Das Geborgene Land, Königinnenreich Weyurn, 100 Meilen westlich von Gastinga, 6241. Sonnenzyklus, Sommer.
Sie benötigten viel zu lange, um von Porista an die Ufer des Sees zu gelangen, wo ein Schiff auf sie wartete. Schuld daran trugen verschiedene Umstände, einmal der unerwartete Regen, der den Wagen mit Lot-Ionans Statue immer wieder einsinken ließ, dann kränkelte Dergard, und sie mussten in einem Gehöft eine Rast einlegen, bis das Fieber gesunken war. Schließlich durften sie sein Leben nicht aufs Spiel setzen, gleichzeitig den Tross nicht auseinander reißen. Feuerklinge konnte nur an einer Stelle sein.
Tungdil saß mit Rodario und Furgas in der guten Stube des Bauern über einer Karte von Weyurn, die als eines der wenigen Exemplare die überfluteten Gebiete einbezog. Sie versuchten, den Aufenthaltsort der tauchenden Insel einzukreisen.
Ingrimmsch und Goda marschierten mit den Wächtern um die Gebäude. Ingesamt hatten sie einhundert Zwerge aus dem Stamm der Zweiten und ein Dutzend Untergründige unter der Führung von Sirka bei sich, auch wenn es dem Zwilling nicht schmeckte. Dass ihm die sich andeutende Liebelei zwischen Tungdil und Sirka ebenfalls nicht schmeckte, zeigte er seinem Freund mittlerweile offen. Sirka machte aus ihrer Zuneigung kein Geheimnis.
Rodario hob den Kopf und lauschte. »Kann es sein, dass der geschätzte Boindil unter schlechter Laune leidet?«, sagte er zu Tungdil. »Ich habe ihn schon wieder mit den Wachen herumschreien hören.«
»Das macht das Wetter. Zwerge können es nicht leiden, wenn es auf sie niederregnet. Und sein heißes Blut verlangt nach einem Kampf«, erklärte er und richtete die Augen fest auf die Karte. Bislang kamen fünf Stellen infrage. »Kann die Insel unter Wasser reisen?«, fragte er Furgas.
»So, so, sein heißes Blut.« Rodario trat ans Fenster und schaute hinaus. »Oder seine Schülerin?« Er beobachtete, wie er mit ihr in der Scheune übte. Auf den ersten Blick zeigte sich nichts Verdächtiges, aber die geschulten Augen des Schauspielers kannten die geheimen Anzeichen für Zuneigung. »Ich habe so das Gefühl, dass es gewaltig zwischen den beiden knistert.« Er wandte sich zu Tungdil. »Nein, es funkt. Bei Zwergen kann es nur funken.«
»Ich würde dir empfehlen, ihn nicht danach zu fragen«, sagte Tungdil schwach grinsend. Er wollte die Welt der Gefühle als Gesprächsgegenstand vermeiden, schon aus Angst, dass die spitze Zunge des Schauspielers ihn und Sirka zum Ziel erkor.
Furgas trank von dem Tee, den ihnen die Bäuerin zubereitet hatte. Noch immer war er hager und blass. Manchmal saß er schweigend in einer Ecke und sprach einen ganzen Umlauf nichts, mal benahm er sich vollkommen normal. Die Nachwirkungen der zyklenlangen Gefangenschaft auf seine Seele würde er so schnell nicht überwinden.
