Elayne wurde schwach bewußt, daß man sie an Schultern und Fußgelenken die Treppe hinauftrug. Sie öffnete die Augen und konnte auch sehen, doch der Rest ihres Körpers hätte genauso zu jemand anderem gehören können, so wenig Kontrolle besaß sie über ihn. Selbst ihr Wimpernschlag war langsam und mühevoll. Ihr Gehirn schien wie mit Federn gefüllt.
»Sie ist wach, Herrin!« kreischte Luci und ließ fast ihre Beine fallen. »Sie schaut mich an!«
»Ich habe dir doch gesagt, du brauchst dir keine Sorgen machen.« Frau Macuras Stimme ertönte von irgendwo über ihr. »Sie kann die Macht nicht gebrauchen und noch nicht einmal mit einem Muskel zucken. Nicht mit Spaltwurzeltee im Magen. Ich habe das nur durch einen Zufall bemerkt, aber es hat sich gewiß als nützlich erwiesen.«
Es stimmte. Elayne hing schlaff wie eine Puppe, der man die halbe Füllung herausgerissen hat, zwischen ihnen. Ihr Hinterteil stieß immer wieder gegen die Stufen, und sie konnte weder laufen noch die Macht gebrauchen. Sie spürte wohl die Wahre Quelle, aber der Versuch, sie zu ergreifen, war etwa so vergeblich, wie mit kältestarrenden Fingern eine Nadel von einem Spiegel aufheben zu wollen. Panik wallte in ihr auf, und eine Träne rollte über ihre Wange.
Vielleicht wollten diese Frauen sie den Weißmänteln zur Exekution übergeben, aber andererseits konnte sie kaum glauben, daß die Weißmäntel Frauen benützten, um eine solche Falle zu stellen, in der Hoffnung, eine Aes Sedai könne hineintappen. Das ließ auf die Schattenfreunde schließen und darauf, daß sie neben den Gelben auch den Schwarzen Ajah dienten. Man würde sie bestimmt den Schwarzen Ajah ausliefern, falls Nynaeve nicht doch entkommen war. Doch wollte sie selbst entkommen, konnte sie auf niemand anderen zählen. Und sie konnte sich weder bewegen noch die Macht benützen. Mit einemmal wurde ihr bewußt, daß sie zu schreien versuchte, aber heraus kam nur ein dünnes, gurgelndes Winseln. Das zu unterbinden kostete sie den Rest ihrer Kraft.
Nynaeve wußte doch alles, was Kräuter betraf. Zumindest behauptete sie das. Warum hatte sie nicht erkannt, welcher Tee das war? Hör auf zu winseln! Die kleine, feste Stimme in ihrem Hinterkopf hörte sich erstaunlich genau wie die Linis an. Ein Ferkel, das unter einen Zaun geraten ist und quiekt, lockt damit nur den Fuchs an, statt sich zu befreien und wegzurennen. Verzweifelt machte sie sich daran, Saidar auf irgendeine Weise wieder zu erreichen. Es war doch so einfach gewesen, aber jetzt schien es genauso unmöglich, wie Saidin zu ergreifen. Trotzdem gab sie nicht auf. Es war das einzige, was sie unternehmen konnte.
Frau Macura jedenfalls schien keine Sorge mehr zu haben. Sobald sie Elayne auf das schmale Bett in einer kleinen Kammer mit nur einem Fenster hatten fallenlassen, eilte sie ohne Blick zurück mit Luci wieder hinaus. Elaynes Kopf lag so, daß sie ein weiteres enges Bett und eine hohe Kommode mit stark angelaufenen Messingknöpfen an den Schubladen erkennen konnte. Die Augen konnte sie bewegen, doch der Kopf blieb wie gelähmt.
Nach wenigen Minuten kehrten die beiden Frauen schwer atmend zurück, schleppten Nynaeve herein und wuchteten sie auf das andere Bett. Ihr Gesicht war schlaff und glänzte feucht vor Tränen, doch ihre dunklen Augen... Zorn erfüllte diese und auch ein wenig Angst. Elayne hoffte, der Zorn werde den Sieg davontragen. Nynaeve war stärker als sie, wenn sie gerade fähig war, die Macht zu benützen. Vielleicht schaffte Nynaeve, woran sie ein ums andere Mal erbärmlich scheiterte. Das mußten Tränen der Wut sein.
Frau Macura befahl dem Mädchen dazubleiben, während sie erneut hinauseilte. Diesmal kam sie mit einem Tablett zurück, das sie auf die Kommode stellte. Darauf standen die gelbe Teekanne, eine Tasse, ein Trichter und eine große Sanduhr. »Also, Luci, denke daran, daß du jedesmal, wenn die Sanduhr abgelaufen ist, jeder von beiden zwei Unzen eintrichterst. Sobald sie abgelaufen ist, nicht vergessen!«
»Warum geben wir es ihnen nicht schon jetzt, Frau Macura?« jammerte das Mädchen händeringend. »Ich möchte, daß sie wieder einschlafen. Ich mag es nicht, wenn sie mich ansehen.«
»Dann würden sie wie die Toten schlafen, Mädchen, während wir sie so hochbekommen können, um selbst zu gehen, wenn es notwendig ist. Ich werde sie schon stärker betäuben, wenn die Zeit gekommen ist, sie von hier wegzuschaffen. Sie werden Kopfschmerzen bekommen und auch Magenkrämpfe, aber wahrscheinlich verdienen sie es nicht besser.«
»Aber wenn sie doch die Macht gebrauchen können, Frau Macura? Was ist, wenn es doch geht? Sie schauen mich so an!«
»Hör auf mit dem Gejammere, Mädchen«, sagte die ältere Frau in scharfem Ton. »Wenn sie könnten, glaubst du dann etwa, sie hätten es nicht schon längst getan? Sie sind hilflos wie die Kätzchen im Sack. Und das wird so bleiben, solange du ihnen immer wieder eine Dosis verabreichst. Jetzt tu, was ich dir sage, verstanden? Ich muß weg und dem alten Avi sagen, er soll eine seiner Tauben losschicken. Dann werde ich ein paar Vorbereitungen treffen und zurückkommen, sobald ich kann. Du solltest vielleicht noch eine weitere Kanne Spaltwurzeltee vorbereiten; sicher ist sicher. Ich gehe hinten raus. Schließe den Laden. Sonst kommt vielleicht doch jemand herein, und das können wir jetzt nicht gebrauchen.«
Nachdem Frau Macura weg war, stand Luci eine Weile da und betrachtete sie. Sie rang immer noch die Hände. Schließlich eilte auch sie hinaus. Ihr Schniefen verklang, als sie die Treppe hinunterstieg.
