V


Das Geborgene Land, Elbenreich Älandur, 6241. Sonnenzyklus, Spätfrühling.


Tungdil betrachtete den Wald, durch den sie zogen, und fand, dass er sich seit seinem letzten Besuch bei Liütasil gehörig verändert hatte. Bäume, die auf dem Boden Älandurs gediehen, wuchsen offenbar schneller. Ingrimmsch, der wie sein Freund neben dem Pony herlief, folgte seinen Blicken. »Ich dachte schon, ich bilde es mir ein«, meinte er dann. »Das lange Gestrüpp ist gewachsen wie Unkraut.« Er zog den Krähenschnabel aus der Halterung der Satteltasche des Packponys und nahm ihn locker in die Linke. »Es ist wie immer: Ich komme mir anders nackt vor«, erklärte er Tungdil. »Ich mag den Wahn verloren haben, doch ich bleibe ein Krieger. Falls sich eine Ranke um mich schlängelt, will ich gewappnet sein.«

»Ich vertraue den Elben.«

»Ich auch, Gelehrter.« Ingrimmsch schulterte die Waffe. »Aber ihrem Gemüse nicht.«

Zwei Elben traten unversehens aus dem Schutz der Bäume. Sie trugen Gewänder aus fein gewirkten hellen Stoffen und kostbare Spangen aus Silber und Gold in den langen blonden Haaren; die elegante Kleidung fiel lose um die schlanken, hoch gewachsenen Körper.

»Willkommen in Älandur, Tungdil Goldhand und Boindil Zweiklinge«, sang der Rechte mehr als er sprach, und beide verneigten sich vor den Zwergen.

»Bei Vraccas, ihre Gesichter sind noch zerbrechlicher geworden«, raunte Ingrimmsch. »Oder liegt es an den Kleidern, die sie anhaben?«

Tungdil grinste. »Du bist der Anführer unserer Mission. Es liegt an dir, ihnen zu antworten«, flüsterte er zurück. »Ich?«

»Sicher, wer sonst?«

»Du bist der Gelehrte!«

»Aber Gandogar hat dich beauftragt. Du hast mich lediglich entführt.« Tungdil genoss es sichtlich, den Krieger ins Schwitzen zu bringen.

Boindil seufzte und verneigte sich ebenfalls, wenn auch lange nicht so tief wie die Elben vor ihren Besuchern. »Vraccas sei mit euch«, grüßte er stockend. »Wir sind von unserem Großkönig gesandt worden, um euch unsere Aufwartung zu machen.« Er deutete nach hinten auf den Packesel. »Das ist für Liütasil, und...«, umständlich kramte er in seinen Taschen, bis er das zerknitterte Schreiben von Eldrur fand, »das ist unser Schreiben von eurer Delegation.« Er reckte es ihnen entgegen. »Wir... kommen in Frieden.« Danach schaute er zu Tungdil und verdrehte die Augen. »Ich kann das nicht«, wisperte er hilflos. »Bitte, mach du weiter, bevor ich noch einen Krieg auslöse!«

Die Elben studierten sorgfältig den Brief und lächelten wieder. »Es freut uns, dass sich die Kinder des Schmieds für unsere Kultur erwärmen. Wir werden euch sehr gern durch Älandur führen und euch zeigen, wie man bei uns lebt«, sagte der Sprecher, trat zur Seite und deutete mit ausgestreckter Hand auf den Weg. »Kommt. Wir haben bereits ein Quartier für euch hergerichtet.«

»Doch hoffentlich nicht zwischen irgendwelchen Wipfeln?«, entschlüpfte es Ingrimmsch, dabei streckte er die Finger nach dem Schreiben aus. Er erhielt es nach einem Zögern wieder. »Das Nisten dort oben überlasse ich den Vögeln.«

»Wir wissen um die Vorlieben eures Volkes«, antwortete ihm der Elb freundlich und ging voraus. »Ihr seid sehr nachsichtig«, bedankte sich Tungdil und ergriff nach der mittelschweren, doch sicherlich ungewollten Beleidigung endlich das Wort, was seinen Freund zu einem lauten, erleichterten Ausatmen veranlasste. »Wir bringen Geschenke für Euren Fürsten Liütasil.«

»Unser Fürst wird sich sehr über den Esel freuen«, lachte der Elb glasklar und so rein, dass es unangenehm für die Zwergenohren wurde.