»Sie kann«, antwortete er auf Tungdils Frage. »Ich hatte ein System von Röhren und Kammern vorgesehen, die man mit Gas oder Wasserdampf füllen kann. Werden die Ventile geöffnet, bewegt sie sich durch den Rückstoß langsam vorwärts.«
»Das ist schlecht.« Tungdil lehnte sich zurück. »Damit kann sie überall sein, oder?«
Furgas schüttelte den Kopf. »Nein. Sie ist nicht schnell. Wir reden von einem Berg, der sich unter Wasser vorwärts bewegt.« Er zog einen Kreis um die Position, die sie als letzten Standort vermuteten. »Das wäre in etwa das Gebiet, wo sie sein kann. Sie muss gelegentlich auftauchen, um Proviant für die Arbeiter und Luft aufzunehmen.«
»Man kann sie zwar sehen, aber es wird niemand über sie sprechen, weil es die Alb-Insel ist und jedermann sie fürchtet«, fügte Rodario an. »Sehr kluge Zwerge, diese Dritten. Die Geschichte über die Albae, um sich vor Besuchern und Gerede zu schützen, war ein feiner Einfall.«
»Bleibt uns die Hoffnung, dass die Schiffe der Königin die Insel durch einen Zufall entdecken und es sich herumspricht, dass es keine echten Albae sind und dass auf eine verlässliche Nachricht über ihr Erscheinen eine hohe Belohnung ausgesetzt ist.« Tungdil nahm sich ebenfalls Tee und erlaubte seinen Gedanken abzuschweifen. Vor seinem inneren Auge entstanden die Gesichter von Balyndis und Sirka, Zwerginnen, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten.
Er hatte gehofft, dass die Faszination für Sirka eine Schwärmerei sein würde, bedingt durch ihr fremdartiges Aussehen und ihr Verhalten, das so völlig im Gegensatz zu dem stand, wie sich die Stämme des Geborgenen Landes gaben. Aber er schaute sie nach wie vor zu gern und zu lange an, dachte zu häufig an sie. Und er erinnerte sich an die Episode in seinem Leben, als die Gefühle zu Balyndis schon einmal geprüft worden waren: Myr.
Die Spionin der Dritten war eine Gelehrte von seinem Schlag gewesen, und Balyndis hatte sich zuvor auf Druck ihres Clans von ihm abgewandt. Es war kein Wunder, dass Myr und er zusammengefunden hatten, bis ihr Verrat aufgedeckt worden war. Damals war es leichter gewesen, kein schlechtes Gewissen zu haben. »Für einen angehenden Magus ist Dergard ziemlich anfällig, findet ihr nicht auch?« Rodario entdeckte den Kuchen der Bäuerin, der auf der kleinen Kommode stand. Und die Tochter der Bäuerin, die am Fenster vorbeieilte und durch den Regen in die Scheune lief, um die Kühe zu melken. »Ach, was ist sie für ein liebes Ding«, sagte er versonnen, während er sich eine Scheibe Kuchen abschnitt.
»Was wird Tassia dazu sagen?«, meinte Furgas verärgert. »Du benimmst dich wie vor fünf Zyklen. Kindisch und selbstverliebt.«
»Ich weiß nicht, was sie sagen würde. Sie hat mich nicht nach meiner Meinung gefragt, als sie mit anderen Männern geschlafen hat«, gab er zurück und biss in den Kuchen. »Wir sind beide erwachsen und lieben das Leben. Was soll es also?« Er würde niemals zugeben, wie die Eifersucht an ihm nagte. »Hast du denn keine Augen mehr für die Frauen?«
»Es gibt keine anderen Frauen mehr in meinem Leben. Ich habe Narmora ewige Treue geschworen. Nur weil ihr Körper nicht mehr existiert, sage ich mich nicht von ihr los«, erklärte er mit bebender Stimme. »Ich habe nachts von ihr geträumt, und sie gab mir Kraft, die Zeit auf der Insel zu überstehen. Niemals werde ich sie verraten, indem ich eine neue Frau begehre.«
»Das ist im Grunde eine sehr gute Einstellung, Furgas. Lässt man die Finger von den Weibern, kann man sie sich auch nicht verbrennen.« Er kaute und schaute wieder nach der jungen Bäuerin. »Stell dir vor, du hättest dich in Tassia verliebt! Oh, Palandiell, das wäre ein Unglück geworden. Sie ist das weibliche Gegenstück zu mir.« Furgas wurde plötzlich unruhig, was Tungdil bemerkte.
