Rand, der Asmodean mit gerunzelter Stirn nachblickte und sich fragte, wie weit er dem Mann trauen konnte, fuhr herum, als Aviendha ihren Becher zu Boden warf und Wein auf die Teppiche spritzte. Aiel verschwendeten doch sonst nichts Trinkbares, weder Wasser noch Wein.
Sie starrte den nassen Fleck an und schien genauso überrascht, doch nur einen Augenblick lang. Im nächsten Augenblick hatte sie die Fäuste in die Hüften gestemmt und funkelte ihn wütend an. »Also wird der Car'a'carn die Stadt betreten, obwohl er kaum aufrecht sitzen kann. Ich sagte, der Car'a'carn müsse mehr sein als andere Männer, aber ich wußte nicht, daß er sogar übermenschliche Kräfte besitzt.«
»Wo sind meine Kleider, Aviendha?«
»Du bist nur aus Fleisch und Blut!«
»Meine Kleidung!«
»Denk an dein Toh, Rand al'Thor. Wenn ich mich immer an Ji'e'toh halte, kannst du das auch.« Es erschien ihm eigenartig, daß sie das sagte. Die Sonne würde zur Mitternacht aufgehen, bevor sie auch nur die kleinste Kleinigkeit von Ji'e'toh vergaß.
»Wenn du so weitermachst«, sagte er lächelnd, »glaube ich am Ende noch, daß dir etwas an mir liegt.«
Er hatte das als Scherz gemeint, denn es gab nur zwei Methoden, mit ihr fertigzuwerden: entweder scherzen, oder sie einfach übergehen — streiten war dagegen ein fataler Fehler. Und der Scherz war recht sanft wenn er bedachte, daß sie immerhin eine gemeinsame Nacht verbracht hatten, doch sie riß die Augen vor Empörung auf und zog an ihrem elfenbeinernen Armreif, als wolle sie ihn abreißen und ihm an den Kopf werfen. »Der Car'a'carn steht so hoch über anderen Männern, daß er keine Kleider braucht«, fauchte sie. »Wenn er zu gehen wünscht, dann soll er doch nur mit seiner Haut bekleidet gehen! Muß ich erst Sorilea und Bair holen? Oder vielleicht Enaila und Somara und Lamelle?«
Er versteifte sich. Von all den Töchtern, die ihn wie einen lange verlorenen Sohn behandelten, hatte sie die drei schlimmsten herausgesucht. Lamelle brachte ihm sogar Suppe. Die Frau konnte kein bißchen kochen, aber sie bestand darauf, ihm Suppe zu bereiten und zu servieren! »Bring nur her, wen du wünschst«, sagte er mit mühsam beherrschter, tonloser Stimme, »aber ich bin der Car'a'carn, und ich werde in die Stadt reiten.« Wenn er Glück hatte, fand er seine Kleidung, bevor sie zurückkam. Somara war beinahe so groß wie er und im Augenblick wahrscheinlich kräftiger. Die Eine Macht würde ihm da nicht helfen. Er hätte jetzt Saidin nicht ergreifen können, und wenn Sammael persönlich vor ihm auftauchte. Noch weniger könnte er jetzt daran festhalten.
Eine ganze Weile lang blickte sie ihm in die Augen, und dann hob sie plötzlich den weggeworfenen Leopardenbecher auf und füllte ihn aus einem Krug von gehämmertem Silber. »Wenn du deine Kleider finden und dich anziehen kannst, ohne hinzufallen«, sagte sie ruhig, »dann darfst du gehen. Aber ich werde dich begleiten, und sollte ich zu der Ansicht kommen, daß du zu schwach zum Weiterreiten bist, wirst du hierher zurückkehren, und wenn dich Somara auf ihren Armen tragen muß.«
Er sah entgeistert zu, als sie sich ausstreckte, auf einen Ellbogen stützte, sorgfältig ihren Rock zurechtzupfte und anfing, an ihrem Wein zu nippen. Falls er das Wort Ehe wieder erwähnte, würde sie ihm zweifellos wiederum den Kopf abreißen, doch manchmal benahm sie sich, als seien sie verheiratet. Zumindest die schlimmsten Auswirkungen einer Ehe demonstrierte sie ihm. Da war sie dann keinen Deut besser als Enaila oder Lamelle, wenn die sich am schlimmsten benahmen.
Er knurrte leise in sich hinein, raffte die Decke um sich zusammen und schlurfte an ihr und der Feuergrube vorbei zu seinen Stiefeln. Drinnen lagen zusammengerollt saubere Wollstrümpfe, aber sonst nichts. Er könnte ja Gai'schain kommen lassen. Dann würde sich die ganze Angelegenheit im Lager herumsprechen. Ganz zu schweigen von der Möglichkeit, daß die Töchter sich dann vielleicht doch einmischten. In diesem Fall stellte sich die Frage, ob sie ihn als den Car'a'carn betrachteten, dem sie gehorchen mußten, oder einfach als Rand al'Thor, der in ihrem Augen ein ganz anderer Mann war. Sein Blick fiel auf einen zusammengerollten Läufer ganz hinten im Zelt. Läufer wurden doch immer ausgerollt. Drinnen steckte sein Schwert, und der Gürtel mit der Drachenschnalle war um die Scheide gewickelt worden.
Aviendha summte vor sich hin, die Augen halb geschlossen, und beobachtete seine Suche. »Das Ding ... brauchst du nicht mehr.« Sie legte soviel Abscheu in das Wort, daß niemand hätte glauben mögen, gerade sie habe ihm dieses Schwert geschenkt.
»Was meinst du damit?« Im Zelt standen nur ein paar kleine Kästen, entweder mit Perlmutt eingelegt oder mit Messing beschlagen, und nur in einem Fall mit Blattgold geschmückt. Die Aiel zogen es vor, Dinge des alltäglichen Lebens zu Bündeln zu verschnüren. In keinem der Kästen befanden sich seine Kleider. Als er den Deckel der mit Gold in Form von ihm unbekannten Vögeln und anderen Tieren geschmückten Truhe anhob, erblickte er sorgfältig verschnürte Ledersäckchen und roch den Duft von Gewürzen.
»Couladin ist tot, Rand al'Thor.«
Überrascht hielt er inne und sah sie an. »Wovon sprichst du überhaupt?« Konnte Lan ihr von seinen Überlegungen erzählt haben? Sonst wußte das doch keiner. Aber warum?
»Niemand hat es mir gesagt, falls es das ist, was du gerade denkst. Ich kenne dich jetzt, Rand al'Thor. Ich lerne dich jeden Tag besser zu durchschauen.«
»Ich habe nichts dergleichen gedacht«, grollte er.
»Es gibt nichts, was jemand erzählen könnte.« Gereizt schnappte er sich das in der Scheide steckende Schwert und nahm es ungeschickt unter den Arm, während er seine Suche fortsetzte. Aviendha fuhr fort, gemütlich ihren Wein zu schlürfen. Er hatte den Verdacht, sie verberge ein Lächeln hinter dem erhobenen Becher.
Eine schöne Lage. Die Hochlords von Tear kamen ins Schwitzen, wenn Rand al'Thor sie anblickte, und die Adligen Cairhiens boten ihm vielleicht sogar ihren Thron an. Das größte Aiel-Heer, das die Welt jemals erblickt hatte, hatte auf Befehl des Car'a'carn, des Häuptlings aller Häuptlinge, die Drachenmauer überschritten. Nationen bebten bei der Erwähnung des Wiedergeborenen Drachen. Nationen! Und falls er seine Kleider nicht fand, würde er hier sitzen müssen und auf die Erlaubnis warten, hinausgehen zu dürfen, und das von einem Haufen Frauen, die glaubten, alles besser zu wissen als er selbst!
Er entdeckte sie schließlich, als er bemerkte, daß die goldbestickte Manschette eines roten Ärmels unter Aviendhas Körper hervorlugte. Sie hatte die ganze Zeit über auf seinen Kleidern gesessen! Nun knurrte sie mit säuerlich verzogenem Gesicht, als er sie aufforderte, beiseite zu rutschen, aber sie kam seinem Wunsch nach. Endlich.
