Das Geborgene Land, Königreich Idoslän, 6241. Sonnenzyklus, Frühsommer.
Galoppierende Ponys sah man im Geborgenen Land selten. Das Donnern der kleinen Hufe klang nicht wirklich bedrohlich, aber zusammen mit den grimmig blickenden Zwergen im Sattel, dem Klirren der Waffen und Rüstungen reichte es, dass die Wanderer auf den Straßen freiwillig Platz machten.
»Ist es noch weit?« Boindil vermisste die Tunnel und die rasche, einfache Art, unter dem Geborgenen Land hindurch zu reisen. Er war kein besonders guter Reiter, sein Rücken schmerzte von dem unentwegten Druck, der durch die Bewegungen des Tieres auf ihn weitergegeben wurden. Außerdem hatte er versehentlich schon etliche Fliegen verschluckt.
»Du wirst es aushalten.« Tungdil kannte kein Mitleid, weder für sich noch für die Ponys oder seinen Freund. Seine Eile war mehr als verständlich. Neben dem Leben seiner Gefährtin Balyndis stand ein Diamant auf dem Spiel. Ihm war klar, dass der Stein weitaus wertvoller war, als sein vollkommener Schliff vermuten ließ. »Höchstens noch einen halben Umlauf.«
Hufschlag näherte sich ihnen von hinten. Ein Pferd kam auf die gleiche Höhe ihrer Ponys - nur dass im eigenwillig geformten Sattel kein Mensch, sondern ein kräftiger Zwerg saß! Aus den Satteltaschen, die vor den Augen Tungdils auf und nieder sprangen, ragten die Griffe verschiedener Äxte, und es klirrte gelegentlich metallisch.
Der Zwerg trug schwarze Kleidung und eine dunkelbraune Lederrüstung sowie schwere Stiefel. Die Form seines Bartes war exzentrisch, rund um Mund und Kinn standen die blonden Haare, die ansonsten abrasiert waren. Lange, hellblonde Bartzöpfe wurden durch den Wind nach hinten gedrückt; auf dem Schopf saß ein schwarzes Kopftuch.
Tungdil erkannte ihn sofort. »Bramdal Meisterklinge!«
Der wesentlich ältere Zwerg wandte ihm das Gesicht zu. »Ich kenne dich«, sagte er laut, um das Klappern der Hufe zu übertönen. »Bergensstadt, nicht wahr? Du wurdest für mich gehalten.« Er riss die Zügel nach hinten und verlangsamte die Geschwindigkeit des Tieres. »Und du wolltest zu den Freien. Nach allem, was ich hörte, ist es dir gelungen.« Sie ritten im Trab nebeneinander her. »Wer hätte gedacht, dass aus dir ein Held wird?« Er lächelte und reichte ihm von oben herab die breite Hand. »Es freut mich, dich wieder zu sehen, Tungdil.« Zwiespältige Gefühle befielen Tungdil. Bramdal verdankte er es, dass er den Weg zu den Freien und in die Stadt Goldhort gefunden hatte. Er hatte ihm den Hinweis auf den Tümpel und den verborgenen Eingang gegeben. Gleichzeitig hielt Tungdil nach wie vor nichts von dem Handwerk, das Bramdal ausübte.
»Bramdal? Ist das der Henker? Der die Leichenteile an die Langen verkauft?«, fragte Ingrimmsch. Er reckte sich im Sattel. »Das ist widerlich. Und schönen Dank, dass ich wegen dir in den brackigen Teich springen musste.« »Das muss Boindil Zweiklinge sein«, grinste Bramdal. »Zwei Helden auf ihrer Reise zum nächsten Abenteuer?« »Und du wieder auf dem Weg zu einer nächsten Hinrichtung?«, erwiderte Tungdil. Er wollte ihm keine Auskünfte erteilen.
»Ich reite nach Porista. König Bruron bezahlt gut für meine Dienste: Ich bilde seine Scharfrichter aus.« Er zuckte bedauernd mit den Schultern. »Verzeiht mir, dass ich nicht anhalte und wir in einem Gasthaus plaudern, aber es ist dringend.«
»Das bedeutet, dass du dir selbst die Arbeit nimmst«, grinste Ingrimmsch.
