Das Geborgene Land, Königreich Gauragar, Flutland, 6241. Sonnenzyklus, Spätsommer.
»Ich schlage vor, wir treffen uns mit dem Heer der Ubariu in Dreigipfelburg.« Tungdil saß am späten Abend zusammen mit seinen Freunden in der Kapitänskajüte über einer Skizze des Geborgenen Landes, um die weitere Vorgehensweise zu besprechen.
Die Wogenschwinge hatte die Grenze zu Gauragar passiert und befand sich in Flutland, dem Teil des Königreichs, der von den neuen Ausdehnungen des Weyurnschen Sees vor fünf Zyklen überspült worden war. Hatten die Wassermassen damals Tod und Verderben gebracht, war es für die Reisenden heute ein Vorteil. Sie gelangten ohne Unterbrechung nach Osten und näherten sich Meile um Meile dem Braunen Gebirge.
Flagur nickte. »Es wird das Einfachste sein. Es gibt nichts mehr im Geborgenen Land, das nach dem Stein trachtet, also können wir es wagen, ohne Eskorte bis nach Urgon zu reisen.« Er schaute zu Lot-Ionan, der den Diamanten in seiner Linken hielt und abwesend aus dem kleinen, dickglasigen Fenster schaute. »Was meint Ihr dazu, ehrenwerter Magus? Besteht noch Gefahr?«
Lot-Ionan antwortete ihm nicht.
Stattdessen erhob Tungdil die Stimme. »Es gibt noch einen Alb. Er befand sich auf der Insel, welche die Dritten als Stützpunkt nutzen. Aber er hat sich weder den Unauslöschlichen angeschlossen, noch habe ich seitdem von Ereignissen vernommen, die auf sein Wirken hindeuten.«
»Ein guter Hinweis.« Flagur legte die breiten Unterarme auf die Tischplatte, das Holz knirschte leise unter seinem Gewicht.
»Ich fürchte ihn nicht«, sagte der Zwerg nochmals.
»Ich schon, werter Mitheld«, murmelte Rodario. »Der letzte Alb hat mir meinen Bauch aufgeschlitzt, und das war keine erquickliche Erfahrung. Ich denke nicht, dass dieser freundlicher zu mir sein wird. Nicht zu vergessen: Wir haben seine Eltern ermordet. Das wäre ein Grund, unfreundlicher zu sein, als es seine Natur ohnehin von ihm verlangt.«
»Ich bin für eine Begleitwache«, mischte sich Sirka ein. »König Bruron soll uns Soldaten schicken. Je mehr Schwerter wir um uns haben, umso größer ist die Abschreckung.«
»Gut«, willigte Tungdil ein.
Rodario kritzelte es nieder. Er war zum Schreiber auserkoren worden. Die Botschaften würden auf den Weg geschickt werden, sobald die Gruppe Boden unter den Füßen hatte. Er sortierte die Blätter. »Eine Nachricht an Bylanta, die Königin der Vierten, dass wir kommen, eine Nachricht an Ingrimmsch und an das Heer der Ubariu und die Herrscherinnen und Herrscher, dass wir den Stein über die Grenze bringen, und«, er deutete auf das letzte Papier, »die Nachricht an Bruron mit der Bitte um Geleitschutz.« Er tauchte den Federkiel ins Tintenfass und beendete die letzten Sätze.
Lot-Ionan seufzte und erwachte aus seiner Geistesabwesenheit.
