Das Geborgene Land, im Grauen Gebirge an der Nordgrenze des Reichs der Fünften 6241. Sonnenzyklus, Frühling.
Tungdil hatte sich auf den Weg durch Glaimbars Königreich bis zum Steinernen Torweg gemacht, und zwar auf der gleichen Strecke wie damals, zusammen mit Balyndis und Boindil.
Die Schönheit, die er sah, lenkte ihn von seinen üblichen Grübeleien ab, von der Unzufriedenheit, die sich in sein Gemüt geschlichen hatte. Von dem Schmerz jedoch nicht, denn er lauerte wie ein boshaftes Tier in einem Winkel seines Verstandes und schnellte allzu oft hervor, bohrte die langen scharfen Krallen in sein verletzliches Inneres, in seine Seele. Seit jenem verfluchten Tag waren sie seine steten Begleiter - die Unzufriedenheit und der Schmerz.
Das bisschen Zerstreuung wurde durch jedes Kinderlachen zerstört, das ihm unterwegs zu Ohren kam. Der fröhliche Klang schnitt durch sein Herz und riss die Wunde in seiner Seele auf, ließ sie bluten, ehe Tungdil den Sturzbach mit Bier zum Versiegen brachte. Leider hielten diese allzu flüssigen Pfropfen niemals lange vor, daher musste er ständig nachhelfen. So entstanden Gewohnheiten.
Leicht schwankend erreichte Tungdil das gewaltige Tor mit den beiden gigantischen Flügeln, die ein einziges Mal durch Verrat bezwungen worden waren. Ansonsten hätten sie den Angriffen der Scheusale Tausende Zyklen lang getrotzt.
Und genau so sollte es auch wieder sein. Die beschädigten Stellen waren von den Steinmetzen ausgebessert worden, die fünf Riegel waren an ihren Plätzen und bewegten sich nur, wenn die geheimen Worte ausgesprochen wurden.
»Wenn du noch ein Auge hättest und singen würdest, hielte ich dich für Bavragor Hammerfaust«, sagte eine polternde Stimme hinter ihm und schreckte ihn aus seinen Gedanken.
»Die Stimme eines Toten spricht über einen Toten?«, erwiderte er und wirbelte herum, zu schnell, um sich auf den Füßen zu halten. Zwei kräftige Arme hielten ihn fest und verhinderten den Sturz.
»Sieht so ein Toter aus, Gelehrter?«
Tungdil musterte den muskulösen, gedrungenen Zwerg vor sich. Die langen schwarzen Haare waren an den Schädelseiten wegrasiert und hingen als Zopf auf den Rücken, der gleichfarbige Bart reichte bis zur Gürtelschnalle. Kettenhemd, Lederwams, Stiefel und Helm machten aus ihm einen vollständigen Krieger. Ein Krähenschnabel - eine Art Kriegshammer mit einem unterarmlangen Sporn auf einer Seite - ruhte neben ihm auf dem Fels, der Griff lehnte gegen die Hüfte.
»Boindil?!«, wisperte er ungläubig. »Boindil Zweiklinge!«, rief er dann freudig und riss den Freund an sich, den er seit fünf Zyklen nicht mehr gesehen hatte. Er schämte sich seiner Tränen nicht, und das laute Schniefen dicht neben seinem Ohr sagte ihm, dass selbst ein gestandener Streiter wie sein Freund seine Gefühle nicht verbarg. »Am Grab meines Bruders Boendal an der Hohen Pforte haben wir uns das letzte Mal gesehen«, weinte Boindil vor Freude.
»Und auch da lagen wir uns heulend in den Armen«, sagte Tungdil und klopfte ihm auf den Rücken. »Boindil! Wie sehr habe ich dich vermisst!« Er ließ den Freund los, mit dem er unglaubliche Abenteuer bestanden, Gutes und Schlechtes, Trauriges und Schönes erlebt hatte.
Der Zwilling wischte sich die Tränenperlen aus dem Bart, die wie an einem Federkleid daran herunterrannen. »Ich fette ihn noch immer regelmäßig«, sagte er und strahlte. »Gelehrter, du hast mir gefehlt.« Tungdil suchte einen Hinweis auf den Wahn, der in dem Krieger geschlummert hatte und gelegentlich hervorgebrochen war. Aber der Blick aus den braunen Augen war nicht länger irre sondern warm und freundlich. »Der Tod verändert auch die Lebenden, hast du einmal zu mir gesagt.« Er klopfte gegen Tungdils Kettenhemd. »Wenn du als Lebender allerdings so weitermachst, wird die Veränderung dein Tod«, neckte er. »Ist das Bier, das Balyndis braut, dermaßen gut?«
»Das Bier liefert uns ein Händler, und es schmeckt lange nicht so gut wie das, welches die Zwerge brauen. Es hat die gleiche Wirkung, bringt am Tag danach jedoch mehr Kopfschmerzen.« Tungdil nahm ihm die Anspielung auf seine Leibesfülle nicht krumm.
Aber die dichten Augenbrauen seines Freundes hoben sich vorwurfsvoll. »Mit anderen Worten: Du bist ein Säufer wie Bavragor geworden«, fasste er zusammen. Er roch den strengen Schweißgeruch, sah die verklebten Haare und das gealterte Gesicht. »Du hast dich gehen lassen, du dicker Held. Was ist geschehen?« »Wir sehen uns nach fünf Zyklen, und du hältst mir eine Predigt«, murrte Tungdil nun doch. »Erzähl mir lieber, was dich von der Hohen Pforte vertrieben hat.« Er schaute sich um und sah die vielen Krieger, die im Sonnenlicht in Reih und Glied angetreten waren, um ihre Kampfübungen zu absolvieren.