»Ho, die Gute beherrscht die Kunst der Verführung, das kann ich dir sagen. Und ihre Treue ist so beständig wie die Richtung eines losen Blattes im starken Wind«, plauderte Rodario weiter und schob sich den Rest des Kuchens in den Mund. »Mich hat es Herzblut gekostet, das herauszufinden. Und ich kann nur alle Männer vor ihr warnen, die Ernstes beabsichtigen.« Er lachte leise. »Dieses kleine Luder. Aber ich mag nicht von ihr lassen.« Dann wandte er sich zu den Zwergen. »Braucht ihr mich noch? Ich würde dem Mädchen gern beim Tragen der Kanne helfen.«
»Lass sie in Ruhe«, sagte Tungdil. »Ich möchte keinen Streit mit ihrem Vater, der uns so freundlich aufgenommen hat.«
»Keine Bange, geschätzter Held. Ich bin behutsam wie ein Elnabeerenpflücker.« Er zwinkerte ihnen zu und ging zur Tür.
Die Scheune, in der Goda und Boindil standen, war riesig.
Der Bauer hatte auf den ehemaligen Heuböden und auf der Erde gewaschene Wolle gelagert, die darauf wartete, von den Spinne rinnen verarbeitet zu werden. Weiter hinten standen zwei Webstühle, die in den letzten Umläufen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang geklappert und gerattert hatten.
Boindil hatte sich zwei Stricke von der Scheunenwand genommen und wirbelte sie abwechselnd gegen Goda. Er umkreiste sie, während sie an einer Stelle verharrte. »Stell dir vor, es sind die Schläge mehrerer Gegner. Man hat in einem Kampf nicht immer die Zeit, die Klingen zu parieren. Manchmal bleibt einem nur das Ausweichen.« Das erste, mit einem Eisenring beschwerte Ende hielt auf sie zu. Goda wandte sich zur Seite, der Strick verfehlte sie.
»Sehr gut«, lobte er sie und lenkte den zweiten Schlag gegen ihren linken Oberschenkel.
Goda schaffte es mehrmals knapp, aber gegen die fünfte Attacke war sie machtlos. Der Eisenring prallte gegen ihre Brust.
Ingrimmsch schnalzte ungehalten mit der Zunge. »Du bist tot, Schülerin. Soeben hat dir ein Schwert den Brustkorb aufgeschnitten.« Er deutete auf den strohbedeckten Boden. »Vierzig.«
»Ich mache keine Liegestützen.« Sie blieb widerspenstig stehen. »Ich hätte den Hieb pariert.« »Hättest du nicht.« Er schaute ihr in die Augen und bereute es. Sein Kriegerherz pochte schneller. »Fünfzig.« Goda nahm den Nachtstern. »Noch einmal, Meister. Ich zeige es dir, dass ich es kann.«
»Nein, das wirst du nicht. Du sollst ausweichen.« Er ärgerte sich, dass sie seine Autorität infrage stellte. »Sechzig.« Nun machte er einen drohenden Schritt auf sie zu.
Sie hob die Waffe. »Dazu müsstest du mich auf den Boden schicken.« Sie senkte den Kopf, ihre Augen loderten. »Ich habe es satt, dass du mich schikanierst, Meister.«
Vor einigen Umläufen hätte Boindil laut gejubelt und sich gefreut, die junge Zwergin bald vom Hals zu haben. Jetzt war die Vorstellung ein Albtraum. »Du verwechselst Ausdauer mit Schikane«, grollte er, um sein Einlenken zu verbergen. »Du wolltest, dass ich dir zeige, wie man eine Kriegerin wird, also beuge dich deinem eigenen Wunsch.«
»Oder was, Meister? Siebzig?«, lachte sie böse.
Ingrimmsch packte den Stiel des Nachtsterns und rammte ihr das obere Teil gegen die Stirn. Goda wankte, er zog ihr den rechten Fuß weg, und sie fiel rücklings auf den Boden. »Einhundert«, sagte er und wirbelte die Waffe mit einer Hand. »Du hast den Nachtstern losgelassen. Du weißt, dass man das nur tun sollte, wenn man eine zweite Waffe bei sich hat.«
Sie stützte sich verdutzt auf die Ellbogen und ignorierte den Blutfaden, der aus einer kleinen Wunde über der linken Augenbraue ihre Nase hinabrann.