Wie gewöhnlich sah sie zu, wie er sich rasierte und anzog, wobei sie sein Wasser kommentarlos und ungebeten mit Hilfe der Macht erhitzte, nachdem er sich zum drittenmal geschnitten und über das kalte Wasser geflucht hatte. Um bei der Wahrheit zu bleiben, machte ihn das diesmal vor allem deshalb so nervös, weil er fürchtete, sie könne bemerken, wie unsicher er noch auf den Beinen war. Man kann sich ansonsten an alles gewöhnen, wenn es lange genug andauert, dachte er trocken.
Sie mißverstand sein Kopfschütteln. »Elayne hat bestimmt nichts dagegen, wenn ich zusehe, Rand al'Thor.«
Er war gerade beim Zubinden seines Hemds, unterbrach die Bewegung und blickte sie an. »Glaubst du das wirklich?«
»Sicher. Du gehörst wohl ihr, aber deinen Anblick kann sie nicht für sich allein beanspruchen.«
Er lachte stumm und wandte sich wieder den Schnüren zu. Es tat gut, daran erinnert zu werden, daß hinter ihrem neuerdings so geheimnisvollen Getue Unwissen steckte, abgesehen von einigem anderen. Er konnte ein befriedigtes Grinsen nicht unterdrücken, als er sich fertig ankleidete, das Schwert gürtete und den abgeschnittenen Seanchanspeer mit den Troddeln in die Hand nahm. Dabei färbte sich das Lächeln allerdings etwas grimmig. Er hatte das Ding zur Erinnerung daran mitführen wollen, daß es die Seanchan immer noch auf dieser Welt gebe, doch nun diente es dazu, ihn grundsätzlich an alles zu erinnern, womit er gleichzeitig jonglieren mußte. Cairhien und die Tairener, Sammael und die anderen Verlorenen, die Shaido und ganze Länder, die noch gar nichts von ihm wußten, die er aber für sich gewinnen mußte, bevor Tarmon Gai'don begann. Mit Aviendha klarzukommen war dagegen noch das reine Honigschlecken.
Die Töchter sprangen auf, als er geduckt aus dem Zelt trat und zwar so schnell, daß man die Unsicherheit seiner Beine möglichst nicht bemerkte. Er war sich allerdings nicht sicher, mit welchem Erfolg. Aviendha hielt sich an seiner Seite, als sei sie nicht nur bereit, ihn aufzufangen, sollte er straucheln, sondern als erwarte sie dies ganz eindeutig. Seine Laune wurde auch nicht besser, als Sulin, die noch immer ihren Kopfverband trug, Aviendha fragend anblickte — nicht ihn; sie! — und auf ihr Nicken wartete, bis sie den Töchtern befahl, sich zum Abmarsch fertigzumachen.
Asmodean kam auf seinem Maulesel den Hang heraufgeritten, wobei er Jeade'en am Zügel hinter sich herführte. Irgendwie hatte er noch Zeit gefunden, sich frisch anzukleiden — ganz in dunkelgrüner Seide. Natürlich mit weißem Spitzenkragen und Spitzenmanschetten. Die vergoldete Harfe hing auf seinem Rücken, aber er hatte es wohl aufgegeben, den Gauklerumhang anzulegen, und außerdem schleppte er auch das rote Banner mit dem uralten Symbol der Aes Sedai nicht mehr mit sich herum. Dieses Amt hatte er an einen Flüchtling aus Cairhien namens Pevin abgetreten, einen verschlossenen Kerl in einem geflickten Bauernrock aus dunkelgrauer Wolle, der auf einem braunen Muli saß. Das Tier wirkte so alt, daß es eigentlich schon vor Jahren vom Karren weg auf die Weide hätte geschickt werden sollen. Eine lange, immer noch gerötete Narbe zog sich vom Unterkiefer bis zu seinem dünnen Haar über eine Wange entlang.
Pevin hatte durch die Hungersnot Frau und Schwester verloren, und durch den Bürgerkrieg seinen Bruder und einen Sohn. Er hatte keine Ahnung, aus welchem Adelshaus die Soldaten stammten, die sie getötet hatten, oder wen sie im Streit um den Sonnenthron unterstützten. Die Flucht in Richtung Andor hatte ihn das Leben eines zweiten Sohns gekostet, der andoranischen Soldaten zum Opfer gefallen war, und das eines zweiten Bruders, den Banditen umgebracht hatten. Die Rückkehr schließlich hatte das Leben des letzten Sohnes gekostet, der von einem Shaido-Speer durchbohrt worden war, während seine Tochter von den Shaido verschleppt wurde, als man ihn selbst für tot hielt und liegenließ. Der Mann sprach nur selten, doch soweit Rand feststellen konnte, war sein ganzer Glaube zerstört worden bis auf drei Leitsätze: Der Drache war wiedergeboren worden. Die Letzte Schlacht nahte. Und wenn er sich nahe bei Rand al'Thor aufhielt, würde er erleben, wie seine Familie gerächt wurde, bevor die Welt der Zerstörung anheim fiel. Die Welt würde bestimmt untergehen, aber das spielte keine Rolle. Nichts spielte eine Rolle, bis eben auf diese Rache. Er verbeugte sich schweigend vor Rand im Sattel, als die Stute die Anhöhe erreicht hatte. Seine Miene sagte nicht das Geringste aus, aber er hielt die Flagge gerade und fest in der Hand.
Rand stieg auf Jeade'en und zog Aviendha hinter sich hoch, ohne sie den Steigbügel benützen zu lassen, nur um ihr zu beweisen, daß er dazu in der Lage sei. Dann trat er dem Apfelschimmel in die Flanken, bevor sie noch richtig saß. Sie schlang beide Arme um seine Taille und grollte noch nicht einmal sehr laut oder lange vor sich hin. Er schnappte lediglich ein paar Kleinigkeiten auf, was sie im Augenblick von Rand al'Thor hielt und auch vom Car'a'carn. Sie ließ aber keineswegs los, wofür er dankbar war. Es war nicht nur angenehm, ihren Körper zu spüren, der sich an seinen Rücken preßte, sondern auch als Stütze war sie ihm willkommen. Als sie erst halb oben gewesen war, war er einen Moment lang keineswegs sicher gewesen, ob sie oben oder er unten landen würde. Er hoffte, daß sie es nicht bemerkt hatte. Er hoffte, daß sie ihn nicht nur deshalb jetzt so fest in den Armen hielt.
Das rote Banner mit der großen schwarzweißen Scheibe flatterte hinter Pevin, als sie im Zickzack den Hügel hinab und durch die Täler mit ihren niedrigen Abhängen ritten. Wie gewöhnlich schenkten die Aiel ihrer Gruppe nur wenig Beachtung, obwohl ja das Banner deutlich seine Anwesenheit anzeigte, genau wie die sie umgebende Eskorte von mehreren hundert Far Dareis Mai, die zu Fuß leicht mit Jeade'en und den Maultieren schritthielten. Sie gingen zwischen den Zelten, die die Abhänge bedeckten, ihren Aufgaben nach und blickten höchstens einmal des Hufgeklappers wegen auf.
Es hatte ihn überrascht, von fast zwanzigtausend gefangenen Anhängern Couladins zu erfahren. Bevor er die Zwei Flüsse verließ, hatte er überhaupt nicht glauben können, daß sich je so viele Menschen am gleichen Ort aufhielten. Doch diese Gefangenen zu sehen hatte ihn viel stärker erschüttert. In Gruppen von vierzig oder fünfzig waren sie wie die Kohlköpfe auf dem Acker auf den Abhängen plaziert worden. Männer wie Frauen saßen nackt in der Sonne. Jede Gruppe wurde von einem Gai'schain bewacht, wenn überhaupt. Ansonsten kümmerte sich kaum jemand um sie. Höchstens, daß von Zeit zu Zeit eine in den Cadin'sor gekleidete Gestalt zu einer dieser Gruppen ging und einen Mann oder eine Frau mit einem Auftrag wegschickte. Wer da auch aufgerufen wurde, rannte los, und Rand beobachtete mehrere, die zurückkehrten und sich wieder an ihren Platz setzten. Die übrige Zeit saßen sie ruhig, fast gelangweilt da, als hätten sie nur keinen Grund, sich woanders zu befinden, und als wollten sie das auch gar nicht.
Vielleicht würden sie sich genauso gelassen weiße Gewänder überziehen. Und doch mußte er sich daran erinnern, wie die gleichen Leute schon einmal ihre eigenen Sitten und Gesetze übertreten hatten. Couladin hatte wohl mit diesen Verstößen begonnen oder sie befohlen, aber sie waren seiner Führung gefolgt und hatten ihm gehorcht.