»Nichts hat mich vertrieben oder getrieben. Ich brenne nicht mehr auf den Kampf, und die Glut in meinen Adern ist verloschen. Es war die Bitte des Großkönigs, dich zu begleiten. Einer muss ja auf dich aufpassen.« Er tätschelte den Griff des Krähenschnabels. »Und das Andenken an meinen Bruder ehren. Im Gegensatz zu mir sehnt sich der Sporn nach der Schlacht. Er will sich in den Wanst einer Schweineschnauze bohren.« Vor den Reihen der Krieger lief ein Dritter auf und ab; die schwarzen Tätowierungen in seinem Gesicht verrieten seine Herkunft und die meisterliche Profession. Vor wenigen Zyklen noch hätten sich der Dritte und die Zwerge, die er nun befehligte, auf dem Schlachtfeld gegenübergestanden; inzwischen gab es den unbändigen Hass nicht mehr. Nicht mehr überall.
Boindil folgte seinen Blicken. »Ich wundere mich auch immer noch«, gestand er ein. »Von einigen Ausnahmen abgesehen«, er legte eine Hand auf die Schulter des Freundes, »sind mir die Dritten nach wie vor anrüchig. Ich kann nicht vergessen, dass ein paar von ihnen geschworen haben, uns von innen heraus auszumerzen. Ich fürchte ihre Heimtücke.«
»Ja. Doch sie sind lediglich eine Hand voll und nicht mehr ein ganzer Stamm wie zu Zeiten Lorimbas'. Die Verblendeten werden aussterben«, sagte Tungdil zuversichtlich. »Sind das meine Leute?« Er ging auf die Gruppe zu, sein Freund folgte ihm.
Der Dritte bemerkte das Nahen der beiden und wandte sich ihnen zu. »Ich grüße euch, Tungdil Goldhand und Boindil Zweiklinge«, verneigte er sich. »Ich bin Manon Schwertritt aus dem Clan der Todbeils. Dies sind die zwei Dutzend Krieger, die ich eigens für die Mission ins Jenseitige Land vorbereitet habe.« Seine braunen Augen schauten überzeugt. »Nichts wird sie schrecken.«
Boindil lachte freundlich. »Oh, glaube mir, Manon, es wird immer etwas geben, das einen Krieger schreckt.« Er schulterte seine Waffe. »Was nicht bedeutet, dass man es nicht bezwingen kann.«
Manon grinste herausfordernd. »Dann werden dir meine Männer zeigen, dass es Zwerge ohne Furcht gibt.« »Sicherlich finden wir nichts weiter als Schutt und Geröll«, antwortete Tungdil gelassen. »Wann können wir aufbrechen?«
»Sobald du möchtest«, gab Manon zurück.
»Dann morgen bei Sonnenaufgang«, entschied Tungdil und ging zum Turm, um die Treppe hinauf bis zur Spitze zu steigen und auf den Wehrgang oberhalb der Tore zu gelangen. Boindil blieb an seiner Seite. Gemeinsam schauten sie ins Jenseitige Land, das an diesem späten Nachmittag in aller Klarheit vor ihnen lag. Vor dem Tor lag die verlassene Ebene, auf der sich früher die Scheusale und Ungeheuer in regelmäßigen Abständen versammelt und den Sturm auf das Bollwerk versucht hatten.
»Kaum zu glauben, dass sie davon abgelassen haben«, sagte Tungdil leise und genoss den kalten Wind, der ihn umwehte und ihm die Wirkung des Bieres aus dem Schädel blies. Die Luft war eisig, rein, frei von jedem Hauch der Ungeheuer. »Nur noch die uralten Berge können sich an die unentwegten Attacken, an die heranwalzenden Heere von Tions Ausgeburten erinnern.«
»Es wird der Stern der Prüfung gewesen sein«, mutmaßte sein Freund. »Er hat anscheinend nicht nur das Böse im Geborgenen Land vernichtet, sondern über die Grenzen der Gebirge hinaus gewirkt.« Er seufzte. »Stell dir das vor, Gelehrter. Wie friedlich es wäre.« An seinem Tonfall war zu erkennen, dass er es selbst nicht zu glauben wagte.
»Ich erinnere mich an diesen Tag.« Die magische Welle aus Licht, welche nach der Beschwörung der Eoil durch das Geborgene Land gerollt war, hatte alles Schlechte zu Asche verbrannt und dessen Energie in einem Diamanten gefangen. Wer immer dieses Artefakt besäße und die Macht magisch zu nutzen wüsste, würde zum mächtigsten Wesen, das jemals gelebt hatte. Zur Sicherheit waren von den Zwergen genaue Imitate angefertigt und an sämtliche Königreiche verteilt worden; auch Tungdil besaß einen Stein, ohne zu wissen, ob es der echte oder ein falscher war. Aber einer war inzwischen verloren gegangen. Er fragte Boindil danach. »Das ist ein unergründetes Geheimnis. Der Stein, der zu Königin Isika von Ran Ribastur gelangen sollte, ist verschwunden. Bis heute«, antwortete er. »Man fand weder den Boten noch die Eskorte, die den Diamanten beschützen sollte. Der Diamant ist nie wieder aufgetaucht.« Er schaute zum wolkenumspielten Gipfel der Drachenzunge; die Berghänge strahlten malerisch dunkelrot im Schein der untergehenden Sonne. Die Schatten wurden länger, und die Brise wehte mit jedem Wimpernschlag eisiger. »Alle Nachforschungen haben nichts gebracht.«
»Das war vor fünf Zyklen«, überlegte Tungdil und fröstelte. »Hat es seitdem Versuche gegeben, einen der Steine zu stehlen?«
»Mir ist nichts bekannt«, sagte Boindil und schüttelte den Kopf; der schwarze Zopf pendelte auf seinem Rücken wie ein langes Tau. »Es gibt keinen Magus und keine Maga mehr im Geborgenen Land, und damit gibt es keinen, der die Macht nutzen könnte.«
»Bis auf die Hand voll Famuli, welche bei dem Verräter Nöd'onn in die Lehre gegangen sind«, verbesserte Tungdil.
