Das Jenseitige Land, Stadt Letefora, 6241. Sonnenzyklus, Frühherbst.
Mehr als einen kurzen, faszinierenden Einblick sollte Tungdil vorerst nicht von Letefora erhalten. Flagur nahm ihn und seine Freunde mit in die Stadt, um sie dem Herrscher vorzustellen, der im gewaltigsten der Gebäude residierte und die Geschicke seiner Untertanen überwachte.
Sie ritten die breite Straße entlang. Die Tore wurden ihnen geöffnet, sobald man Flagurs Standarte erkannte. Die Einwohner neigten das Haupt vor dem Ubari, andere klatschten und riefen ihnen Dinge zu, von denen Tungdil annahm, es handle sich um Segens- und Glückwünsche.
Die Wände der Häuser waren mit einer Schicht aus Lehm verkleidet worden, in welche die Handwerker wunderschöne Verzierungen angebracht hatten. Einige Fronten waren bunt gestaltet worden, andere schlicht und farblos und bestachen durch ihre einfallsreiche Architektur oder Kacheln und Keramikflächen; halbrunde Türen und Bögen an den Fenstern herrschten vor.
Die Baufertigkeit konnte sich durchaus mit der seines Volkes messen und unterschied sich deutlich von der der Menschen. Ovale und runde Gebäude, die wie zur Hälfte in den Boden eingegrabene Kugeln aussahen, kannte man im Geborgenen Land nicht.
Buntes Glas setzte Akzente, mal waren es Ornamente, mal waren es Szenen, die von der Jagd, von Kriegen, aber auch von der körperlichen Liebe handelten, und zwar in einer offenherzigen und eindeutigen Art, die den Zwergen und Menschen aus dem Geborgenen Land die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte. »Sehr hübsch«, bemerkte Rodario und versuchte, etwas mehr von den diesen Bildern zu sehen. »Da kannst du noch was lernen, Unglaublicher«, meinte Ingrimmsch grinsend. Er tat zwar so, als fände er die Freizügigkeit nicht schlimm, aber sah dennoch nicht allzu genau hin. Es schickte sich nicht. »Ich kann immer was lernen.« Er schaute sich um und lächelte ein paar Frauen zu, die vor ihnen die Häupter neigten. Dadurch ergaben sich Einblicke in ihre Ausschnitte. »Noch besser lernen kann man, wenn man eine Meisterin hat, die einen unterrichtet.« Er lächelte den Krieger an. »Du weißt, was ich meine, nicht wahr, Freund des schnellen Schlags?«
»Verwechsle deine Gier nicht mit unserer Liebe«, warnte ihn Ingrimmsch humorlos. »Ich erlaube es nicht, dass du diese beiden Dinge auf eine Stufe stellst.« Er ballte viel sagend die Hand.
»Wir reden ein anderes Mal darüber«, gab Rodario um des Friedens willen nach und zwinkerte einem der Mädchen zu, das rasch den Blick abwandte.
Sie ritten in das kastenförmige Gebäude, das nach oben hin schmaler wurde und an allen vier Seiten Treppen bis zu der fla chen Spitze aufwies. Oben war sie zu einem Oval geformt worden, auf dem sich vier Türme erhoben. »Ich bin große Bauwerke gewohnt, Gelehrter«, sagte Ingrimmsch neben ihm, »aber das hier ist beeindruckender als alles, was ich bislang sehen durfte.« Seine Augen wanderten über die Steinwände. »Ich kann dir nicht einmal sagen, ob dieses Gebäude früher einmal ein Berg gewesen ist oder ob sie es aus Steinquadern zusammengefügt haben. Ich sehe keine einzige Fuge.«
Sie ritten in eine Halle, die sicherlich einhundert mal einhundert Schritte maß. Sofort eilten Diener herbei, sowohl Menschen als auch Ubariu, die sich um die Tiere kümmerten, während eine Untergründige in einem hellblauen Seidenkleid erschien und sich vor ihnen verneigte. Ihre dunkelbraunen Haare waren lang und lockig, die Haut fast schwarz, und um ihre Hüfte baumelte eine Schmuckkette aus einem unbekannten Metall mit eingesetzten Edelsteinen.
