem Lord Drachen!« schrien sie, und »Heil dem Lord Drachen!«, und hin und wieder hörte man auch ein »Ehre dem Lord Matrim! Hoch lebe die Rote Hand!«

Ausnahmsweise wandte sich diesmal die Aes Sedai dem Ende der Wagenreihe zu, ohne Kadere auch nur eines Blickes zu würdigen. Das war ihm gerade recht. Selbst wenn sie keine Aes Sedai gewesen wäre, selbst wenn sie ihn nicht so durchdringend anblickte, als kenne sie jede dunkle Regung seines Verstands, war es ihm lieber, wenn er einige der Gegenstände nicht näher betrachten mußte, mit denen sie seine Wagen beladen hatte. Gestern abend hatte sie ihn die Plane von diesem seltsam verdrehten Sandstein-Türrahmen entfernen lassen, der im Wagen gleich hinter seinem eigenen stand. Sie schien ein perverses Vergnügen dabei zu empfinden, wenn sie gerade ihn beauftragte, ihr zu helfen, damit sie irgend etwas genauer untersuchen konnte. Er hätte das Ding ja wieder zugedeckt, konnte aber einfach nicht ertragen, noch mal in seine Nähe zu kommen. Er brachte auch keinen der Fahrer dazu, die Plane wieder darüberzuziehen. Keiner von denen, die sich nun bei ihm befanden, hatte gesehen, wie Herid in Rhuidean zur Hälfte hineingefallen war und wie diese Körperhälfte einfach verschwand. Herid war auch der erste gewesen, der geflohen war, sobald sie den Jangai überquert hatten. Seit der Behüter ihn zurückgerissen hatte, war er nicht mehr ganz richtig im Kopf gewesen. Jedenfalls sahen eben auch die Fahrer, wie die Kanten dieses verfluchten Dinges nicht aneinanderpaßten und daß man der Linie des Rahmens nicht mit dem Blick folgen konnte, ohne daß einem die Augen tränten und man schwindlig wurde.

Kadere ignorierte die ersten drei Reiter, so, wie ihn die Aes Sedai ignoriert hatte, und Mat Cauthon schenkte er fast ebensowenig Beachtung. Der Mann trug seinen Hut. Er hatte keinen Ersatz dafür auftreiben können. Das Aielweib, diese Aviendha, ritt hinter dem Sattel der jungen Aes Sedai mit. Beide hatten die Röcke hochgeschoben, um ihre Beine vorzuführen. Hätte er noch eine Bestätigung gebraucht, daß die Aielfrau mit al'Thor ins Bett ging, dann mußte er nur darauf achten, wie sie ihn anblickte. Eine Frau, die mit einem Mann ins Bett gegangen war, sah ihn danach immer mit einem gewissen Besitzerstolz im Blick an. Noch wichtiger: Natael befand sich bei ihnen. Es war das erste Mal seit der Überquerung des Rückgrats der Welt, daß Kadere ihm so nahe war. Natael, der einen hohen Rang bei den Schattenfreunden bekleidete. Wenn er an den Töchtern des Speers vorbeikommen könnte, um mit Natael zu...

Plötzlich riß Kadere die Augen auf. Wo blieben denn die Töchter? Al'Thor hatte doch immer eine Eskorte von speerbewaffneten Frauen dabei. Mit gerunzelter Stirn nahm er zur Kenntnis, daß sich unter den Aiel auf dem Kai oder im Hafen keine einzige Tochter des Speers befand.

»Willst du eine alte Freundin nicht anschauen, Hadnan?«

Der Klang dieser melodiösen Stimme ließ Kadere herumfahren. Er gaffte eine Hakennase an und dunkle Augen, die beinahe unter Fettwülsten verschwanden. »Keille?« Das war unmöglich. Keiner außer den Aiel überlebte allein in der Wüste. Sie mußte doch tot sein. Aber da stand sie vor ihm. Wie immer spannte sich das weiße Seidenkleid um ihren massigen Körper, und in ihren dunklen Locken steckten hohe Elfenbeinkämme.

Mit einem leichten Lächeln um die Lippen und einer Grazie der Bewegung, die ihn an einer so grobschlächtigen Frau immer wieder überraschte, wandte sie sich um und schritt leichtfüßig die Treppe zu seinem Wohnwagen hinauf.

