Das Geborgene Land, Königreich Idoslän, vier Meilen vor den Höhlen Toboribors, 6241. Sonnenzyklus, Spätsommer.
Der gesamte Belagerungsring befand sich in hellem Aufruhr. Rundum auf den Hügeln zeigten sich etwa vierhundert Standartenträger der Ubariu. Eine jede Standarte maß fünf Schritt in der Länge und einen Schritt in der Breite; die bunten Stoffe mit den unbekannten Symbolen wehten und schlängelten sich im Wind. Die Stangen bogen sich durch und mussten von jeweils vier Trägern gehalten werden, das laute Flattern war weithin zu hören.
Das Fahnenmeer genügte, um die Menschen, Zwerge und sogar die Elben zu beeindrucken. Dazu kam bei Tungdil dank Sirka das Wissen, dass jede einzelne Standarte für eintausend Krieger stand, die auf der anderen Seite lagerten und sich vorerst nicht zeigten.
Tungdil meinte, auf den Fahnen stilisierte Waffen zu erkennen, dann gab es Zeichen, die an Blumen erinnerten, andere an Tiere, und wieder andere waren derart verschnörkelt, dass man elbischen Ursprung vermuten konnte. Keine glich der anderen. Er warf einen letzten bewundernden Blick darauf, dann betrat er das Versammlungszelt, in dem sich alle Königinnen und Könige versammelt hatten. Es wurde bereits lautstark disputiert, und dass sich Rejalin mit Isika und Ortger unterhielt, verwunderte den Zwerg nicht.
Prinz Mallen erhob sich und klopfte mit dem Fuß seines Pokals auf den Tisch, um die Anwesenden zur Ruhe zu bringen. »Wie wir alle gesehen haben, hat sich Unerwartetes getan«, sagte er laut, um das letzte, schnelle Flüstern von Isika zu übertönen. »Tungdil Goldhand, erkläre uns, was es damit auf sich hat.« Der Zwerg erhob sich von seinem Platz. »Die Ubariu sind gekommen, um sich ihr Eigentum zu sichern. Ihr Gesandter Sundälon hatte schon zu einem früheren Zeitpunkt erklärt, welche Bedeutung der Stein für sie und das Geborgene Land besitzt.«
»Es ist eine List«, warf Rejalin, strahlend schön wie der junge Morgen, rasch ein. »Es sind die Geschöpfe Tions, die sich als Lämmer ausgeben, und dennoch in sich die Natur der Bestie tragen.«
»Hatten wir uns nicht schon einmal darauf geeinigt, dass man nicht anhand des Äußeren urteilen sollte, Fürstin?«, gab Tungdil freundlich zurück. »Muss ich schon wieder an Eure Verwandten erinnern? Folgten wir Eurem Urteil, müssten wir die Hand gegen einen jeden Elben im Geborgenen Land erheben, denn woher sollten wir wissen, dass nicht auch in ihm der Keim des Bösen steckt?« Er hatte die schroffen Worte absichtlich gewählt, um sie vor dem Erscheinen von Esdalän aufzustacheln. Je mehr sie vor den Augen und Ohren der Herrscherriege entgleiste, desto besser.
Die Elbin tat ihm vorerst nicht den Gefallen, sondern funkelte ihn nur ergründend an. Sie ahnte, dass der Zwerg etwas eingefädelt hatte.
Bevor Tungdil weitersprechen konnte, wurde der Eingang für die Delegation der Fremden geöffnet, die aus sieben kräftigen Ubariu bestand. Sirka folgte ihnen.
Die Ubariu unterschieden sich deutlich von ihren offenkundigen Verwandten, den Orks, durch ihre breitere und muskulösere Statur. Ihre Züge wirkten dagegen feiner, wenn auch nicht hübscher; geschliffene, unbemalte Hauer standen zwischen den Lippen hervor, und ihre Haut war dunkelgrün.