Er blickte finster zu den Gefangenen hinüber —zwanzigtausend, und weitere würden dazukommen. Er würde sie ganz gewiß keinem Gai'schain anvertrauen. So brauchte er eine Weile, bis ihm etwas Eigenartiges an den anderen Aiel auffiel. Töchter des Speers und Aielmänner, die den Speer trugen, hatten nie eine Kopfbedeckung außer natürlich der Schufa und benützten auch niemals eine andere Farbe als solche, die in der Wüstenlandschaft zur Tarnung dienen konnten, doch nun sah er Männer mit einem schmalen roten Stirnband. Vielleicht jeder vierte oder fünfte hatte sich ein rotes Tuch um die Stirn gewickelt, auf das eine Scheibe gestickt war, die beiden zusammengesetzten Tränen, eine schwarz und eine weiß. Andere hatten sie sich auf die Stirn gemalt. Und was vielleicht das Eigenartigste war: auch Gai'schain trugen dieses neue Zeichen. Die meisten hatten wohl die Kapuzen übergezogen, aber jeder mit unbedecktem Kopf zeigte das gleiche Mal. Und die Algai'd'siswai im Cadin'sor sahen zu und unternahmen nichts. Den Gai'schain war unter keinen Umständen erlaubt, Gleiches zu tragen, wie diejenigen, denen es gestattet war, Waffen zu führen. Niemals.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Aviendha kurz angebunden zu seinem Rücken, als er sie fragte, was das zu bedeuten habe. Er bemühte sich, etwas gerader aufgerichtet im Sattel zu sitzen. Sie schien ihn tatsächlich etwas fester als notwendig gepackt zu haben. Einen Augenblick später fuhr sie fort, allerdings so leise, daß er genau aufpassen mußte, um alles zu verstehen. »Bair drohte mir Prügel an, wenn ich es noch einmal erwähnte, und Sorilea verpaßte mir eins mit dem Stock, aber ich glaube, das sind die, die behaupten, wir seien Siswai'aman.«
Rand öffnete den Mund, um nach der Bedeutung dieser Bezeichnung zu fragen, denn er kannte nur wenige Worte der Alten Sprache, doch da kam ihm wirklich eine stichhaltige Übersetzung in den Sinn. Siswai'aman. Wörtlich konnte das bedeuten: der Speer des Drachens.
»Manchmal«, schmunzelte Asmodean von unten herauf, »ist es schwer, den Unterschied zwischen Euch selbst und Euren Feinden zu erkennen. Sie wollen die Welt besitzen, aber wie es scheint, besitzt Ihr bereits ein Volk.«
Rand wandte ihm das Gesicht zu und starrte ihn solange an, bis seine Heiterkeit verflog und er sich mit einem verlegenen Achselzucken zu Pevin und dem Banner zurückfallen ließ. Das Dumme war tatsächlich, daß die Bezeichnung ein Besitzverhältnis einschloß; mehr als nur einschloß. Auch diese Erkenntnis stammte aus den Erinnerungen Lews Therins. Es schien nicht möglich, ein Volk zu besitzen, aber falls doch, wollte er das nicht. Alles, was ich will, ist lediglich, sie zu benützen, dachte er sarkastisch.
»Wie ich sehe, glaubst du das nicht«, sagte er über seine Schulter nach hinten. Keine der Töchter hatte ein solches Abzeichen angelegt.
Aviendha zögerte, bevor sie antwortete: »Ich weiß nicht, was ich glauben soll.« Sie sprach genauso leise wie vorher, und doch klang es nun irgendwie zornig und unsicher zugleich. »Es gibt vieles, woran man glauben kann, und die Weisen Frauen schweigen sich oft aus, als wüßten sie die Wahrheit selber nicht. Einige behaupten, wenn wir dir folgen, tun wir Buße für die Sünde unserer Vorfahren, die den ... den Aes Sedai gegenüber versagten.«
Das Stocken ihrer Stimme überraschte ihn. Er hatte überhaupt nicht daran gedacht, daß sie genauso besorgt wie die anderen Aiel über die Dinge aus ihrer Vergangenheit nachgrübelte, die er ihnen enthüllt hatte. Beschämt war vielleicht eine bessere Bezeichnung als besorgt. Scham war ein wichtiger Teil von Ji'e'toh. Sie schämten sich dessen, was sie gewesen waren: Anhänger des Wegs des Blattes. Und zur gleichen Zeit schämten sie sich, daß sie ihren Eid, diesem Weg zu folgen, gebrochen hatten.
»Zu viele haben mittlerweile irgendeine Fassung eines Teils der Prophezeiungen des Drachen gehört«, fuhr sie etwas beherrschter fort. Er fand es ein wenig überheblich — als habe sie auch nur ein Wort dieser Prophezeiungen gekannt, bevor sie ihre Ausbildung zur Weisen Frau begann. »Aber alles wurde verdreht. Sie wissen, daß du uns vernichten wirst...« einen tiefen Atemzug lang versagte ihre Selbstbeherrschung —, »aber viele glauben, du würdest uns in endlosen Tänzen des Speers langsam aufreiben und töten; ein Opfer, um die Sünde zu sühnen. Andere glauben, die Trostlosigkeit an sich sei eine Prüfung, damit vor der Letzten Schlacht alle Untauglichen aussortiert würden und nur der harte Kern übrigbliebe. Ich habe sogar von einigen gehört, die behaupten, die Aiel seien jetzt nur noch dein Traum, und wenn du von diesem Leben erwachst, sind wir nicht mehr.«
Das waren vielleicht grimmige Glaubensbekenntnisse! Schlimm genug, daß er ihnen eine Vergangenheit enthüllt hatte, die sie als beschämend betrachteten. Es war ein Wunder, daß ihn nicht alle im Stich gelassen hatten. Oder wahnsinnig geworden waren. »Was glauben die Weisen Frauen?« fragte er genauso leise wie sie.
»Daß alles, was kommen muß, auch kommen wird. Wir werden retten, was zu retten ist, Rand al'Thor. Auf mehr hoffen wir gar nicht.«
Wir. Sie betrachtete sich bereits als eine der Weisen Frauen, genau wie Egwene und Elayne sich unter die Aes Sedai einreihten. »Na ja«, sagte er mit gekünstelter Heiterkeit, »ich denke, zumindest Sorilea glaubt, man müsse mir alles um die Ohren schlagen. Wahrscheinlich ist Bair der gleichen Meinung. Und ganz bestimmt Melaine.«
»Unter anderem«, murmelte sie. Zu seiner Enttäuschung schob sie sich nach hinten, weg von ihm, wenn sie auch noch seinen Rock gepackt hielt. »Sie glauben viele Dinge, bei denen ich mir wünschte, sie glaubten sie nicht.«
Unwillkürlich mußte er grinsen. Also glaubte sie nicht, man müsse ihm eins auf die Ohren geben. Das war doch eine angenehme Abwechslung; die erste, seit er erwacht war.
Hadnan Kaderes Wagen standen etwa eine Meile von seinem Zelt entfernt. Sie waren im Kreis in einer breiten Senke zwischen zwei Hügeln aufgestellt worden und wurden von Steinhunden bewacht. Der Schattenfreund mit der enormen Hakennase hatte sich in einen beigen Rock gezwängt. Er blickte auf, als Rand mit seinem Banner und der dahineilenden Eskorte an ihm vorbeizog, wobei er sich mit dem üblichen großen Taschenruch den Schweiß vom Gesicht wischte. Auch Moiraine befand sich dort und inspizierte gerade den Wagen, auf dem der türähnliche Ter'Angreal unter einer Segeltuchplane hinter dem Kutschbock festgemacht war. Sie sah sich noch nicht einmal um, bis Kadere sie ansprach. Seinen Gesten nach schlug er ihr offensichtlich vor, Rand zu begleiten. Er schien sogar begierig darauf zu sein, daß sie sich trollte. Kein Wunder. Er konnte sich durchaus dazu gratulieren, daß er als Schattenfreund so lange unerkannt geblieben war, doch in Gesellschaft einer Aes Sedai lief er auf die Dauer eben doch Gefahr, entdeckt zu werden.