Er zögerte einen Augenblick und eilte ihr dann hinterher. Es wäre ihm wohl genauso lieb gewesen, wäre Keille Shaogi wirklich in der Wüste ums Leben gekommen, denn die Frau war herrschsüchtig und übelgelaunt — sie sollte ja nicht glauben, er werde ihr auch nur einen Pfennig von dem wenigen abgeben, was er herübergerettet hatte —, aber sie war vom gleichen hohen Rang wie Jasin Natael. Vielleicht würde sie ihm ein paar Fragen beantworten? Zumindest hätte er jemanden, mit dem er zusammenarbeiten konnte. Schlimmstenfalls konnte er ihr die Schuld an seinen Fehlschlägen in die Schuhe schieben. Wenn man hoch im Rang stand, bekam man auch viel Macht, aber man mußte für die Fehler der eigenen Untergebenen nicht selten den Kopf hinhalten. Mehr als einmal hatte er einen Vorgesetzten seinen Ranghöheren zum Fraß vorgeworfen, um die eigenen Fehler zu vertuschen.

Er schieß die Tür vorsichtigerweise, wandte sich um, und hätte am liebsten geschrien, wenn ihm die Angst nicht die Kehle zugeschnürt hätte.

Die Frau, die dort stand, trug durchaus ein weißes Seidenkleid, doch sie war gewiß nicht fett. Es war die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Ihre Augen waren wie dunkle, unergründliche Bergseen, um ihre schlanke Taille lag ein Gürtel aus verwobenen Silberfäden, und in ihrem schwarzglänzenden Haar glitzerten silberne Halbmonde. Kadere erkannte dieses Gesicht aus seinen Träumen.

Als seine Knie auf dem Boden aufschlugen, fand er seine Sprache wieder. »Große Herrin«, brachte er heiser heraus, »wie kann ich Euch dienen?«

Lanfear hätte ihrem Blick nach genauso ein Insekt ansehen können, das sie vielleicht mit ihrem Pantoffel zertreten würde, vielleicht auch nicht. »Indem Ihr euren Gehorsam mir gegenüber beweist. Ich war zu beschäftigt, um selbst Rand al'Thor zu überwachen. Sagt mir, was er inzwischen getan hat, abgesehen von der Eroberung Cairhiens, und was er zu unternehmen gedenkt.«

»Das ist schwierig, Große Herrin. Einer wie ich kommt kaum an einen wie ihn heran.« Ein Insekt, sagten ihm diese kühlen Augen, das so lange überleben wird, wie es nützlich ist. Kadere zermarterte sein Hirn, damit ihm alles einfiel, was er gesehen, gehört oder sich vorgestellt hatte. »Er schickt die Aiel in großer Anzahl nach Süden, Große Herrin, aber ich weiß nicht, aus welchem Grund. Die Tairener und die Leute aus Cairhien scheinen das gar nicht zu bemerken, aber ich glaube, sie können sowieso einen Aiel nicht vom anderen unterscheiden.« Er konnte es auch nicht. Er wagte nicht, sie zu belügen, aber wenn sie ihn für nützlicher hielt, als er tatsächlich war... »Er hat irgendeine Art von Schule gegründet in einem städtischen Herrenhaus, von dessen Besitzerfamilie niemand überlebt hat... « Zuerst konnte er ihr nicht anmerken, ob ihr gefiel, was er zu berichten hatte, aber je länger er redete, desto düsterer wurde ihre Miene.

»Was wolltet Ihr mir denn nun zeigen, Moiraine?« fragte Rand ungeduldig, während er Jeade'ens Zügel an einem Rad des letzten Wagens in der Reihe festband.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um über den Rand des Wagens spähen zu können. Oben standen zwei Fässer, die ihm bekannt vorkamen. Wenn er sich nicht irrte, enthielten sie zwei Cuendillar-Siegel, zum Schutz in Wolle verpackt, da sie nun nicht mehr unzerbrechlich waren. Hier spürte er die Verderbnis des Dunklen Königs besonders deutlich. Wie der Gestank nach etwas, das im Verborgenen verfaulte, so schien es von den Fässern herüberzuwehen.

»Hier wird es in Sicherheit sein«, murmelte Moiraine.

Sie hob graziös ihren Rock an und begann, die Reihe der Wagen entlangzuschreiten. Lan folgte ihr auf den Fersen wie ein halb gezähmter Wolf. Der Umhang auf seinem Rücken zeigte ein verwirrendes Spiel von Farben und — Nichts, Leere.