Boindil seufzte und ging neben ihr in die Hocke. »Goda, ich tue das, um dir dein Leben zu bewahren.« »Tun das Liegestützen? Soll ich damit einen Ork beeindrucken und ihn vielleicht zu einem Liegestützenzweikampf fordern?«, giftete sie und richtete ihren Oberkörper auf.
Wieder waren sich ihre Gesichter ganz nahe.
Ingrimmsch schluckte, verharrte und wich zurück, als habe ihn ein Vanga gebissen. »Nein. Sie sind nur ein Anreiz, dich noch mehr anzustrengen«, murmelte er. »Machst du keine Fehler, gibt es keine Liegestützen.« Er rupfte eine Hand voll gewaschener Wolle aus einem kleinen Berg hervor und wischte damit das Blut aus ihrem Gesicht.
»Was soll das?« Goda schob seine Hand grob zur Seite.
»Ich wollte...«
»Ich weiß, was du wolltest, Meister.« Sie blitzte ihn an. »Und ich weiß, was du willst. Vergiss nicht, dass du es warst, der Sanda erschlagen hat. Ich empfinde nichts für dich. Eher würde ich Bramdal nehmen als dich. Mach mich zu einer Kriegerin, und danach kreuzen wir unsere Waffen, um zu sehen, wie gut deine Kunst war. Alles andere kannst du für dich behalten. Es kümmert mich nicht.«
Boindil war wie gelähmt. Ihre harschen Worte entlarvten ihn mühelos, sie hatte seine Empfindungen genauestens bemerkt. »Es...« Er schluckte, die Worte fehlten ihm. Der Funke Hoffnung drohte zu sterben. Dann riss er sich zusammen. »Es ist nicht so, wie du denkst. Ich bin dein Meister und sorge mich. Das ist alles.« »Umso besser.« Goda wandte sich um, stemmte die Hände gegen den Boden und begann ihre Liegestützen. Einhundert Stück. Dass ihr Blut auf den Boden tropfte, störte sie nicht.
Ingrimmsch beobachtete sie und schwor im Stillen, nicht aufzugeben.
Als Rodario die Tür öffnete, stand vor ihm ein Soldat mit den Insignien König Brurons.
»Ich habe Nachrichten für Tungdil Goldhand«, sagte er und schaute an Rodario vorbei zum Tisch. »Ihr seid es wohl?«, fragte er den Zwerg.
»Eure Augen sind gar scharf wie die eines Adlers«, spaßte der Mime. »Wie viele Zwerge seht Ihr in diesem Raum?« Er trat zur Seite, und der Soldat kam zu Tungdil, um ihm gleich mehrere Rollen und gefaltete Papiere zu übergeben.
»Ich soll Eure Antwort umgehend zu König Bruron bringen«, sagte er und machte drei Schritte zurück zur Tür. »Ich warte draußen.«
»Nimm dir was zu essen und ruh dich ein wenig aus«, sagte Tungdil. »Es wird sicherlich dauern. Und schicke Boindil und Sirka zu mir.«
Er wartete stumm und rollte die erste Nachricht auseinander, nachdem der Bote das Zimmer verlassen hatte und die Zwerge dazugestoßen waren.
Auch Goda betrat den Raum. Anscheinend besaß sie das uneingeschränkte Vertrauen ihres Mentors. Über ihrer Augenbraue entdeckte Tungdil eine Blutkruste. Die Übungsstunden waren wohl etwas rauer ausgefallen. »Sie ist von Prinz Mallen«, las Tungdil vor. »Die ersten Vorstöße in die Höhlen Toboribors haben einen Erfolg gebracht. Das Scheusal, dem ich den Arm abtrennte, ist vernichtet.« Sein Gesicht nahm bedauernde Züge an. »Bislang hat Mallen siebenhundertelf Soldaten in den Höhlen verloren, die meisten starben durch magische Attacken aus dem Hinterhalt. Es gibt keinerlei Anzeichen, dass die Unauslöschlichen über die Macht des Diamanten verfügen. Außerdem sind die ersten Kontingente der Dritten und der Zweiten eingetroffen. Sie werden bald die Aufgabe der Soldaten übernehmen.«
»Vraccas sei ihnen gnädig und beschütze sie«, murmelte Ingrimmsch.