Sie trugen gut geschmiedete Rüstungen aus Eisen, die nichts mit den unkundig geschaffenen Harnischen der Orks gemein hatten. Darunter befand sich eine Lage aus dunklem, wattiertem Stoff, die Füße wurden durch Stiefel geschützt. Als Waffen dienten ihnen schwere, gebogene Schwerter, die sich an den Spitzen verbreiterten, um der Klinge bei einem Hieb zusätzlichen Schwung zu verleihen. Ein Duft, der an Lavendel erinnerte, ging von ihnen aus.
Ingrimmsch fluchte leise bei ihrem Anblick durch die Zähne und packte den Stiel seines Krähenschnabels. Manche im Zelt sogen die Luft scharf ein, und Königin Wey ächzte leise.
»Ich grüße die Herrscher des Geborgenen Landes«, verneigte sich ihr Sprecher und ließ die rosafarben Augen über die Anwesenden gleiten. Seine Stimme klang nach Ork, aber er sprach sehr deutlich. Der Akzent rührte daher, dass er wie Sirka in einer für ihn fremden Sprache redete. Tungdil sah es schon als ein kleines Wunder an, dass der Ubari überhaupt die Allgemeinsprache beherrschte. »Ich bin Flagur, und ich bin hier, um den Ubariu«, er deutete auf Sirka, »zu helfen, ihren gestohlenen Diamanten wiederzuerlangen.«
»Ich dachte, die Orks sind die Ubariu?«, meinte Isika verwirrt.
»Wir nennen uns gegenseitig Ubariu«, half Sirka aus. »Da wir beide Geschöpfe des Gottes Ubar sind.« »Ein nette Sippschaft«, sagte Ortger, dem die Aufregung rote Flecken auf die Wangen malte, die man noch durch den Bart hindurch sah.
»Wir sind«, sagte Flagur freundlich, aber nachdrücklich, »keine Wesen, die ihr Orks nennt. Wir heißen sie Phottör. Wir mögen ihnen gleichen, aber wir bekämpfen sie ebenso scharf, wie Ihr es einst im Geborgenen Land tun musstet.«
»Man kann deinen Aufmarsch als Bedrohung betrachten, Flagur«, sagte Isika zu ihm, die noch blasser geworden war. Die schwarzen Haare unterstrichen die Bleichheit. »Wir haben von den Posten vernommen, dass es mindestens achtzigtausend Krieger sind.«
»Es sind einhunderttausend, Königin. Wir würden Euch niemals drohen. Wir haben nur die Befürchtung, dass Eure Soldaten nicht ausreichen, um den Diamanten aus den Händen der Unauslöschlichen, wie Ihr sie nennt, zu reißen. Und natürlich, weil Ihr die Broka in Eurem Land duldet.« Er zeigte auf Rejalin.
»Wir haben schön gehört, dass sie im Jenseitigen Land unter euren Schwertern fielen«, rief Ortger aufgebracht. »Hüte dich, das Gleiche bei uns zu versuchen.« Er deutete auf Lot-Ionan und Der gard. »Wir haben diese mächtigen, weisen Männer, gegen die euer Heer nichts auszurichten vermag. Sagt dir Magie etwas?«
Flagur, das bemerkte Rodario mit geübtem Blick, genoss es, die Rolle des Einfältigen zu übernehmen, denn offenbar hielten ihn einige der Frauen und Männer für ebenso geistig rückständig wie einen Ork. »Magie? Nein, das sagt mir nichts«, meinte er und schüttelte sein breites Haupt, dann zeigte er auf den Ubari neben sich, der weite violettfarbene Kleidung trug. »Aber ihm. Er ist unser oberster Runenmeister und vermag Dinge zu tun, über die ich immer wieder staunen kann.« Seine Begleiter lachten leise. »Wir müssen klären, wie es mit dem Diamanten weiter geht. Sundälon hat Euch dargelegt, wie wichtig er für unsere und Eure Heimat ist. Daher bestehe ich darauf, den Stein nach der Vernichtung der Albae zu erhalten.«
»Also doch eine Drohung«, stellte Isika genüsslich fest. »Deine Absichten sind klar.«