Elayne konnte erkennen, wie Schweiß auf Nynaeves Stirn trat. Sie hoffte, das rühre von der Anstrengung her und nicht von der Hitze. Streng dich an, Nynaeve! Auch sie versuchte wieder, nach der Wahren Quelle zu greifen. Sie schob sich ungeschickt durch die Schichten von Wolle, die in ihren Kopf gepackt worden waren, griff daneben, versuchte es wieder, griff wieder ins Leere... Oh, Licht, streng dich an, Nynaeve! Versuch es!
Die Sanduhr faszinierte sie; sie konnte nichts anderes anblicken. Der Sand glitt hinunter, jedes Körnchen ein weiteres Versagen ihrerseits. Das letzte Körnchen fiel. Und Luci kam nicht. Elayne strengte sich noch mehr an, um sich zu bewegen, um die Quelle zu erreichen. Nach kurzer Zeit zuckten die Finger ihrer linken Hand. Ja! Noch ein paar Minuten, und sie konnte die Hand heben. Nur ein paar lumpige Fingerbreit, doch sie hatte sich gehoben. Mit großer Mühe drehte sie den Kopf.
»Kämpf dagegen an«, murmelte Nynaeve mit belegter Stimme, zäh und kaum verständlich. Ihre Hände hatten die Bettdecke unter ihr fest gepackt. Sie schien sich aufrichten zu wollen. Doch noch nicht einmal ihr Kopf hob sich. Immerhin bemühte sie sich.
»Tu ich doch«, versuchte Elayne zu antworten, aber in ihren eigenen Ohren klang es mehr wie ein Murmeln.
Langsam, ganz langsam brachte sie es fertig, die Hand zu heben, so daß sie sie sehen konnte, und sie auch dort zu halten. Triumph stieg in ihr auf. Du darfst dich weiter vor uns fürchten, Luci. Bleib noch ein Weilchen unten in der Küche und...
Die Tür schlug auf, und sie wurde von enttäuschtem Schluchzen durchgeschüttelt, als Luci hereinschoß. Sie war so nahe dran gewesen. Das Mädchen warf einen Blick auf sie und eilte mit einem erschreckten Quieken zur Kommode hinüber.
Elayne versuchte, sie aufzuhalten, doch so mager sie auch war, schlug Luci doch mühelos ihre zittrigen Hände weg und zwang den Trichter genauso leicht zwischen ihre Zähne. Das Mädchen schnaufte, als renne sie. Kalter, bitterer Tee füllte Elaynes Mund. Sie blickte in Panik zu dem Mädchen auf, aber die gleiche Panik zeigte sich auf deren Gesicht. Dann schloß Lucis Hand Elaynes Mund, und sie streichelte ihre Kehle in grimmiger, wenn auch angsterfüllter Entschlossenheit, bis sie endlich schluckte.
Dunkelheit überwältigte Elayne. Sie hörte aber noch Nynaeves Protest und glucksende Laute.
Als sich ihre Augen wieder öffneten, war Luci weg, und der Sand lief wieder durch das Stundenglas. Nynaeves dunkle Augen quollen heraus, ob vor Furcht oder Zorn, das konnte Elayne nicht entscheiden. Nein, Nynaeve würde nicht nachgeben. Das war eines der Dinge, die sie an der anderen Frau bewunderte. Selbst wenn ihr Kopf schon auf dem Richtblock läge, würde Nynaeve nicht aufgeben. Unsere Köpfe liegen ja auch schon auf dem Richtblock!
Sie schämte sich, soviel schwächer als Nynaeve zu sein. Eines Tages sollte sie schließlich Königin von Andor werden, und dabei hätte sie jetzt am liebsten vor Angst geweint. Doch das tat sie nicht, noch nicht einmal im Geist, und statt dessen versuchte sie wieder, mit aller Macht ihre Gliedmaßen zu bewegen und Saidar zu berühren. Wie konnte sie jemals Königin sein, wenn sie so schwach war? Wieder griff sie nach der Quelle. Wieder. Noch einmal. Ein Wettlauf gegen die Sandkörner. Wieder.
Noch einmal rann der letzte Sand durchs Stundenglas, ohne daß Luci erschien. Ganz, ganz langsam erreichte sie das Stadium, in dem sie ihre Hand wieder heben konnte. Und dann den Kopf, auch wenn er sofort zurücksackte. Sie hörte Nynaeve etwas in sich hineinknurren und verstand sogar die meisten Wörter.