»Ja. Aber es macht nichts. Ich suche mir eine andere Betätigung.« Bramdal schien seine Auffassung von Vraccas' Auftrag, die Menschen vor dem Bösen zu schützen, geändert zu haben. In Bergensstadt hatte er Tungdil erklärt, dass er im Sinne des Zwergenschöpfers handle, wenn er die verurteilten Verbrecher der Menschen hinrichtete. Er hatte sie als das Böse betrachtet, so wie andere Zwerge die Orks für das Böse hielten. »Eine andere Betätigung in Goldhort?« Tungdil erinnerte sich an die Stadt der Freien, die in einer meilengroßen und hohen Höhle lag. Er hörte die gewaltigen Wasserfälle rauschen, er sah die Gärten, die Festung, in welcher König Gemmil lebte, er sah die betenden Zwergenpriester und hörte ihre Lieder in sich nachhallen. Es war eine schöne Zeit gewesen, die er dort verbracht hatte.
»Handel«, sagte Bramdal. »Wenn jemand weiß, wie vollendete Henkerwerkzeuge hergestellt werden und was sie taugen müssen, bin ich es. Warum sollte ich mein Wissen nicht nutzen? Die Königreiche haben immer Bedarf, und wir haben die notwendigen Handwerker.«
»Hat sich in Goldhort etwas verändert?«, wollte Tungdil ein wenig wehmütig wissen.
»Wie lange warst du nicht mehr dort?«
»Einige Zyklen, schätze ich.« Das war gelogen. Tungdil wusste genau, wann er Gemmil das letzte Mal besucht hatte. Fünf Zyklen war es her.
»Oh, du würdest einiges nicht mehr wieder erkennen. Die Stadt ist umgestaltet worden. Wir haben die Gärten abgerissen und stattdessen Werkstätten errichten müssen. Und die Höhle ist um eine Meile vergrößert worden, damit der Platz für alle ausreicht.«
»So viele Geburten?«
»Nicht nur. Die fünf Städte der Freien haben Zulauf bekommen. Der Handel mit den Zwergenreichen hat für enorme Neugier innerhalb der Stämme gesorgt. Nicht nur Ausgestoßene wollen bei uns leben; es kommen etliche, die sich von den Zwängen der Clans und Familien lösen wollen.« Bramdal verscheuchte eine Biene, die ihn umschwirrte und versuchte, in sein Lederwams zu kriechen. »Die Vorzüge unserer Gemeinschaft liegen auf der Hand.«
»Von wegen Vorzüge«, brummte Ingrimmsch. »Ein Zwerg braucht Beständigkeit.« Mehr sagte er nicht. »Jede möge glücklich sein, die einen in den Bergen, die anderen unter der Erde. Bei uns lässt es sich sehr gut leben. Der Wohlstand ist durch den Handel gestiegen.« Bramdal schaute zu einer Wegkreuzung. »Da vorn werden sich unsere Wege trennen, nehme ich an. Du weißt, dass Gemmil gestorben ist?«
»Nein.« Der Tod des Königs traf Tungdil tatsächlich, und auch Boindil machte ein bedauerndes Gesicht. »Wie?« »Ermordet. Wir vermuten, dass es ein Dritter gewesen ist. Wir haben einen Zwerg gefasst, der sich mit blutigen Kleidern aus Goldhort stehlen wollte. Er kämpfte verbissen gegen Wächter und tötete sieben von ihnen, ehe sie ihn niederschössen. Wir wissen bis heute nicht, weswegen er es tat.«
»Unfriede« mutmaßte Tungdil. »Wenn er zu den Zwergenhassern gehört hat, wollte er nichts weiter als Unfriede stiften. Ich finde es sehr bedauerlich, dass der König, der mich und meine Freunde damals herzlich willkommen geheißen hatte, so ums Leben kam. Wer ist sein Nachfolger?«
»Gordislan Hammerfaust.«
»Hammerfaust?« Ingrimmsch horchte auf. »Hat er sich diesen Namen selbst gegeben, oder ist er ein ausgestoßener Stammeszwerg?«
»Denkst du, es ist ein Verwandter von Bavragor Hammerfaust?« Tungdil sah den einst besten Steinmetz der Zweiten vor sich, ein Kraftklotz mit riesigen, schwieligen Händen und einer Augenklappe. Der »singende Säufer« war er genannt worden. Seine Tapferkeit hatte er in unzähligen Kämpfen bewiesen, die er an Tungdils Seite gefochten hatte. Er hatte sich für die Gruppe bei der Abwehr der Orks an der Esse Drachenbrodem geopfert. Ohne ihn wären sie niemals mit der Axt Feuerklinge entkommen.