»Es bringt nichts, den Umstand länger zu verschweigen«, begann er und legte den Diamanten auf den Tisch. »Flagur, was seht Ihr?«
Rodario hielt inne. Schnell schaute er zu Tungdil und hoffte, dass er sich an die nächtliche Unterredung entsann. »Aber nicht doch! Fasst ihn lieber nicht an«, sagte er dann beiläufig, als der Ubari die Hand danach ausstreckte. »Nur schauen, wie der ehrenwerte Magus bereits anmerkte.«
Flagur betrachtete Rodario verdutzt. »Warum sollte ich ihn nicht anfassen?«
Erst jetzt fiel Tungdil ein, warum sich der Schauspieler so merkwürdig verhielt. »Ihr habt vom Orkfleisch gegessen, Flagur, das mit der Schlechtigkeit des Schwarzen Wassers durchsetzt war«, erklärte er. »Ich verstehe«, sagte der Ubari ohne Groll. »Nun hat er... nun habt Ihr Angst, dass mich die Schlechtigkeit durchdrungen haben könnte und ich aus ganz anderen Gründen nach dem Stein trachte?« Er grinste bösartig. »Ein netter Gedanke.«
»Versteht mich nicht falsch, aber es kam schon einmal ein Wesen ins Geborgene Land und wollte angeblich nur das Gute«, meinte Rodario, der sich verpflichtet fühlte, sein Misstrauen näher auszuführen. »Und bei allem Respekt Euch und Sirka gegenüber«, er neigte den Kopf, »bislang mussten wir uns auf Eure Worte verlassen. Ich meine, woher wissen wir denn, dass es diese Schwarze Schlucht gibt, dass da eine Bedrohung lauert und dass sie den Diamanten benötigen, um ein Artefakt in Gang zu setzen?« Er räusperte sich. »Seit jener Nacht sind die Zweifel einfach vorhanden, Flagur. Seht es mir nach.«
»Verdammter Schauspieler!« Blitzschnell ergriff Flagur den Diamanten. Er starrte auf seine Faust, dann öffnete er den Mund, und ein finsteres Lachen erklang aus seiner Kehle. Die rosafarbenen Augen leuchteten grausam. »Endlich ist er mein!«, grölte er und sprang auf. »Die List gelang! Ubar sei gepriesen!« Sirka stellte sich an seine Seite, zog ihren Kampfstab und reckte ihn drohend gegen den Schauspieler. »Nun seht, was für ein mächtiger Runenmeister ich in Wirklichkeit bin. Spürt meine Macht!« Dann veränderte sich sein Antlitz. Er grinste Rodario an, der tapfer sein Schwert gezogen hatte. »Was sagt Ihr zu meinem Schauspieltalent?« »Was?« Der Mime blinzelte. Er atmete rasch und sah aus, als sei er soeben durch einen Schrei in sein Ohr aus tiefem Schlaf gerissen worden.
»Meine Vorstellung. Wie gefiel sie Euch?«
»Eure... Eure Vorstellung! Sehr witzig! Ich hätte Euch um ein Haar den Hals aufgeschlitzt.« Vorwurfsvoll schaute Rodario auf Tungdil. »He, großer Held! Du sitzt auffallend entspannt neben mir.« Tungdil griente, dann lachten er und alle anderen los. »Oh, ich verstehe! Ihr habt bereits darüber gesprochen und diese kleine Szene vorbereitet, um mir ordentlich Bange zu machen?« Er verzog das Gesicht. »Das bekommt ihr heimgezahlt, verlasst euch darauf. Niemand fordert den Kaiser der Schauspieler heraus.« Beleidigt steckte er das Schwert in die Scheide. »Niemand.«
Tungdil klopfte ihm auf die Schulter. »Ich hatte ihn in der Tat bereits darauf angesprochen, und Lot-Ionan hat ihn mithilfe der Magie untersucht, ohne etwas feststellen zu können, das auf eine Lüge hingewiesen hätte.« »Es war gut, dass Ihr uns aufmerksam machtet«, sagte Lot-Ionan lächelnd. »Aber den Schrecken hattet Ihr nach Eurer unglaublich törichten Handlung im Stollen...«
»Danke, danke, ich habe verstanden«, wehrte Rodario ab. »Können wir nun zu den wirklich wichtigen Dingen zurückkehren?«
Sirka und Flagur setzten sich wieder, beide grinsten. Aber Flagurs Heiterkeit legte sich rasch. »Nein, so sah der Diamant noch niemals aus.« Er reichte ihn an Sirka weiter.
»Sprünge, schwarze Verunreinigungen«, meinte sie und schüttelte den Kopf. »Woher stammen sie? Vom Unauslöschlichen?« Sie hielt ihn gegen das Licht. »Er wirkt, als zerbräche er jeden Augenblick.« »Ich kann es mir nur so erklären.« Lot-Ionan fuhr sich über den weißen Bart - oder zumindest das, was nach der Flammenwelle davon übrig geblieben war. »Ich nehme an, dass der Alb die Macht erzwingen wollte und dabei die letzten Reste seiner eigenen Magie einsetzte, um den Schutz zu durchbrechen.«
»Das Leuchten, das wir gesehen haben: War das die Macht des Steins oder die des Unauslöschlichen?«, hakte Tungdil ein.