Rand starrte ihr aufgebracht hinterher. »Hat sie dir gesagt, worum es geht, Egwene?«

»Nur, daß du etwas sehen müßtest. Und daß du ohnehin hierherkommen würdest.«

»Du solltest einer Aes Sedai vertrauen«, sagte Aviendha, doch in ihre ansonsten ruhige Stimme schlich sich eine Andeutung von Zweifel ein. Mat schnaubte.

»Na, dann werde ich das jetzt herausfinden. Natael, geht und richtet Bael aus, ich werde in einer...«

Am anderen Ende der Reihe explodierte die Seitenwand von Kaderes Wohnwagen; umherfliegende Trümmerteile mähten Aiel wie Stadtbewohner nieder. Rand wußte Bescheid; die Gänsehaut benötigte er nicht mehr, um Klarheit zu gewinnen. Er rannte hinter Moiraine und Lan her, hin zum Wohnwagen. Der Ablauf der Zeit schien sich zu verlangsamen. Alles geschah zur gleichen Zeit, als sei die Luft ein zäher Brei, der jeden Augenblick festzuhalten versuchte.

Lanfear trat hinaus in die betäubte Stille, die selbst das Stöhnen und die Schreie der Verwundeten zu ersticken schien. In ihrer Hand hielt sie etwas Schlaffes, Bleiches, rot verschmiertes, das sie hinter sich her und unsichtbare Stufen hinabschleifte. Ihr Gesicht war wie eine aus Eis gehauene Maske. »Er hat es mir erzählt, Lews Therin!« Sie schrie diese Worte fast und schleuderte das bleiche Ding in die Luft. Ein Windhauch erfaßte es und blies es einen Moment lang zu einer blutigen, durchscheinenden Skulptur Hadnan Kaderes auf: seine Haut, in einem Stück abgezogen. Die Gestalt fiel in sich zusammen und klatschte auf den Boden. Lanfears Stimme wurde schriller, und sie kreischte: »Du hast dich von einer anderen Frau berühren lassen! Nicht zum erstenmal!«

Die Augenblicke klebten aneinander, und alles geschah gleichzeitig.

Bevor Lanfear noch auf den Pflastersteinen des Kais stand, raffte Moiraine den Rock und begann, geradewegs auf sie zuzulaufen. So schnell sie aber war, Lan war noch schneller. Er achtete nicht auf ihren Ruf: »Nein, Lan!« Sein Schwert fuhr aus der Scheide, mit langen Schritten schob er sich vor sie, und der farbverändernde Umhang flatterte hinter ihm, als er angriff. Plötzlich schien er gegen eine unsichtbare Mauer zu rennen, prallte zurück und versuchte taumelnd, wieder anzugreifen. Ein Schritt, und dann war es, als wische ihn eine riesige Hand beiseite. Er flog zehn Schritt weit durch die Luft und krachte auf die Pflastersteine.

Noch während er durch die Luft flog, schob sich Moiraine ruckartig, die Füße über den Boden schleifend, trotz der unsichtbaren Barriere voran, bis sie schließlich Auge in Auge vor Lanfear stand. Doch nur für einen kurzen Moment. Die Verlorene blickte sie erstaunt an, als frage sie sich, was ihr da in den Weg gekommen sei, und dann wurde Moiraine so hart zur Seite geschleudert, daß sie sich mehrmals überschlug und unter einem der Wagen verschwand.

Der ganze Kai war in Aufruhr. Es waren erst wenige Augenblicke vergangen, seit Kaderes Wohnwagen explodiert war, doch nur ein Blinder hätte nicht bemerkt, daß die Frau in Weiß mit Hilfe der Einen Macht angriff. Überall im Hafen blitzten die Schneiden der Äxte auf, Taue wurden durchschlagen, um die Lastkähne loszumachen. Ihre Besatzungen stocherten verzweifelt mit langen Stangen nach den Mauern, um ihre Schiffe abzustoßen und auf das offene Wasser hinauszuschieben, damit sie fliehen konnten. Schauerleute mit nackten Oberkörpern und dunkelgekleidete Geschäftsleute aus der Stadt versuchten, schnell noch an Bord zu springen. In der anderen Richtung drängten sich Männer wie Frauen schreiend vor der Mauer und kämpften darum, sich durch die Tore in die Stadt zwängen zu können. Und mitten drin verschleierten sich in den Cadin'sor gekleidete Gestalten, um sich dann mit Speeren oder Messern oder bloßen Händen auf Lanfear zu stürzen. Niemand zweifelte daran, daß der Angriff von ihr ausgegangen war und daß sie die Macht dazu eingesetzt hatte. Trotzdem rannten sie, um den Tanz der Speere zu tanzen.