Wieder schlug die Tür auf. Elayne hob den Kopf, um verzweifelt hinzusehen, und dann riß sie Augen und Mund auf. Thom Merrilin stand da wie der Held einer seiner eigenen Erzählungen. Mit der einen Hand hatte er Lucis Hals gepackt, und in der anderen hielt er ein Messer wurfbereit. Das Mädchen schien der Ohnmacht nahe.
Elayne lachte glücklich, auch wenn es sich mehr nach einem Krächzen anhörte.
Grob stieß er das Mädchen in eine Ecke. »Du bleibst hier, oder ich ziehe dir dieses Messer über die Haut!« Mit zwei Schritten war er an Elaynes Seite, strich ihr über das Haar und auf seinem ledrigen Gesicht stand die Sorge. »Was hast du ihnen gegeben, Mädchen? Sag es mir, oder... «
»Sie nicht«, murmelte Nynaeve. »Andere Frau. Ging weg. Hilf mir hoch. Muß gehen.«
Thom verließ ihre Seite zögernd, wie Elayne zu erkennen glaubte. Er zeigte Luci noch einmal drohend das Messer, worauf sie sich ängstlich niederkauerte, als wolle sie sich nie mehr rühren, und ließ es dann in einem Wimpernschlag im Ärmel verschwinden. Er zog Nynaeve auf die Beine und begann, sie auf und ab zu führen, soweit es die kleine Kammer gestattete. Sie lehnte sich erschöpft an ihn und schlurfte mit.
»Ich bin froh, zu erfahren, daß Ihr euch nicht gerade von dieser verängstigten kleinen Katze in eine Falle habt locken lassen«, sagte er. »Wenn sie diejenige gewesen wäre...« Er schüttelte den Kopf. Zweifellos würde er auch nicht mehr von ihnen halten, falls ihm Nynaeve die Wahrheit berichtete. Elayne hatte das aber gewiß nicht vor. »Ich habe sie erwischt, als sie die Treppe hinaufraste, so in Panik, daß sie mich nicht hinter sich hörte. Ich bin aber nicht so glücklich darüber, daß eine zweite entkommen konnte, ohne von Juilin gesehen zu werden. Wird sie möglicherweise noch andere mitbringen?«
Elayne wälzte sich auf die andere Seite. »Ich glaube nicht, Thom«, brachte sie mühsam heraus. »Sie kann nicht... zu viele Leute... wissen lassen, was sie ist.« Noch eine Minute, dann konnte sie sich vielleicht aufsetzen. Sie sah Luci ins Gesicht. Das Mädchen zuckte zusammen und drückte sich an die Wand. »Die Weißmäntel... würden sie... genauso schnell wie uns... gefangennehmen.«
»Juilin?« fragte Nynaeve. Ihr Kopf wackelte, als sie zornig zu dem Gaukler aufblickte. Aber sie hatte keine Schwierigkeiten mit dem Sprechen mehr. »Ich habe Euch beiden gesagt, Ihr solltet beim Wagen bleiben.«
Thom pustete irritiert seinen Schnurrbart vom Mund. »Ihr habt uns gesagt, wir sollten die Lebensmittel wegräumen, aber dazu braucht man keine zwei Männer. Juilin folgte Euch, und als niemand zurückkehrte, habe ich mich nach ihm umgesehen.« Er schnaubte wieder. »Er hatte keine Ahnung, ob hier nicht ein Dutzend Männer warteten, aber er war bereit, Euch allein hinterherzugehen. Jetzt bindet er gerade Schmoller im Hof an. Gut, daß ich mich entschloß, hierher zu reiten. Ich glaube, wir brauchen das Pferd, um Euch beide hier herauszubringen.«
Elayne stellte fest, daß sie gerade so eben sitzen konnte. Sie zog sich Hand um Hand an der Bettdecke hoch, doch ein Versuch, zu stehen, hätte sie beinahe wieder niedergeworfen. Saidar war genauso unerreichbar wie zuvor. Ihr Kopf vermittelte ihr immer noch das Gefühl, ein mit Gänsedaunen gestopftes Kissen zu sein. Nynaeve fing an, sich etwas gerader aufgerichtet zu bewegen und die Füße beim Gehen zu heben, doch sie klammerte sich immer noch an Thom.
Minuten später trat Juilin ein und schob mit Hilfe seines Messers Frau Macura vor sich her. »Sie ist durch ein Tor hinten im Zaun hereingekommen. Glaubte, ich sei ein Dieb. Es schien mir am besten, sie herzubringen.«
Bei ihrem Anblick war die Näherin totenblaß geworden, so daß ihre Augen noch dunkler erschienen und ihr beinahe aus dem Kopf quollen. Sie leckte sich die Lippen und strich unaufhörlich ihren Rock glatt. Dazu warf sie immer wieder schnelle Seitenblicke auf Juilins Messer, als frage sie sich, ob es nicht besser sei, davonzulaufen. In erster Linie aber sah sie Elayne und Nynaeve an. Elayne konnte nicht entscheiden, ob die Frau als nächstes in Tränen ausbrechen oder in Ohnmacht fallen werde.
»Laßt sie dort hinübergehen«, sagte Nynaeve und nickte in Richtung der Ecke, in der Luci immer noch zitternd kauerte, die Arme um die Knie geschlungen, »und helft Elayne. Ich habe noch nie etwas von Spaltwurzeltee gehört, aber Gehen scheint zu helfen, die Wirkung aufzuheben. Man kann sich die meisten Dinge vom Hals laufen.«
Juilin wies mit dem Messer in die Ecke, und Frau Macura hastete hinüber und setzte sich neben Luci, wobei sie sich ständig ängstlich die Lippen befeuchtete. »Ich... hätte nicht getan... was ich getan habe... aber, ich... hatte Befehle. Das müßt Ihr doch verstehen. Ich hatte Befehle erhalten.«
Juilin half Elayne sanft auf die Beine und stützte sie beim Gehen. Sie konnten ja nur wenige Schritte in jeder Richtung zurücklegen und kreuzten dabei ständig den Weg des anderen Paares. Sie wäre lieber an Thoms Seite gegangen. Juilins Arm um ihre Taille war ihr viel zu vertraulich.