Es war nun wirklich eine Überraschung für Rand, den Mann immer noch hier vorzufinden. Mindestens die Hälfte der Kutscher, die mit ihm in die Wüste gekommen waren, hatten sich seit der Überquerung der Drachenmauer heimlich abgesetzt und waren durch Flüchtlinge aus Cairhien ersetzt worden, die Rand persönlich ausgewählt hatte, um sicherzugehen, daß es sich nicht wieder um die gleiche Sorte wie Kadere handelte. Er erwartete eigentlich jeden Morgen, zu erfahren, daß der Kerl sich ebenfalls abgesetzt habe, besonders seit dem Zeitpunkt, da Isendre geflohen war. Die Töchter hatten beinahe die gesamten Wagen auseinandergenommen, als sie nach der Frau suchten, während Kadere gleich drei Taschentücher durchschwitzte.
Er würde es nicht bedauern, wenn Kadere es fertigbrachte, sich eines Nachts fortzustehlen. Die Aielwachen hatten den Auftrag, ihn durchzulassen, solange er nicht versuchte, Moiraines kostbare Fracht mitzunehmen. Es wurde jeden Tag deutlicher, daß diese Ladungen für sie einen Schatz darstellten, und Rand würde nicht zusehen, wie sie ihn verlor.
Er blickte sich nach hinten um, doch Asmodean sah stur geradeaus und ignorierte die Wagen vollständig. Er behauptete, keinen Kontakt mehr mit Kadere gehabt zu haben, seit Rand ihn gefangengenommen hatte, und Rand hielt es für recht wahrscheinlich. Ganz bestimmt hatte der Händler nie seine Wagen verlassen und sich auch nie außer Sicht der Aielwachen begeben, außer, wenn er sich in seinem eigenen Wohnwagen befand.
Den Wagen gegenüber ließ Rand, ohne weiter nachzudenken, Jeade'en anhalten. Sicher würde Moiraine ihn doch nach Cairhien begleiten wollen. Wohl hatte sie ihm den Kopf mit Wissen vollgestopft, aber es schien immer noch eine Einzelheit zu geben, die sie hinzufügen wollte, und diesmal konnte er in ganz besonderem Maße ihre Gegenwart und ihren Rat gebrauchen. Aber sie blickte ihn lediglich eine Weile nachdenklich an und wandte sich dann wieder den Wagen zu.
Mit gerunzelter Stirn trieb er den Apfelschimmel weiter. Er würde sich daran erinnern müssen, daß sie noch andere Schafe zu scheren hatte, von denen er nichts wußte. Er war zu vertrauensselig geworden.
Am besten sollte er ihr gegenüber genauso mißtrauisch sein wie bei Asmodean.
Traue niemandem, dachte er düster. Einen Moment lang wußte er nicht, ob das sein Gedanke gewesen war oder der Lews Therins, doch dann entschied er, daß es keine Rolle spiele. Jeder hatte eigene Ziele und Wünsche. Am besten vertraute er niemandem vollständig außer sich selbst. Und doch fragte er sich, wenn schon ein anderer Mann immer wieder in seinen Verstand hineinredete, wie weit er sich dann selbst trauen konnte?
Geier verdunkelten den Himmel in der Umgebung Cairhiens. Eine Schicht schwarzer Federn über der anderen kreiste dort. Auf dem Boden hüpften sie zwischen ganzen Schwärmen summender Fliegen herum und krächzten heiser die schimmernden Raben an, die versuchten, ihnen die Rechte an den Leichen streitig zu machen. Wo Aiel über die baumlosen Hügel wanderten und die Leichen ihrer Gefallenen suchten, flogen sie schwerfällig auf und kreischten empört, und sobald die lebenden Menschen ein paar Schritte weitergegangen waren, landeten sie wieder auf ihrer reich gedeckten Tafel. Geier und Raben und Fliegen konnten doch nicht wirklich die Sonne trüber scheinen lassen, aber Rand kam es so vor.
Rand verdrehte es den Magen. Er bemühte sich, nicht hinzuschauen, und trieb Jeade'en zu einer schnelleren Gangart an, bis Aviendha sich wieder eng an ihn klammerte und die Töchter laufen mußten. Niemand protestierte, und er glaubte nicht, daß das nur daran liege, daß Aiel stundenlang so schnell laufen konnten. Sogar Asmodean wirkte blaß um die Augen. Pevins Gesichtsausdruck änderte sich nicht, obwohl das fröhlich über ihm flatternde Banner an diesem Ort wie blanker Hohn wirkte.
Was vor ihm lag, war auch nicht viel besser. Rand hatte das Vortor als eine Art lärmenden Bienenstock in Erinnerung, ein Durcheinander von lärm- und lebenerfüllten bunten Straßen und Gassen. Jetzt lag alles still da, und nur ein breiter Streifen Asche umgab die kantige graue Stadtmauer Cairhiens auf drei Seiten. Verkohlte Balken lagen ineinander verkeilt auf Steinfundamenten, und hier und da stand immer noch ein rußiger Schornstein, allerdings oft gefährlich zur Seite geneigt. Er sah einmal einen Stuhl, der fast unversehrt auf der Lehmstraße lag, dann wieder ein wohl hastig zusammengerafftes Bündel, das jemand auf der Flucht schließlich doch hatte fallen lassen, oder eine Stoffpuppe. Alles das betonte nur den Eindruck von Verwüstung.
Ein leichter Wind bewegte einige der Flaggen an den Türmen der Stadt und auf der Mauer. An einem Mast entdeckte er einen rotgoldenen Drachen auf weißem Grund, und an einem anderen wiederum sah er die weißen Halbmonde Tears auf rotem und goldenem Grund. Der Mittelteil des Jangai-Tores stand offen, drei hohe, rechteckige Öffnungen im grauen Stein, die von tairenischen Soldaten mit breitrandigen Helmen bewacht wurden. Einige waren beritten, doch die meisten zu Fuß. Die verschiedenfarbigen Streifen an ihren weiten Ärmeln zeigten, daß es sich um Gefolgsleute mehrerer Lords handeln mußte.
Was man auch in der Stadt über den Sieg in der Schlacht wissen mochte und darüber, daß verbündete Aiel sie gerettet hatten, so erregte die Ankunft eines halben Tausends Far Dareis Mai doch einiges Aufsehen. Hände griffen unsicher nach den Heften der Schwerter oder nach Speeren und langen Schilden, oder nach Lanzen. Einige Soldaten machten Anstalten, die Tore zu schließen, während sie noch ihren Offizier fragend anblickten. Der Mann mit seinen drei weißen Federn am Helm zögerte, stellte sich in den Steigbügeln auf und hob die Hand über seine Augen, um das rote Banner gegen die Sonne besser sehen zu können. Und natürlich vor allem Rand.
Mit einemmal setzte sich der Offizier ruckartig in den Sattel und rief etwas, das zwei der berittenen Tairener dazu veranlaßte, durch das Tor in die Stadt zu galoppieren. Gleich darauf winkte er die anderen Männer beiseite und schrie: »Macht Platz für den Lord Drachen Rand al'Thor! Das Licht erleuchte den Lord Drachen! Ruhm und Ehre dem Wiedergeborenen Drachen!«
Die Soldaten waren der Töchter des Speers wegen immer noch nervös, aber sie stellten sich doch schnell in zwei Reihen neben den Torflügeln auf und verbeugten sich tief, als Rand hindurchritt. Aviendha schnaubte vernehmlich an seinem Rücken und dann noch einmal, als er lachte. Sie verstand das nicht, und er hatte nicht die Absicht, sie aufzuklären. Was ihn so amüsierte, war die Tatsache, daß die Tairener und die Soldaten aus Cairhien wohl versuchten, ihn so hochnäsig und eingebildet wie nur möglich werden zu lassen, doch er konnte sich darauf verlassen, daß sie und die Töchter dafür sorgen würden, ihm diese Überheblichkeit ganz schnell wieder auszutreiben. Und Egwene. Und Moiraine. Und was das betraf, zeigten auch Elayne und Nynaeve die gleichen Fähigkeiten, falls er sie jemals wiedersah. Wenn er es recht bedachte, dann machten sich das recht viele von ihnen zur Lebensaufgabe. Die Stadt jenseits des Tores ließ sein Lachen verstummen.