Flagur verzog die Lippen zu einem Lächeln, und wenn Tungdil in seinem Leben schon vielen Bestien gegenübergestanden hatte, so hatte er niemals etwas Gefährlicheres gesehen. »Nein. Ich gebe Euch mein Wort, dass meine Soldaten und ich aus dem Geborgenen Land marschieren werden, ohne einen von Euren Leuten anzugreifen.«
Ein leises Raunen lief durch das Zelt. Man hatte die Ankündigung zwar gehört, traute ihr aber nicht. Sirka hob die Stimme. »Allerdings werden wir danach auch unsere Heimat Fön Gala verlassen und den geheimen Weg ins Geborgene Land nicht länger bewachen, wie unser Volk das so lange tat.« Gandogars Stirn legte sich in Falten, die schon mehr Schluchten glichen. »Unsinn. Es gibt keinen geheimen Weg durch die Berge...« Dann stutzte er, weil er sich die gleiche Frage wie die übrigen Mächtigen gestellt hatte. »Wie seid ihr durch den Hohlweg und die beiden Festungen meines Stammes gelangt?«, verlangte er mit bebender Stimme zu wissen. »Ich schwöre bei Vraccas, dass ich dich eigenhändig angreifen werde, wenn...« Flagur schaute zu Sirka. »Sage du es ihm.«
»Wir haben die Ubariu ins Geborgene Land geführt«, gestand sie. »Wir kennen den Pfad schon lange und schützen ihn vor den Phottör, die durch ein ungünstiges Geschick darauf stießen. Wir haben die Festungen der Vierten umgangen, während die Acronta Eure Tore belagerten und Eure Aufmerksamkeit auf sich zogen.«
»Und auf diesem Pfad werden die grässlichsten Gestalten in Eure Heimat gelangen«, sagte ihnen Flagur voraus. »Ihr könnt es verhindern. Wenn Ihr uns den Stein gebt und wir das Artefakt wieder zum Leben erwecken, das die Schwarze Schlucht verschließt.«
»Es ist eine List«, pochte Rejalin auf ihre Sichtweise.
Das waren die Worte, auf die Tungdil gewartet hatte, um zum Angriff auf die Niedertracht der Atär zu blasen. »Eine List? Wenn Ihr von List redet, Fürstin, wie erklärt Ihr den gekrönten Häuptern in diesem Zelt, dass Liütasil bereits vor vier Zyklen ermordet wurde und Ihr uns eine Komödie vorgespielt habt?« Rejalin stierte ihn an. Es gab für einen Lidschlag nichts Elegantes, nichts Wunderbares an ihr, bevor sie sich wieder fing und die Maske aus Schönheit zur Schau trug. »Was erzählt Ihr denn da für einen Unfug, Tungdil Goldhand? Zahlt Ihr so die Gastfreundschaft meines Volkes zurück, indem Ihr Unwahrheiten verbreitet?« Die Elben hinter der Fürstin tuschelten, die Leibwächter durchbohrten den Zwerg mit ihren Blicken. Mehr durften sie nicht.
»Es ist wahr! Ich habe einen Zeugen, ihr Königinnen und Könige«, parierte er ihren Versuch, seine Aussage ins Lächerliche zu ziehen. »Damit Ihr versteht, was in Älandur vorgeht, muss ich Euch einen Umstand enthüllen, den ich bis zu meinem Ende verschweigen wollte: Die Eoil, die Rodario und ich in Porista vernichteten, war in Wirklichkeit eine Elbin. Ich habe Liütasil danach gefragt, und er stand mir Rede und Antwort. Die Eoil sind die Ältesten und Mächtigsten unter den Elben, und niemand aus ihrem Volk würde es wagen, gegen einen Eoil in den Krieg zu ziehen. Das war der Grund, warum uns die Elben nicht zu Hilfe kamen.« Und er berichtete, was wirklich auf der Spitze des Turmes geschehen war. Rodario, der sich absichtlich zurückhielt und Tungdil reden ließ, beschwor jedes einzelne Wort bei seinem eigenen Leben. Es war nicht sein Auftritt. »Liütasil kannte die Wahrheit. Nun, da er von Anhängern der Eoil getötet wurde, ist es mir nicht erlaubt, länger zu schweigen.« Auf sein Zeichen hin gingen Ingrimmsch und Goda hinaus, um Esdalän zu holen.