Tungdil nahm Gandogars Brief an sich. »Die Elben haben im Austausch etliche ihrer Krieger ins Reich der Zweiten und der Drit ten gesandt, um die Wärter an den Toren und Durchgängen zu unterstützen. Es verlaufe alles friedlich und voller Eintracht, schreibt er mir.«
»Die Broka werden bald losschlagen«, sagte Sirka düster. »Sie bringen sich in Position. Sie haben die Königinnen und Könige der Menschen in Porista vor ihren Schwertern, und sie schleichen sich in die Berge, um die Herrscher der Zwerge töten zu können. Es ist wie bei uns.« Sie ballte die Faust. »Allerdings will sie hier im Geborgenen Land niemand aufhalten.«
»Nicht ohne Beweise«, wiederholte Tungdil die Worte des Großkönigs. »Ich stand in der Versammlung kurz davor, etwas zu sagen. Gandogar verbot es mir.«
Ingrimmsch schaute zu der Untergründigen. »Es ist leider so. Niemand hätte dir oder Sündalon geglaubt. Nicht nach den Worten über die Ausrottung der Elben.«
»Es gibt keinen Grund, deswegen zu lügen. Sie waren die Gefahr, nicht wir«, hielt Sirka dagegen. »Du hast Orkblut in dir. Ich wette, dass die meisten dich und deinesgleichen als Gefahr betrachten«, grummelte er und stützte die Hände auf den Kopf des Krähenschnabels. Seit er von der Herkunft wusste, hatte sich sein Verhalten gegenüber den Fremden verändert. Er war abweisender, verächtlicher geworden. »Ubar formte uns aus flüssigem Bergesblut, in uns glüht die Kraft der Gebirge.« Sirka hatte die ewigen Gängeleien satt. Sie stand auf und kam auf Ingrimmsch zu, ihre Augen sprühten Funken und loderten vor Wut. »Ubar erschuf die Ubariu aus dem gleichen Blut, machte sie größer und stärker und gab ihnen wie uns den Hass auf die Kreaturen des Bösen. Das verbindet uns und die Ubariu, Zwerg. Und sie haben ihre Heimat und ihre Bewohner niemals verraten.« Sie deutete mit ihrer Waffe auf Goda. »Schau neben dich. Da steht eine Dritte. Kann sie das auch behaupten? Wer von uns beiden ist vertrauenswürdiger?«
»Du stehst weit unter meiner Schülerin, Untergründige.« Der Zwilling ließ sich zwar von ihrem Aufbrausen nicht beeindrucken, aber den Angriff auf Goda konnte er nicht auf sich beruhen lassen. »Hüte deine Zunge.« Nun war es an Tungdil, in den Streit einzugreifen, da es gegen Sirka ging. »Ganz Unrecht hat sie nicht, Ingrimmsch. Goda könnte ebenso gut eine Verräterin sein. Du weißt nichts über sie, außer, dass sie Dinge behauptet. Hat sie dir einen Beweis für ihre Herkunft und ihre Geschichte geliefert? Kann dir einer von den Dritten sagen, dass es so war, wie sie es schilderte? Du weißt, wie raffiniert Myr vorgegangen ist. Und ich sehe es nicht gerne, dass du sie zu einem Treffen bringst, bei dem geheime Dinge gesagt werden.«
Ingrimmsch schaute ihn verwundert an. Mit dem Angriff seines Freundes hatte er nicht gerechnet. Goda tat einen Schritt nach vorn. »Ich lasse mich nicht beleidigen, Untergründige.«
Sirka lächelte sie an. »Ich habe keine Lügen über deinen Stamm verbreitet. Nicht alle haben den guten Ruf von Tungdil Goldhand oder Sanda Feuermut. Wir sind auf dem Weg, zwei von diesen Dritten mit dem schlechten Ruf zur Strecke zu bringen. Dritte, Goda. Keine Untergründigen. Wir wollen dem Geborgenen Land nichts Schlechtes. Hätten wir das beabsichtigt, wären wir anders vorgegangen und hätten die Leben der Zwerge bei unserer Suche nach dem Stein nicht geschont.«
Rodario schob sich zwischen die streitenden Parteien und hielt den Teller mit dem Kuchen hin. »Vielleicht sollten wir uns alle beruhigen und uns entsinnen, wer unser wirklicher Feind ist, bevor ihr euch an die Gurgel geht. Kostet den Kuchen, er ist vorzüglich.«
Goda setzte sich und stützte ihre Hand in der gleichen Weise auf den Nachtstern, wie es Ingrimmsch mit dem Krähenschnabel tat; Sirka umrundete den Tisch und starrte auf die Karte. Niemand nahm sich von dem Kuchen. »Esse ich ihn eben selbst«, nuschelte Rodario und stellte sich wieder ans Fenster, um nach der jungen Bäuerin Ausschau zu halten.