Bramdal schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Sollte der Clan der Hammerfäuste für dunkelbraune Augen mit starkem Rotstich bekannt sein, könnte es möglich sein. Auf jeden Fall verträgt er eine gute Ration Branntwein, wenn es ans Feiern geht.«
Ingrimmsch grinste. »Kein Zweifel. Es ist ein Verwandter von Bavragor.« Er wurde ernst. »Was könnte ihn bewogen haben, seinen Clan zu verlassen? Ich habe nichts davon gehört.«
»Er lebt schon länger bei uns in Goldhort.« Bramdal und die beiden Zwerge hatten die Kreuzung erreicht, die Zeit des Abschieds nach dem nur kurzen Wiedersehen war gekommen. »Ich wünsche euch beiden eine gute Reise und viel Glück bei dem, was ihr vorhabt«, sagte der Henker und dirigierte sein Pferd auf den Weg nach Porista. Er hob die Hand und ließ das Tier angaloppieren. Die Staubwolke verschluckte ihn schon nach wenigen Schritten.
»Einen seltsamen Sattel hatte er«, wunderte sich Tungdil und ärgerte sich, dass ihm keine Zeit geblieben war, den Henker danach zu fragen.
»Ich bin froh, dass er einen anderen Weg genommen hat«, sagte Ingrimmsch erleichtert. »Am Ende hätte er uns noch etwas aus den Ledertaschen verkaufen wollen. Ich kann auf den getrockneten Finger eines Diebes oder das eingelegte Auge eines Ehebrechers gern verzichten.« Er spie aus. »Es ist widerlich, was er tut.«
Tungdil antwortete ihm nicht. Die knappen Worte Bramdals hatten die Erinnerung an eine unbeschwerte Zeit in seinem Leben heraufbeschworen. »Goldhort«, murmelte er. »Ich sollte es wirklich noch einmal besuchen.« »Besser nicht«, empfahl ihm Ingrimmsch vieldeutig.
Endlich erreichten sie das grünende und blühende Umland des Stollens, in dem einst Lot-Ionan gelebt hatte, einer der mächtigen Magi des Geborgenen Landes.
Tungdil freute sich auf die Rückkehr, auch wenn er nicht sehr lange fort gewesen war. Er hatte Balyndis viel zu berichten. Wenn sie ihn deutlich schlanker als vor seinem Aufbruch ins Graue Gebirge sah, würde sie erkennen, dass er sich verändert hatte.
»Da vorne!«, rief er zu Ingrimmsch und deutete auf den kleinen Pfad. »Dein Hintern hat bald ausgelitten.« Das große Tor rückte näher, hinter dem sich seine eigene, kleine Zwergenwelt verbarg. Tungdils Ziehvater hatte hier seine Zeit mit dem Erfinden neuer Zauber, dem Studieren alter Schriftrollen und dem Ausbilden seiner Famuli verbracht, bis er gegen den Verräter Nöd'onn angetreten war. Und verloren hatte.
Seitdem war er nicht mehr als eine Steinstatue, irgendwo in den Trümmern von Nudins Palast zu Porista. Magisch Begabte, die fähig genug gewesen wären, in seine Fußstapfen zu treten, gab es in diesen Zyklen ebenso wenig wie einen Ersatz für die versiegten magischen Felder. Das war zumindest die gängige Ansicht - bis zu der Kunde in Älandur über die rätselhaften Diamantenräuber mit den noch rätselhafteren Rüstungen. Jemand musste plötzlich Magie ins Spiel gebracht haben.
Tungdil hielt an, stieg ab und stand vor dem Tor. Er hob den Arm, um anzuklopfen, dann zögerte er. »Angst, Gelehrter?« Boindil glitt aus dem Sattel, hielt sich mit beiden Händen den Rücken und bog sich zurück. »Ich wusste ja, dass Elria uns ersäufen will, aber welche Göttin hat die Pferde und Ponys gegen uns geschaffen? Sie sind eine einzige Folter.«
Er klopfte ihm auf die Schulter. »Nur Mut. Du kehrst als der Tungdil Goldhand zu ihr zurück, den sie weit lieber als den anderen hatte, den ich vor einigen Umläufen im Grauen Gebirge vor mir stehen sah.« Er schlug mit dem Stiel des Krähenschnabels dreimal hart gegen das Holz.