Feuerwellen überrollten sie. Feuerpfeile durchbohrten jene, die trotz brennender Kleidung weiterliefen. Es war nicht so, daß Lanfear bewußt gegen sie kämpfte oder sie auch nur beachtete. Sie hätte genausogut Stechmücken oder Beißmichs verscheuchen können. Menschen brannten, Fliehende genauso wie diejenigen, die noch zu kämpfen versuchten. Sie ging auf Rand zu, als existiere nichts anderes auf der Welt.

Nur Herzschläge.

Sie hatte drei Schritte getan, als Rand nach der männlichen Hälfte der Wahren Quelle griff, schmelzender Stahl und stahlzerreißendes Eis, süßer Honig und Jauche zugleich. Tief drinnen im Nichts erschien dieser Kampf ums eigene Überleben fern und der Kampf direkt vor seiner Nase nicht weniger. Als Moiraine unter dem Wagen verschwand, verwob er die ersten Stränge der Macht, entzog Lanfears Feuern die Hitze und lenkte sie in den Fluß. Flammen, die noch Augenblicke zuvor menschliche Gestalten eingeschlossen hatten, waren plötzlich verschwunden. Im gleichen Moment verwob er die Stränge wieder, und eine milchig wirkende graue Kuppel entstand, ein langgestrecktes Oval, das sich über ihn und Lanfear und die meisten der Wagen legte, eine fast durchsichtige Mauer, die alles ausschloß, was sich nicht schon zuvor darinnen befunden hatte. Selbst in dem Augenblick, da er die Stränge abnabelte, war er sich nicht sicher, was es eigentlich war und woher es kam —vielleicht aus Lews Therins Gedächtnis. Doch Lanfears Feuerströme prallten davon ab und verloschen. Draußen konnte er verschwommen Menschen wahrnehmen. Zu viele lagen zuckend und um sich schlagend am Boden. Er hatte wohl die Flammen besiegt, doch das verbrannte Fleisch blieb; der Gestank hing noch immer in der Luft. Aber wenigstens würden nicht noch mehr Menschen dem Feuer zum Opfer fallen. Auch innerhalb der Mauer lagen Körper wie kleine Haufen verbrannter Kleidung. Ein paar rührten sich noch schwach, stöhnten. Ihr war das gleich; ihre Flammen erloschen. Die Mücken waren erschlagen, und sie würdigte sie keines Blickes mehr.

Herzschläge. Ihn fror selbst in der Leere des Nichts, und das Gefühl der Trauer um die Toten und Sterbenden und die Verbrannten war so fern, daß es kaum zu existieren schien. Er war die Kälte selbst. Die Leere selbst. Nur der tobende Zorn Saidins erfüllte ihn.

Bewegungen zu beiden Seiten. Aviendha und Egwene, die Blicke konzentriert auf Lanfear gerichtet. Er hatte sie aus all dem heraushalten wollen. Sie mußten gleich hinter ihm hergerannt sein. Mat und Asmodean befanden sich draußen; die Kuppel schloß die letzten Wagen der Reihe nicht mit ein. In eisiger Ruhe verwob er Stränge aus Luft um Lanfear abzulenken. Wenn ihm das gelang, konnten Egwene und Aviendha sie vielleicht abschirmen.

Etwas zerschnitt seine Stränge. Sie peitschten so hart auf ihn zurück, daß er stöhnte.

»Eine von ihnen?« fauchte Lanfear. »Welche ist Aviendha?« Egwene warf den Kopf in den Nacken und heulte auf. Ihre Augen quollen heraus, und aller Schmerz der Welt entfloh ihrem Mund. »Welche?« Aviendha wurde auf die Zehenspitzen hochgerissen, schauderte, und ihre Schreie jagten die Egwenes, immer höher und schriller.

Der Gedanke stand plötzlich mitten in der Leere. Den Geist auf diese Art mit Feuer und Erde verweben.

Da. Rand spürte, wie etwas abgeschnitten wurde, das er nicht sehen konnte, und Egwene brach bewegungslos zusammen. Aviendha sackte auf Hände und Knie nieder, den Kopf gesenkt und hin und her schwankend.