»Sie besitzen keine Kräfte. Die Magiequelle, sagt man, ist durch die Eoil ausgetrocknet worden und versiegt. Woraus sollten die Famuli ihre Kräfte beziehen? Außerdem ist ihre Ausbildung nicht abgeschlossen. Was können sie schon bewirken, Gelehrter?«
Tungdil sparte sich eine Entgegnung. Er war bei dem Magus Lot-Ionan und in dessen Schule aufgewachsen; er kannte die Fähigkeiten der Magischen. Aber da sich lange Zeit nichts gerührt hatte, schloss er sich der Zuversicht seines Freundes an. Zu viel Schwarzseherei stand selbst ihm nicht gut an. »Lass uns nach unten gehen. Der Frühling lässt am Nordpass noch auf sich warten.« Er warf einen Blick zu den majestätischen Bergkämmen, wo der Wind Schnee von den Felsen blies und den Gebirgen weiße Fahnen anheftete. »Ich freue mich auf ein warmes Bier mit Met.«
Sie stiegen die Treppen nach unten.
»Wie geht es Balyndis?«, erkundigte sich Boindil, als sie den Turm verlassen hatten und auf den Stollen zugingen. »Was tut die beste Schmiedin des Geborgenen Landes?«
»Sie trauert«, sagte Tungdil bitter und so abweisend, dass der Krieger nicht wagte, weiter zu fragen. Vorerst. Stumm liefen sie nebeneinander her und suchten ihre Quartiere.
»Pst! Tungdil Goldhand!«, drang es plötzlich leise aus einer spaltbreit geöffneten Tür. »Hast du einen Augenblick?«
Boindil runzelte die Stirn. »Was soll die Geheimniskrämerei?« Er ging voran, stieß die Tür auf, eine Hand an den Griff des geschulterten Krähenschnabels gelegt. »Zeig dich, wenn du ein ehrliches Anliegen hast!« Eine Frauenstimme rief erschrocken auf, da sie den Zwilling nicht bemerkt hatte. »Du kannst kommen, Gelehrter. Sie ist harmlos«, sagte Boindil über die Schulter hinweg.
Tungdil trat an ihm vorbei in den Raum, in dem eine Zwergin stand. Sie trug einfache Kleidung und hatte sicherlich dreihundert Sonnenzyklen erlebt. »Was möchtest du?«
Sie neigte das ergraute Haupt vor ihm. »Verzeih mir, dass ich dich angesprochen habe, aber... stimmt es, was ich gehört habe? Dass du ins Jenseitige Land gehst?«
»Das ist kein Geheimnis.«
»Ich bin Saphira Eisenbeiß.« Sie zögerte, schlug die Augen nieder. »Darf ich dich um einen Gefallen bitten?« »Soll er dir etwa ein Andenken aus dem Jenseitigen Land mitbringen?«, meinte der Zwilling spöttelnd. »Meinen Sohn, wenn ihr ihn findet«, stieß sie hervor und packte verzweifelt Tungdils Rechte. »Ich bitte dich, halte deine Augen nach ihm offen! Sein Name ist Gremdulin Eisenbeiß aus dem Clan der Eisenbeißer. Er ist ungefähr so groß wie du, er trägt einen Helm mit einem goldenen Mond über der Stirn...«
»Ich dachte, es wurden keine Späher ausgesandt?«, wunderte sich Tungdil, dessen Neugier erwachte. Misstrauen loderte in ihm empor. Er traute Gla'imbar durchaus zu, ihn in eine Falle laufen zu lassen, vielleicht als eine Art späte Rache, dass er Balyndis erobert und sie sich über alle Grenzen der zwergischen Bräuche hinweggesetzt hatte.
»Er war kein Späher, er hatte Wache am Tor«, sagte sie leise und rang mit der Fassung. »Seine Freunde erzählten mit, dass er ein verdächtiges Geräusch gehört hatte und nachsehen wollte.«
»Am Tor?«, schaltete sich Boindil ein.