»Von wem stammen diese Befehle?« fuhr Nynaeve Frau Macura an. »Wem in der Burg schickt Ihr eure Berichte?«
Die Näherin sah aus, als sei ihr schlecht, doch sie hielt entschlossen den Mund.
»Wenn Ihr nicht redet«, sagte ihr Nynaeve mit finsterer Miene, »überlasse ich Euch Juilin. Er ist ein Diebfänger aus Tear, und er weiß, wie er genauso schnell wie ein Folterknecht der Weißmäntel ein Geständnis aus Euch herausbringt. Oder nicht, Juilin?«
»Ein Stück Seil, um sie zu fesseln«, sagte er mit einem so schurkischen Grinsen, daß Elayne beinahe einen Schritt von ihm weggetreten wäre, »einen Lumpen, um sie solange zu knebeln, bis sie bereit ist, zu reden, ein wenig Olivenöl und Salz...« Sein Lachen ließ Elayne das Blut gefrieren. »Sie wird alles ausplaudern, verlaßt Euch darauf.« Frau Macura lehnte steif an der Wand und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Luci sah ihn an, als habe er sich soeben in einen Trolloc verwandelt, acht Fuß groß und mit Hörnern bewehrt.
»Sehr gut«, sagte Nynaeve nach einem Augenblick des Wartens. »Ihr solltet alles, was Ihr benötigt, in der Küche finden, Juilin.« Elaynes erstaunter Blick wanderte von ihr zu dem Diebfänger und zurück. Sicher hatten sie doch nicht wirklich vor...? Doch nicht Nynaeve!
»Narenwin Barda«, keuchte die Näherin plötzlich. Nun überschlugen sich die Worte beinahe, so sprudelte sie los: »Ich habe meine Berichte an Narenwin Barda geschickt in eine Schenke in Tar Valon. Sie heißt ›Zum Dammweg‹. Avi Shendar hält für mich am Stadtrand einige Brieftauben. Er weiß nicht, wem ich meine Botschaften schicke oder woher ich sie beziehe, und es ist ihm auch gleich. Seine Frau hatte die Fallsucht, und...« Ihre Worte verklangen, und sie schauderte, als sie Juilin anblickte.
Elayne kannte Narenwin oder hatte sie zumindest in der Burg kennengelernt. Eine schmächtige, kleine Frau, die so ruhig war, daß man ihre Anwesenheit glatt übersehen konnte. Und freundlich dazu. An einem Wochentag ließ sie regelmäßig Kinder ihre Haustiere auf das Gelände der Burg bringen, um sie zu heilen. Kaum die Art von Frau, die man bei den Schwarzen Ajah erwartete. Andererseits war auch eine der Frauen auf der Liste der Schwarzen Marillin Gemalphin, und die liebte Tiere über alles und nahm jede streunende Katze auf, die sie entdeckte.
»Narenwin Barda«, stellte Nynaeve grimmig fest. »Ich will weitere Namen hören, innerhalb und außerhalb der Burg.«
»Ich... ich kenne keine anderen«, sagte Frau Macura eingeschüchtert.
»Das werden wir ja sehen. Wie lange gehört Ihr schon zu den Schattenfreunden? Wie lange dient Ihr den Schwarzen Ajah?«
Luci entschlüpfte ein empörter Aufschrei: »Wir sind keine Schattenfreunde!« Sie blickte Frau Macura an und schob sich ein Stück von ihr weg. »Ich bin jedenfalls keine! Ich wandle unter dem Licht! Ganz bestimmt!«
Die Reaktion der anderen Frau war keine Spur schwächer. Ihr fielen vor Schreck fast die Augen aus dem Kopf. »Die Schwarzen...! Soll das heißen, daß es sie wirklich gibt? Aber die Burg hat das immer abgestritten... Ich habe doch Narenwin danach gefragt, an dem Tag, als sie mich für ihre Augen-und-Ohren auswählte, und ich konnte erst am nächsten Morgen mit Weinen aufhören und wieder aus dem Bett kriechen. Ich gehöre nicht — nicht! —zu den Schattenfreunden! Niemals! Ich diene der Gelben Ajah! Den Gelben!«
Elayne hing noch an Juilins Arm und tauschte von dort einen fragenden Blick mit Nynaeve. Natürlich würde jeder Schattenfreund das abstreiten, aber in den Stimmen der Frauen schien doch etwas Wahres mitzuschwingen. Ihre Empörung über die Anschuldigung schien sogar ihre Angst zu übertreffen. So, wie Nynaeve nun zögerte, empfand sie wohl das gleiche.