»Nein, natürlich ist nicht der Esel das Geschenk«, stimmte Tungdil in die Heiterkeit ein, schon allein, um die Stimme des Elben zu überlagern. »Er trägt nur die Kostbarkeiten.«

»Ich dachte es mir. Aber einen Esel hat er bislang noch nie geschenkt bekommen. Es wäre eine erfrischende Neuerung gewesen.« Er verneigte sich nochmals. »Ich bin Tiwalün, das ist Vilanoil. Wir sind euch als Führer durch Älandur zur Seite gestellt worden. All eure Fragen richtet ihr an mich oder Vilanoil. Wir werden eure Neugierde gern stillen.«

»Meinen Dank, Tiwalün.« Tungdil erkannte den Pfad, auf dem sie liefen, wieder. Er würde sie zu der Lichtung führen, wo er sich mit Fürst Liütasil getroffen und über die Eoil gesprochen hatte. Höflich erkundigte er sich nach dem Befinden des Herrschers.

»Unser Herr ist wohlauf, befindet sich jedoch im Südosten des Reiches, um Angelegenheiten zu regeln«, sagte Tiwalün und trat auf eine waldfreie Fläche, wo ein Zelt aufgebaut stand. »Sobald er diese zu seiner Zufriedenheit gelöst hat, wird er herkommen und mit euch sprechen. Nun wünsche ich euch eine gute Nacht.« Tungdil sah die Wände aus grünem Samt. »Es ist das Fürstenzelt«, sagte er zu Ingrimmsch. »Wir bedanken uns für die Ehre, die uns zuteil wird«, richtete er seine Worte an Tiwalün und fügte in der Sprache der Elben eine Zwergenweisheit hinzu: »Man erkennt seine Freunde an der Art, wie man bewirtet wird.«

Vilanoil zuckte zusammen, und Tiwalüns Antlitz verlor für die Dauer eines Blitzes seine stete Beherrschtheit. »Liütasil erwähnte, dass man Euch den Gelehrten nennt, aber dass es Euch gelang, unsere Sprache zu erlernen, hat er uns verschwiegen«, sagte Tiwalün dann anerkennend, verneigte sich und wandte sich ab, dann blieb er stehen. »Dürfte ich bitte das Schreiben haben, Boindil Zweiklinge? Ich möchte es dem Fürsten senden, damit er mit eigenen Augen liest, wie gut Eldrur von Euch gesprochen hat.«

»Gerne, Freund Elb«, grinste Ingrimmsch und fasste sich an den Gürtel. »Tausend tote Bestien! Ich habe es verloren!«, polterte er. »Es muss mir irgendwo auf dem Weg zum Zelt runtergefallen sein.« Er schickte sich an, umzukehren und zu suchen, doch der Elb hob die Hand. »Nicht nötig, Boindil Zweiklinge. In unseren Wäldern geht nichts verloren, so wenig, wie eine Goldmünze in einem eurer Gebirge verschwinden würde. Wir finden es, macht Euch keine Gedanken« Er verneigte sich wieder. »Wir sehen uns morgen. Sitalia sende euch angenehme Träume vom Himmel herab.« Mit diesen Worten verschwanden die beiden im Schatten der Bäume.

»Mich hätte beinahe der Hammer von Vraccas getroffen, als ich dich so seltsam sprechen hörte«, schnaufte Boindil. »Mir ist immer noch ganz schlecht. Ich dachte sogar schon, du wärst besessen. Seit wann kannst du es?« »Ich habe alte Bücher in Lot-Ionans Stollen gefunden. Darunter befand sich ein größtenteils zerstörtes Werk über das untergegangene Reich der Nordelben, Lesinteil. Der Verfasser gab Anleitungen zur Sprache, und mehr als ein paar Redewendungen kann ich nicht. Es ist zu kompliziert.« Tungdil hielt die Stoffbahn vor der Zeltöffnung für Ingrimmsch zur Seite. »Lass uns ausruhen.«

»Koche uns doch schon mal was Leckeres. Ich werde mich um die Ponys kümmern und bin gleich bei dir«, antwortete Boindil und ging zu den Tieren, die das saftige Gras auf der Lichtung mit Genuss verspeisten. Tungdil trat ein und fühlte sich auf der Stelle zu dem letzten Zusammentreffen mit dem Elbenfürsten zurückversetzt. Die mit Schnitzarbeiten verzierten Holzpfeiler, der angenehme Duft, das warme Licht der Öllampen, die von den oberen Stangen hingen, und die Wärme aus den beiden Öfen schufen eine erholsame Stimmung und ließen die Strapazen der Reise von ihm abfallen.