»Die Macht des Diamanten. Es war ein reines, klares Licht. Kurz danach muss die Verunreinigung durch das Böse geschehen sein.« Lot-Ionan schaute Flagur und Sirka nacheinander an. »Es ist wich tig zu wissen, ob Ihr glaubt, dass das Artefakt mit diesem veränderten Stein seinen Dienst tun wird oder nicht.« »Kann er nicht auch die umgekehrte Wirkung erzielen?« Rodario erbat sich den Diamanten und rieb mit dem Finger darüber. Auch wenn er sich nicht so anfühlte, die Oberfläche war glatt wie Glas. Von den Rissen spürte er nichts. »Wenn das Böse darin lauert, wecken wir es damit nicht erst? Oder anders gesagt«, er legte den Stein in die Mitte des Tisches, »was ist, wenn das Artefakt das Böse beschwört, anstatt es zurückzuhalten?« Sie schwiegen und beobachteten, wie der Diamant den Bewegungen der Wellen folgte und seine Ränder nach rechts und links senkte. Er wirkte so harmlos, bei aller Pracht dennoch unscheinbar und verriet nichts über die enorme Macht, die in ihm gespeichert war. Niemand wusste, was diese Macht bewirken würde. »Was habt Ihr gespürt, als Ihr ihn benutzt habt, ehrenwerter Magus?«, fragte Sirka. »Ihr seid bewandert in der Magie, Ihr habt sie studiert. Gab es irgendetwas, was Euch mehr als fragwürdig erschien?«
Lot-Ionan rief sich Nudins Stimme und seine geisterhafte Gestalt ins Gedächtnis. »Nein«, log er gelassen. Er bezog die Erscheinungen auf sich, weniger auf den Stein. »Nein, er ließ sich von mir einsetzen. Und ich bin weit entfernt, mit dem Bösen im Bunde zu stehen.« Hastig trank er von seinem Wein, und in der Vorwärtsbewegung versetzte ihm sein Rückgrat einen heißen Stich. Die Finger öffneten sich zu früh, beinahe wäre der einfache Becher hingefallen und hätte seinen Inhalt über den Tisch ergossen.
Tungdil atmete tief ein. »Wir sollten den Herrscherinnen und Herrschern nichts von unserem Zweifel sagen.« Rodario hatte seine Kränkung überwunden und beteiligte sich wieder an dem Gespräch. »Das kann ich nur unterstützen. Sie würden lieber ein Heer in die Schwarze Schlucht entsenden, um die Scheusale zu bekämpfen, als das zweifelhafte Artefakt zum Einsatz zu bringen.« Er schnippte gegen den Diamanten. »Ich bin dafür, dass wir es dennoch versuchen. Es ändert nichts, sondern es beschleunigt die Angelegenheit. Entweder dieses Artefakt funktioniert, und niemand wird jemals von unseren Zweifeln und diesem Abend in der Wogenschwinge erfahren, oder es funktioniert nicht, und dann können sie das Heer immer noch entsenden.« »Um es anders zu sagen: Wir haben keine Wahl«, meinte Flagur. »Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Aufklärer der Scheusale die fehlende Barriere bemerken. Der Diamant muss zurück an seinen Platz.« Lot-Ionan hob den Kopf und schaute hinaus auf die abendlichen Wellen. »Notfalls gibt es noch mich. Die Kraft des Diamanten wird sich für starke Zauber einsetzen lassen, mit denen ich die ersten Wellen der Angreifer zurückschlagen kann.«
»Ihr seid sicher, dass Euer Verstand sein altes Wissen zurückerlangt hatte?«, sagte Sirka vorsichtig, um aus der halben Beleidigung eine Viertel Beleidigung zu machen.