»Wenn Ihr den Gelben dient«, sagte sie bedächtig, »warum habt Ihr uns dann betäubt?«
»Es war wegen Ihr«, antwortete die Näherin und deutete mit dem Kopf auf Elayne. »Ich habe vor einem Monat ihre Beschreibung erhalten, bis hin zu der Art, wie sie manchmal ihr Kinn hält, so daß sie auf jeden herabzusehen scheint. Narenwin sagte, sie benütze möglicherweise den Namen Elayne und behaupte sogar, aus einem Adelshaus zu stammen.« Mit jedem Wort schien ihr Zorn darüber, als Schattenfreund bezeichnet worden zu sein, stärker zu werden. »Ihr seid vielleicht eine Gelbe Schwester, aber sie ist keine Aes Sedai — nur eine geflohene Aufgenommene! Narenwin schrieb, ich solle sofort über ihre Anwesenheit berichten und wer bei ihr sei. Und sie aufhalten, wenn ich kann. Oder sie sogar festhalten. Und jede in ihrer Begleitung. Wie sie es sich vorstellten, daß ich eine Aufgenommene einfangen sollte, weiß ich nicht — ich glaube nicht, daß selbst Narenwin über meinen Spaltwurzeltee etwas weiß —, aber so lauteten meine Befehle! Ich sollte sogar die Entdeckung riskieren, wenn es notwendig sei, und das hier, wo sie meinen Tod bedeuten würde! Wartet nur, bis Euch die Amyrlin in die Hände bekommt, junge Frau! Euch alle!«
»Die Amyrlin!« rief Elayne. »Was hat sie denn damit zu tun?«
»Es geschah auf ihren Befehl. Auf Befehl des Amyrlin-Sitzes, so stand es geschrieben. Es hieß, daß die Amyrlin selbst befohlen habe, jedes Mittel einzusetzen, ohne Euch gleich töten zu müssen. Ihr werdet Euch wünschen, Ihr wärt tot, wenn Euch die Amyrlin in die Finger bekommt!« Ihr scharfes Nicken war erfüllt von wütender Befriedigung.
»Denkt daran, daß wir uns noch nicht in den Händen irgendeiner Person befinden«, sagte Nynaeve trocken. »Aber Ihr in unseren.« Doch ihre Augen blickten genauso erschrocken drein wie die Elaynes. »Wurde irgendein Grund genannt?«
Nachdem sie der Frau in Erinnerung gerufen hatte, daß sie eine Gefangene sei, erlahmte deren Widerstand. Sie lehnte sich gegen Luci, und so stützte eine die andere. »Nein. Manchmal nennt Narenwin einen Grund, aber diesmal nicht.«
»Hattet Ihr vor, uns einfach betäubt hier festzuhalten, bis jemand kam, um uns abzuholen?«
»Ich wollte Euch in alte Kleider stecken und mit einem Karren wegschaffen lassen.« Kein bißchen Widerstand war mehr im Tonfall der Frau zu spüren. »Ich schickte eine Taube los, um Narenwin mitzuteilen, daß Ihr euch hier befindet und was ich unternommen habe. Therin Lugay schuldet mir noch einen großen Gefallen, und ich wollte ihm genug Spaltwurzeltee mitgeben, daß es bis Tar Valon gereicht hätte, falls Narenwin nicht inzwischen Schwestern ausschickte, um Euch früher abzuholen. Er glaubt, Ihr seid krank und nur der Tee könne Euch am Leben halten, bis eine Aes Sedai Euch heilt. In Amadicia muß eine Frau vorsichtig sein, wenn sie mit Heilmitteln umgeht. Wenn man zu viele heilt und zu nachhaltig, dann flüstert irgend jemand ›Aes Sedai‹, und im nächsten Augenblick brennt einem das Haus über dem Kopf. Oder es passiert noch Schlimmeres. Therin kann den Mund halten über alles, was er...«
Nynaeve bedeutete Thom, ihr etwas näher heranzuhelfen, so daß sie auf die Näherin herabblicken konnte. »Und die Botschaft? Die wirkliche Botschaft? Ihr habt doch das Signal nicht herausgehängt, nur um uns anzulocken.«
»Ich habe Euch die richtige Botschaft mitgeteilt«, sagte die Frau innerlich erschöpft. »Ich glaubte, es könne nicht schaden. Ich verstehe es auch nicht, und ich... bitte...« Mit einemmal schluchzte sie und hielt sich an Luci genauso fest, wie die jüngere Frau an ihr, und beide jammerten: »Bitte, laßt ihn kein Salz bei mir benützen! Bitte! Kein Salz! Oh, bitte!«
»Fesselt sie«, sagte Nynaeve angewidert nach einem kurzen Augenblick, »und wir gehen hinunter, wo wir uns unterhalten können.« Thom half ihr dabei, sich auf die Kante des am nächsten stehenden Bettes zu setzen, und dann schnitt er schnell Streifen aus der anderen Bettdecke.
Nach kurzer Zeit waren die beiden Frauen aneinandergefesselt, Rücken an Rücken, die Hände der einen an die Füße der anderen gebunden, und im Mund hatten sie dick zusammengelegte Stoffstreifen als Knebel. Das Pärchen war immer noch am Weinen, als Thom Nynaeve aus der Kammer half.
Elayne wünschte, sie könne bereits wieder so gut laufen wie Nynaeve, doch sie benötigte eben noch Juilin als Stütze, damit sie nicht die Treppe hinunterfiel. Sie empfand fast so etwas wie Eifersucht, als sie beobachtete, wie Thom seinen Arm hilfreich um Nynaeve gelegt hatte. Du bist doch ein törichtes kleines Mädchen, sagte Linis Stimme in ihr tadelnd. Ich bin eine erwachsene Frau, antwortete sie mit einer Entschlossenheit, wie sie sie selbst jetzt ihrer alten Kinderschwester gegenüber nie gezeigt hätte. Ich liebe Rand wirklich, aber er ist weit weg und Thom ist abgeklärt und intelligent und... Das klang zu sehr nach Ausrede, das sah sogar sie ein. Lini hätte nur kurz geschnaubt, und das hätte dann bedeutet, daß sie diese Dummheiten unterbinden werde.