Er zog das Kettenhemd aus und warf es auf die Ankleide, wusch sich das Gesicht und schaute in die Mitte des Raumes, wo sich ein Tisch mit warmem Essen befand. Er musste nichts kochen.

Boindil stürmte herein, rümpfte die Nase, weil sich sein Freund der Rüstung entledigt hatte, und setzte sich an den gedeckten Tisch. »Ho, so lasse ich mir unsere Mission gefallen«, meinte er und zog die erste Schüssel zu sich heran. »Es riecht zwar ein bisschen streng nach Blumen, aber das Essen sieht gut aus.« Er häufte sich die unterschiedlichsten Gerichte auf den Silberteller; hastig kostete er von allem, dann schwebte seine Gabel über einem gelben Bällchen. »O nein. Ich erinnere mich. Das hat mir damals gar nicht geschmeckt.« Er schob es angewidert an den Rand und aß dann weiter. »Lang zu, Gelehrter. Du hast durch die Marschiererei tüchtig an Gewicht verloren, da wirst du heute schlemmen dürfen.«

Tungdil lachte. »Es war ein guter Einfall von dir, mir ins Gewissen zu reden.« Absichtlich ließ er die Karaffe mit dem dunklen, malzigen Bier unangetastet und nahm sich von dem Wasser. Wenn er auch nur einen Schluck Gerstensaft kostete, würde ihn die Sucht sofort in ihren Bann schlagen. Sie hatte ihn lange genug beherrscht. Das Mahl schmeckte hervorragend, wenn man von dem gelben Bällchen einmal absah, und als Tungdil in einem abgetrennten Bereich einen Zuber samt einer kleinen Feuerstelle mit einem Wasserkessel darüber und einem Schälchen roter Kristalle entdeckte, gab es für ihn kein Halten mehr. Er richtete sich ein Bad und stürzte sich in die Wärme; nach einer Hand voll Kristalle im Wasser roch es himmlisch. Seine Muskeln lockerten sich, er schloss die Augen und genoss.

»Ich hab's!«, riss ihn die Stimme seines Freundes aus dem Dösen.

»Kannst du es auch weniger laut haben?«, beschwerte er sich und hob die Lider, um nach Ingrimmsch zu sehen. Er stand in einen Unterleibswickel gekleidet neben dem Zuber und schwenkte den Brief; die dicken Muskeln zuckten. »Ich habe das Schreiben wieder gefunden. Ich hatte es in meine Hose gesteckt. Es fiel eben zu Boden, als ich mich ausgezogen habe. Da werden sich die Elben ärgern, wenn ich ihnen morgen früh sage, dass sie eine Nacht lang umsonst durch die Büsche gekrochen sind«, grinste er. »Aber diese Nacht sollen sie ruhig noch suchen.«

Tungdil erinnerte sich an Tiwalüns Wunsch, das Schreiben an Liütasil zu senden, und seine Neugier erwachte. »Zeig mal«, bat er und reckte die Hand. »Ich möchte sehen, wie sehr wir gelobt werden.«

Bei der Übergabe geschah es. Entweder hatte Ingrimmsch zu früh losgelassen oder Tungdil zu spät zugegriffen - das Schreiben landete im Badewasser. Beide schnappten danach und zerrissen es beinahe genau in der Mitte. »Das war der Fluch Elrias«, meinte Boindil wissend und sah bedauernd auf seine Hälfte. »Sie zerstört mit ihrem Wasser alles, was mit unserem Volk zu tun hat.«

»Vielleicht waren wir einfach nur ungeschickt.« Tungdil stieg aus dem Zuber und schlang ein Handtuch um sich. »Du kannst hinein, das Wasser ist noch heiß.«

»Ich? Da hinein? Nachdem der Brief darin ertrunken ist und mich vor der Boshaftigkeit der Göttin des Wassers gewarnt hat?«, weigerte sich der Krieger.

»Es könnte dir nichts schaden. Du riechst. Und das ist noch milde ausgedrückt.« Er nahm beide Hälften an sich und legte sie auf einen der Öfen, um sie zu trocken.