Hier waren die Straßen gepflastert, einige breit genug, um ein Dutzend Wagen nebeneinander hindurchzulassen, und alle schnurgerade. Sie kreuzten sich stets im rechten Winkel. Die Hügel, die sich von außerhalb der Mauer hereinzogen, waren hier zu Terrassen gestaltet und von Mauern eingefaßt. Sie wirkten genauso künstlich und von Menschenhand erbaut wie die Steingebäude mit ihrer strengen Linienführung und den harten Kanten oder die großen Türme mit den unvollendeten Spitzen, die von Baugerüsten umgeben waren. Menschen drängten sich auf Straßen und Gassen, hohlwangig und mit glanzlosen Augen. Sie duckten sich unter provisorische Schutzdächer oder unter zerfledderte Decken, die man zu Zelten aufgespannt hatte. Oder sie drängten sich einfach auf den offenen Flächen zusammen. Sie trugen die dunkle Kleidung, wie sie von den Stadtbewohnern Cairhiens bevorzugt wurde, und die bunten Kleider der Leute aus dem Vortor und die grobgewebte Bekleidung der Bauern und Dorfbewohner. Sogar die Baugerüste waren besetzt, auf jeder Ebene bis hinauf zur obersten Plattform, wo die Leute der Höhe wegen ganz winzig aussahen. Nur die Straßenmitte hinter Rand und den Töchtern blieb gerade eben so lange menschenleer, wie die Leute brauchten, um die dichte Menge wieder zu schließen.
Es waren die Menschen, die seine Heiterkeit abrupt beendeten. So ausgelaugt und zerlumpt sie auch waren und zusammengedrängt wie die Schafe in einem viel zu kleinen Pferch, sie jubelten dennoch. Er hatte keine Ahnung, woher sie wußten, wer er sei. Höchstens, falls die Schreie des Offiziers vor dem Tor drinnen gehört worden waren... Doch wo immer die Töchter ihnen den Weg durch die Menge bahnten, brauste vor ihnen tosender Jubel auf. Der Donnerhall übertönte jedes einzelne Wort, und nur gelegentlich verstand er ein ›Lord Drache‹, wenn genügend Leute es im Chor riefen, aber die Bedeutung war klar. Männer und Frauen hielten ihre Kinder hoch, damit sie ihn vorbeireiten sehen konnten, Schals und Tücher wurden aus allen Fenstern geschwenkt, und viele Menschen versuchten, sich mit vorgestreckten Händen an den Töchtern vorbei an ihn heranzudrängen.
Sie schienen alle Furcht vor den Aiel zu vergessen, wenn sie die Möglichkeit sahen, wenigstens mit einem Finger Rands Stiefel zu berühren, und sie waren so zahlreich, und Hunderte drängten von hinten nach, daß einige sich tatsächlich durchwinden konnten.
Eine ganze Menge berührte auch statt dessen Asmodean, der sicherlich wie ein Lord wirkte mit all den hervorquellenden Spitzen, und möglicherweise glaubten auch einige, der Lord Drache müsse ein älterer Mann sein als jener Jüngling im roten Rock, doch das machte nichts aus. Wer es auch immer fertigbrachte, eine Hand an irgend jemandes Stiefel oder Steigbügel zu legen, und sei es Pevins, dessen Miene zeigte pure Freude, und an den Mündern konnte man in all diesem Lärm ablesen, daß sie begeistert ›Lord Drache‹ riefen, obwohl die Töchter sie mit Hilfe ihrer Schilde zurückdrängten.
Bei all dem Lärm und Jubel, und da der Offizier am Tor ja auch Reiter vorangeschickt hatte, war es kein Wunder, daß bald Meilan selbst erschien, ein Dutzend niederer Lords aus Tear im Schlepptau und fünfzig Verteidiger des Steins vorweg, um ihm den Weg zu bahnen. Sie stießen die Leute grob mit den Enden ihrer Lanzen aus dem Weg. Grauhaarig, hart und hager, in einem feinen Seidenrock mit grünen Satinstreifen und Aufschlägen an den Ärmeln, so saß der Hochlord mit geradem Rücken und doch entspannt im Sattel, wie einer, den man auf ein Pferd gesetzt und reiten gelehrt hatte, kaum daß er laufen konnte. Er ignorierte den Schweiß auf seiner Stirn so gewiß wie die Möglichkeit, daß seine Eskorte jemanden niedertrampeln könnte. Beides waren nebensächliche Dinge, und der Schweiß war wahrscheinlich das größere Problem in seiner Sichtweise.
Edorion, der kleine Lord mit den roten Wangen, der in Eianrod gewesen war, befand sich in seiner Begleitung, doch war er nicht mehr so mollig wie zuvor, so daß sein Rock zu weit geworden war. Der einzige, den Rand noch erkannte, war ein breitschultriger Bursche in verschiedenen Grüntönen; wie er sich erinnerte, hatte Reimon damals im Stein von Tear gern mit Mat Karten gespielt. Die übrigen waren zumeist ältere Männer. Keiner legte mehr Rücksicht auf die Menge an den Tag als Meilan, als sie sich buchstäblich hindurchpflügten. In der ganzen Gruppe befand sich kein einziger aus Cairhien.
Die Töchter ließen auf Rands Nicken hin Meilan durch, schlossen ihre Reihen aber sofort wieder hinter ihm, um die anderen fernzuhalten. Der Hochlord bemerkte das zuerst überhaupt nicht. Als es ihm bewußt wurde, funkelten seine dunklen Augen zornig. Er war ziemlich oft zornig, dieser Meilan, seit Rand den Stein von Tear betreten hatte.
Der Lärm wurde mit der Ankunft der Tairener schwächer und legte sich schließlich bis auf ein dumpfes Gemurmel, als Meilan sich im Sattel steif vor Rand verbeugte. Sein Blick huschte kurz zu Aviendha hin, aber dann entschied er sich wohl, sie ebenfalls — genau wie die Töchter des Speers — zu ignorieren. ›Das Licht erleuchte Euch, mein Lord Drache. Seid mir willkommen in Cairhien. Ich bitte um Verzeihung für das Benehmen der Bauern, aber ich hatte nicht gewußt, daß Ihr bereits jetzt die Stadt besuchen wolltet. Wäre ich informiert gewesen, hätte ich die Straßen räumen lassen. Ich wollte Euch einen großen Auftritt arrangieren, so, wie er dem Wiedergeborenen Drachen gebührt.«
»Den hatte ich doch gerade«, sagte Rand, und der andere Mann riß die Augen auf.
»Wie Ihr meint, mein Lord Drache.« Er fuhr einen Augenblick später fort mit seiner Begrüßung, und aus seinem Tonfall wurde deutlich, daß er Rand überhaupt nicht verstanden hatte: »Wenn Ihr mich zum Königspalast begleiten würdet? Ich habe dort eine kleine Begrüßung vorbereitet. Klein, fürchte ich, weil ich keine Vorwarnung gehabt habe, doch selbst damit möchte ich Euch zeigen, daß... «
»Was Ihr vorbereitet habt, wird genügen«, unterbrach ihn Rand und erhielt dafür eine weitere Verbeugung und ein dünnes, unterwürfiges Lächeln zur Antwort. Der Kerl war die Unterwürfigkeit in Person, und in einer weiteren Stunde würde er reden wie jemand, dessen Verstand nicht ausreicht, um die Tatsachen vor seiner Nase zu begreifen, doch unter all dem lagen eine Verachtung und ein Haß, von denen er glaubte, Rand könne sie nicht erkennen, obwohl sie ihm aus dem Augen leuchteten. Verachtung, weil Rand kein Lord war, jedenfalls keiner von adliger Herkunft, wie Meilan sie anerkannte, und Haß, weil Meilan vor Rands Kommen die Macht über Leben und Tod in Tear innegehabt hatte und nur wenige als gleichgestellt und niemanden über sich hatte anerkennen müssen. Zu glauben, daß eines Tages die Prophezeiungen des Drachen erfüllt würden, war ja schön und gut, aber sie selbst erfüllt zu sehen und dabei in der eigenen Macht eingeschränkt zu werden war schwer zu ertragen.
Es gab eine kurze Verwirrung, bevor Rand Sulin dazu brachte, den anderen tairenischen Lords zu gestatten, sich mit ihren Pferden hinter Asmodean und Pevins Banner anzuschließen. Meilan wollte den Weg wieder durch die Verteidiger des Steins räumen lassen, doch Rand befahl kurz angebunden, daß sie hinter den Töchter zu folgen hätten. Die Soldaten gehorchten. Ihre Gesichter unter den breiten Helmrändern verzogen sich nicht, nur der Offizier mit den weißen Federn schüttelte den Kopf, worauf der Hochlord ihm ein beruhigendes Lächeln zuwarf. Das Lächeln verflog, als klar wurde, daß sich die Menge freundlich vor den Töchtern des Speers Öffnete, um alle durchzulassen. Daß sie sich nicht mit Knüppeln den Weg durch die Menge erkämpfen mußten, schrieb Meilan dem Ruf der Aiel zu, gewalttätige Wilde zu sein, und als Rand auf seine Bemerkung hin nicht antwortete, runzelte er die Stirn. Eines bemerkte Rand sehr wohl: Nun, da die Tairener bei ihm waren, blieb der Jubel aus.