»Juilin«, fragte sie zögernd, »was hättet Ihr mit dem Salz und dem Öl angefangen? Nicht so genau, bitte«, fügte sie dann noch schnell hinzu, »nur so allgemein.«
Er sah sie kurz an. »Ich weiß nicht. Aber sie ebenfalls nicht. Das ist doch der Trick dabei: Ihr eigener Verstand erfindet dazu viel schlimmere Dinge, als ich das könnte. Ich habe einmal einen wirklich harten Mann aufgeben sehen, weil ich einen Korb mit Feigen und ein paar Mäuse bringen ließ. Aber man muß schon vorsichtig sein. Manche werden alles gestehen, ob es stimmt oder nicht, nur um dem zu entgehen, was sie sich vorstellen. Doch ich glaube, bei den beiden war das nicht der Fall.«
Das glaubte sie auch nicht. Trotzdem konnte sie ein Schaudern nicht unterdrücken. Was konnte jemand mit Feigen und Mäusen anfangen? Sie hoffte, darüber nicht so lange nachgrübeln zu müssen, bis sie Alpträume hatte.
Als sie die Küche erreichten, stolperte Nynaeve bereits ohne Hilfe umher und begann sofort, in dem Schrank voll bunter Dosen zu stöbern. Elayne benötigte einen der Stühle. Die blaue Dose stand auf dem Tisch und dazu eine gefüllte grüne Teekanne, doch sie mied jeden Blick darauf. Sie konnte die Macht immer noch nicht lenken. Wohl konnte sie mittlerweile Saidar berühren, doch es entschlüpfte ihr immer wieder. Wenigstens war sie nun sicher, bald wieder die Macht benützen zu können. Die Alternative war zu schrecklich, um darüber nachzudenken, und sie hatte das bisher auch vermieden.
»Thom«, sagte Nynaeve und hob die Deckel von einigen der Behälter, um hineinzuspähen. »Juilin.« Sie setzte wieder ab, holte tief Luft, sah die Männer immer noch nicht an und fuhr dann fort: »Ich danke Euch. Ich sehe allmählich ein, warum die Aes Sedai Behüter haben. Ich danke Euch sehr.«
Nicht alle Aes Sedai hatten Behüter. Die Roten beispielsweise betrachteten alle Männer als befleckt, der Schuld wegen, die jene Männer auf sich geladen hatten, die mit der Macht umgehen konnten. Ein paar hatten auch gar kein Interesse daran, weil sie die Burg nie verließen oder einfach einen verstorbenen Behüter nicht mehr ersetzten. Die Grünen gestatteten es als einzige Ajah, mehr als einen Behüter an sich zu binden. Elayne wollte eine Grüne werden. Natürlich nicht aus diesem Grund, sondern weil die Grünen sich selbst als die Kampf-Ajah bezeichneten. Wo die Braunen nach verlorengegangenem Wissen forschten und die Blauen sich immer für irgendeine gute Sache einsetzten, da hielten sich die Grünen Schwestern für die Letzte Schlacht bereit, in der sie wie im Trolloc-Krieg ausrücken würden, um neue Schattenlords zu bekämpfen.
Die beiden Männer blickten sich in unverhohlenem Erstaunen an. Sie waren mit Sicherheit darauf vorbereitet gewesen, von Nynaeve wie üblich gescholten zu werden.
Elayne war allerdings fast genauso verblüfft, denn Nynaeve schätzte es nicht weniger, Hilfe zu benötigen wie etwa im Unrecht zu sein. Beides machte sie so wütend, wie überhaupt möglich. Natürlich behauptete sie immer, ein Muster an reiner Überzeugungskraft und Vernunft zu sein.
»Eine Seherin.« Nynaeve nahm eine Prise Pulver aus einer der Dosen und schnupperte daran. Dann berührte sie es sogar mit der Zungenspitze. »Oder wie man das hier auch immer nennen mag.«
»Sie haben hier keine Bezeichnung dafür«, sagte Thom. »In Amadicia betreiben nicht viele Frauen Eure alte Kunst. Zu gefährlich. Und die meisten von denen machen das auch nur so nebenher.«
Nynaeve zog einen kleinen Lederbeutel aus der untersten Schublade und begann, aus dem Inhalt einiger Dosen kleine Bündel in Tücher einzuwickeln. »Und zu wem gehen sie, wenn sie krank sind? Zu einem Quacksalber?«
»Ja«, sagte Elayne. Es machte ihr immer Spaß, Thom zu beweisen, daß auch sie einiges über die Welt um sie herum wußte. »In Amadicia sind es die Männer, die Kräuter sammeln und gebrauchen.«
Nynaeve runzelte mit verächtlicher Miene die Stirn. »Was kann ein Mann schon über das Heilen von Krankheiten wissen? Da kann ich mir ja gleich ein neues Kleid beim Hufschmied bestellen.«
Mit einemmal wurde es Elayne bewußt, daß sie an alles andere gedacht hatte, aber nicht an Frau Macuras Aussage. Wenn du nicht mehr an den Dorn denkst, tut dein Fuß deshalb noch lange nicht weniger weh. Einer der Lieblingssprüche Linis. »Nynaeve, was glaubst du, hat die Botschaft zu bedeuten? Alle Schwestern werden gebeten, zur Burg zurückzukehren? Das ergibt doch keinen Sinn.« Eigentlich hatte sie etwas anderes sagen wollen, doch dies kam immerhin nahe genug.