»Nein. Angeblich kam es von oberhalb der Pforte. Ein rollender Stein oder so etwas.« Ihre Augen wurden feucht. »Das ist das Letzte, was sie von ihm wissen.«
Tungdils Herz war gerührt, aber nicht erschüttert. Er kannte den Zwerg nicht einmal, um den es ging. »Wann war das?«
»Vor einem halben Zyklus«, schluchzte sie. »Ich bin mir sicher, dass die Ungeheuer Tions ihn entführt haben, Tungdil Goldhand. Wenn ihn einer befreien kann, dann du.« Sie küsste seine Hand. »Ich bitte dich, bei Vraccas! Rette ihn, wenn es dir möglich ist!« Die Tränen brachen aus ihr hervor, sie sank vor ihm auf die Knie. Boindil taten seine schnellen Worte von vorhin Leid. Er hatte sie zu Unrecht verdächtigt, mit einem lächerlichen Wunsch an seinen Freund heranzutreten. »Wir werden die Augen offen halten, gute Saphira«, brummte er freundlich. »Verzeih mir meine Worte.«
Tungdil half ihr auf die Beine. »Steh auf. Es gibt keinen Grund, vor mir niederzuknien und mich um Hilfe zu bitten. Ich tue das, was jeder Zwerg tun würde.«
Sie lächelte ihn an, wischte sich die Tränen von den beflaumten Wangen. »Vraccas segne dich, Tungdil Goldhand!« Sie nahm ein goldenes Amulett aus ihrer Tasche und hängte es ihm um. »Es gehört meinem Sohn. Er wird erkennen, dass ich dich geschickt habe. Und solltet ihr ihn nicht finden, behalte es als Dank, dass du es versuchst hast. Es würde ihn stolz machen, dass ein Held wie du seinen Schmuck trägt.«
Er betrachtete den Anhänger, der einen silbernen Mond vor einer goldenen Gebirgskette zeigte. »Ich danke dir. Wie kommt es, dass dein König ihn nicht suchen ließ?«
Ihre Augen sprühten Feuer. »Er hat ihn suchen lassen, einen halben Umlauf lang. Sie fanden seinen Schild neben einer tiefen Felsspalte und nahmen es als gegeben, dass er hinabgestürzt war.«
»Was macht dich sicher, dass es nicht so ist?« Boindil betrachtete sie forschend. »Nicht, dass du denkst, ich wünschte ihm den Tod.«
»Eine Mutter spürt, wenn ihr Kind gestorben ist.« Sie lächelte schwach. »Aber er ist es nicht. Ich weiß, dass er lebt und auf Hilfe wartet.«
Tungdil zuckte bei ihren Worten zusammen, als sei er von einem Albaepfeil durchbohrt worden. Er wandte sich ab. »Vertraue auf ihr Gefühl«, war alles, was er zu Boindil sagte, dann verließ er die Kammer. Auf der Schwelle wandte er sich noch einmal um. »Wir bringen dir deinen Sohn. Tot oder lebendig.«
Am nächsten Morgen verließ die kleine Gruppe die Geborgenheit des Zwergenreichs und schritt auf den Nordpass zu, der sie mit schneidenden Winden begrüßte. Die Böen sangen an den Felskanten ein vielstimmiges Lied, und Tungdil war sich nicht sicher, ob sie die Zwerge verhöhnen oder warnen wollten. »Der Wind hat den Vorteil, dass er den Nebel wegbläst«, meinte Boindil undeutlich hinter dem Schal hervor, den er sich vor das Gesicht geschlungen hatte. Die Augen schauten hervor, auch wenn er fürchtete, sie gefrören bei der Kälte zu kleinen Eisbällen.
»Hier draußen«, stellte Tungdil richtig. »Sobald wir in die Gänge gelangen, wird uns der verdammte Dunst empfangen. Da bin ich mir ziemlich sicher.« Er schwieg eine Weile und schaute zu den Wänden hinauf. »Ich frage mich, was die Ungeheuer wohl mit dem armen Gremdulin anstellen wollen.«
»Die Losung von ihm erfahren«, schätzte Boindil. »Die Schweinchen scheinen allmählich schlauer zu werden. Aber ihre Tat nutzt ihnen nichts. Allein der König und zwei seiner Vertrauten kennen die Worte, welche die Riegel öffnen.«
»Das gestehe ich ihnen zu.« Er deutete auf die steilen Hänge. »Kennst du ein Lebewesen, das nicht fliegen kann und diese Wände bezwingt? Und wenn es Orks waren, warum kletterten nicht mehr von ihnen dort entlang, eroberten die Mauer und ließen Seile für die anderen hinab?« Seine braunen Augen wanderten suchend über das Grau, das hier und da von Schnee verziert wurde. »Boindil, ich glaube, da stimmt einiges nicht.« »Ein neues Abenteuer, Gelehrter«, grinste Boindil. »Wie früher.«
»Nein«, erwiderte Tungdil und schüttelte den Kopf. Dann nahm er einen Schluck Branntwein aus seinem Lederschlauch. »Nein, nicht wie früher. Es wird niemals mehr wie früher sein. Dafür sind zu viele von unseren Freunden und Kampfgefährten tot.« Er beschleunigte seine Schritte und setzte sich an die Spitze der Abteilung. Manon begab sich an Boindils Seite. »War Tungdil Goldhand schon immer... so«, erkundigte er sich vorsichtig. »Was meinst du damit?«, polterte der Zwilling.
»Versteh mich nicht falsch. Er wird sicher ein guter Anführer sein, doch... Die Krieger wundern sich über ihn. Wir haben Geschichten von seinen Taten gehört. Von seinem Äußeren.« Er schaute vorsichtig zu Tungdil. Es fiel ihm nicht leicht, die Gedanken seiner Leute auszusprechen. »Sein Äußeres stimmt nicht mit dem Helden überein, den sie sich vorgestellt haben. Und es gibt Gerüchte... über sein Benehmen beim Essen mit dem Großkönig. Er soll ständig betrunken sein.« Manon senkte den Blick. »Für meine Krieger scheint es, als stimmten die Nachreden.«
Da sind sie nicht allein, dachte Boindil im Stillen. »Ruf sie zur Ordnung«, befahl er knurrig. »Sie sollen sich nicht das Maul wie Waschweiber zerreißen. Du wirst sehen, dass Tungdil immer noch ein Held ist.« Er konnte nur hoffen, dass er sich mit diesen Worten nicht zum Lügner gemacht hatte. Stumm bat er um Kraft für seinen Freund, damit aus ihm wieder ein Zwerg wurde, wie er einer sein sollte. Wie er von Vraccas geschaffen worden war.
Manon nickte und kehrte an seinen Platz im Zug zurück.