Lanfear taumelte. Ihr Blick wandte sich von den Frauen ab und ihm zu; dunkle Seen aus schwarzem Feuer. »Du bist mein, Lews Therin! Mein!«

»Nein.« Rands Stimme schien seine eigenen Ohren aus einem meilenlangen Tunnel zu erreichen. Lenke sie von den Mädchen ab. Er bewegte sich weiter vorwärts und blickte nicht zurück. »Ich war niemals dein, Mierin. Ich werde immer zu Ilyena gehören.« Das Nichts bebte vor Kummer und Schmerz. Und vor Verzweiflung, als er gegen noch etwas anderes als nur den brennenden Strom Saidins anzukämpfen hatte. Einen Augenblick lang hielt sich alles die Waage. Ich bin Rand al'Thor. Und: Ilyena, für immer und ewig in meinem Herzen. Ein Balanceakt auf der Schneide eines Rasiermessers. Ich bin Rand al'Thor! Andere Gedanken quollen herauf, eine ganze Fontäne, an Ilyena, an Mierin, an das, womit er sie besiegen könnte. Er unterdrückte alle, selbst diesen letzten. Falls er auf der falschen Seite herauskam... Ich bin Rand al'Thor! »Dein Name ist Lanfear und ich werde sterben, bevor ich eine der Verlorenen liebe.«

Etwas wie Schmerz zog wie ein Schatten über ihr Gesicht, doch dann war es wieder nur mehr eine marmorne Maske. »Wenn du nicht mein bist«, sagte sie kalt, »dann bist du tot.«

Ein entsetzlicher Schmerz in seiner Brust, als müsse sein Herz bersten, und in seinem Kopf, wo sich weißglühende Nadeln in sein Hirn bohrten, so starke Schmerzen, daß er selbst im Nichts geborgen schreien wollte. Der Tod stand neben ihm, und er wußte es. Verzweifelt — selbst im Nichts noch verzweifelt; die Leere flimmerte und schwand — verwob er Geist und Feuer und Erde und schlug damit wild um sich. Sein Herz schlug nicht mehr. Eine Faust aus dunkelstem Schmerz zerquetschte das Nichts. Ein grauer Schleier überzog seine Augen. Er spürte, wie sein Gewebe brutal das ihre durchschnitt. Der Atem brannte in seiner leeren Lunge und das Herz begann mit einem Ruck wieder, Blut durch seinen Körper zu pumpen. Er konnte wieder sehen. Silberne und schwarze Flecken tanzten zwischen ihm und einer Lanfear, die mit steinerner Miene ihr Gleichgewicht wiederzufinden suchte, nachdem ihre eigenen Stränge auf sie zurückgeschnellt waren. Der Schmerz war wie eine offene Wunde in seinem Kopf und in der Brust doch das Nichts festigte sich wieder, und dann war dieser körperliche Schmerz verschwunden.

Und das war auch gut so, denn er hatte keine Zeit, sich zu erholen. Er zwang sich zur Vorwärtsbewegung und schlug mit einem Strang aus Luft auf sie ein, einem Knüppel, um sie bewußtlos zu schlagen. Sie zerschnitt das Gewebe, doch er schlug wieder zu, immer wieder, sobald sie sein letztes Gewebe durchtrennt hatte. Ein wütender Hagel von Schlägen prasselte auf sie nieder, den sie jedesmal kommen sah und abwehrte, doch er kam näher und näher. Wenn er sie nur noch ein paar Augenblicke beschäftigen könnte, wenn einer dieser unsichtbaren Knüppel ihren Kopf träfe, dann könnte er sich ihr weit genug nähern, um mit der Faust zuzuschlagen... Bewußtlos wäre sie genauso hilflos wie jeder andere.

Mit einemmal schien sie zu begreifen, was er vorhatte. Sie fing immer noch jeden seiner Schläge so leicht ab, als könne sie ihn kommen sehen, tänzelte dabei aber rückwärts, bis sie an einen Wagen stieß. Und sie lächelte wie das Herz des Winters. »Du wirst langsam sterben, und bevor du stirbst, wirst du mich anbetteln, mich lieben zu dürfen«, sagte sie.

Diesmal schlug sie nicht direkt nach ihm, sondern nach seiner Verbindung zu Saidin.