»Die Burg hat ihre eigenen Regeln«, sagte Thom. »Was die Aes Sedai tun, unternehmen sie aus ihren ganz eigenen Gründen, und oft sind das nicht diejenigen, die sie anderen gegenüber nennen. Soweit sie überhaupt einen Grund nennen.« Er und Juilin wußten natürlich, daß sie lediglich Aufgenommene waren, und das war wenigstens zum Teil der Grund dafür, daß sie nicht immer genau das taten, was ihnen aufgetragen wurde.
An Nynaeves Miene konnte man deutlich sehen, wie sie mit sich kämpfte. Sie hatte es nicht gern, wenn man sie unterbrach oder wenn andere für sie antworteten. Es gab wirklich eine Menge Dinge, die Nynaeve nicht paßten. Doch es war erst einen Augenblick her, daß sie sich bei Thom bedankt hatte. Es war wohl nicht ganz einfach, nun einen Mann herunterzuputzen, der sie gerade davor bewahrt hatte, wie ein Sack Kartoffeln davongekarrt zu werden. »Die meiste Zeit über ergibt nur sehr Weniges in der Burg einen Sinn«, sagte sie säuerlich. Elayne vermutete, diese Spitze gelte sowohl der Burg wie auch Thom.
»Glaubst du, was sie gesagt hat?« Elayne holte tief Luft. »Daß die Amyrlin befohlen hat, ich solle mit allen Mitteln zurückgeholt werden?«
In dem kurzen Blick, den ihr Nynaeve zuwarf, schwang Sympathie mit. »Ich weiß es nicht, Elayne.«
»Sie hat die Wahrheit gesagt.« Juilin drehte einen der Stühle um und setzte sich rittlings darauf. Seinen Stab stellte er an die Lehne. »Ich habe genügend Diebe und Mörder verhört, um zu wissen, wenn jemand die Wahrheit sagt. Einen Teil der Zeit über war sie zu verängstigt, um zu lügen, und dann war sie zu wütend.«
»Ihr beiden...« Nynaeve atmete erst einmal tief durch, warf den Beutel auf den Tisch und verschränkte die Arme, um nicht in Versuchung zu kommen, wieder ihren Zopf zu packen. »Ich fürchte, Juilin hat möglicherweise recht, Elayne.«
»Aber die Amyrlin weiß doch, was wir tun. Sie hat uns doch schließlich von der Burg ausgesandt!«
Nynaeve schnaubte vernehmlich. »Bei Siuan Sanche glaube ich alles. Ich hätte sie gern einmal eine Stunde in den Fingern, wenn sie die Macht nicht benützen kann. Dann würde ich sehen, aus welchem Holz sie wirklich geschnitzt ist.«
Elayne glaubte nicht daran, daß das einen Unterschied machen würde. Wenn sie an diesen beherrschenden Blick aus den blauen Augen der Amyrlin dachte, kam ihr höchstens der Verdacht, Nynaeve würde sich eine ganze Menge einhandeln, falls ihr Wunsch einmal in Erfüllung ging. »Aber was sollen wir nun deshalb unternehmen? Wie es scheint, haben die Ajahs überall ihre Augen-und-Ohren. Und auch die Amyrlin selbst. Es kann uns passieren, daß uns auf dem ganzen Weg nach Tar Valon irgendwelche Frauen Drogen ins Essen zu mischen versuchen.«
»Nicht, wenn wir ganz anders aussehen, als sie erwarten.« Nynaeve hob einen gelben Krug aus dem Schrank und stellte ihn auf den Tisch neben die Teekanne. »Das ist weißes Hennenkraut. Es beruhigt, wenn man Zahnschmerzen hat, aber es färbt auch die Haare schwarz wie die Nacht.« Elaynes Hand fuhr erschrocken an ihre rotgoldenen Locken. Sie konnte wetten, daß Nynaeve damit ihr Haar gemeint hatte! Aber so sehr ihr der Gedanke mißfiel, nützlich war er schon. »Ein paar der Kleider im Laden draußen umnähen, und wir sind keine Kauffrauen mehr, sondern zwei vornehme Damen, die mit ihren Dienern durch das Land reisen.«
»Auf einer Wagenladung von Farben?« fragte Juilin.
Ihr gefahrverheißender Blick sagte deutlich aus, da ihre Dankbarkeit nun erschöpft sei. »In einem Hof auf der anderen Seite der Brücke steht eine Kutsche. Ich denke, der Besitzer wird sie gern verkaufen. Falls ihr zu unserem Wagen zurückkommt, bevor ihn jemand stiehlt — ich weiß überhaupt nicht, was in Euch gefahren ist, ihn einfach so stehenzulassen, daß jeder herankann, der vorbeikommt! —, falls er also noch dort steht, könnt Ihr eine der Geldbörsen nehmen... «
Ein paar Nachbarn machten große Augen, als Noy Torvalds Kutsche vor Ronde Macuras Laden vorfuhr, von einem Vierergespann gezogen, mit Reisekoffern auf dem Dach und einem gesattelten Pferd, das hinten angebunden war. Noy hatte alles verloren, als der Handel mit Tarabon zusammengebrochen war. Jetzt fristete er mühsam ein kärgliches Leben, indem er kleinere Arbeiten für die Witwe Teran ausführte. Niemand, der an dieser Straße wohnte, hatte den Kutscher jemals gesehen, einen hochgewachsenen, zäh wirkenden Burschen mit einem langen, weißen Schnurrbart und kalten, überlegenen Augen, oder den dunklen Lakaien mit seinem harten Gesicht unter einem Taraboner Hut, der geschmeidig zu Boden sprang und die Tür der Kutsche öffnete. Einige Stimmen wurden laut, als zwei Frauen mit Bündeln auf den Armen aus dem Laden rauschten. Die eine trug ein Kleid aus grüner Seide, die andere eines aus einfacher blauer Wolle. Beide hatten Kopftücher auf, so daß keine einzige Locke ihres Haars sichtbar war. Fast waren sie mit einem Satz in der Kutsche verschwunden.
