Das Geborgene Land, im Roten Gebirge an der Ostgrenze des Reichs der Zweiten, 6241. Sonnenzyklus, Frühling.
Fidelgar Schlagkraft, ein Zwerg von guter Statur und mit einem hellblonden Bart, setzte sich, nahm das kleine Metallkästchen aus seinem Rucksack und stellte es vor sich auf den Steintisch. Er hatte den ersten Teil seines Rundgangs beendet und gönnte sich in der weitläufigen Kaverne, deren hohe Decke von Säulen gestützt wurde, eine Rast. Hier waren einst die Loren auf die Schienen gesetzt worden, doch in diesen Umläufen gab es wenig Bedarf an den Karren. Er hatte die Gänge zu überprüfen, und die Wege zogen sich. Baigar Vierhand, der an einem umgedrehten Karren mit Hammer und kleinen Häkchen hantierte, schaute zu ihm. Sein brauner Bart hing in zwei langen Zöpfen über der Schulter, damit er nicht in die Glut der Esse geriet. Neben ihm stand eine kleine Schmiede, wie sie von fahrenden Handwerkern benutzt wurde. Sie genügte, um kleinere Arbeiten zu verrichten. »Na, alles ruhig?«, fragte er ihn und schaute neugierig auf das Kästchen.
»Nachdem ich vier Orks erschlagen und einen Troll besiegt habe, ja«, gab er flachsend zurück und nahm eine Trinkflasche heraus, auf der das Zeichen für Gold eingraviert war, sowie zwei kleine Becher. »Nein, es hat sich gar nichts getan.
Jetzt legte Baigar Hammer und Häkchen weg und kam naseweis näher. »Was hast du dir denn mitgebracht?« »Eine Neuheit aus Goldhort.« Fidelgar strich mit den Fingern über die Kanten des Kästchens, öffnete die Verschlüsse und hob den Deckel behutsam an. Der Geruch von Gewürzen und Branntwein strömte heraus. Baigar erkannte fingerlange und -dicke braune Gebilde darin. »Rauchrollen.«
»Aus Goldhort? Einer der Städte, in der die Freien leben?«
»Genau daher. Einer ihrer Kaufleute war da und hat sie mitgebracht. Ich musste sie mir einfach kaufen.« Er nahm eine Rauchrolle heraus und hielt sie Baigar hin. »Gerollte Tabakblätter, die in Gewürze eingelegt werden. Oder man gibt sie mit hinein.«
Baigar schnupperte daran und ließ seine Bartzöpfe auf die Brust rutschen. »Man schneidet ein Stück ab und stopft sie in die Pfeife?«
»Nein. Man braucht keine Pfeife mehr. Die Freien haben sich was ausgedacht, was Zeit spart.« Fidelgar stand auf, ging zur Esse und nahm mit der Zange ein Kohlestückchen heraus. Ein Ende der Rauchrolle steckte er sich in den Mund, an das andere hielt er die Glut. Knisternd entzündete sich der Tabak. »Dann zieht man wie an einer Pfeife«, erklärte er nuschelnd. Er paffte rasch mehrmals hintereinander und schloss genießerisch die Augen. Es roch sehr gut, nach Vanille, Honig und unbekannten Aromen.