Der Magus lächelte sie an. Es war ein zuversichtliches, vollkommen überzeugendes Lächeln. »Ich fühle mich, als besäße ich das Wissen von zwei Magi«, gab er zurück. »Mein Blut hat den letzten Rest meines Körpers erreicht und den Stein darin aufgelöst.« Er tippte sich gegen die Schläfe. »Auch darin. Ich sehe die Formeln wieder klar wie zu meinen besten Tagen.« Und nach kurzem Schweigen setzte er hinzu: »Nein, es sind meine besten Tage. Der Kampf gegen den Unauslöschlichen hat mich wachgerüttelt.«
»Dann belassen wir es dabei«, fasste Tungdil zusammen und streckte sich. »Wir gehen ins Jenseitige Land und setzen den Diamanten ein. Danach mögen die Götter, Ubar und Vraccas, zeigen, was sie für uns zu tun gedenken, denn wir haben alles unternommen, um Unheil abzuwenden.« Er stand auf und schritt zur Tür. »Entschuldigt mich für einen Augenblick.«
»Zwergenwasser für Elria?«, grinste ihm Rodario hinterher. »Sei nicht so unfreundlich zu der Göttin. Sie hat uns mehrmals verschont.«
Tungdil lachte und verließ die Kajüte, um seinen Urin abzuschlagen. Dazu hatte er sich den Bug auserkoren. Elrias Gnade hin oder her - das eigene Wasser drängte mit Macht aus seinem Körper.
Nachdem er sich erleichtert hatte, blieb er am Bug stehen, spürte das sanfte Heben und Senken des Rumpfes und ließ sich die klare Luft um die Nase wehen.
Für ihn war das Element Wasser nach wie vor unheimlich, andere seines Volkes weigerten sich gänzlich, sich einem See zu nähern oder in einen Bach, ja sogar in eine tiefere Pfütze zu treten.
Der Fluch Elrias verfolgte sie, dachten sie. Die Untergründigen schienen die Seefahrt dagegen für sich erkoren zu haben. Welch ein Unterschied.
Er schaute über die sanft wogende Oberfläche. Sie sah aus wie flüssig gewordene Nacht, die vom Himmel getropft war und sich auf der Erde gesammelt hatte.
»Ich beglückwünsche dich zu deinem Sieg über meinen Schöpfer«, sagte eine klare, leise Stimme hinter ihm, und Tungdil erkannte sie sofort: Der Tod war zu ihm zurückgekehrt.
Er wandte sich langsam um und sah den Alb im Dunkeln neben der Kiste mit den Ersatzsegeln. Er hockte im Schneidersitz, der Speer lag vor seinen Füßen, seine Rüstung zeichnete schwarze Flecken auf die ansonsten helle Haut. Die langen Haare fielen ihm ins Gesicht, die Panzerhandschuhe ruhten auf seinen Knien und hielten eine abgeschnittene schwarze Strähne. »Was tut ihr nun?«
Tungdil dachte daran, dass er lediglich einen Dolch mit sich führte. »Wie ist dein Name?«
»Mein Schöpfer gab mir keinen. Er sagte, meine Feinde würden mir einen geben, der zu mir passt.« Er ließ Tungdil nicht aus den Augen, war aufmerksam, ohne dabei angriffslustig oder nervös zu wirken. Er schien sich seiner Stärke bewusst. »Aber die Namen, die ich bisher hörte, gefielen mir nicht. Niemand möchte wie ein Fluch oder ein Schimpfwort heißen. Daher habe Aiphatön gewählt. Wie der Stern.« Er hob seinen rechten Arm und zeigte zum Himmel, an dem es glitzerte und funkelte. »Es ist der Lebensstern der Elben. Mein Schöpfer sagte, der Stern verdunkle sich, wann immer ein Elb im Geborgenen Land sterbe. In den vergangenen Umläufen habe ich ihn gar nicht mehr gesehen. Etwas geschieht mit den Elben.«
»Die meisten von ihnen führen Krieg, und sie werden vermutlich vernichtet. Weil sie Verrat am Geborgenen Land begangen haben«, erklärte ihm Tungdil. »Du hältst dich für einen Elben?«
»Ich sehe aus wie ein Elb. Bin ich denn keiner?«, kam die verwunderte Frage.