Zwei der Kinder des Lichts schlenderten heran, um sich zu erkundigen, wer die Fremden seien, aber während der Lakai noch auf den Kutschbock kletterte, ließ der Kutscher bereits seine lange Peitsche knallen und schrie etwas von Platzmachen für eine Lady. Ihr Name ging völlig unter, da die Kinder des Lichts aus dem Weg springen mußten und auf die staubige Straße taumelten. Die Kutsche rumpelte im Galopp der Straße nach Amador zu.
Die Zuschauer gingen ins Gespräch vertieft nach Hause zurück. Offensichtlich hatte eine geheimnisvolle Lady mit ihrer Zofe bei Ronde Macura Einkäufe getätigt und war dann vor den Kindern des Lichts geflüchtet. In letzter Zeit passierte in Mardecin sowieso schon wenig genug, und dieser Zwischenfall lieferte nun Gesprächsstoff für die nächsten Tage. Die Kinder des Lichts klopften sich wütend den Staub von der Kleidung, entschlossen sich aber dann, den Zwischenfall nicht weiter zu melden, da sie keine gerade rühmliche Rolle darin gespielt hatten. Außerdem konnte ihr Hauptmann Adlige nicht leiden. Er würde sie möglicherweise losschicken, um die Kutsche zurückzuholen, und das wäre ein langer, ermüdender Ritt bei dieser Hitze, nur um irgendeine arrogante vornehme Göre verhören zu können. Falls sie dann keine Anklage vorbringen konnten, und das war immer ein schwieriges Unterfangen Adligen gegenüber, würde bestimmt nicht der Hauptmann den Kopf hinhalten müssen. So hofften sie, daß sich ihre Demütigung nicht herumsprechen werde. Sie dachten überhaupt nicht daran, Ronde Macura zu verhören.
Kurze Zeit später lenkte Therin Lugay seinen Karren in den Hof hinter dem Laden. Proviant für die lange Reise hatte er bereits unter der gewölbten Zeltplane geladen. Tatsächlich hatte ihn Ronde Macura von einer Fiebererkrankung geheilt, an der im letzten Winter dreiundzwanzig Menschen gestorben waren, doch nicht die Dankbarkeit allein, sondern vor allem ein zänkisches Weib und eine herrschsüchtige Schwiegermutter ließen ihn froh darüber sein, die lange Reise antreten zu können bis dorthin, wo die Hexen wohnten. Ronde hatte allerdings gesagt, es könne geschehen, daß ihn jemand schon unterwegs treffen werde, wenn sie auch nicht wußte, wer das sein könne, aber er hoffte trotzdem, bis nach Tar Valon zu kommen.
Er klopfte sechsmal an die Küchentür, bevor er eintrat, aber er fand niemanden vor, bis er die Treppe hochstieg und oben nachsah. Im hinteren Schlafzimmer lagen Ronde und Luci angekleidet und leicht zerknittert ausgestreckt auf den Betten und schliefen fest, obwohl die Sonne noch am Himmel stand. Keine der Frauen erwachte, als er sie schüttelte. Das verstand er nicht. Genausowenig verstand er, wieso eine der Bettdecken am Boden lag, teilweise zerschnitten und in Streifen verknotet, oder warum in der Kammer zwei leere Teekannen standen, aber nur eine Tasse, oder weshalb auf Rondes Kopfkissen ein Trichter lag. Allerdings hatte er schon immer gewußt, daß es auf der Welt eine ganze Menge gab, was er nicht verstand. So kehrte er zu seinem Karren zurück, dachte über den Proviant nach, den er mit Rondes Geld erstanden hatte, dachte an seine Frau und seine Schwiegermutter und beschloß schließlich, als er das Pferd in Trab setzte, daß er sich doch einmal in Altara umschauen wolle oder vielleicht sogar in Murandy.
Wie auch immer, es dauerte jedenfalls eine ganze Weile, bis eine ziemlich zerzauste Ronde Macura zu Avi Shendars Haus schlurfte und eine Taube losschickte, eine dünne Knochenröhre an ein Bein gebunden. Der Vogel flog pfeilgerade nach Nordosten in Richtung Tar Valon. Nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte, fertigte Ronde eine Kopie des schmalen Streifens aus dünnem Pergament an und befestigte sie am Bein eines Vogels aus einem anderen Schlag. Dieser flog nach Westen, denn sie hatte versprochen, Duplikate all ihrer Nachrichten dorthin zu schicken. In diesen schweren Zeiten mußte eine Frau schon sehen, wo sie blieb, und es konnte ja auch nicht schaden, jedenfalls nicht die Art von Bericht, wie sie ihn Narenwin sandte. Sie fragte sich, ob sie den Geschmack des Spaltwurzeltees jemals wieder los würde. Es hätte ihrer Meinung nach aber bestimmt nicht geschadet, wenn der Bericht mit dafür sorgte, daß diejenige, die sich Nynaeve nannte, bestraft würde.
Avi arbeitete wie gewöhnlich in seinem Garten und achtete nicht darauf, was Ronde machte. Und ebenfalls wie gewöhnlich wusch er die Hände, sobald sie weg war, und ging hinein. Sie hatte ein größeres Pergamentblatt als Schreibunterlage verwandt. Als er es gegen den Schein der Nachmittagssonne hielt, konnte er lesen, was sie geschrieben hatte. Bald darauf war eine dritte Taube auf dem Weg, die wiederum in eine ganz andere Richtung flog.