Ortger schaute verstört zu der Elbin, die regungslos wie eine bemalte Porzellanfigur auf ihrem gepolsterten Sessel hockte, die Hände zu Fäusten geballt. »Sagt, dass es nicht wahr ist, was uns Tungdil Goldhand da berichtet«, bat er sie. »Wartet, bis Ihr den Bericht meines Zeugen vernommen habt, den sie ermorden lassen wollte«, sagte Tungdil, als sein Freund und Goda mit dem Elben zurückkehrten.
Esdaläns Augen legten sich voller Verachtung und Hass auf Rejalin. Wieder bemerkte Tungdil die äußere Ähnlichkeit der beiden. »Da stehe ich, Königinnen und Könige, und ich schwöre bei Sitalia, dass ich mit eigenen Ohren vernommen habe, wie sie über das Attentat auf Liütasil sprach. Sie leitete es in die Wege, sie bereitete dem Verrat den Boden«, sagte er und deutete mit einer anmutigen und zugleich anklagenden Geste auf die Fürstin. »Meine Schwester und ihre Gefolgsleute streben danach, die Lehre der Eoil, die im Jenseitigen Land und hier für so viel Leid sorgte, fortzuführen. Gewährt ihr auf keinen Fall, den Diamanten zu erlangen, sonst wird es Euch allen und Euren Untertanen schlecht ergehen.«
Tungdil bekam die Erklärung für seine Beobachtung: Geschwister. Das machte den Mordversuch Rejalins noch schrecklicher.
Esdalän berichtete von seinen Erlebnissen in Älandur, von den neuen Tempeln, in denen die Eoil verehrt wurde; von den weißen Steinen, die für die Reinheit standen und in allen Königreichen errichtet werden sollten; von den Plänen, denjenigen den Tod zu bringen, die sich in ihrer Not auf das Böse eingelassen hatten, wie die Menschen in Toboribor; von der Vorherrschaft und der Bevormundung durch die Elben aller Völker des Geborgenen Landes, sobald sie den Diamanten der Macht besäßen.
Die Versammlung lauschte erschrocken, stumm, gebannt.
»Die Atär halten sich für die Verfechter der Reinheit und der Eoil beinahe ebenbürtig. Sie wollen befugt sein, die Wächter über das Land zu sein. Dabei sind sie doch nichts anderes als blinde, gefährliche Wesen, die so viele aus ihren eigenen Reihen ermordet haben, bis keiner mehr übrig war, der sich gegen sie stellte.« Esdalän drehte sich langsam um die eigene Achse. Seine Stimme war brüchig geworden, Ergriffenheit steckte in seiner Kehle. »Und davon hat keiner etwas bemerkt. Nicht einmal ich, ihr eigener Bruder. Nun wisst Ihr es. Ich bitte Euch im Namen aller Toten Älandurs, welche die Atär zu verschulden haben: Stellt Euch ihnen in den Weg! Lasst sie nicht gewähren.« Er machte einen Schritt zurück und suchte den Blick seiner Schwester. Rejalin schluckte. Sein Auftauchen hatte sie aus der Fassung gebracht.
Es herrschte betretenes Schweigen. Von draußen erklangen die Stimmen der Soldaten, das Klirren von Hämmern und Werkzeugen, die Schritte von Männern und Frauen, die in der Nähe des Versammlungszeltes vorübergingen.