Ein Teil der Elbenrunen war verwischt und unleserlich, außerdem glichen nur einige den Zeichen, welche die Nordelben Lesinte'ils gebrauchten. Entweder hatten sie schon immer anders geschrieben und gesprochen als ihre Verwandten, oder die Sprache und Schrift hatten sich in den vergangenen Zyklen gewandelt. Während das Papier trocknete, veränderte es sich. Zwischen den Zeilen wurden neue, blassblaue Runen sichtbar. »Eine geheime Nachricht«, staunte Tungdil halblaut. Wozu hatte Eldrur etwas in einem Begleitschreiben verborgen? Anscheinend hatte er sogar gefürchtet, dass einer der Zwerge die Elbenrunen entziffern könnte, und war deshalb nicht das Wagnis eingegangen, seine Worte offen niederzuschreiben.

Sind die Delegationen doch Spione?, fragte sich Tungdil, nahm den Brief und setzte sich damit an den Esstisch, um die Runen im Schein der Öllampen zu entziffern. Sie hatten unter der Nässe gelitten, was die Übersetzung nicht eben erleichterte.

»Boindil?«, rief er seinen Freund. »Komm her, ich muss dir was zeigen.«

»Sof...« Es platschte laut, Wasser schwappte unter dem Vorhang hervor, der den Zuber verbarg; danach ertönte ein lautes Prusten, und eine Abfolge der übelsten Zwergenflüche erschallte.

Tungdil grinste. »Geht es dir gut?«

»Verdammtes Wasser!«, tobte Boindil, riss den Vorhang herab und trocknete sich wütend damit ab. »Schau dir das an: Jetzt kann ich meinen Bart wieder einfetten.« Er hob das schwarze Gestrüpp an, das schlaff und lang auf seiner Brust hing. »Dabei hat es mich einen Zyklus gekostet, ihn zu pflegen und zum Glänzen zu bringen.« Er drehte sich um und trat gegen den Zuber. »Eine verfluchte Zwergenfalle ist das, ersonnen von Elria! Man sollte dergleichen verbieten.« Er wickelte sich in den Stoff ein. »Fast spüre ich den alten Wahn durch meine Adern rasen! Die Glut lodert von neuem, so sehr rege ich mich auf.«

»Beruhige dich wieder. Was ist geschehen?«

»Ausgerutscht bin ich«, stieß er hervor. »Auf einem Stück Seife, und rums lag ich kopfüber in der Brühe.« Er stieß auf und verzog leidend das Gesicht. »Bäh, sie schmeckt grauenvoll.«

»Wenn du Durst hast, trinke lieber Wasser. Aber jetzt riechst du von innen und von außen gut«, feixte Tungdil und deutete auf den Brief. Schlagartig wurde er ernst. »Ich habe was entdeckt.«

Ingrimmsch bemerkte die unterschiedlichen Farben der Schriftzeichen sofort. »Also doch Spione!«, stellte er zufrieden fest. »Ich hatte es zwar nicht wirklich ernst gemeint, als ich es damals sagte, aber es scheint zu stimmen.«

»Keine voreiligen Schlüsse«, warnte Tungdil seinen Freund und sich selbst. Er nahm sich von dem Tee, der in einer Silberkanne auf dem anderen Ofen stand, und goss sich einen Becher voll. »Ich werde schauen, was ich übersetzen kann. Vielleicht ist es eine Anweisung, uns nicht jedes kleine Geheimnis Älandurs zu offenbaren.« »Spione«, betonte Ingrimmsch mit gewichtiger Miene. »Für mich gibt es keinen Zweifel mehr.« Er ging zu einem der Betten, die für die Gäste aufgestellt worden waren, und legte sich hinein. Nach kurzem Hinundherwälzen stand er auf, nahm sich die Decke und legte sich auf den Boden. »Zu weich«, meinte er und schloss die Augen. »Du hältst heute Nacht die erste Wache«, sagte er. »Weck mich, wenn du abgelöst werden willst.«

»Wache?« Tungdil schaute zu ihm. »Was soll das?«

»Ich traue den Spitzohren nicht mehr.« »Aber wenn es nur eine harmlose Anweisung ist...« »... dann hätten die Spitzohren sie offen in das Schreiben einfügen können«, blieb er hartnäckig.

»... was wir wiederum als grob unhöflich hätten auffassen können.« Tungdil wollte die Elben nicht vorschnell verurteilen, auch wenn ihm ihr Verhalten merkwürdig vorkam. Ein bisschen mehr als merkwürdig. Lautes Schnarchen verriet ihm, dass Boindil das Streitgespräch nicht weiter vertiefen wollte. Daher drehte er den Docht der Lampe höher, um besser sehen zu können. Es würde eine lange Nacht werden.

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