Die Panik schlug gegen das Nichts, daß es bei der ersten messerscharfen Berührung wie ein Gong dröhnte. Der Strom der Macht in ihm wurde dünner, als dieses Messer tiefer zwischen ihn und die Quelle drang. Mit Geist und Feuer und Erde schlug er auf die Messerklinge ein. Er wußte genau, wo er sie finden konnte, er wußte, wo sich seine Verbindung befand, und er spürte diesen ersten Schnitt. Die Abschirmung, die sie über ihn zu werfen suchte, verschwand, tauchte erneut auf, tauchte immer wieder auf, so schnell er auch ihre Stränge durchtrennte, und immer floß Saidin einen kurzen Moment von ihm weg, blieb fast ganz weg, und er konnte mit seinem Gegenschlag gerade noch ihrem Angriff begegnen. Zwei Stränge auf einmal zu weben sollte ihm leicht genug fallen, denn er konnte eigentlich zehn oder noch mehr gleichzeitig halten, aber eben nicht, wenn der eine Strang nur eine verzweifelte Abwehr gegen etwas darstellte, das er nicht sah, bis es fast zu spät war. Und auch nicht, wenn immer wieder die Gedanken eines anderen Mannes im Nichts emporquollen und ihm sagen wollten, wie er sie besiegen könne. Falls er darauf hörte, würde vielleicht Lews Therin Telamon davonkommen, und Rand al'Thor wäre nur noch eine Stimme, die manchmal in seinem Kopf etwas flüsterte, wenn überhaupt.

»Ich werde dafür sorgen, daß diese beiden Huren zuschauen, wenn du bettelst«, sagte Lanfear. »Aber soll ich sie zuerst dabei zusehen lassen, wie du stirbst, oder umgekehrt?« Wann war sie eigentlich auf den Wagen geklettert? Er mußte sie beobachten, mußte Ausschau halten nach der ersten Andeutung von Ermüdung bei ihr, sobald ihre Konzentration nachließ. Es war eine vergebliche Hoffnung. Sie stand neben dem verdrehten Türrahmen des Ter'Angreal und blickte auf ihn herab wie eine Königin, die gleich ihr Urteil fällen würde. Und dennoch nahm sie sich die Zeit, kalt auf einen altersdunklen Elfenbein-Armreif herabzulächeln, den sie unablässig in der Hand drehte. »Was wird dir mehr weh tun, Lews Therin? Ich will, daß du Schmerz empfindest. Ich will, daß du Schmerzen kennenlernst, wie noch kein Mann sie empfunden hat!«

Je stärker ihm der Strom der Macht von der Quelle zufloß, desto schwerer wäre er zu durchtrennen. Seine Hand verkrampfte sich um die Manteltasche, um den fetten kleinen Mann mit dem Schwert, das sich durch den Stoff hindurch in seine Handfläche bohrte, wo sich der eingebrannte Reiher befand. Er sog soviel Saidin auf, wie er nur konnte, bis das Verderben wie ein Regenschleier neben ihm durch die Leere schwebte.

»Schmerz, Lews Therin.«

Und dann war da ein Schmerz wie eine in Agonie versunkene Welt. Diesmal traf er nicht Herz oder Kopf, sondern war überall, in jedem Teil seines Körpers. Heiße Nadeln stachen in die Blase des Nichts. Er bildete sich fast ein, bei jedem Stich ein Zischen wie beim Ausströmen von Luft zu hören, und jeder Stoß ließ die Nadeln tiefer eindringen als zuvor. Ihre Versuche, ihn abzuschirmen, wurden keineswegs schwächer, im Gegenteil, sie wurden schneller und stärker. Er konnte kaum glauben, daß sie so stark war. Er klammerte sich an das Nichts, an das sengende, eiskalte Saidin, und er verteidigte sich wild. Er konnte ja alles beenden und sie töten. Er könnte Blitze herabrufen oder sie in das gleiche Feuer einhüllen, das sie selbst zum Töten verwandt hatte.

Bilder tauchten inmitten des Schmerzes auf. Eine Frau im dunklen Kleid einer Händlerin, die vom Pferd stürzte. Das feuerrote Schwert, das leicht in seiner Hand lag. Sie war zusammen mit einer Handvoll von Schattenfreunden gekommen, um ihn zu töten. Mats schmerzerfüllter Blick. Ich habe sie getötet. Eine Frau mit goldenen Haaren, die in einem zerstörten Korridor lag, dessen Wände geschmolzen und zerflossen waren. Ilyena, vergib mir! In dem Schrei lag pure Verzweiflung.