»Was einzig dein Verdienst ist«, bedankte sich Tungdil nochmals. »Hättest du mir nicht ins Gewissen geredet...« Auf der anderen Seite des Torflügels erklangen reibende Geräusche; Riegel und Bolzen wurden zurückgeschoben, dann öffnete sich der Eingang für sie.
Eine Überraschung erwartete sie.
Auf der Schwelle stand eine Zwergin mit langen dunkelblonden Haaren, die unter ihrem eindrucksvollen Helm hervorragten. Über dem schwarzen Ledergewand trug sie ein plattenverstärktes Kettenhemd und einen rockähnlichen, gepanzerten Schutz, der bis zu den Knöcheln reichte; die Schuhspitzen waren mit Metallplättchen verstärkt worden.
In der Rechten hielt sie einen Schild, in der Linken eine Art Morgenstern. Anstelle der großen, dornenbesetzten Kugeln waren drei kleinere Eisenbälle angebracht, um die sich kranzfömig aufgesetzte Klingen zogen. Aus Gewicht, Schwung und Klingen erwuchs sicherlich eine furchtbare Wirkung.
Und es war nicht Balyndis, welche die Waffe führte.
Dennoch glaubte Tungdil die Zwergin zu kennen. »Sanda?«, entschlüpfte es ihm ungläubig. »Sanda Feuermut?« »Bei Vraccas! Die Toten sind lebendig geworden«, raunte Ingrimmsch und packte seine Waffe. Die Zwergin lächelte und hakte den Morgenstern an ihr Wehrgehänge. »Ihr seid Tungdil Goldhand und Boindil Zweiklinge. Eure Bemerkungen haben keinen Zweifel daran gelassen.« Sie deutete eine Verbeugung an. »Es ist mir eine Ehre, euch beide kennen zu lernen.«
Tungdil trat näher. »Du besitzt den Vorteil zu wissen, wer wir sind.« Jetzt erkannte er, dass sie Sanda Feuermut, der einstigen Gemahlin von König Gemmil, zwar glich, ihr Gesicht aber um vieles jünger war. Ihr heller Bartflaum hatte sich noch nicht silbern gefärbt, und wenn sie mehr als vierzig Zyklen alt war, hätte er noch zu ihren Gunsten geschätzt. Ein halbes Kind, dennoch breit und groß wie ein Krieger. Die Abstammung vom Stamm der Dritten ließ sich nicht verbergen. »Doch wer bist du?« Sie nahm den Helm ab und zeigte ihnen ihr freundliches, nicht ganz so rundliches Gesicht. »Ich bin Goda Feuermut aus dem Clan der Stetemut vom Stamm der Dritten.« Ihre braunen Augen richteten sich auf Boindil. »Sanda Feuermut, die durch deine Hand starb, war meine Urgroßmuhme.« Ingrimmschs Gesicht wurde weiß, was durch seinen schwarzen Bart noch stärker betont wurde. »Ich will Wiedergutmachung«, verlangte sie hart. »Denn du...«
»Wo ist Balyndis, und wie bist du hereingekommen?«, unterbrach Tungdil, der es sehr merkwürdig fand, dass sich seine Gefährtin nicht zeigte. Er fürchtete, dass Goda ihr aus Zorn etwas angetan haben könnte. »Sie hat sich hingelegt und schläft«, bekam er zur Antwort. »In den letzten Umläufen hat sie sich nicht besonders gut gefühlt.« Goda betrachtete wieder Ingrimmsch. »Wie ich bereits sagte: Ich verlange Wiedergutmachung von dir, Boindil Zweiklinge.«
Ingrimmsch musterte sie. Jetzt sah er es nicht mehr als einen Zufall an, dass sie auf Bramdal gestoßen waren. Das Zusammentreffen hatte sie warnen wollen. »Ich verstehe deinen Wunsch. Ich kämpfe jedoch nicht mit dir, Goda. Du bist zu jung und zu unerfahren, um gegen mich bestehen zu können. Lass deinen Clan einen anderen Krieger senden, oder geh und lerne, und kehre in fünfzig Zyklen wieder. Dann stehe ich dir für deine Rache zur Verfügung, wenn Vraccas keine anderen Pläne mit mir hat und das Feuer meiner Lebensesse lodern lässt.« Die Zwergin fasste ihre langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und band eine Lederschnur darum; dabei zuckten ihre Armmuskeln unter dem Kettenhemd. Energisch schüttelte sie den Kopf. »Es gibt sonst keinen mehr aus unserem Clan.« Sie sah durchaus wie eine Kriegerin aus. »Ich bestehe darauf.«
»Nein, bei Vraccas! Ich bringe keine Kinder um!«
»Willst du es mir verwehren? So ziehe ich durch das Land, von Zwergenreich zu Zwergenreich, und verkünde überall, dass sich Boindil Zweiklinge seiner Pflicht entzog«, reizte sie ihn. »Dein Ansehen wird bald nichts mehr wert sein, du wirst Schande über dich und deinen toten Bruder bringen. Man wird auf dich und deinen Clan speien. Und auf deinen Bruder, den Helden.«
Urplötzlich flammte es auf, das alte Feuer im Blut des Zwergs. Die Augen zeigten das irre Funkeln, das seit fünf Zyklen erloschen war. Er machte zwei schnelle Schritte vorwärts und packte Goda beim Kragen des ledernen Untergewands.