»Das ist ja mal ein guter Einfall.« Baigar nahm sich auch eine und tat es dem Zwerg nach. Der Rauch schmeckte heißer, kräftiger als bei einer Pfeife. Und die Wirkung war wesentlich stärker. Fast wurde ihm schwindlig. »Ich hätte nicht geglaubt, dass wir so viele Vorteile durch den Handel mit den Freien erlangen.« Er schwenkte die glimmende Rauchrolle. »Und damit meine ich nicht nur dies hier. Ich sage nur Gugulfleisch. Und ihre Heilkräuter sind sehr hilfreich, wie man sich erzählt.«
Fidelgar klemmte sich seine Rauchrolle in den Mundwinkel und öffnete die Flasche. Daraus goss er eine klare Flüssigkeit in die Becher. »Und sie haben Goldhorter Goldwasser. Das ist ein Likör mit einem Hauch von Blattgold.« Er nickte Baigar aufmunternd zu. »Es schmeckt vorzüglich.«
»Blattgold? In Likör?« Er nippte daran, kaute auf den dünnen Plättchen. »Es schmeckt nach...« Er schmatzte und suchte ein treffendes Wort. »Gold... Nichts anderes vermag diesen vollkommenen Geschmack zu beschreiben.« Er seufzte glücklich. »Unglaublich! Ich spüre, wie es durch meine Adern rinnt, Müdigkeit und üble Laune vertreibt. Es ist geradezu ein Heilmittel.«
»Das Gold oder der Likör?« Fidelgar grinste. »Je nachdem, welchen Likör man hat und welches Gold sie dafür hernehmen, schmeckt es immer wieder anders. Näher kann man Gold nicht mehr kommen, oder?« Er nahm einen Schluck und zog wieder an seiner Rauchrolle. Dann schaute er sich um. »Unglaublich, wie friedlich es geworden ist.«
Baigar paffte und versuchte, Kringel aus dem Rauch zu formen. »Bist du dir sicher? Keine Felsengnome?« »Würde ich sonst hier sitzen und eine schmauchen?« Fidelgar blickte zur kaputten Lore, an der Baigar gearbeitet hatte. »Sag, warum reparierst du die Loren, wenn wir die Tunnel nicht mehr benutzen?«
»Weil man nie weiß«, erwiderte Baigar. »Außerdem benutzen wir sie. Die Bautrupps sind darin unterwegs, um die Schäden zu beheben. Und warum stehst du Wache, wo es keine Scheusale im Geborgenen Land mehr gibt?« »Weil man nie weiß«, gab Fidelgar lachend zurück. Er deutete auf die vier Tunnel, in welche die Schienen liefen. »Es ist schon schade. Ausgerechnet jetzt, wo Einigkeit unter den Stämmen herrscht, sind die unterirdischen Verbindungen immer noch zerstört. Das Erdbeben, das der Stern der Prüfung ausgelöst hat, soll verflucht sein!«
»Keine Bange. Vraccas ist uns gewogen.« Baigar wiegte den Kopf. »Wir sind auf dem besten Weg, die wichtigsten Strecken instand zu setzen. Erst gestern hat einer der Trupps einen Haupttunnel auf einer halben Meile Länge geräumt.« Er seufzte. »Der Schutt ist das eine. Es ist leider eine ebenso üble Arbeit, die vom Steinschlag verbogenen Schienen durch neue zu ersetzen oder sie vor Ort gerade zu schmieden.« Er deutete mit dem Hammer auf die Lore. »Wenn man solche schiefen Strecken hat, verziehen sich die Achsen der Karren. Die Bautrupps schaffen das ständig. Und das bedeutet wieder Arbeit für mich.«
»Ach, das waren Zeiten, als man noch in Windeseile von einem Zwergenreich ins andere reisen konnte«, schwärmte Fidelgar und stieß einen vollendeten Rauchkringel aus. Er besaß offensichtlich mehr Übung als Baigar. »Die Loren flogen über die Schienen, der Fahrtwind schoss dir durch die Haare und den Bart und kitzelte deinen Magen.«
»Du bist schon einmal damit gefahren?«, fragte Baigar staunend.
»Ja. Ich war dabei, als Königin Xamtys II. ins Reich der Zweiten aufbrach und wir gegen die Horden Nöd'onns gekämpft haben. Das war eine Schlacht!« Er blies über die rot glühende Spitze, um den Tabak nicht erlöschen zu lassen. »Ich sehe es noch wie gestern vor mir, als wir durch die...«
Baigar hob abrupt die Hand. »Still!« Er lauschte zu den schwarzen Eingängen der Röhren. »Ich dachte, ich hätte etwas gehört.« Er nahm die Rauchrolle aus dem Mund und legte sie auf den Steintisch.
»Das kann schon sein. Ein Bautrupp ist gewiss noch draußen und...«
Sie hörten einen furchtbaren Schrei, der aus dem linken der vier Tunnel zu ihnen gellte.
Fidelgar erkannte den Tod darin. Ein Zwerg hatte soeben sein Leben verloren. Gleich darauf ertönte der nächste Schrei, dann erklangen panische Rufe. »Komm mit!« Er klemmte seine Rauchrolle in den Mundwinkel. Sie war teuer gewesen, und er wollte sie nicht vergeuden, indem er sie der Glut überließ und sie zu Asche zerfiel. Eilig riss er Schild und Beil an sich und trabte auf den Stollen zu.