Tungdil und Goda machten große Augen, nur Ingrimmsch sah es wieder einmal überhaupt nicht ein, sich zu zügeln. »Bei Vraccas, ist sie verbrannt?«, fragte er laut und mitleidig.
Flagur lachte auf, und Sirka grinste. »Nein, Boindil. Sie trägt von Geburt an schwarze Haut. Unser Volk hat verschiedene Hautfarben. Nicht wie ihr.«
Er verzog das Gesicht. »Welchen Sinn macht das denn? Damit die Feinde sie im Tunnel nicht mehr sehen?« »Ich kann dir nicht sagen, was sich Ubar dabei gedacht hat. Es ist eben so«, antwortete Sirka. »Du bist unhöflich«, raunte Goda ihrem Meister zu. »Starr sie nicht so an.«
»Wie gut, dass sie unsere Sprache nicht verstehen. Du müsstest dich unentwegt entschuldigen«, sagte Rodario. »Wieso? Nur weil ich neugierig bin?« Ingrimmsch schulterte den Krähenschnabel. »Es fällt mir schwer, mir einen Zwerg in einem zarten Blau oder einem satten Rot vorzustellen.«
»So meinte ich es auch nicht, als ich von Farben sprach.« Sirka schaute Hilfe suchend zu Tungdil. »Welche Farben hast du dann gemeint?«
»Lass dich überraschen«, beendete Flagur die Unterredung. »Wir werden erwartet.« Er wechselte ein paar Worte mit der Untergründigen, dann folgten sie ihr.
Sie wandelten durch eckige, fünf Schritt hohe Gänge, stiegen Stufen empor in eine Ebene mit halbrunden Korridoren, bis sie nach der nächsten Treppe in einen Abschnitt gelangten, der rautenförmige Gänge besaß. Tungdil musste Sirka natürlich danach fragen.
»Das Gebäude steht für unseren Glauben, der verschiedene Unterwelten und Überwelten kennt. Jede dieser Welten besitzt ein Symbol und einen eigenen Gott, und das drückt sich in diesen Gängen aus. Wir steigen durch die Welten bis hinauf zu dem Herrscher der Stadt, der von Ubar eingesetzt wurde und ihn repräsentiert.« »Ist er auch ein Gott?«
»Nein. Er ist die Stimme und die Hand Ubars. Sich seinen Worten zu widersetzen bedeutet, die strafende Hand des Gottes zu fühlen.«
Die Untergründige in dem Seidenkleid lief auf ein fünf Schritt großes und drei Schritt breites Tor aus poliertem Silber zu, vor dem zwei schwer gerüstete Acronta standen. Tungdil, Rodario und Ingrimmsch dachten bei ihrem Anblick sofort an Djerün.
Um das Tor herum schlangen sich eingemeißelte Runen, gemalte Bilder von Kriegern und Fabelwesen, von denen Tungdil annahm, es handle sich um die Götter der Ober- und Unterwelten.
Über allem thronte überlebensgroß das Bild eines Wesens, das er sehr gut kannte: breite Kiefer mit vorstehenden Reihen nadelspitzer Reißzähne, ein menschenähnliches, viel zu großes, knöchernes Haupt, über dem sich eine dünne, ungesund bleich aussehende Haut spannte. Die Adern waren mit hellgelber Farbe aufgemalt worden, anstelle der Nase saßen zwei dreieckige Löcher.
Djerün! »Bei... den Göttern«, stammelte Tungdil leise.
Lot-Ionan nahm den Diamanten aus der Gürteltasche, und auch er konnte die Augen kaum von dem eindrucksvollen Bildnis abwenden. »Was für eine Kreatur hatte Andökai an ihrer Seite?«
»Wir sind da«, sagte Flagur und atmete tief ein. »Seid ihr bereit, dem Herrscher Leteforas gegenüberzutreten?« Sein Zeigefinger richtete sich auf das Bild über dem Eingang. »Für eure Augen wird er aussehen wie ein Monstrum, aber vergesst nicht, dass er das Abbild unseres Gottes Ubar ist. Erweist ihm Respekt.« Er nickte der Untergründigen zu, und sie gab wiederum den Acronta ein Zeichen.