»Nicht, Boindil!«, warnte ihn Tungdil.
»Du wirst deine Wiedergutmachung bekommen«, knurrte er Goda wütend an, die ihn mit Triumph und Sorge in den Augen anschaute. »Gleich hier?«
»Gleich hier«, nickte sie zufrieden. »Wie ich es verlange?«
»Ja.«
»Schwöre es bei Vraccas und deinem toten Bruder.«
Ingrimmsch ließ sie los, ging rückwärts und hob den Krähenschnabel. »Ich schwöre es bei Vraccas und Boendal«, grollte er, bevor sein Freund ihn davor bewahren konnte. »Du bist an dem, was gleich geschieht, selbst schuld.«
Goda nickte erneut. »Du hast mir meine Urgroßmuhme genommen, die in der Verbannung bei den Freien leben musste, und damit meine letzte lebende Verwandte getötet.« Sie zog ihre Waffe. »Damit ist die Pflicht an dir, mich auszubilden.« Sie verneigte sich vor ihm.
Boindil hatte einen Angriff erwartet. Es dauerte, bis er begriff, was sie von ihm verlangte. »Ausbilden? In was denn, bei Vraccas? Kind, ich dachte...«
»Ich habe Wiedergutmachung gefordert, und du hast sie mir gewährt.«
»Das ist deine Wiedergutmachung?«, brach es aus ihm hervor. »Ich kann das nicht! Wieso soll ich...« »Eine großartige Kriegerin ist durch dich in die Ewige Schmiede eingefahren. Du hast mir die Möglichkeit genommen, ihr Erbe anzutreten, also ist es nur rechtens, wenn derjenige, der Sanda bezwang, mich nun unterweist.« Goda blieb stur. »Ich nehme dich bei deinem Schwur.« Sie ging auf ihn zu und hielt ihm ihre Waffe hin. »Wir nennen sie Nachtstern, und ich beherrsche sie recht gut. Was mir fehlt, ist ein erfahrener Lehrmeister, der mich auf die Tücken des Kampfes vorbereitet.«
Tungdil grinste Ingrimmsch an. »Nun siehst du, wie es mir damals mit Bavragor erging. Er hat mich ähnlich hereingelegt«, sagte er. »Wir sehen uns drinnen.« Er verschwand im Stollen, um Balyn dis zu suchen. Er wollte sie begrüßen, in die Arme schließen und sie mit seinem neuen, gepflegten Anblick überraschen. Für lange Gespräche mit Goda blieb den ganzen Abend noch Zeit.