»Rodario hat Recht.« Tungdil sah zu Boindil und seiner Schülerin, aber eine Entschuldigung kam ihm einfach nicht über die Lippen. Stattdessen hob er den Brief. »Gandogar schreibt, dass bei den Zweiten eine Maschine aufgehalten und zerstört wurde, die Zwerge durch ihre Ausdünstungen tötete. Im Inneren fanden sie viele kleine Behältnisse aus Stein, in denen Substanzen waren, die sich über Glasröhrchen miteinander vermischten. Die daraus entstehenden Gase töteten dreizehn Zwerge, bevor die Maschine in einen alten Schacht gestürzt und mit Erde begraben wurde. Sie vermuten, dass eine ähnliche Maschine schuld an den vergifteten Brunnen der Ersten ist.«
»So viel dazu, dass die Elben die Schuldigen seien«, sagte Goda zu Sirka, die nur abwinkte. Ingrimmsch betrachtete Furgas, der die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte und stumm weinte. Wieder war eine seiner Erfindungen dazu benutzt worden, um Tod und Vernichtung zu bringen.
Sie ahnten, dass es viel schlimmer hätte kommen können. Ein solch giftiges Gas in einem belebten Teil des Blauen Gebirges, und die Zahl der Opfer wäre in die Hunderte gegangen, wie Furgas vermutet hatte. »Wir müssen die Insel schnell finden und einnehmen«, sagte er dumpf und ließ die Hände sinken. Dann wischte er sich die Tränen von den Wangen und fuhr sich durch die Haare. »Die Scheusale werden ihre magischen Kräfte bald wieder an der Quelle aufladen müssen. Dazu brauchen sie die Insel. Das wird bald sein. Es darf nicht noch mehr Opfer geben.«
Tungdil stimmte zu. »Ich werde Dergard später befragen, ob er in der Lage ist zu reisen. Danach geht es an die Ufer des Sees und mit dem Schiff auf die Suche nach der Insel. Den verletzten Elben lassen wir besser auf der Insel Windspiel. Dort ist es sicherer für ihn.« Er vermied es, Ingrimmsch anzusehen, als er weitere Anweisungen erteilte. »Lasst die Vorbereitungen zum Aufbruch treffen. Die Besprechung ist zu Ende.«
Boindil und Goda verließen den Raum, auch Rodario ging, um der schlechten Stimmung zu entfliehen. Furgas trank hastig seinen Tee aus und ließ Sirka mit Tungdil allein.
»Deine Freunde werden mir die Schuld geben, dass du dich gegen sie stellst«, sagte sie und kam auf ihn zu, streichelte seinen Bart.
Er hielt ihre Hand fest und drückte sie mit einem entschuldigenden Lächeln nach unten. »Nein, Sirka. Mach es mir nicht noch schwerer, meinem Verlangen zu widerstehen.« Er hatte noch keine Antwort auf seinen Brief an Balyndis erhalten.
»Dann gib ihm nach«, raunte sie und hob wieder ihren Arm, um ihn zu berühren. »Es ist nichts dabei, Tungdil. Wir mögen uns, und wir werden uns lieben. Es ist nur eine Frage der Zeit. Wir können es verschieben oder es gleich tun und uns besser fühlen. Wer weiß, was morgen kommt?« Ihr Kopf schnellte nach vorn, und sie küsste ihn.