»Was hat dein Schöpfer dir gesagt, was du bist?«
»Gar nichts. Aber er und meine Schöpferin sahen auch aus wie Elben.« Er senkte das Haupt, die Haare verdeckten sein Antlitz vollständig. »Ich bin froh, dass er tot ist. Er verlangte und tat widerliche Dinge.« Seine metallene Hand fuhr über die ins Fleisch genähten Tioniumplatten, ein leises metallisches Schaben ertönte.
»Hast du uns deswegen gesagt, wohin dein Schöpfer gehen will?«
»Ja. Ich ahnte, dass ihr ihn überwinden könnt. Mir war es nicht vergönnt.« Er hob wieder den Kopf. »Was tut ihr nun?«
»Wir...« Tungdil stockte. Der Alb wusste nicht, dass er als der ärgste Widersacher der Elben geboren worden war. Es konnte ebenso gut sein, dass er ein niederträchtiges Spiel betrieb, um ihn zu täuschen, und in Wahrheit ein ebenso furchtbares Ziel verfolgte wie die Unauslöschlichen. Aber wenn es ihm um den Diamanten ging, weswegen griff er nicht an?
»Du vertraust mir nicht, obwohl ich dir in Toboribor das Leben geschenkt habe? Dir den Aufenthaltsort meines Schöpfers genannt habe? Und du immer noch lebst, obwohl es mir ein Leichtes gewesen wäre, dich zu töten und über Bord zu werfen?« Er stand auf, eine schnelle, elegante Bewegung, die Kraft und Geschmeidigkeit in sich vereinte. »Dann will ich dir sagen, was ich möchte. Bring mich zu den Elben, die anders sind als meine Schöpfer. Ich weiß, dass es Elben gibt, die gut und freundlich sind. Bei ihnen möchte ich leben.« Er trat aus dem Schatten auf den Zwerg zu.
Tungdil sah die schwarzen Augen. »Du bist kein Elb«, sagte er bedächtig. »Du bist ein Alb. Sie sind die erbarmungslosesten Feinde der Elben, Aiphatön. Du kannst nicht bei ihnen leben. Sie würden dich auf der Stelle töten.«
»Wieso? Ich habe ihnen nichts getan.«
»Aber du gehörst der Rasse an, welche die Elben sehr, sehr lange Zeit verfolgte und beinahe ausrottete. Sie werden dir deine Herkunft nicht verzeihen.«
Der Alb schnalzte mit der Zunge. »Lass mich mit ihnen reden, und wir werden sehen, was geschieht.« Er verstaute die schwarze Haarsträhne in einem Wachstuch und schob es in seinen Handschuh. Tungdil schüttelte den Kopf. »Aiphatön, nimm meinen Rat an: Verberge dich vor den Menschen, Zwergen und Elben. Keiner wird dich ohne Furcht und Hass betrachten. Verlasse das Geborgene Land und suche deinesgleichen.«
»Aber ich will nicht zu denen, welche du Alb nennst«, zischte er und zeigte die Zähne. »Wenn sie so sind wie meine Schöpfer, vernichte ich sie lieber alle.« Er hob die Hand und reckte sie gegen den Speer, der noch immer auf dem Boden lag. Die Runen der Waffe leuchteten, dann schnellte sie in seine Finger. »Ich will nicht sein wie sie.«
Tungdil hatte noch immer nicht die leiseste Ahnung, ob er dem Alb trauen durfte oder nicht. Alles sprach dagegen, sowohl das, was er aus Geschichten kannte, als auch das was er am eigenen Leib erfahren hatte. Sinthoras, Caphalor und Ondori hießen die Albae, gegen die er selbst angetreten war. Aber es hatte Narmora gegeben, die Halbalbin, die Furgas' Gefährtin gewesen war. Sie kämpfte trotz ihrer Abstammung für das Gute und bezahlte einen hohen Preis: ihr Glück, das Leben ihrer Kinder. Ihr Leben.
»Was kannst du mir über deine Schöpfer und die Zwerge erzählen?«, fragte er, um die Unterhaltung in eine andere Richtung zu lenken.