Er könnte es beenden. Nur brachte er das nicht fertig. Er würde sterben, vielleicht würde sogar die ganze Welt sterben, doch er konnte sich nicht dazu überwinden, noch einmal eine Frau zu töten. Irgendwie erschien ihm das der beste Witz, den die Welt je gehört hatte.

Moiraine wischte sich Blut vorn Mund und kroch unter dem hinteren Ende des Wagens hervor. Sie erhob sich unsicher, das Gelächter eines Mannes im Ohr. Unwillkürlich huschte ihr Blick hinüber und suchte nach Lan. Sie fand ihn, wo er beinahe an der milchigen grauen Wand der Kuppel lag, die sich über ihnen wölbte. Er zuckte, vielleicht bei dem Versuch, die Kräfte zum Aufstehen zu sammeln, vielleicht auch im Todeskampf. Sie verdrängte ihn aus ihrem Verstand. Er hatte ihr Leben so oft gerettet, daß es längst ihm gehören sollte, aber sie hatte schon lange alle Maßnahmen getroffen, um dafür zu sorgen, daß er seinen einsamen Krieg gegen den Schatten überlebte. Nun mußte er ohne sie weiterleben oder sterben.

Es war Rand, der so lachte. Er lag auf den Knien auf den Pflastersteinen des Kais. Er lachte, und dabei strömten ihm die Tränen über ein Gesicht, das verzerrt war, als habe man ihn gefoltert. Moiraine lief es kalt den Rücken hinab. Falls der Wahnsinn ihn gepackt hatte, konnte sie ihm nicht mehr helfen. Sie konnte nur das vollbringen, was in ihrer Macht lag. Was sie tun mußte.

Der Anblick Lanfears traf sie wie ein Schlag. Es war nicht die Überraschung, sondern der lahmende Schock, das wirklich vor sich zu sehen, was sie seit Rhuidean so oft im Traum gesehen hatte. Lanfear, wie sie auf dem Wagen stand, vom sonnenhellen Strahlen Saidars erfüllt, so stand sie vor dem verdrehten Sandstein ... Ter'Angreal und blickte auf Rand hinab, ein erbarmungsloses Lächeln um die Lippen. Sie spielte mit einem Armreif, den sie in der Hand hielt. Ein Angreal. Sollte Rand seinen eigenen Angreal nicht dabeihaben, dürfte sie mit Hilfe dieses Armreifs in der Lage sein, ihn zu zerquetschen. Entweder hatte er seinen dabei, oder Lanfear spielte mit ihm. Es spielte keine Rolle. Moiraine gefiel dieser altersdunkle, aus Elfenbein geschnitzte Reif überhaupt nicht. Auf den ersten Blick schien er einen Akrobaten darzustellen, der sich rückwärts beugte und seine eigenen Fußknöchel umfaßte. Nur ein genauerer Blick enthüllte, daß seine Arme und Beine aneinander gefesselt waren. Er gefiel ihr nicht, aber sie hatte ihn aus Rhuidean mitgebracht. Gestern erst hatte sie den Armreif aus einem Sack mit vielen anderen Kleinigkeiten geholt und ihn dann am Fuß des Türrahmens liegen lassen.

Moiraine war eine zierliche, kleine Frau. Ihr Gewicht ließ den Wagen überhaupt nicht schwanken, als sie sich emporzog. Sie verzog das Gesicht als ihr Kleid an einem Splitter hängenblieb und der Stoff riß, aber Lanfear blickte sich nicht um. Die Frau war mit jeder Bedrohung bis auf Rand fertiggeworden; er war im Augenblick das einzige auf der Welt, was sie wahrnahm.

Sie unterdrückte einen kleinen Hoffnungsfunken, denn einen solchen Luxus konnte sie sich nicht leisten, und balancierte einen Moment lang aufrecht auf dem hinteren Wagenende, und dann griff sie nach der Wahren Quelle und warf sich Lanfear entgegen. Die Verlorene merkte im letzten Moment etwas und wirbelte herum, doch da prallte Moiraine auch schon gegen sie und entriß ihr den Armreif. Auge in Auge stürzten sie durch den Türrahmen des Ter'Angreal. Weißes, gleißendes Licht verschlang alles.

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