Boindil betrachtete die Zwergin und fühlte sich hilflos. Es stimmte, er hatte einen Schwur geleistet. »Gut«, seufzte er. »Ich zeige dir rasch ein paar...«
»Nein«, sagte Goda. »Du wirst mich unterrichten und nicht eher aufhören, bis ich dir mindestens ebenbürtig bin, wie es auch meine Urgroßmuhme getan hätte. Und dann wollen wir in einem Kampf entscheiden, wie viel deine Unterweisungen taugen.« Sie hob den Nachtstern, die Waffen berührten sich mit leisem Schaben. »In einem echten Kampf, Meister.«
Er verdrehte die Augen, stellte den Krähenschnabel auf die Erde und stützte sich mit beiden Händen auf den Kopf der Waffe. »Goda, ich mag ein guter Krieger gewesen sein, aber meine Kunst ist eingerostet. Und nur weil ich guter Krieger war, bedeutet es nicht, dass ich ein guter Lehrer bin.«
»Du kannst sagen, was du willst, Meister. Ich weiche nicht mehr von deiner Seite, bis meine Ausbildung abgeschlossen ist.« Das Gesicht der Zwergin zeigte die bekannte Entschlossenheit ihres Volkes, zu der sich noch die berühmte Halsstarrigkeit der Frauen gesellte. »Wo du hingehst, werde ich sein.«
Tatsächlich hängte sie sich an seine Fersen, als er ins Innere des Stollens ging, und folgte ihm mit einer halben Armlänge Abstand. »Du wirst mich irgendwann in Ruhe lassen, oder?«, erkundigte er sich über die Schulter. »Wenn du dich erleichtern musst, Meister«, antwortete sie, zufrieden darüber, dass ihre List gelungen war. »Wann beginnen wir mit den Übungsstunden?«
Boindil blickte wieder nach vorn, und ein breites Grinsen stahl sich in sein faltiges Gesicht. Er würde sie so sehr quälen, dass sie ihn freiwillig verließe. Damit bräche er nicht einmal seinen Eid. »Deine Lehrzeit läuft ohne Unterbrechung.« Er entdeckte einen Stapel Ersatzstützbalken, den Tungdil sauber an einer Wand des Ganges aufgetürmt hatte. »Die wirst du einen nach dem anderen vorne zum Tor tragen und sie aufschichten«, befahl er mürrisch.
»Ja, Meister.« Goda fragte nicht einmal nach dem Sinn seiner Anweisung, sondern legte Schild und Waffe zur Seite, um mit dem Schleppen zu beginnen. Ingrimmsch nahm beides an sich. »Wie kommst du darauf, dass du dich davon trennen darfst?«, fragte er sie schneidend. »Ein Zwerg lässt seine Waffe nicht irgendwo liegen. Und schon gar nicht wirft er eine Waffe weg, wenn er nur eine besitzt.« Er nickte ihr zu. »Trag das Holz weg, danach kannst du mit der Suche im Stollen beginnen.«
Sie runzelte die Stirn. »Welche Suche?«
Boindil brachte die klingenbesetzten Kugeln zum Schwingen. »Danach. Ich werde sie verstecken, und du wirst dich nicht ins Bett legen, bevor du den Nachtstern gefunden hast.« Er schritt um die Ecke. Kaum befand er sich außer Sichtweite, gluckste er leise vor sich hin. Er hörte sie aufstöhnen, als sie den ersten Balken auf die Schulter wuchtete, und freute sich diebisch über seinen gemeinen Einfall, dem noch weitere folgen würden. Innerhalb von wenigen Umläufen wäre er das Kind los.
Tungdil schlich sich ins Schlafzimmer.
Balyndis lag unter einer dicken Decke, die Augen geschlossen und das Gesicht zur Hälfte in das Kissen vergraben. Ihre Züge wirkten durch die langen, dunkelbraunen Haare kalkig weiß, sie sah wirklich schwach und krank aus.
Behutsam setzte er sich neben sie. In Gedanken formulierte er seine Sätze, die er sich bereitgelegt hatte, dann streckte er die Linke aus, um sie sanft an der Schulter zu berühren.
»Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, es ist ein Traum«, flüsterte sie. »Da kommt ein stattlicher Zwerg in mein Gemach.« Sie hob ihre Rechte, öffnete die Augen, und fasste seine Hand. »Du siehst gut aus, Tungdil Goldhand. Es ist lange her, dass ich dich so gesehen habe. Was bedeutet dein verändertes Aussehen?« »Es ist nicht nur äußerlich.« Er küsste ihre Finger. »Ich bin ein Narr gewesen. Boindil habe ich es zu verdanken, dass der Verstand zu mir zurückkehrte und ich dem Branntwein entsagte«, sagte er gedämpft und schaute in ihre braunen Augen. »Ich habe dich unter meinem Schmerz und meinen Schuldgefühlen leiden lassen und mich benommen wie ein...« Er musste schlucken.