Nach mehr als einem halben Umlauf betraten sie einen Gang, der sich nach hundert Schritten mit Nebel füllte. »Hier sind wir wohl richtig«, gluckste Boindil. »Ich erinnere mich genau.« Er schnupperte in den Dunst. »Das ist er: feucht, kalt, ekelhaft.«
»Fehlen nur noch die Orks von damals«, meinte Tungdil leise und wies seine Begleiter an, die Waffen zu ziehen. »Gebt Acht. In dieser Suppe sieht man den Feind erst, wenn er vor einem auftaucht. Und seid leise. Je mehr Krach ihr macht, umso besser wissen die Gegner, wo ihr euch befindet.«
Sie pirschten in den Nebel. In Tungdil und Boindil stieg die Erinnerung auf. »Es waren drei Schweinchen«, flüsterte Ingrimmsch.
»Zwei haben wir erledigt, aber einer ist uns entkommen, weißt du noch?«
Wie hätte er den Anblick der verstümmelten Zwergenleichen vergessen können. Der entkommene Ork hatte vor seiner Flucht grauenvoll unter ihren Begleitern gewütet. »Sei still!«
»Vielleicht ist der Ork immer noch da?«, murmelte Boindil und zog den Kopf zurück; der Atem seines Freundes war alkoholgeschwängert und roch sauer. »Oh, am Ende bekomme ich doch noch Lust auf einen Kampf!« »Boindil!«, herrschte er seinen Freund an. »Schweig endlich!«
»Schon gut. Ich sage nichts mehr. Bis wir den Ork gefunden haben.« Er drehte den Krähenschnabel um die eigene Achse. Eine lange vermisste Anspannung hatte ihn befallen.
Quälend langsam ging es durch den Dampf, der die Barte und die Haare befeuchtete und Tröpfchen auf den Rüstungen bildete. Die Zwerge lauschten in das Grau und hörten dennoch nichts außer den Schritten des jeweiligen Vorder- und Hintermannes. Die Scheusale ließen sich nicht blicken, was ihre Wanderung nicht besser machte.
»Hat diese Suppe mal ein Ende? Lieber begegne ich einem Angriff und verschaffe mir mit dem Krähenschnabel Ruhe, als diese Schleicherei«, beschwerte sich Boindil irgendwann.
»Hast du einen Ork gesehen?«, fragte ihn Tungdil grantig, der als Schemen neben ihm lief. »Nein, warum?«
»Wieso redest du dann?«
Ingrimmsch schwieg wieder und hörte, wie Tungdil einen tiefen Schluck aus seiner Trinkflasche nahm; es roch nach Branntwein.
Ihr Weg führte sie nach schier endloser Lauferei in eine Höhle, wie sie anhand der ertasteten Wand feststellten. Tungdil fand die Rune wieder, und bald darauf entdeckten sie einen Gang, der sie tiefer ins Jenseitige Land führte. Niemand wagte es, die Stimme zu erheben. Nun befanden sie sich wirklich an einem Ort, an dem keiner aus dem Volk der Zwerge jemals gewesen war.
Urplötzlich, als habe man ihn hinter einer Biegung gleich einem feuchten grauen Tuch abgeschnitten und weggeworfen, lichtete sich der Nebel.
Die Stille, die rundum herrschte, sorgte für eine beklemmende Spannung, die sich nicht legen wollte. Bald brannten die Zwerge auf ein wie auch immer geartetes Geräusch, das ihnen endlich einen Hinweis auf Leben in den Gängen gäbe, gleich, ob es ihnen nun feindlich oder freundlich gesonnen wäre.
»Das ist ein Irrgarten.« Manon hatte die Stimme erhoben. »Die Gabelungen häufen sich.«
»Ich weiß«, erwiderte Tungdil. »Und jemand war vor uns da.« Er zeigte auf Kratzer in der Felswand, die sonst keiner von ihnen wahrgenommen hatte. »Eine Orkrune aus dem Geborgenen Land. Sie bedeutet gr, und wir folgen ihr schon eine Weile.«
»Wir sind auf der Spur des Schweinchens, das uns damals entkommen ist!« Boindil nickte Manon verstohlen zu, als wolle er damit sagen: Siehst du? Er ist ein guter Anführer. »Wo es uns wohl hinführt?«
Tungdil zuckte mit den Achseln und lief weiter. Die Runen waren bald immer achtloser in den Fels geritzt worden, dann endete die Spur ganz. Tungdil führte die Gruppe den Gang entlang und hinterließ seine eigenen Markierungen.
»Eine Höhle«, sagte er nach der letzten Biegung und deutete nach vorn. Lichtstrahlen fielen schräg von oben herab und beleuchteten den von Knochen übersäten Boden. Vorsichtig betraten sie die Kammer. »Ho, da konnte jemand die Schweinchen gar nicht leiden«, meinte Ingrimmsch mit einem Blick auf die Überreste. Er ging in die Hocke und erkundete ihren Fund genauer. »Jemand hat sie ausgebeint. Das Ungeheuer, das das hier getan hat, gefällt mir«, griente er und spie auf die Knochen. »Sie sind schon älter, wie es aussieht.« »Es wäre eine Erklärung, weshalb die Angriffe auf die Pforte ausblieben«, fügte Manon hinzu, hob einen Oberschenkelknochen hoch und betrachtete die Messerspuren daran.
»So viel kann man gar nicht fressen, wie es Schweinchen gibt«, sagte Boindil zweifelnd.
Manon betrachtete die riesige Höhle und hielt eine Hand in einen Lichtstrahl. »Und wenn es ein großes Ungeheuer ist? Ein Drache?«
»Das glaube ich nicht«, widersprach Tungdil. »Wir hätten Spuren von ihm gefunden. Furchen im Fels, alte Hornplatten, abgebrochene Zähne oder dergleichen.« Er hatte den Ausgang entdeckt. »Außerdem wäre er niemals durch die schmaleren Gänge gelangt.«
»Es gab früher auch kleine Drachen«, gab Manon zu bedenken.