»Bei allen Göttern«, raunte Isika und legte ihre Hand auf die schlohweiße von Rejalin. »Sagt doch etwas! Sagt etwas zu den Vorwürfen, die man gegen Euch erhebt.«
Angewidert und voller Verachtung zog die Elbin ihre Finger weg und reinigte sie an ihrem Mantel. »Was gibt es noch zu sagen?«, sprach sie abgestoßen. »Es ist wahr. Wir wollen dem Geborgenen Land die Reinheit und die Unverdorbenheit geben, die es verdient. Die Eoil hat es uns aufgetragen, und wir erfüllen ihren Willen gern.« Sie betrachtete die Gesichter um sich herum. »Es wird nicht mehr lange dauern, und unsere Zeit ist angebrochen. Dann wird die Spreu vom Weizen getrennt. Diese neue Saat wird herrlicher, goldener wachsen als alles andere vor ihr. Da es offen ausgesprochen wurde, rufe ich Euch auf: Unterzieht Euch aus freien Stücken unserer Prüfung und zeigt, dass Ihr Euch nichts habt zu Schulden kommen lassen.«
»Bei Palandiell!« Königin Wey sprang wütend auf. »Ihr habt mich hintergangen! Ihr habt mit falschen Worten und Versprechungen mein Vertrauen erworben, um mein Land heimlich auszuspionieren.« Sie reckte den Finger gegen die Elbin. »Denkt Ihr, dass Ihr mit Eurem Geständnis auch nur einen Einzigen in diesem Zelt findet, der Euch folgt?«
»Wir wussten, dass Ihr so handeln würdet, sobald unsere gute Absicht zur Erleuchtung des Geborgenen Landes bekannt würde. Ihr könnt es nicht verstehen, liebe Wey«, lächelte Rejalin nachsichtig. »Ich seid noch nicht bereit dazu.«
Aber die Herrscherin von Weyurn war zu tief verletzt, um sich beruhigen zu lassen. »Redet nicht mit mir, als wäret Ihr meine Mutter!«, rief sie empört.
»Aber genau das sind wir: Wir sind die Mütter, die das Geborgene Land zur Ordnung rufen. Zum Wohle aller«, versuchte die Fürs tin zu erklären und erhob sich. »Wie bei vielen Müttern werden unsere Taten von den ungehorsamen Kindern nicht verstanden. Erst in vielen Zyklen, wenn die Saat des neuen Geborgenen Landes aufgegangen ist und wir dadurch für unsere Mühen entlohnt werden, wird man uns, die Atär, und die Weisheit der Eoil lobpreisen.« Gandogar schob sich ihr in den Weg. »Wo wollt Ihr hin, Rejalin? Stellt Euch Eurer Verantwortung«, grollte er. »Ihr habt Zwerge und Menschen getötet.«
Sie schaute ihn überrascht an. »Wir haben die Wesen ausgemerzt, die nicht die Reinheit besaßen, um in einer neuen Ordnung bestehen bleiben zu dürfen. Es war Spreu.« Die Leibwächter fächerten auseinander und schirmten sie vor Angriffen ab.
»Aber wieso die Ersten? Was haben euch diese Zwerge getan?«
»Ihr armer, bemitleidenswerter Großkönig, der nicht weiß, was in seinem eigenen Reich vorgeht«, sprach sie bedauernd. »Es war eine Kolonie von Dritten. Von Zwergenhassern. Meine Aufklärer haben sie beobachtet und entschieden zu handeln, bevor sie weiter Böses gegen Euch und die Zwerge treiben, die das Leben verdient haben.« Sie lächelte. »Es werden nicht viele von Euch übrig bleiben, fürchte ich. Ihr habt sehr viele Zwergenhasser in Euren Reihen. Ohne es zu ahnen.«
»Sie ist wahnsinniger als ich«, murmelte Ingrimmsch. »Wir dürfen sie nicht entkommen lassen, Gelehrter. Sie wird das Geborgene Land eher zu Grunde richten als die Unauslöschlichen und ihre Ausgeburten.« Rejalin achtete nicht auf seine Worte, sondern schritt auf den Ausgang zu. Die Menschen waren noch zu verstört von den Äußerungen der Elbenfürstin und wussten nicht, wie sie handeln sollten.
Aber Gandogar ging nicht zur Seite, sondern legte die Hand auf den Streitkolben. »Ihr werdet bleiben und Euch verantworten«, verlangte er mit fester Stimme.