Dieses Mal hielt er sie nicht auf. Er genoss die Zärtlichkeit, sein Körper verlangte nach mehr, und seine Hände legten sich auf ihren Rücken, um sie eng an sich zu pressen. Sie fühlte sich schlank und drahtig und gleichzeitig unheimlich kräftig an.
Er schob sie dennoch von sich. »Warte, ich muss dich etwas fragen«, sagte er atemlos, sein Blut rauschte schneller als ein reißender Feuerfluss durch seine Adern. »Was beabsichtigt Sündalon?«
»Das willst du jetzt wissen?«
»Hätte ich dich im Beisein der anderen fragen sollen?« Er lächelte. »Ich konnte nicht ahnen, dass du mich küssen wolltest. Ich wollte von Anfang an nur reden.«
Sirka atmete tief ein und fasste seine Hände. »Er bereitet meine Heimat darauf vor, das Schlimmste zu verhindern«, antwortete sie ausweichend.
»Das kann vieles bedeuten.«
Sie schaute ihm in die Augen. »Ich werde dir ein Geheimnis anvertrauen. Sündalon rief vor unserem Aufbruch ins Geborgene Land die Völker Ubars und die Acronta zusammen«, sagte sie langsam. »Sie haben sich bereits zu einem großen Teil an der Nordostgrenze vor den Toren versammelt.«
Das war demnach der Grund, weswegen die Orks verzweifelt versuchten, durch das Braune Gebirge der Vierten zu brechen. Sie hatten eine Streitmacht aus Orkhassern im Rücken, die sie vor sich her trieb. »Eine Invasion? Ihr wollt das Geborgene Land erobern?«
»Nein. Wir wollen den Stein erhalten und Gefahren für unsere Heimat im Keim ersticken. Beides befindet sich im Geborgenen Land.«
Tungdil schluckte. »Sirka, wie groß ist dieses Heer?«
Sie setzte sich, zog Tungdil auf den Stuhl neben sich. »Es sind achtzigtausend Ubariu, viertausend Acronta und fünfzigtausend meines Volkes.«
»Bei Vraccas«, stöhnte er und sah das Geborgene Land in Blut ertrinken. »Die Vierten werden euch bekämpfen, weil sie euch für die Bedrohung halten. Sie werden mit allem, was sie haben, gegen euch antreten, um euch von dem Diamanten fern zu halten.«
»Sie werden versagen. Es ist den Acronta ein Leichtes, die Pforten der Vierten zu sprengen. Wir haben sie ausgekundschaftet und ihre Schwachstellen erkannt.« Sirka schien erleichtert, endlich alles erzählen zu dürfen. »Aber das müssen wir nicht einmal. Unsere Aufklärer haben einen Weg durch das Braune Gebirge entdeckt.« »Niemals!«
»Es ist so. Ubar wies ihnen einen breiten Pfad, auf dem sich ein Heer unbemerkt an den Bastionen der Vierten vorbeibewegen kann.«
»Unmöglich«, widersprach Tungdil erneut. »Das kann niemals sein! Die Gipfel sind unüberwindbar.« »Du wirst bald das Gegenteil zu sehen bekommen.«
»Die Scheusale aus dem Jenseitigen Land hätten ihn ebenso finden müssen!«
»Sie fanden ihn, Tungdil. Mehrmals schon. Wir hinderten sie daran, ihre Entdeckung in ihre Reiche zu tragen.« Sirka holte Luft. »Sündalon war dagegen, dass wir es euch erzählen, bevor wir den Stein nicht in unseren Händen halten, aber ich denke, du solltest es wissen.« Sie streichelte seinen Handrücken. »Sieh es als Vertrauensbeweis.«
»Dann verdanken wir die Ruhe im Geborgenen Land nicht nur unseren Stämmen, sondern auch euch«, raunte er erschrocken.