»Ich weiß. Ich kenne die Bücher und Aufzeichnungen. Ich habe sie alle gelesen.« Tungdil ließ den Dritten spüren, dass er der Gelehrte unter ihnen war. »Und deswegen schließe ich Drachen aus.« Er wandte sich um und ging weiter.
Die anderen folgten ihm in den nächsten Gang, und schließlich erreichten sie eine weitere Höhle, durch die ein Bach floss. Die Zwerge schwärmten aus und betrachteten die Umgebung.
Den Spuren am Boden zufolge, hatte sich hier einst ein Lager befunden. Ein sehr großes Lager. Von der Anzahl der Feuerstellen schloss Boindil auf mindestens zweitausend Wesen. »Sie haben einige Zeit hier gelebt«, sagte er, die Schrammen im Boden betrachtend. »Und sie sind noch nicht allzu lange von hier verschwunden.« Seine Handschuhe strichen durch Asche. »Sie ist kalt, aber nicht sehr alt.« »Die Frage ist: Waren es Orks oder diejenigen, die unsere ärgsten Feinde als Futter betrachten?« Tungdil deutete auf einen breiten, natürlich entstandenen Tunnel. »Da entlang. Sehen wir nach, ob wir weitere Hinweise auf ihren Verbleib finden.«
Sie gingen weiter, immer noch kampfbereit und aufs Äußerste gespannt. Nur weil eine Kreatur Geschmack an Orks gefunden hatte, bedeutete es nicht, dass sie Zwerge als ihre Freunde betrachtete.
Der Tunnel endete vor einem Haufen Steine, der ihnen das Weiterkommen versperrte.
Tungdil betrachtete die Decke, dann die Felsbrocken vor sich. »Sie stammen nicht von oben. Sie wurden absichtlich aufgetürmt, um den Gang zu verschließen.« Er schaute zu Boindil. »Vermutlich hat das Heer, das in der Höhle hinter uns lagerte, seinen Rückzug gedeckt.«
»Oder es wollte verhindern, dass neue Scheusale diesen Weg nehmen«, fügte Manon hinzu. »Das ist alles mehr als merkwürdig«, befand Ingrimmsch. »Früher war es einfacher, oder, Gelehrter? Die Schweineschnauzen kamen, wir haben sie vernichtet, und damit war die Sache erledigt.« Er setzte sich auf einen Felsvorsprung, nahm den Helm ab und fuhr sich durch das Haar. Dann kratzte er sich am Kopf und schüttelte die Haare auf; es war einer der seltenen Tage, an denen er sie offen trug, was sehr ungewohnt aussah. »Jetzt sind wir so schlau wie vorher.«
»Bis auf die Tatsache, dass wir wissen, jemand hat die Orks zum Fressen gern«, warf Manon ein. »Ich bleibe bei meinem Drachen. Wir sind hier im Jenseitigen Land...«
»Nein. Es gibt keine mehr. Oder sie lassen sich nicht mehr blicken.« Tungdil setzte sich ebenfalls und befahl eine Rast; es wurde gegessen und ausgeruht. »Schon gar nicht würde er sich die Mühe machen, seine Beute auszuweiden.« Seine Kleidung klebte am Leib, er schwitzte enorm. Die Anstrengung eines langen Marsches war er nicht mehr gewohnt.
»Die Biester sind schlau. Sie würden die Schweinchen erst gar nicht ins Maul nehmen«, lachte Bomdil und aß Brot mit stinkendem Käse. Seine Augen blieben plötzlich auf dem Haufen Steine hinter Tungdil hängen. »Blinkt da nicht was?« Er sprang auf, durchsuchte den Schutt - und entdeckte etwas. »Tatsächlich...« Sogleich befahl er fünf Krieger zu sich und ließ sie graben. Er selbst war zu müde.
Es dauerte lange, bis sie den vollkommen verbogenen Gegenstand freigelegt hatten. Schutt rutschte nach, wann immer sie große Brocken zur Seite räumten, und es staubte fürchterlich. Schließlich bekam Tungdil einen platt gedrückten Helm gereicht. Einen Helm mit einem goldenen Mond auf der Stirn; schwarze Haare und getrocknetes Blut hafteten am Rand.
»Damit haben wir ihren Sohn wohl gefunden«, sagte Ingrimmsch leise.
Tungdil steckte den Helm ein. »Wir haben seinen Helm gefunden. Nicht ihn. Begehe nicht den gleichen Fehler wie der Suchtrupp, den der König aussandte. Er kann platziert worden sein, damit ihn jemand findet und ihn für tot hält.«
»Wieso sollte jemand so etwas tun?«
»Eben. Wieso? Die Orks hätten sich diese Mühe nicht gemacht. Es muss ein Wesen mit Verstand gewesen sein«, beharrte Tungdil.
Ingrimmsch lehnte sich zurück und schaute auf die Halde. »Willst du sie abtragen, um es herauszufinden?« Tungdil lehnte ab. »Nein. Ich bin mir sicher, dass es vergebliche Mühe wäre. Wir...«
Sie alle hörten das helle Klirren, das aus der Höhle zu ihnen durch den Tunnel rollte: Ein eiserner Gegenstand war mit Kraft gegen einen Stein geschlagen worden. »Wir sind wohl doch nicht allein«, wisperte Boindil und stopfte sein Essen zurück in den Rucksack. »Gehen wir nachsehen«, stimmte Tungdil zu und befahl den Aufbruch.
Während sie so leise es ging durch den Tunnel zurück zur Höhle schlichen, vernahmen sie das Geräusch wieder. Und sie kamen ihm näher.