Esdalän trat neben ihn. »Es ist vorbei, Schwester. Ich habe das Geborgene Land vor deinen Machenschaften und deiner Heimtücke gewarnt. Einen offenen Krieg wirst du niemals gewinnen.«
»Wie geht es weiter, Fürstin?« Mallen trat seitlich an sie heran, so gut es ging. »Ihr habt zu viele getötet. Auch Alvaro, dessen Befürchtungen ich von Anfang an hätte Glauben schenken sollen. Er war klüger als ich.« »Dann wärt Ihr auch tot.« Sie musterte ihn verächtlich von Kopf bis Fuß. »Da es scheint, als würdet Ihr alle gemeinsame Sache mit diesen abgeschmackten Wesen aus dem Jenseitigen Land machen, bin ich gezwungen, Euch die Augen zu öffnen.«
»Ihr habt nicht wahrhaftig vor, einen Krieg zu führen?« Ortger konnte die Gewissheit ebenso wenig begreifen wie Isika. »Ich bitte Euch...«
Die Elbin blinzelte. »Ihr bittet mich um gar nichts, junger Mensch. Wer den Diamanten zuerst besitzt, wird entscheiden, wie es im Geborgenen Land weitergeht«, lautete ihre scharfe Antwort. Sie nickte knapp. Einer ihrer Leibwächter zog daraufhin blitzschnell sein Schwert, um es Esdalän durch den Bauch zu stoßen. Gandogar hatte die Krieger jedoch nicht aus den Augen gelassen. Sein Streitkolben stieß zur Seite und wehrte den Schlag ab, sodass die Klinge fehlging.
Aber der Elbenkrieger ließ einen blitzschnellen, zweiten Hieb folgen und traf den Großkönig, der sich schützend vor Esdalän schob, an der Brust. Die Klinge zerbrach an den Panzerplatten der Prunkrüstung des Zwergs, der durch die Kraft des Schlages aus dem Gleichgewicht geriet und nach hinten taumelte. Tungdil fing ihn auf. Die Elben und Rejalin verließen eilig das Versammlungszelt. Einer der Leibwächter wandte sich noch einmal um und vollführte eine rasche Armbewegung, etwas sirrte durch die Luft und wirbelte auf Esdalän zu. Ingrimmsch packte einen kleinen Schemel, warf ihn nach dem Geschoss und fälschte seinen Flug ab. Das geworfene Messer kollidierte mit dem Schemel und prallte harmlos in eine Ecke; währenddessen floh die Fürstin.
»Lasst sie«, sagte Mallen, als er sah, dass sich Goda anschickte, ihr zu folgen. »Ihr würdet ihnen unterliegen.« Er eilte hinaus, sie hörten ihn Befehle erteilen. Bald darauf erklangen Schritte, Pferde wieherten, Reiter preschten davon. Der Prinz kehrte zu ihnen zurück. »Meine Männer werden ihnen den Weg abschneiden und sie festsetzen.« Er wandte sich an Flagur. »Es kann sein, dass wir Eure Krieger eher benötigen, als wir vor wenigen Augenblicken noch geglaubt haben. Allerdings nicht, um gegen die Kreaturen Tions zu ziehen.« Isika stand auf. »Ich weiß, wann ich einen Fehler begangen habe«, sagte sie ohne eine Spur von Hochmut. Die jüngsten Vorfälle hatten ihre Einstellung geändert. »Ich entschuldige mich zutiefst bei dem Volk der Zwerge und bei Tungdil Goldhand. Die Täuschung durch die Elben war zu gut. Ohne Euch wäre die unvorstellbare Absicht niemals ans Tageslicht gekommen, und dafür bedanke ich mich aufrichtig.« Sie schaute über die Gesichter der Herrscherinnen und Herrscher. »Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass wir alle einmal mehr in der Schuld der Zwerge stehen.«
Tungdil hielt den Großkönig noch immer unter den Achseln, dem es aus irgendeinem Grund schwer fiel, sich auf den Beinen zu halten. Ingrimmsch half ihm. »Gandogar, was ist mit dir? Hat dir die Klinge eine Rippe gebrochen?« Er prüfte die Panzerung, die nur einen leichten Kratzer und einen Abdruck erhalten hatte. »Das nenne ich eine Zwergenrüstung«, sagte Boindil stolz.