Baigar nahm seine Werkzeugtasche, zwei brennende Fackeln und eilte hinterher. Früher hätte er sofort an einen Überfall der Orks gedacht, heute glaubte er an einen Unfall.
Sie rannten in den ebenen, schnurgeraden Gang hinein, der dazu gedacht war, den Loren nach ihrer Reise genügend Zeit zum Bremsen zu geben, damit sie nicht mit voller Fahrt in die Halle rauschten. Die Schreie kamen näher, das Rattern und Klacken von mechanischen Teilen mischte sich darunter. Es erinnerte Baigar an die bekannten Geräusche von sich drehenden Winden, schnell rotierenden Zahnrädern und kreiselnden Umwälzgestängen der zwergischen Steinmühlen. Die Mischung aus all dem hatte er noch nie vernommen. Vor sich erkannten sie tanzenden Lichtschein, in dem sich ein monströses Wesen erhob und den kompletten Gang ausfüllte. Es wirbelte mit unzähligen schimmernden Klauen und bronzefarbenen Armen um sich, während die Zwerge des Bautrupps verzweifelt versuchten, es aufzuhalten. Doch ihre Pickel konnten an der Haut des Ungeheuers nichts ausrichten. Die Stiele zerknickten wie Streichhölzer.
Jeder, den eine Klaue traf, schrie aus Leibeskräften. Einige flogen mehrere Schritte weit durch den Stollen und blieben liegen.
»Vraccas, steh uns bei! Was ist das?!« Entsetzt sah Fidelgar mit an, wie sich eine gewaltige Klaue durch den Körper eines Zwerges bohrte und aus dem Rücken austrat; dann fuhr der Arm zurück und zog den zappelnden Unglücklichen näher heran, bis er in die Reichweite weiterer zischender Klauen geriet. Der Zwerg wurde bei lebendigem Leib zerfetzt.
Vom Bautrupp war noch ein Schwerverletzter übrig, der stöhnend am Boden lag und versuchte, sich in Sicherheit zu bringen. Das Monstrum rückte derweil weiter vor.
»Wir müssen wenigstens ihn retten«, sagte Baigar mit einem Blick auf den Verletzten und rannte vorwärts. Fidelgar zögerte nicht ein Blinzeln lang.
Als die beiden näher an das Monstrum herankamen, bemerkten sie den Irrtum, dem sie erlegen waren. Sie standen keiner Kreatur aus Fleisch und Blut gegenüber, sondern einem rautenförmigen Ding, das sich mit der Spitze voraus vorwärts schob.
Die Haut bestand aus eisernen, vernieteten Panzerplatten. Die zwei Schritt langen Arme waren ebenfalls aus Metall; an deren Enden saßen Klingen, aber auch gezahnte Greifklauen, die in unregelmäßigen Abständen nach vorn schnappten und sich klackend schlössen. Wie das Ungeheuer sich fortbewegte, sahen sie nicht. Eine Eisenschürze verhinderte neugierige Blicke, aber auch gezielte Angriffe.
»Das ist keine Bestie«, rief Baigar entgeistert und starrte auf das Blut der Opfer, das von der Oberfläche, den Klingen und Klauen tropfte und auf den Felsboden rann. Auf den Platten erkannte er Runen, und als er sie entzifferte, fuhr ihm der Schrecken in die Glieder. Er hoffte zu überleben, um seiner Königin davon zu berichten. »Pass auf!« Fidelgar riss ihn am Ärmel zurück, eine Klaue verfehlte ihn um Barthaaresdicke. Er stolperte rückwärts. »Bloß weg hier! Fass mit an.« Die beiden Zwerge hoben den Verletzten auf und stützten ihn. Das Ding zischte laut und überschüttete sie mit einem Schwall heißem, nach Öl stinkendem Dampf, der ihnen das Atmen unmöglich machte. Hustend zerrten sie ihren Kameraden rückwärts, weg von dem, was ihnen wie eine lebendig gewordene Maschine folgte.
Die Bestie dachte gar nicht daran aufzugeben, sondern schlug die blutigen Klauen in die schwere Instandsetzungslore, auf der sich eine fahrbare Schmiede und Werkzeug befanden, und schob sie auf dem Gleis einfach rückwärts.