Der Königliche Palast von Cairhien nahm den höchsten Hügel der Stadt ein, genau im Mittelpunkt, eckig, düster und massiv. Bei all den verschiedenen Ebenen und Stockwerken des Palasts und den mit Stein eingefaßten Terrassen war es schwer, festzustellen, daß es hier überhaupt einen Hügel gab. Hohe Säulengänge und schmale, hohe Fenster, hoch über dem Boden, konnten die Strenge nicht mildern, genau wie die grauen Stufentürme, die ganz präzise in den Ecken konzentrischer Quadrate standen und nach innen zu immer höher wurden. Die Straße mündete in eine lange, breite Rampe, die hinaufführte zu mächtigen bronzenen Torflügeln. Dahinter befand sich ein riesiger, quadratischer Innenhof, der jetzt von tairenischen Soldaten umrahmt war, die mit schräg aufgestützten Speeren wie Statuen dastanden. Weitere standen auf den Steinbalkonen über dem Hof.
Unruhe machte sich beim Anblick der Töchter in den Reihen der Soldaten breit, aber sie flaute schnell ab, als Sprechchöre zu rufen begannen: »Ruhm und Ehre dem Wiedergeborenen Drachen! Ruhm und Ehre dem Lord Drachen und Tear! Ruhm und Ehre dem Lord Drachen und Hochlord Meilan!« Meilans Gesichtsausdruck nach hätte man glauben können, es sei alles ganz spontan geschehen.
Dunkel uniformierte Diener, die ersten Einwohner Cairhiens, die Rand im Palast entdecken konnte, eilten mit Schüsseln aus gehämmertem Gold und weißen Leinentüchern herbei, als er ein Bein über den hohen Sattelkopf schwang und vom Pferd glitt. Weitere kamen, um die Zügel zu übernehmen. Er wusch sich schnell Gesicht und Hände mit kühlem Wasser, damit Aviendha allein herunterklettern mußte. Hätte er versucht, ihr herunterzuhelfen, hätten sie anschließend möglicherweise beide auf den Pflastersteinen gelegen, so schwach fühlte er sich.
Unaufgefordert wählte Sulin zwanzig Töchter aus, die neben ihr selbst Rand hineinbegleiten sollten. Einerseits war er ganz froh, daß sie nicht jeden einzelnen Speer in seiner Nähe behalten wollte. Andererseits war er alles andere als glücklich darüber, daß ausgerechnet Enaila, Lamelle und Somara unter den zwanzig waren. Die besorgten Blicke, die sie ihm zuwarfen —besonders Lamelle, eine hagere Frau mit kräftigem Kinn und dunkelrotem Haar, fast zwanzig Jahre alter als er —, ließen ihn mit den Zähnen knirschen, während er sich bemühte, beruhigend zurückzulächeln. Irgendwie mußte Aviendha es fertiggebracht haben, hinter seinem Rücken mit Sulin und ihnen zu sprechen. Ich kann mich vielleicht der Töchter nicht erwehren, dachte er grimmig, als er einem der Diener ein Leinenhandtuch zurückgab, aber seng mich, wenn eine ganz bestimmte Aielfrau nicht feststellen wird, daß ich der Car'a'carn bin!
Die anderen Hochlords begrüßten ihn am Fuß der breiten, grauen Treppe, die vom Hof hochführte. Alle waren in bunte Seidenröcke gekleidet, zumeist mit Satinstreifen und silberbeschlagenen Stiefeln. Es war eindeutig, daß niemand von ihnen vorher von Meilans Ausritt zu seiner Begrüßung erfahren hatte. Torean mit dem Kartoffelgesicht, seltsam träge für einen solch kräftigen Mann, schnüffelte ängstlich an einem parfümierten Taschentuch. Gueyam, dessen eingeölter Bart seinen Glatzkopf noch kahler erscheinen ließ, ballte Fäuste vom Umfang kleiner Speckseiten und funkelte Meilan zornig an, während er sich bereits vor Rand verbeugte. Simaans spitze Nase schien vor Empörung zu beben; Maraconn, dessen blaue Augen in Tear eine Rarität waren, preßte seine sowieso schon dünnen Lippen aufeinander, bis sie fast nicht mehr zu sehen waren, und obwohl Hearnes schmales Gesicht zu einem Lächeln verzogen war, zupfte er sich unbewußt an einem Ohrläppchen, was er immer tat, wenn er wütend war. Nur der überschlanke Aracome zeigte äußerlich keinerlei Gefühlsregung, aber er beherrschte seinen Zorn fast immer solange, bis es Zeit war, ihn nach außen hin explodieren zu lassen.
Die Gelegenheit war zu gut, um sie auszulassen. Er dankte Moiraine innerlich für ihren Unterricht. Sie sagte immer, es sei leichter, einem Narren ein Bein zu stellen, als ihn zu Boden zu schlagen. So schüttelte Rand Toreans fette Hand ganz herzlich und klopfte Gueyam auf eine kräftige Schulter, erwiderte Hearns Lächeln mit einem, das so warm war, als gelte es einem guten Freund, und nickte Aracome schweigend, aber mit einem bedeutungsvollen Blick zu. Dafür ignorierte er Simaan und Maraconn nahezu vollständig, nachdem er ihnen jeweils einen Blick, so kalt und tief wie ein See im Winter, zugeworfen hatte.
Das war alles, was im Augenblick getan werden mußte. Natürlich beobachtete er ihre Mienen, wie sie Blicke wechselten und nachdenklich dreinblickten. Sie hatten das ganze Leben lang Daes Dae'mar, das Spiel der Häuser, gespielt, und sich in Cairhien aufzuhalten, wo jeder Adlige ganze Bände in eine hochgezogene Augenbraue oder ein Husten hineinlesen konnte, hatte ihre Empfindlichkeit nur gesteigert. Jeder einzelne wußte, daß Rand keinen Grund zu besonderer Freundlichkeit ihm gegenüber hatte, aber jeder mußte sich Gedanken darüber machen, ob die Begrüßung ihm gegenüber lediglich eine echte Verbindung zu einem der anderen vertuschen solle. Simaan und Maraconn schienen am meisten besorgt zu sein, und doch wurden sie von den anderen ganz besonders mißtrauisch beobachtet. Vielleicht war sein kühles Benehmen auch nur ein Täuschungsmanöver gewesen? Oder er wollte genau das alle glauben machen.
Was ihn betraf, so glaubte Rand, Moiraine und Thom Merrilin wären sicherlich stolz auf ihn. Auch wenn keiner dieser sieben im Augenblick aktiv gegen ihn intrigierte, obwohl darauf noch nicht einmal Mat wetten würde, konnten Männer in ihren Positionen viel tun, um seine Pläne zu stören, ohne selbst in Erscheinung zu treten, und das würden sie aus bloßer Gewohnheit tun, wenn sie sonst keinen Grund hatten. Oder besser, sie hätten es getan. Jetzt hatte er sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Wenn er diesen Zustand erhalten konnte, wären sie zu sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig zu belauern, und zu besorgt darüber, selbst belauert zu werden, um ihm Schwierigkeiten zu bereiten. Vielleicht gehorchten sie sogar ausnahmsweise einmal, ohne tausend Gründe zu suchen, warum man das ganz anders anpacken müsse, als er wollte. Nun, möglicherweise war das zuviel verlangt.
Seine Selbstzufriedenheit verging ihm, als er Asmodean anzüglich grinsen sah. Und Aviendhas fragender Blick war noch schlimmer. Sie war im Stein von Tear gewesen, wußte, wer diese Männer waren und warum er sie hierhergeschickt hatte. Ich tue, was ich muß, dachte er angewidert, und dabei wünschte er sich, es hätte nicht wie eine Entschuldigung ihm selbst gegenüber geklungen.
»Hinein!« befahl er etwas schärfer als beabsichtigt, und die sieben Hochlords gehorchten, als erinnerten sie sich mit einemmal daran, wer und was er war.