Tungdil, Boindil und Manon schauten vorsichtig aus dem Gang in die Höhle. Auf den ersten Blick gab es nichts zu sehen. Leer und verlassen lag sie vor ihnen. Staub flirrte in der Luft, und am Boden, ziemlich in der Mitte, befand sich eine Ansammlung Schutt, die vorher nicht da gewesen war.
»Ein Spuk?«, raunte Ingrimmsch Tungdil zu.
»Wir sind zwar im Jenseitigen Land, doch so weit würde ich in meinen Vermutungen nicht gehen«, sagte er besonnen. »Wer immer es ist, er hat sich...«
»Da oben!«, rief Manon und machte sie auf eine zwergengroße Gestalt aufmerksam, die unter der Kavernendecke schwebte.
»Wer kann das sein?«, fragte Tungdil ihn.
Ingrimmsch hob den Kopf. »Was, bei allen Göttern, macht er da oben?«
Der Zwerg hatte sich allem Anschein nach mit einem oben im Felsgestein befestigten Flaschenzug an einer Kette nach oben gezogen. Nun hockte er in einer biegsamen Schaukel aus Leder und hantierte mit einem dicken, armlangen Eisenstab.
Manon schüttelte den Kopf. »Zu uns gehört er nicht. Ich weiß nichts von einer solchen Mission, und mir ist schleierhaft, was er da oben bezwecken möchte. Oder wie er überhaupt hinauf gekommen ist.« Der Fremde setzte den Stab an, zog den Hammer aus dem Gürtel und schlug mit Wucht auf das Ende, um die Spitze in den Fels zu treiben. Große Splitter platzten ab und fielen klackernd zu Boden, Granitstaub rieselte hinterher. Jetzt wussten sie, woher der Schutt kam.
Boindil fluchte. »Seht euch die Decke an«, rief er alarmiert. »Sie ist voller Risse!«
»Wie kann ein Stab das anrichten?«, lachte Manon ungläubig.
»Scheingranit«, erklärte Ingrimmsch. »Ich bin ein Zweiter, und auch wenn ich niemals sonderlich gut im Bearbeiten von Gestein war, kenne ich seine Eigenheiten besser als ein Dritter.« Er zeigte auf die Stelle am Boden, wo sich die Brocken sammelten. »Seht ihr, wie er zerplatzt und staubt, wenn er aufschlägt? Er sieht aus wie Granit, ist aber längst nicht so hart. Je älter er wird, umso poröser wird er.«
»Der Kerl bringt gerade die Höhle absichtlich zum Einsturz!« Tungdil wandte sich um. »Raus hier, sonst gibt es kein Zurück mehr für uns!« Hastig folgten ihm die anderen.
Der Zwerg, der immer noch in luftiger Höhe arbeitete, hatte den ungebetenen Besuch bemerkt und verdoppelte seine Anstrengungen. Ein letzter harter Schlag, und ein hausgroßer Brocken brach heraus. Er zerschellte auf dem Boden und schleuderte eine graue Staubwolke bis zur Höhlendecke.
Sofort glitt der unbekannte Zwerg an der Kette herab und verschwand in dem trockenen Gesteinsnebel. Als dunkler Schemen rannte er vor Tungdil und seinen hustenden Männern her, um ebenfalls in den rettenden Stollen zu gelangen.
Über ihnen begann ein gewaltiges Vernichtungswerk. Am ehesten ließ es sich mit einem Gewölbe vergleichen, aus dem ein Wahnsinniger den alles entscheidenden Schlussstein entfernt hatte. Es gab nichts mehr, was das drückende Gewicht der Decke abgefangen und auf die Außenwände weitergeleitet hätte.
Weitere Brocken stürzten herab; zwei Krieger wurden unter ihnen begraben und von den schweren Steinplatten wie weiche Kashti-Pilze zerquetscht. Die Helme rollten zwischen die Stiefel der übrigen, ein Soldat stürzte darüber; ein Kamerad zog ihn gerade noch rechzeitig auf die Beine. Selbst das größte Ungeheuer hätte diesen Geschossen nicht standgehalten; vermutlich wäre sogar ein ausgewachsener Drache unter dem Gewicht in die Knie gegangen.
Das feine Granitmehl setzte sich in die Lungen und die Nasen der Zwerge und machte es ihnen unmöglich, einen kräftigen Atemzug zu tun. Der Fels bebte unter ihren Füßen, es krachte und donnerte. Der Berg schrie seine Trauer über die Zerstörung auf seine Weise laut hinaus.
»Dieser Bastard!«, rief Manon hustend und spurtete an Tungdil und Boindil vorbei, um den Zwerg einzuholen, der den Untergang der Höhle ausgelöst hatte. »Ich werde ihn erschlagen!«
Tungdil zweifelte nicht am Ernst der Worte. Der Dritte hatte zwei seiner Leute verloren, und das ohne jeglichen Anlass.
»Manon, nein!«, wollte er ihm nachrufen, aber es kam nur ein Krächzen aus seiner verstaubten Kehle. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als hinterher zu rennen und den Mord zu verhindern.
In dem Stollen, in den sie rannten, gab es keine Dreckwolken, und so hatten sie beste Sicht. Sie hasteten hintereinander durch den Tunnel wie an einer Perlenschnur aufgereiht, vorneweg der Zwerg, dann Manon und am Ende Tungdil, der immer mehr zurückfiel. Sein Körper war die Anstrengung nicht mehr gewohnt. »Halt«, ächzte er und spuckte einen grauen Klumpen Speichel, der einen hervorragenden Mörtel abgegeben hätte, auf den Boden. »Manon, warte! Er kann dich leicht in eine Falle locken.« Er trabte hinterher, Boindil und der Rest der Gruppe schloss zu ihnen auf. »So ein Heißblut!«
Als sie die Höhle erreichten, in der sie die Orkknochen gefunden hatten, sahen sie, wie Manon durch einen Ausgang zu ihrer Linken hetzte. Niemandem war das Loch vorher aufgefallen.