Gandogar verdrehte die Augen, versuchte zu sprechen, doch seine Knie gaben nach, und die Arme hingen schlaff an ihm herab.
»Rasch, legt ihn auf den Tisch«, verlangte Lot-Ionan. »Lasst mich nach ihm sehen.«
Der Großkönig wurde angehoben und auf die hölzerne Platte gelegt. Die Zwerge nahmen ihm den Brustpanzer ab, und der Magus legte die getroffene Stelle frei, um sie zu begutachten.
»Nichts«, sagte er. »Keine Brüche.« Er berührte einen geröteten Punkt unterhalb des Rippenbogens. »Diese Stelle ist sehr empfindlich. Man kann ein ungerüstetes Lebewesen durch einen einzigen Stoß mit der Hand ohnmächtig werden lassen. Es ist vorstellbar, dass die Klinge durch die Panzerung hindurch eine ähnliche Wirkung erzielt hat.«
Tungdil sah einen dunkelroten Fleck, der neben dem Hals Gandogars auf dem Tisch entstand. »Er blutet!«, rief er und langte an die Kehle des Zwerges, dessen Atmung im nächsten Augenblick aussetzte. Seine Hände tasteten in dem dichten Bart, bis sie eine Wunde fanden. Unmittelbar unter dem Kinn trafen die Finger auf ein scharfkantiges Stück Metall. Das abgebrochene Schwertstück war nach oben geschnellt und hatte sich von unten durch das Fleisch gebohrt. Er schob die Kiefer auseinander und schaute in den Mund, weil er Schreckliches befürchtete.
»Er stirbt!«, rief Ingrimmsch entsetzt und schaute zu Lot-Ionan.
Aber als der Magus zu einem Zauber ansetzte, hob Tungdil die Hand.
»Es ist vorbei«, sagte er düster und deutete in Gandogars Mund. Die Umstehenden sahen, dass das Schwertfragment sich von unten durch die Zunge hinauf in den Schädel gebohrt hatte. Das Hirn des Großkönigs war von der Klinge zerstört worden.
»Bei Vraccas«, raunte Ingrimmsch entsetzt und beugte ebenso wie Goda das Haupt.
Tungdil schloss dem Toten den Mund und drückte ihm die Augenlider zu. »Zieht ihm seine Rüstung wieder an«, befahl er. »Die Seele von Gandogar Silberbart aus dem Clan der Silberbärte vom Stamm des Vierten, Goimdil, ist auf dem Weg in die Ewige Schmiede zu unserem Schöpfer Vraccas. Bringt seinen Leichnam ins Braune Gebirge, wo er umgeben von majestätischen Gipfeln und seinem Clan seine Ruhestätte finden soll.« »Die Elben haben den Großkönig der Zwerge getötet.« Mallen betrachtete Esdalän. »Das wird böse enden.« »Nicht die Elben, sondern die Atär«, meinte Tungdil und betrachtete seine blutigen Finger. Der Tod seines Herrschers verschlimmerte die Lage.