»Sie sind tot. Was sollte man noch von ihnen berichten?«
Tungdil zögerte. »Hast du Furgas gesehen? Der Mensch, der von den Zwergen gefangen gehalten wurde?« »Ja.« Aiphatön hob den Handschuh. »Er hat mich auf Bitten meiner Schöpfer zu dem gemacht, was ich bin. Wie ich bin.« Klickend schlössen sich die Finger. »Aber er war kein Gefangner. Er war ihr...« Er rang nach einem Wort. »Sie haben sich ihm gebeugt und befolgten seine Befehle«, umschrieb er es stattdessen. »Ich habe vieles gehört.«
»Er war ihr Anführer?«
»Ja, das trifft es. Er hat die Insel zusammen mit den Zwergen entdeckt und sie mit Soldaten erobert. Die Menschen mussten für ihn arbeiten. Der Magister erschuf viele Apparate, die er den Zwergen gab, und die brachten sie weg. Er hat auch Apparate gebaut, die er durch das Gebirge sandte. Sie sollten Monstren finden. Und für diese Monstren baute er den Tunnel.« Der Alb setzte sich neben Tungdil auf die Bordwand. »Er war auch in Toboribor und suchte Orks, die er für andere Maschinen nutzen konnte. Dabei stieß er auf meine Schöpfer und die Orks. Meine Schöpfer gaben ihm meine Geschwister mit, und er formte sie zu neuen Wesen.« »Woher wusste er von der Quelle? Er ist ein Magister technicus, kein Magus.«
»Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass er es tat.«
Tungdil glaubte dem Alb, so sehr es ihn schmerzte. Die Wahrheit hatte er zum ersten Mal aus dem Mund von Bandilor gehört, und Aiphatön bestätigte sie nun. Tungdil hatte sich eine andere Variante gewünscht. Der Alb schaute über die Wellen. »Ich habe dir gesagt, was ich möchte, was ich weiß, woher ich komme. Nun sage du mir, was ihr nun tut.«
»Wir gehen ins Jenseitige Land...«
»Zu den Scheusalen, von denen Furgas sprach?«, fiel er ihm ins Wort.
»Nein, nicht nach Westen. Nach Nordosten.« Und bevor ihn Aiphatön fragen konnte, sagte er: »Du kannst nicht mit.«
Hilflos hob Aiphatön die Schultern. Es war schwierig, den Zustand seines Gemütes an seinem Gesicht abzulesen, die Schwärze in seinen Augen verschleierte jegliches Gefühl; doch seine Züge drückten tiefes Leid aus. »Was soll ich hier, im Geborgenen Land, wenn mich keiner will?« Eine rote Träne rann über seine Wange und hinterließ eine hellrosa Spur auf seiner Haut. »Ich bin ein Geschöpf, das keinen Platz findet und nur Feinde hat.«
Tungdil war inzwischen davon überzeugt, dass es Aiphatön ernst mit dem meinte, was er sagte. »Komm. Ich stelle dich einem weisen...«
»Nein.« Aiphatön blickte ihn an, seine Züge drückten Entschlossenheit aus. Er hatte eine Entscheidung getroffen. »Wenn es keinen Platz für mich im Geborgenen Land gibt, dann schaffe ich mir einen.« Er lächelte freundlich. »Was immer ihr beabsichtigt, ich wünsche euch alles Gute. Ich bin sicher, wir werden uns wieder sehen.« Er hechtete über den Schiffsrand und tauchte ohne ein Geräusch ins Wasser ein; die Wellen verschluckten ihn.
Tungdil schaute hinab. Es gab nichts zu entdecken. Aiphatön war fort, als hätte es ihn niemals gegeben. »Ho, was geht da vor?«, rief die Schiffswache, die den Zwerg bemerkt hatte. »Ist jemand über Bord gegangen?« Der Mann kam näher.
»Nein. Ein springender Fisch.« Tungdil wandte sich um und kehrte in die Kajüte zurück.
Wie beim ersten Mal würde er den anderen nichts von seiner rätseihaften Begegnung erzählen. Er hätte ihnen nicht einmal erklären können, wo der Alb so plötzlich hergekommen war. Er bat Vraccas, dass er Aiphatön niemals als Feind gegenüberstehen würde. Und dennoch glaubte er beinahe fest daran, dass es so kommen würde. Früher oder später.