Sie wollten sich um ihn drängen, als er die Treppe hinaufstieg, doch bis auf Meilan, der den Weg wies, ließen die Töchter einfach niemanden an ihn heran, und so mußten sich die Hochlords mit Asmodean und dem niederen Adel hinten anschließen. Aviendha hielt sich natürlich neben ihm, Sulin ging an seiner anderen Seite, Somara und Lamelle und Enaila gleich hinter ihm. Sie hätten die Hand ausstrecken und seinen Rücken berühren können, so nahe waren sie. Er warf Aviendha einen anklagenden Blick zu, worauf sie die Augenbrauen so unschuldig hochzog, daß er beinahe glaubte, sie habe doch nichts damit zu tun gehabt. Beinahe jedenfalls.
Die Gänge im Palast waren bis auf die dunkellivrierten Diener menschenleer. Sie verbeugten sich so tief, daß die Brust fast die Knie berührte, oder knicksten ebenfalls tief, wenn sie vorbeigingen, doch als er den Großen Sonnensaal betrat, merkte er, daß der Adel Cairhiens doch nicht ganz vom eigenen Palast ausgesperrt worden war.
»Der Wiedergeborene Drache«, verkündete ein weißhaariger Mann, der gerade innerhalb des mächtigen, vergoldeten Tors mit der Aufgehenden Sonne stand. Sein roter Rock war mit sechszackigen blauen Sternen bestickt. Nach diesem Aufenthalt in Cairhien war ihm der Rock ein wenig zu weit. Doch er war ganz eindeutig als ein höhergestellter Diener aus dem Hause Meilans zu erkennen. »Heil dem Lord Drachen Rand al'Thor! Ruhm und Ehre dem Lord Drachen!«
Ein Aufschrei füllte den Saal bis zur hohen, gewölbten Decke, fünfzig Schritt über ihm: »Heil dem Lord Drachen Rand al'Thor! Ruhm und Ehre dem Lord Drachen! Das Licht erleuchte den Lord Drachen!« Das darauffolgende Schweigen schien ihm im Vergleich doppelt so still.
Zwischen den mächtigen Vierecksäulen aus dunkel-, ja beinahe schwarzblau gestreiftem Marmor standen mehr Tairener, als Rand erwartet hatte. Ganze Reihen von Lords und Ladies dieses Landes warteten mit ihren besten Kleidern angetan auf ihn. Spitze Samthüte waren da zu sehen, Kurzmäntel mit gestreiften Puffärmeln, bunte Abendgewänder und Spitzenkrausen und kleine Kappen, die kunstvoll bestickt oder über und über mit Perlen oder kleinen Gemmen besetzt waren.
Hinter ihnen standen die Adligen aus Cairhien, dunkel gekleidet, abgesehen von bunten Streifen auf dem Brustteil der Abendkleider oder der knielangen Mäntel. Je mehr Streifen von der Farbe des Hauses, desto höher der Rang des Trägers, doch Männer und Frauen, die vom Hals bis zur Taille oder noch tiefer mit solchen Streifen geschmückt waren, standen hinter Tairenern, die eindeutig kleineren Häusern angehörten und lediglich gelbe Stickereien trugen anstatt Goldfäden und Wolle statt Seide. Nicht wenige der Adligen Cairhiens hatten sich die Haare über der Stirn rasiert und den Kopf gepudert. Alle jüngeren Männer hatten das getan.
Die Tairener schienen erwartungsvoll, wenn auch nervös, während die Gesichter der Männer und Frauen aus Cairhien wie aus Eis gemeißelt schienen. Man konnte nicht feststellen, wer gejubelt hatte und wer nicht, aber Rand vermutete, die meisten Rufe seien aus den vorderen Reihen erklungen. »Eine große Anzahl hier wünschte, Euch zu dienen«, murmelte Meilan vertraulich, als sie über den blaugekachelten Fußboden mit dem großen goldenen Mosaik der Aufgehenden Sonne schritten. Eine Welle lautloser Knickse und Verbeugungen folgte ihnen.
Rand knurrte nur. Sie wünschten, ihm zu dienen? Er brauchte Moiraine nicht, um zu wissen, daß diese niederen Adligen sich an Gütern bereichern wollten, die man Cairhien abnahm. Zweifellos hatten Meilan und die anderen sechs bereits angedeutet oder sogar versprochen, wer welche Ländereien erhalten werde.
Am hinteren Ende des Großen Saals stand der Sonnenthron mitten auf einem breiten Podest aus tiefblauem Marmor. Selbst hier zeigte sich die typische Zurückhaltung, wie sie in Cairhien üblich war, zumindest, was den Prunk sonstiger Throne betraf. Der große Sessel mit den schweren Armlehnen glitzerte vor Blattgold und goldener Seide, wirkte aber trotzdem schlicht durch seine einfache, senkrechte Linienführung. Nur die Aufgehende Sonne Cairhiens mit ihren wellenförmigen Strahlen glänzte auffällig ganz oben an der Rücklehne, wo sie sich über dem Kopf desjenigen erhob, der auf diesem Thron saß.
Rand erkannte, lange bevor er die neun Stufen zu dem Podest erreichte, daß sie ihn eben dorthin setzen wollten. Aviendha schritt neben ihm die Stufen hinauf, und Asmodean, als sein Barde, wurde ebenfalls hinaufgelassen, doch Sulin postierte die Töchter des Speers so um den Sockel, daß sie mit ihren Speeren Meilan und den übrigen Hochlords wie selbstverständlich den Weg hinauf versperrten. Auf diesen tairenischen Gesichtern zeigte sich pure Enttäuschung. Im Saal war es so ruhig, daß Rand seine eigenen Atemzüge hören konnte.
»Der Thron gebührt jemand anderem«, sagte er schließlich in das Schweigen hinein. »Außerdem habe ich zu lange im Sattel gesessen, um nun auf einem so harten Stuhl Platz zu nehmen. Bringt mir einen bequemen Sessel.«
Einen Moment lang hielten die Zuschauer im Saal vor Schreck den Atem an. Dann begann alles, leise durcheinanderzureden. Meilans Miene wirkte mit einemmal so vollkommen berechnend, auch wenn er den Eindruck schnell wieder zu verwischen suchte, daß Rand beinahe laut gelacht hätte. Höchstwahrscheinlich hatte Asmodean recht, was diesen Mann betraf. Asmodean selbst musterte Rand so nachdenklich, daß klar war, welche Fragen hinter seiner Stirn bohrten.
Es dauerte ein paar Minuten, bis der Mann im sternverzierten Rock schnaufend heraufrannte, gefolgt von zwei dunkellivrierten Dienern, die einen hohen Lehnstuhl mit Seidenpolstern trugen. Unter vielen besorgten Blicken in Rands Richtung zeigte er ihnen, wo sie den Stuhl hinstellen sollten. Die dicken Stuhlbeine und die Lehne empor zogen sich vergoldeter Zierrat, doch vor dem Sonnenthron wirkte er geradezu unbedeutend.
Während die drei Diener sich noch unter vielen tiefen Verbeugungen und Kratzfüßen entfernten, schob Rand die meisten Kissen zur Seite und ließ sich dankbar nieder, den Seanchan-Speer über die Knie gelegt. Er gab sich allerdings Mühe, nicht wohlig zu seufzen. Aviendha beobachtete ihn viel zu genau, als daß er das hätte riskieren können, und Somara blickte auffällig von ihm zu Aviendha hinüber und dann wieder zu ihm, was seinen Verdacht erhärtete.
Doch welche Probleme er auch mit Aviendha und den Far Dareis Mai haben mochte — die meisten Anwesenden warteten mit gemischten Gefühlen, teils erwartungsvoll, teils voller Befürchtung, auf das, was er sagen würde. Zumindest werden sie hüpfen, wenn ich ›Frosch‹ sage, dachte er sarkastisch. Es würde ihnen wohl nicht passen, aber gehorchen würden sie.
Er hatte mit Moiraines Hilfe das alles geplant, was hier zu tun war. Auf einige ihrer Vorschläge war er bereits selbst gekommen gewesen, weil er wußte, daß es so richtig sei. Es wäre angenehmer gewesen, sie jetzt hier neben sich zu haben, damit sie ihm im Zweifelsfall etwas ins Ohr flüstern konnte, anstatt ansehen zu müssen, wie Somara auf ein Signal Aviendhas lauerte, aber Warten hatte keinen Zweck. Sicher befand sich jeder Adlige aus Tear und Cairhien, der sich in der Stadt aufhielt, mittlerweile hier im Saal.