»Halte ihn«, rief Fidelgar, sprang in das Gefährt und zog die Bremse fest an.
Augenblicklich geriet der Vormarsch ihres unheimlichen Gegners ins Stocken, doch noch immer wurde der Karren bewegt. Die Kraft des Dings war enorm.
»Der Vorsprung muss ausreichen«, sagte Fidelgar und hüpfte aus der Lore, um zu Baigar und dem verwundeten Zwerg zurückzukehren. Sie eilten, so rasch es ihnen mit ihrer Last möglich war, den Stollen entlang. Als sie in die Halle gelangten, trennte sich Baigar von ihnen. Fidelgar überließ ihm seine Rauchrolle. »Ich schiebe noch eine zweite Lore in den Gang«, erklärte er paffend sein Vorhaben. »Bring du ihn rasch zu einem Heiler und ruf noch mehr Wachen.« Er befestigte eine Lore mit den Eisenhaken einer Kette, die zu einem großen Flaschenzug lief. Da es zu lange dauerte, die Dampfmaschine in Gang zu setzen, mit denen sie sonst die schweren Lasten anhoben, musste er sich auf seine Muskelkraft verlassen. Er bediente die Notwinde; klirrend wickelte sich die Kette auf und spannte sich dann.
»Sag ihnen, sie sollen lange Eisenstangen mitbringen«, rief er Fidelgar nach.
Der Wächter schleppte den Verwundeten hinaus. »Was soll ich ihnen sagen, wenn sie fragen, was für ein Ungeheuer das ist?«
»Sag ihnen, es sei eine neue Hinterlist der Dritten«, antwortete ihm Baigar.
Fidelgar konnte es nicht glauben. »Wie kann das...«
»Ich habe die Zwergenrunen entziffert, die auf dem Panzerkleid standen.« Baigar schwitzte stark vor Anstrengung; mithilfe des Flaschenzuges schaffte er es, die Lore anzuheben. »Geschlagen, doch nicht vernichtet, bringen wir die Vernichtung«, zitierte er gepresst. »Es können nur die Dritten sein. Richte es der Königin aus, falls ich mein Leben verliere.« Die Muskeln am Oberkörper und an den Armen schwollen an, als er den knapp über dem Boden schwebenden Karren zur Seite bis zu den Schienen drückte.
Es war höchste Zeit. Aus dem Gang erklang das Zischen, eine weiße Wolke flog durch den Tunnelausgang und verkündete das Nahen des tödlichen Gegners.
»Los!«, schrie Baigar. »Ich weiß nicht, ob es sich aufhalten lässt!« Er machte sich bereit, den Karren abzusenken.
»Vraccas schütze dich!« Fidelgar nickte, warf sich den Verletzten über die Schulter und rannte los. Schneller hatte er sich in seinem Leben nicht vorwärts bewegt, und zum ersten Mal empfand er die Weitläufigkeit des Zwergenreiches als Nachteil. Mit lauten Rufen machte er auf sich aufmerksam. Die Zwerge ließen ihre herkömmliche Arbeit stehen und liegen und rüsteten sich eilends, sodass er alsbald fünfzig Krieger um sich versammelt hatte. Den Verletzten ließ er in Obhut zurück, dann eilten er und seine Begleiter in die Halle.
Dennoch kamen sie zu spät.
Die umgeworfenen Loren lagen im Tunnel barrikadengleich schräg über den Schienen. Sie hatten verhindert, dass das Ungeheuer in den Raum dahinter und das Reich der Ersten vordringen konnte.
Aber sie fanden den tapferen Baigar nicht - nur einen Teil seines Beins, einen Fetzen seines Wamses und die blutgetränkte Rauchrolle. Mehr von ihm war zwischen den zerstückelten Überresten der anderen Zwerge, die sich von der Decke über die Wände bis auf den Boden verteilt hatten, nicht mehr auszumachen. Fidelgar schaute den finsteren Stollen entlang, ohne etwas erkennen zu können.
Ihr neuer Feind hatte den Rückzug angetreten und lag wahrscheinlich irgendwo in einem der Gänge auf der Lauer. Die Dritten hatten ihren Brüdern und Schwestern nach mehr als fünf Zyklen von neuem den Krieg erklärt. Das würde die Königin aus seinem Mund erfahren, wie es sich Baigar gewünscht hatte.