»Es wird schwierig werden, den Stämmen, die auf dem Weg hierher sind, und denjenigen, die sich bereits vor Toboribor befinden, den Unterschied zu erklären«, schätzte Ingrimmsch. »Spitze Ohren haben beide.« Er schaute zu Esdalän. »Nichts für ungut.«
Ein Soldat betrat das Zelt. Er starrte auf den Leichnam des Großkönigs. »Prinz Mallen, die Elbenfürstin und ihr Gefolge sind entkommen. Wie vom Erdboden verschluckt«, erstattete er Meldung. »Ihre Soldaten sind in die Höhlen gezogen.« »Wann war das?«
»Kurz nach Beginn der Versammlung. Wir dachten, sie handelten auf Euren Befehl hin.« Mallen fluchte. »Rejalin hat geahnt, dass sie entlarvt wird.« Lot-Ionan hob die Arme. »Auch wenn Gandogars Tod sehr betrüblich ist, bleibt uns keine Zeit für Trauer. Die Elben werden versuchen, die Unauslöschlichen zu finden und den Stein zu erringen.« Er schaute auf Tungdil. »Geh und sage den Zwergen, was geschehen ist. Ihre Wut wird sie stärker als alles andere anspornen. Geschwindigkeit ist wichtig. Überlebenswichtig.« Dann blickte er Mallen an. »Ihr schickt all Eure Soldaten in die Höhlen und folgt den Zwergen. Bewacht die Ausgänge. Kein Elb darf uns entkommen.« Schließlich wandte er sich an Flagur. »Euch kommt es zu, die Höhlen von außen zu verteidigen. Wir erwarten ein großes Heer der Atär.«
Flagur nickte. »Es wird uns eine Ehre sein. Wir haben Erfahrung darin, die Broka aufzuhalten und zu vernichten. Falls es nötig sein sollte.« Er wechselte in eine unverständliche Sprache, und seine Begleiter wandten sich um. »Bekommen wir den Stein, Lot-Ionan?«, fragte er ihn.
»Ja«, antwortete der Magus, ohne zu zögern. »Er hat im Geborgenen Land schon genug Schaden angerichtet. Nehmt ihn und bringt ihn dorthin, wo er mit seiner Macht wenigstens Gutes vollbringt.«
Flagur deutete eine Verbeugung an und verließ das Zelt.
Ingrimmsch, Goda, Sirka und Tungdil eilten ebenfalls nach kurzem Abschied davon, um die Zwerge über den Tod Gandogars in Kenntnis zu setzen. Tungdil fühlte ein dumpfes Stechen in seinen Innereien, und er nahm es als schlechtes Vorzeichen.
Als sie das Lager erreichten, wurden die Flaggen der Clans bereits auf Halbmast gesenkt. Die Kunde hatte sich viel zu schnell verbreitet. Und die Wut der Kriegerinnen und Krieger, die sich um ihn versammelten, um aus seinem Mund die Nachricht bestätigt zu bekommen, war regelrecht greifbar. Die Kommandeure der Freien standen etwas abseits.
Tungdil stieg auf einen umgestülpten Eimer und reckte die Feuerklinge. »Großkönig Gandogar ist tot...« Ein aufgebrachter Zwerg trat nach vorn. »Ermordet!«, schrie er anklagend. »Von den Spitzohren!« Viele Stimmen riefen durcheinander, die Empörung über den feigen Mord brach aus ihnen heraus. »Hört mich an!«, rief Tungdil so laut er konnte, um sie zu übertönen. »Nicht die Elben tragen die Schuld am Tod des Großkönigs. Unser Feind heißt Atär. Begeht nicht den Fehler, sie und die Elben mit gleichem Hammer zu schmieden.« Tatsächlich verebbten die Unterredungen, sodass er berichten konnte, was im Zelt vorgefallen war. Dann richtete er die Feuerklinge auf die Höhlen. »Die Atär streben nach der vollkommenen Macht über unsere Heimat. Erfül len wir den Auftrag, den wir von Vraccas erhielten, und hindern sie daran. Für das Geborgene Land!« Niemand erhob die Stimme.
Ein Zwerg in der ersten Reihe schräg vor Tungdil senkte sich auf ein Knie herab, nahm den Helm ab und stützte sich auf den Griff seines Kriegshammers. Seine Lippen bewegten sich lautlos. Die Krieger rechts und links von ihm taten es ihm nach. In einer Wellenbewegung und unter leisem Klirren der Kettenhemden und dem Klappern der Helme knieten sich die Zwerge ins niedergetretene Gras. Lediglich die Zwerge der Städte blieben stehen. »Was tun sie da?«, fragte Sirka leise und schaute beeindruckt von dem Schauspiel über das Meer aus gesenkten Häuptern. »Haben sie dich zu ihrem neuen Anführer erkoren? Oder beten sie?«
»Nein, diese Zwerge beten nicht«, antwortete Tungdil bedrückt, der von den sich bewegenden Mündern einzelne Worte ablesen konnte. »Sie schwören Rache.«