Die Jagd ging weiter.
Tungdils Seitenstechen wurde unerträglich. Er keuchte und pfiff wie ein löchriger Sudkessel; selbst der ältere Ingrimmsch, der den Schlachten und damit den Anstrengungen entsagt hatte, besaß mehr Ausdauer als er. »Lauft weiter«, hechelte Tungdil und verfiel ins Gehen. »Ich komme nach. Ich halte euch nur auf.« »Nicht nötig, Gelehrter«, sagte Boindil und zeigte auf eine Kreuzung.
Dort lag Manon; die gezogene Waffe hielt er in der Linken, und eine üble Platzwunde prangte unterhalb des Auges. Ingrimmsch und Tungdil knieten neben ihm nieder, während die Krieger sicherten. Von dem Zwerg, den sie verfolgt hatten, fehlte jede Spur.
Tungdil überprüfte die Schlagader am Hals. »Er ist nicht tot«, sagte er erleichtert und stieß die angehaltene Luft aus.
Boindil hielt eine augengroße Steinkugel in die Höhe, an der das Blut des Dritten klebte. »Jemand hat ihn mit einer Schleuder niedergestreckt«, stellte er fest.
»Verschwindet!«, hallte eine Stimme aus dem Gang. »Es gibt hier nichts, was es sich für euch zu entdecken lohnt.« Sie erkannten eine zwergengroße Gestalt, die nichts am Leib trug als einen Lendenschurz und ein Kettenhemd darüber; in der Rechten hielt sie einen schweren Hammer. Der Qualm ihrer Fackel machte das Gesicht unkenntlich.
Tungdil erhob sich und stellte sich an die Spitze der Truppe, während sich zwei Krieger um Manon kümmerten. »Wer bist du? Und warum hast du die Höhle...«
Hinter der Gestalt erhob sich ein großer, eckiger Schatten, der den gesamten Gang ausfüllte. Zahnräder klickten und surrten laut, mechanische Teile rieben aneinander. Quietschend näherte sich das Ding. »Verschwindet endlich!«, rief ihnen die Gestalt zu, ließ die Fackel fallen und schleuderte den Hammer mit beiden Händen nach ihnen.
Einer der Krieger wehrte das schwere Geschoss mit seinem Schild ab; es prallte ab und krachte gegen die niedrige Decke.
Die Geschehnisse aus der Höhle wiederholten sich. Große Fragmente des Scheingranits polterten auf den Felsboden, und der Gang brach auf mehreren Schritten Länge ein.
»Zurück! Es ist zu gefährlich, etwas zu unternehmen.« Tungdil ballte enttäuscht die Faust. Dieses Mal würden sie das Geheimnis des Jenseitigen Landes nicht enthüllen können.
Boindil und die drei Krieger schnappten sich den bewusstlosen Manon und rannten um ihr Leben. Nicht alle entkamen dem tödlichen steinernen Regen. Zwei Krieger wurden unter dem Scheingranit begraben, der Rest gelangte hustend und keuchend mit knapper Not in die Knochenhöhle. Der Stollen fiel hinter ihnen in sich zusammen und spie eine gewaltige Staubfontäne aus, welche die Zwerge überschüttete.
Und dabei blieb es nicht.
Das Gebirge schüttelte sich wütend, als ärgere es sich über das, was man ihm antat und wolle alle bestrafen, die sich in seinem Innern aufhielten. Über ihren Köpfen knisterte und knackte es, Splitter fielen herab. »Was haben wir getan, um Vraccas' Ärger zu erregen? Diese Kammer wird es nicht mehr lange geben«, schätzte Ingrimmsch und schaute ziemlich besorgt zum keuchenden Tungdil. »Kannst du noch?«
»Ich muss wohl«, gab er ächzend zurück, stützte sich auf die Knie und rang nach Luft. »Ich hatte nicht vor, auf diese Weise zu enden.« Er dachte an die seltsamen Umrisse, die er hinter der Gestalt gesehen hatte. »Was war das für ein Ding, das er bei sich hatte?«
»Ich weiß es nicht. Wer immer er war, er hätte es auf uns gehetzt, wenn der Gang nicht eingebrochen wäre.« Boindil schüttelte den Bart aus, der sich von dem vielen Staub grau gefärbt hatte. »Du bist der Gelehrte, Tungdil. Hast du schon einmal etwas Ähnliches gesehen?«
Im gegenüberliegenden Teil der Höhle barsten große Abschnitte der Wand, die Steinsplitter flogen hunderte Schritte weit wie Geschosse umher und trafen einen der Krieger an der Wange. Blut schoss aus der Wunde. Tungdil antwortete nicht, sondern gab das Zeichen zum Aufbruch. Für ihn lagen die Dinge nicht ganz so klar auf der Hand.
Sie eilten durch den Gang zurück in den Nebel, während der Fels unter ihren Füßen bebte und sich gar nicht mehr beruhigen wollte. Tungdil war überzeugt, dass das Gestein es sehr übel nahm, wie man in seinen Innereien gewühlt und die Höhlen zerstört hatte.
Aber sie entgingen dem Zorn des Gebirges, erreichten schließlich den nächtlichen Nordpass und machten sich bei scharfem Frost auf den Heimweg. Der Nebel bildete Reif auf den Helmen, Kettenhemden, Schilden und Barten und tünchte die Zwerge weiß.
Als sie endlich die Pforte erreichten, erwartete man sie bereits.