»Warum stehen die Vertreter Cairhiens hinten an?« fragte er laut, und in die Menge der Adligen kam Bewegung. Vor allem tauschten sie verwirrte Blicke. »Die Tairener kamen, um zu helfen, doch das ist kein Grund für die Vertreter Cairhiens, sich so schüchtern hinten anzustellen. Alle sollen sich jetzt dem Rang nach neu formieren. Alle!«
Es war schwer festzustellen, ob nun die Tairener oder die aus Cairhien überraschter waren. Meilan sah aus, als wolle er die eigene Zunge verschlingen, und die anderen sechs standen ihm nicht viel nach. Selbst der in seinen Reaktionen so gemächliche Aracome wurde blaß. Es gab viel Stiefelgetrappel und das Geräusch aneinander vorbeischabender Röcke, es gab viele eisige Blicke auf beiden Seiten, doch sie leisteten seinem Befehl Folge. So standen bald in der vordersten Reihe nur noch Männer und Frauen mit Streifen auf der Brust, und in der zweiten befanden sich nur ein paar Tairener. Am Fuße des Podestes hatten sich noch einmal so viele Lords und Ladies aus Cairhien, zumeist grauhaarig und ausnahmslos mit Streifen vom Kopf bis zu den Knien ausgezeichnet, zu Meilan und seinen Leuten gesellt, obwohl vielleicht ›gesellt‹ der falsche Ausdruck war. Sie standen in zwei Gruppen dort, durch einen mindestens drei Schritt breiten Streifen getrennt, und sie blickten so betont aneinander vorbei, daß sie genausogut die Fäuste schwingen und sich gegenseitig hätten anschreien können. Aller Blicke ruhten auf Rand, die der Tairener von Zorn erfüllt, und die der Adligen aus Cairhien immer noch eisig. Das Eis schmolz nur bei einigen andeutungsweise, aber ansonsten sahen sie ihn voller Berechnung im Blick an.
»Mir sind die Flaggen über Cairhien aufgefallen«, sagte er, sobald wieder Ruhe eingekehrt war. »Es ist gut, daß so viele Halbmonde von Tear dort wehen. Ohne das Korn Tears würde in Cairhien niemand mehr leben, der eine Flagge hissen kann, und ohne die Schwerter Tears würden die Menschen, die heute in dieser Stadt überlebt haben, Adlige wie Gemeine, den Shaido gehorchen müssen. Tear hat diese Ehrung verdient.« Das ging den Tairenern natürlich hinunter wie Honig. Sie richteten sich hoch auf, nickten energisch und lächelten noch energischer. Nur die Hochlords schienen verwirrt, weil seine Worte, verglichen mit denen zuvor, so widersprüchlich schienen. Und die Adligen aus Cairhien, die neben dem Podest standen, warfen sich zweifelnde Blicke zu. »Aber ich brauche nicht so viele Drachenbanner, was mich betrifft. Laßt ein Drachenbanner hängen, und zwar am höchsten Turm der Stadt, damit es alle sehen, die sich der Stadt nähern, aber den Rest nehmt herunter und ersetzt ihn durch die Flaggen Cairhiens. Dies ist Cairhien, und die Aufgehende Sonne muß und wird stolz über der Stadt schweben. Auch Cairhien hat seine Ehre und seinen Stolz, und dem werden wir Rechnung tragen.«
Der Saal explodierte so unvermittelt in einem Jubelsturm, daß die Töchter ihre Speere hoben. Der Jubel hallte von den Wänden wider. Blitzartig verständigte sich Sulin durch die Handzeichensprache der Töchter mit den anderen, und bereits halb erhobene Schleier wurden wieder gesenkt. Diese Adligen Cairhiens schrien und jubelten genauso laut, wie es die Menschen auf den Straßen getan hatten. Sie tanzten und warfen die Arme vor Freude empor, als befänden sie sich im Vortor und feierten ein Fest. Inmitten dieses Durcheinanders war es nun an den Tairenern, schweigend finstere Blicke zu tauschen. Sie wirkten aber nicht direkt zornig. Selbst Meilan schien einfach verunsichert, als er wie Torean und die anderen erstaunt das Benehmen der Lords und Ladies von so hohem Rang beobachteten, die einen Augenblick zuvor noch so kalt und würdevoll gewirkt hatten und nun tanzten und dem Lord Drachen zujubelten.
Rand wußte nicht, was die einzelnen in seine Worte hineinlasen. Natürlich hatte er von ihnen erwartet, daß sie mehr hörten, als er sagte, besonders die Leute aus Cairhien, und vielleicht würde der eine oder andere sogar hören, was er wirklich sagte, doch nichts hatte ihn auf dieses Schauspiel vorbereitet. Die übliche Reserviertheit der Menschen dieses Landes war schon eigenartig, wie er sehr wohl wußte, und wandelte sich manchmal in eine unerwartete Aufdringlichkeit. Moiraine war im Hinblick auf dieses Verhalten sehr zurückhaltend gewesen, obwohl sie ja darauf bestand, ihm wirklich alles beizubringen; und so hatte sie sich auf die Bemerkung beschränkt wenn diese Reserviertheit einmal überwunden sei, dann in überraschend hohem Maße. Und überraschend war dies hier in der Tat.
Als sich der Jubel endlich legte, begannen sie, ihm einer nach dem anderen Gefolgschaftstreue zu schwören. Meilan war der erste, der niederkniete und mit angespannter Miene beim Licht und bei seiner Hoffnung auf Erlösung und Wiedergeburt schwor, treu zu dienen und zu gehorchen. Das war eine alte Eidesformel, und Rand hoffte, sie möge einige dazu bringen, sich tatsächlich an den Eid zu halten. Sobald Meilan die Spitze des abgeschnittenen Seanchan-Speers geküßt hatte und sich bemühte, seine saure Miene zu verbergen, indem er sich den Bart strich, wurde er von Lady Colavaere abgelöst. Sie war eine mehr als nur gut aussehende Frau von mittleren Jahren, deren waagrechte Farbstreifen sich vom Spitzenkragen bis zu den Knien fortsetzten, und dunkle Elfenbeinspitzen fielen von den Ärmeln über ihre Hände, die sie Rand entgegenstreckte. Sie sprach die Eidesformel mit klarer, fester Stimme und in diesem musikalischen Tonfall, den er von Moiraine so gut kannte. Auch der Blick aus ihren dunklen Augen hatte etwas ähnlich Abwägendes wie der Moiraines, besonders, als sie Aviendha musterte, während sie knicksend an ihren Platz vor den Stufen zurückschritt. Torean war der nächste. Er schwitzte beim Schwur. Lord Dobraine folgte auf Torean, und seine tiefliegenden Augen blickten Rand forschend an. Er war einer der wenigen älteren Männer, der die Vorderseite seines langen, größtenteils grauen Haarschopfes abrasiert hatte. Auf ihn folgte Aracome und...
Rand wurde ungeduldig, als die Prozession immer weiter ging und einer nach dem anderen zu ihm heraufkam und niederkniete, einer aus Cairhien, einer aus Tear, einer aus Cairhien und immer so weiter, wie er es befohlen hatte. Das sei aber alles notwendig, hatte Moiraine gesagt, und eine Stimme in seinem Kopf, die er als die Lews Therins erkannte, stimmte ihr zu, doch für ihn war es Teil einer lästigen Verzögerung. Er mußte unbedingt ihre Loyalität besitzen, und wenn auch nur an der Oberfläche, um damit beginnen zu können, Cairhien für ihn abzusichern, und zumindest dieser Anfang mußte gemacht werden, bevor er gegen Sammael vorgehen konnte. Und das wird ganz bestimmt geschehen! Ich habe einfach noch viel zu viel zu tun, um zuzulassen, daß er aus den Büschen heraus ständig auf meine Beine einsticht! Er wird feststellen, was es heißt, den Drachen zu wecken!
Er verstand nicht wieso diese Menschen, die da vor ihn traten, zu schwitzen begannen und sich nervös die Lippen leckten, als sie niederknieten und ihren Treueeid stammelten. Aber er konnte eben auch nicht sehen, welch kaltes Licht aus seinen eigenen Augen leuchtete.