Sie erwachten aus ihrer Starre, packten die eisernen Griffe, die in zwei Schritt Höhe über dem Boden eingelassen waren, und öffneten ihnen die Flügel.
Licht durchströmte den hohen Raum dahinter; unzählige Fenster, so hoch und breit wie je einer der gerüsteten Wärter, ließen die Helligkeit herein und erlaubten es dem Herrscher, das östliche Letefora im Schein der aufgehenden Sonne zu betrachten.
Die Wände waren mit künstlerischen Motiven bemalt worden, eingearbeitete Blätter aus Gold, Silber und andere Edelmetalle verliehen den Zeichnungen einen entrückenden Glanz.
Auf dem lehnenlosen Thron saß der mächtigste Acront, den sie bislang zu Gesicht bekommen hatten. Nun wussten sie auch, weswegen die Gänge so hoch waren; bei seiner Größe von vier Schritten war es dringend notwendig.
Er trug weder Helm noch Rüstung, sondern war in ein fließendes Gewand aus weißem Stoff mit goldenen und schwarzen Stickereien gekleidet. Er glich der Zeichnung über dem Eingangsportal mit erschreckender Genauigkeit. Nach den Maßstäben des Geborgenen Landes war er alles andere als eine Schönheit. Die großen violetten Augen musterten die Besucher. Mit einem leisen Knallen entfalteten sich die riesigen Schwingen auf seinem Rücken und verdunkelten das Licht. Mit diesem unheimlichen Geräusch hatte Djerün die Orks und alle anderen Kreaturen Tions in Todesfurcht versetzt.
Die Untergründige in dem Seidenkleid stellte sich an die Seite des Acronten und sprach zu Flagur. »Er sagt, er heißt uns in Letefora willkommen und ist sehr froh, dass unsere Mission einen glücklichen Ausgang genommen hat«, übersetzte Sirka für Tungdil und seine Freunde.
»Oh, sie versteht ihn?« Ingrimmsch rieb sich über den schwarzen Bart. »Ich dachte, es sei unmöglich.« »Sie ist seine Gemahlin. Sie sollte ihn verstehen«, erwiderte Sirka leichthin. »In jeder Generation wird eine von uns geboren, die einen Acront verstehen kann, und sie ist dazu auserkoren, seine Gemahlin zu sein und gemeinsam mit ihm zu herrschen.«
Rodario beugte sich zu dem Krieger. »Wie fühlt man sich, wenn man die mächtigste Frau der Stadt beleidigt hat, Meister Zunder?«
»Ich habe sie nicht beleidigt, Schwätzer«, beharrte Ingrimmsch leise und regte sich auf. Schnell legte Goda eine Hand auf seinen Unterarm. Es war der falsche Augenblick für einen Streit.
Der Acront sprach wieder, seine Gemahlin gab seine Worte weiter, Sirka machte sie für die Gäste verständlich. »Demnach war die Meldung über die Vernichtung des Heeres falsch?«
»Wer hat die Meldung gebracht, gottgegebener Acront?«, wunderte sich Flagur.
»Eine Fremde, eine Zauberkundige kam vor einiger Zeit nach Letefora und berichtete uns, wie schlecht die Dinge im Geborgenen Land verlaufen seien. Ihr sei es gelungen, mit letzter Kraft nach Letefora zu gelangen. Mit dem Diamanten.«
»Sie wies ihn Euch, gottgegebener Acront?«
»Ja. Sie wies ihn mir, und ich gab ihr eine Eskorte, die sie zur Schwarzen Schlucht geleitete.« »Das kann nicht sein«, sprach Lot-Ionan aufgebracht, öffnete die Hand und zeigte dem Wesen den Diamanten. »Ihr seid einer Fälschung erlegen. Wir haben den wahren Stein!«
Rodario schluckte. »Ich habe keinen Schimmer, was sich gerade ereignet, aber es führt zu nichts Gutem.« Tungdil trat vor. »Nannte sie ihren Namen, gottgegebener Acront?«
Die großen, unheimlichen Augen richteten sich auf den Zwerg, dann sprach die Kreatur wieder. Ihre Stimme ging Tungdil durch Mark und Bein; seine Gemahlin übersetzte die Antwort und gleich darauf auch Sirka. »Ja. Sie nannte sich Narmora. Narmora die Vergessene.«