»... wie ein sturer, blinder, trunksüchtiger, in sich gekehrter, uneinsichtiger und von seinem Gewissen zerfressener Mann«, vollendete sie erbarmungslos. »Du möchtest mir sagen, dass du auf einer Reise warst, dich mit Ingrimmsch unterhalten und dich geändert hast?« Sie wirkte verwundert und ungläubig. »Du willst dich in wenigen Umläufen gewandelt haben?«
Tungdil nickte.
»Wie ist das geschehen? Sag es mir, damit ich deinen Worten Glauben schenken kann.«
Er berichtete von den Geschehnissen am Abgrund und wie ihn der Krieger vor die Wahl gestellt hatte. »Die Mauer um meinen Verstand zerbrach, ich sah die Dinge klar wie in den letzten vier Zyklen nicht mehr. Ich kann dich nur um Verzeihung bitten«, sagte er leise. »Glaubst du mir meinen Wandel?«
Als sie die Arme um ihn schlang, weinte Tungdil. Er umarmte sie ebenfalls, drückte sie an sich und schloss die Augen. Er roch an ihren Haaren, spürte den dünnen Bartflaum an seiner Nase und ihre Wärme auf seiner Haut. Sie saßen sehr lange einfach da und hielten sich fest, genossen die Nähe des anderen, die sie endlich wieder teilten. Von ganzem Herzen teilten.
»Dass wir uns entzweit haben, ist nicht allein deine Schuld. Ich habe mich zu sehr zurückgezogen und dich allein gelassen«, gestand sie. »Es wird nicht wieder geschehen.«
»Nie wieder.«
Sie umarmte ihn, betrachtete sein Gesicht lange. »Gib mir Zeit, mich an den neuen alten Tungdil zu gewöhnen. Es ist noch zu schön, um wahr zu sein.«
»Aber es ist wahr, Balyndis«, lächelte er, dann legte sich ein Schatten auf sein Antlitz. »Du siehst krank aus«, sagte er besorgt.
»Die letzten Reste einer Erkältung«, winkte sie ab. »Es geht mir schon viel besser.« Sie küsste ihn auf die Stirn. »Ihr habt Goda schon getroffen?«
»Sie hat uns sehr überrascht. Und vor allem den armen Ingrimmsch.«
Sie grinste. »Es wird ihm nichts schaden, sich näher mit einer Zwergin beschäftigen zu müssen.« Tungdil machte große Augen. »Du wusstest von ihrem Unterfangen?«
»Ich habe ihr dazu geraten.«
»Was?«
Balyndis schmunzelte und setzte sich weiter nach hinten, um die Kissen als Stütze im Kreuz zu haben. »Als sie beim mir erschien und um eine Unterkunft bat, wusste ich nicht, wen ich vor mir hatte. Wir unterhielten uns an jenem ersten Abend lange, und ich erfuhr, dass sie bereits im Blauen Gebirge gewesen war. Sie hatte gehofft, dich hier zu finden, damit du ihr sagen kannst, wo sich Boindil aufhält. Die Zweiten wollten es ihr nicht verraten.«
»Du hast ihm ein Kind auf den Hals gehetzt und keine Zwergin.«
»Sie ist vierundvierzig Zyklen alt. Man sieht schon allein an ihrer Statur, dass sie kein Kind mehr ist«, widersprach Balyndis belustigt. »Ingrimmsch wird ihre weiblichen Reize bald entdecken.« »Es ist eine Verwandte der Zwergin, die er erschlagen hat. So etwas wie Romantik wird sich zwischen den beiden sicherlich nicht einfinden«, hielt Tungdil dagegen. »Was für ein Vorhaben verfolgte sie zuerst, bevor du ihr deinen Plan schmackhaft machtest?«
»Sie wollte Boindil töten.«
Tungdil stand auf, öffnete die Schnallen seines Kettenhemdes und ließ es zu Boden gleiten. Sorgsam hing er es auf den Ständer neben der Tür. »Es wäre ihr nicht geglückt. Das kann sich ändern, wenn er mit ihrer Ausbildung fertig ist.« Er streifte das Ledergewand ab und stand in Hemd, Lederhose und Stiefeln vor ihr. »Sie ist eine Dritte, Balyndis. Sie wird das Kriegerhandwerk bald besser beherrschen als er. Willst du seinen Tod?« Sie faltete die Hände und legte sie auf die Decke. »So weit wird es nicht kommen.«
»Und warum?« Er kehrte zu ihr zurück. »Sag mir, was dich so sicher macht.«