Er stellte sich die Ausmaße der Verwüstung vor, wenn die Heere aus Ogern, Trollen, Albae, Bogglins und weitere Ausgeburten Tions ohne Vorankündigung über Urgon und von dort aus über den Rest des Geborgenen Landes hergefallen wären. Kein Stein säße auf dem anderen. All die Zyklen trügerischer Sicherheit verdankten sie dem Schutz der Untergründigen, denen nun die eigene Rettung verwehrt worden war. »Wieso habt ihr das getan? Wieso hat sich keiner von euch jemals bei uns gezeigt?«
»Wozu? Es kam keiner von euch zu uns. Wir nahmen an, dass euch nicht an uns gelegen ist. Und wir wussten, dass unsere Bruderschaft mit den Ubariu zu großen Hindernissen zwischen unseren Völkern führen würde.« Sie stand auf und ging zur Tür. »Nun zeigt sich, dass es besser war. Ich sage Bescheid, dass wir bald nach Weyurn aufbrechen«, sagte sie auf der Schwelle. »Du wirst niemandem von unserer Unterhaltung erzählen?« Tausend Fragen brannten auf Tungdils Zunge, aber er beherrschte sich. »Niemandem«, schwor er und klopfte auf seine Axt. »Bei der Feuerklinge.« Er lächelte sie an, und sie verschwand hinaus.
Seine Gedanken überschlugen sich, tanzten umeinander. Unauslöschliche, Untergründige, alles klang sehr nach Untergang.
Es lag in seinen Händen, diesen zu verhindern. Wieder einmal. Er fühlte sich nicht sonderlich wohl und freute sich über die nahende Unterstützung: Bald würde er seinen Ziehvater Lot-Ionan an seiner Seite haben. Ein weiser Magus, älter als jeder Mensch im Geborgenen Land, ein Verstand voller Wissen und voller Erfahrung. Er hatte Tungdil früher mit Ratschlägen den Weg gewiesen, und darauf vertraute er wieder. Oder besser: Lot-Ionan sollte bestimmen, was zu tun war. Tungdil wollte keine Entscheidungen mehr treffen.
Seine Augen schweiften zu dem letzten versiegelten Umschlag.
Diesen Brief hatte er absichtlich nicht vorgelesen, der Absender war Gla'imbar Scharfklinge. Tungdil fürchtete sich vor den Zeilen, die er lesen musste, um Gewissheit zu erlangen.
Er stand auf, nahm den Umschlag riss ihn auf.
Hoch geschätzter Tungdil Goldhand, du hattest Recht. Ich empfinde noch immer etwas für Balyndis und habe sie nach deinem Schreiben an mich sofort zu mir gebeten.
Zu meiner großen Freude nahm sie die Einladung an, und zu meiner noch größeren Freude versprach sie mir, an meine Seite zurückzukehren. Sie hat als meine erste Frau das Recht dazu.
Ich soll dir schreiben, dass sie deine Ablehnung, deine Unzufriedenheit in ihrer Nähe gespürt habe. Deswegen habe sie dich nun freigegeben, unter der Bedingung, dass sie dich nie wieder sehen möchte. Sie könne deinen Anblick nicht ertragen.
Ich bin mir sicher, dass es mir gelingen wird, zwischen ihrem Clan und ihr den Frieden wieder herzustellen, den sie verdient hat. Ich werde ihr ein guter Gatte sein, und sie wird die beste Königsgemahlin sein, welche es jemals im Reich der Fünften gegeben hat.
Ich danke dir für deine Offenheit, und so gestatte auch mir Offenheit: Wahre Gefühle sind nicht wankelmütig. Balyndis hat schmerzlich erfahren, dass es bei dir keine Beständigkeit geben kann. Aber wir, die Kinder des Schmiedes ...
Tungdil zerriss den Brief.
Er musste nicht weiterlesen, das Wichtigste war gesagt worden, und eine Standpauke von einem Glaimbar Scharfklinge benötigte er nicht. Er wusste es selbst besser. Balyndis hatte seinen Brief gelesen und verstanden. Dafür war er ihr auf ewig dankbar, auch wenn er um ihren großen Schmerz wusste. Und deswegen konnte er sich über den Abschied nicht freuen.
Er schaute hinaus auf den Hof, wo er Sirka beobachtete. Sein eigenes Gesicht spiegelte sich teilweise im Glas. »Feigling«, sagte er zu sich selbst.
Und das Spiegelbild schien zu nicken.