Balyndis zuckte mit den Achseln und küsste ihn wieder, dieses Mal auf die Nasenspitze. »Ich kann es dir nicht sagen«, gestand sie. »Nenn es einfach Eingebung.«
»Ihr Frauen und eure Eingebungen«, murmelte er und gab es auf. »Beten wir zu Vraccas, dass es so kommt, wie du es fühlst.« Er schaute zu seiner Rüstung. »Hast du schon gehört, was im Geborgenen Land vor sich geht?« Als sie den Kopf schüttelte, fasste er rasch zusammen, was er und Ingrimmsch bei seinen Abenteuern erlebt und gehört hatten. »Du bist dir sicher, dass Goda in Wirklichkeit nicht hinter dem Diamanten her ist? Was sagt deine Eingebung dazu?« »Es waren schöne Zeiten, als man einem Kind des Schmieds begegnete und man keinen Gedanken an die Aufrichtigkeit seiner Worte und seiner Taten verschwenden musste«, stöhnte sie. »Ich kann es nicht mit Gewissheit sagen, aber ich habe sie in den Umläufen, seit sie hier ist, bei nichts überrascht, das verdächtig aussah.« Sie strich ihm über das bärtige Kinn. »Der Stein ist noch genau dort, wo wir ihn verborgen haben.« Er lächelte. »Ich gehe und sage ihm rasch, dass ich wieder da bin.«
»Ich mache uns etwas zu essen. Wie ich dich und vor allem den hinreißenden Boindil kenne, habt ihr beide ordentlich Hunger.« Balyndis stand auf, warf sich ein einfaches Wollkleid über das Leinennachthemd und schlüpfte in ihre Stiefel. »Das Essen wird bald fertig sein, also rede nicht zu lange mit deinem Schatz.« »Mein Schatz«, zischte er und ahmte die Körperhaltung der gierigen Felsengnome nach, die Gold und alles an sich rafften, was wertvoll aussah. Dann lachte er und schritt Hand in Hand mit seiner Gemahlin aus der Kammer. Nach zwei Quergängen trennten sich ihre Wege. Tungdil nahm eine Öllampe von der Wand und begab sich in den Teil des Stollens, in dem ehemals die Famuli von Lot-Ionan untergebracht worden waren. Die meisten der zahlreichen Eichentüren befanden sich noch an ihrem Platz. Hinter ihnen hatten die angehenden Magi ihre Lektionen erhalten und davon geträumt, eines Tages das Zauberreich von Lot-Ionan erben zu dürfen. Jetzt gab es nichts mehr von alledem. Keine Magie, keine Zauberreiche. Keinen Lot-Ionan. Tungdil betrat das Laboratorium.
In diesem Raum hatte er einen üblen Streich erlebt, bei dem ein Großteil der Einrichtung - und zwar nicht durch seine Schuld - in Flammen aufgegangen war. Die Fläschchen mit den Elixieren, die Tiegel mit den Balsamen, die Röhrchen mit Extrakten und Essenzen, der gesamte teure Vorrat für die unterschiedlichsten Experimente hatte sich zu einer gefährlichen Masse vermischt. Nach einer gewaltigen Explosion war fast nichts mehr von den Apparaturen, Regalen, Tischen und Bänken geblieben. Und so sah es noch immer aus. Er schritt über knirschende Splitter und knackende Tonfragmente bis zu dem großen Haufen Glasschutt, der einst eine sehr teuere Gerätschaft zur Destillierung gewesen war. Vor der Explosion.
Der Zwerg bückte sich, wühlte ein wenig darin herum. Er fand den Diamanten erst nach längerem Suchen; die glitzernden Trümmer machten ihn schier unsichtbar. Wer ihn nicht im Abfall vermutete, würde ihn niemals finden.
Tungdil erfreute sich an dem kalten Feuer, das in den Facetten aufloderte und sein Herz bezauberte. Er drehte ihn hin und her, damit sich das Licht der Lampe besser brach und Reflexionen an die düsteren Wände warf. Immer wenn er den Stein in der Hand hielt, wartete er darauf, dass ihm das Kleinod auf irgendeine Weise zeigte, ob es ein Diamant oder das mächtigste magische Artefakt des Geborgenen Landes war.
Und wie immer wartete er vergebens. Er legte den Stein zurück in den kleinen Glasscherbenberg und schob ihn nach unten.