Das Geborgene Land, Königreich Gauragar, Porista, 6241. Sonnenzyklus, Sommer.
»Unter den gegebenen Umständen sehe ich es als nicht ratsam an, unsere Kräfte aufzuteilen«, sagte Ortger. »Tungdil Goldhand und die Feuerklinge müssen den Magus beschützen, bis er in der Lage ist, sich aus eigener Kraft gegen die Angriffe der Unauslöschlichen und ihre Scheusale zu verteidigen.« Er betrachtete die Gesichter der Männer und Frauen im Zelt. »Die Belagerung Toboribors dürfte kaum mehr einen Sinn haben. Soldaten wirken nicht gegen die Kräfte, die hier am Werk sind. Nicht, nachdem sie den echten Diamanten in die Finger bekommen haben.« Er zeigte auf Dergard, der zwischen Gandogar und Tungdil saß. »Schicken wir ihn und die Zwerge nach Weyurn und lassen sie die Insel finden.«
Tungdil erhob sich. »Das war unsere Absicht. Je eher wir Dergard und Lot-Ionan zur Quelle bringen können, desto besser.« Er trat zu der Karte des Geborgenen Landes. »Die Unauslöschlichen müssen erst einen Weg finden, die Kraft des Steins zu nutzen. Die Eoil hat sie zwar aus dem Bösen gewonnen, sie aber in Gutes gewandelt. Ich glaube nicht, dass es den Herrschern der Albae ohne weiteres vergönnt ist, sie auf der Stelle für sich zu verwenden.« Er kreiste Toboribor mit den gespreizten Fingern seiner Hand ein. »Und ich bin sehr dafür, die Belagerung aufrechtzuerhalten. Kleine Truppenteile sollten in die Höhlen eindringen und die Unauslöschlichen bei ihren Vorbereitungen stören. Habt Ihr niemals überlegt, weswegen sie sich nicht selbst auf die Jagd nach den Diamanten begeben haben?« Tungdil machte eine kleine Pause. »Ich glaube, dass die Unauslöschlichen zu schwach sind und deswegen ihre Geschöpfe ausgesandt haben. Wir dürfen ihnen keinen ruhigen Augenblick geben, auch wenn wir dadurch die Leben vieler Soldaten verlieren. Denn bekommen sie die Macht des Steins, bevor wir Lot-Ionan zum Leben erweckt haben und Dergard in der Lage ist, Zauber zu wirken, sind wir verloren.« Er setzte sich.
»Gibt es bessere Höhlenkämpfer als die Kinder des Schmieds?«, sagte Rejalin freundlich. »Ich hielte es für eine Torheit, solch erfahrene Krieger, die in den Stollen besser sehen als jeder Mensch und jeder Elb, auszusenden, um eine Insel zu stürmen.« Sie schaute zu Gandogar. »Ich vertraue den Zwergen, Großkönig. Mir wäre es lieber, wenn Eure Krieger, und zwar alle, die Ihr an den Toren entbehren könnt, gegen Toboribor sendet.« Tungdil überlief es siedend heiß. Er verfluchte den Umstand, dass er noch keinerlei Gelegenheit gehabt hatte, seinem Großkönig Sündalons Bericht über die Broka mitzuteilen. Er witterte hinter dem Vorschlag der Elbenfürstin eine Falle. Begründen konnte er sein Gefühl nicht, zumal ihre Worte durchaus Sinn ergaben. Ein Zwerg war ein erfahrener Tunnelkämpfer.
Sirka stand hinter Tungdil, und sie neigte sich zu ihm. »Die Broka plant etwas«, warnte sie und bestätigte sein schlechtes Gefühl.
Der geschmeichelte Gandogar nahm den Vorschlag bereits an. »Du hast Recht, Rejalin. Aber ich werde es mir nicht nehmen lassen, dass unser Volk die Insel der Dritten erobert. Sollten die anderen Königinnen und Könige einverstanden sein, werde ich unsere Krieger aus den Gebirgen nach Toboribor befehlen.« Er sprach mit Schmerz in der Stimme, die betäubenden Kräuter halfen ihm nur bedingt, gegen die Qualen in seiner Schulter und im Armstumpf anzukämpfen. Für seine Beherrschung erntete er die Bewunderung der Versammlung.
»Das dauert viel zu lange«, mischte sich Tungdil ein. »Mindestens sechzig Umläufe. Wir würden kostbare Zeit vergeuden. Die Angriffe auf die Höhlen müssen viel früher beginnen.«
Königin Isika hatte sich - zum Glück für Tungdil - nicht recht mit Rejalins Vorschlag anfreunden können. »Wir müssen bedenken, dass es immer noch die Verräter in ihren Stämmen gibt, die danach trachten könnten, sich mit unseren Feinden zu verbünden.«
»Und selbst wenn es so wäre, Königin Isika, wären wir mit ihnen allein in den Stollen Toboribors und nicht Eure Leute«, warf Gandogar ein. »Lasst es unsere Sorge sein. Wenn unter den fünftausend meiner Krieger zehn Verräter sein sollten, was könnten sie ausrichten?«
»Ich bin für Rejalins Vorschlag«, sagte Ortger und lächelte die Elbin an. »Die Zwerge sind erfahren genug, und wir sichern die Umgebung. Meine Soldaten sind es gewohnt, sich in den Bergen zu bewegen, und werden die Gipfel überwachen.«
Während die Herrscher nach und nach zustimmten, eilte Tungdil an Gandogars Seite. »Die Elben sind nicht vertrauenswürdig«, raunte er. Rasch fasste er Sündalons Bericht zusammen. »Wenn du mich fragst, sieht es ganz danach aus, als wiederholte sich das, was sich bei den Untergründigen ereignet hat.«
Gandogar hatte mit geschlossenen Augen aufmerksam zugehört, dann hob er die Lider und schaute zu Sirka. »Wie lange kennst du die Untergründigen schon?«
»Du weißt, wie lange.«
»Und du denkst, du kannst ihren Worten vertrauen?«
»Großkönig, ich...«
Er hob die Hand. »Nein, Tungdil. Unsere Völker leben seit vielen Zyklen in Eintracht, sie haben Abgesandte geschickt und uns an ihrem Wissen teilhaben lassen.« Er suchte Tungdils Blick. »Hast du, abgesehen von dem Wort der Untergründigen, deren Herkunft fraglich ist...«
»Gandogar, du...«
»Schweig«, befahl er ihm ungewohnt hart. Schweiß sammelte sich auf der Stirn, die Anstrengung trieb ihm das Wasser auf die Haut. »In den Augen aller ist ihre Herkunft fraglich. Und solange ich noch keinen von diesen angeblich harmlosen Orks, die sie Ubariu nennen, gesehen und einen Beweis für ihre Friedfertigkeit gegenüber uns erhalten habe, bleibe ich bei meiner Haltung.« Die braunen Augen blickten unnachgiebig. »Selbst wenn ich dir glauben würde, die anderen an diesem Tisch täten es nicht. Nicht ohne Beweise.« Er senkte den Kopf. »Hast du diese Beweise?«
Tungdil biss die Zähne so fest zusammen, dass seine Kiefer schmerzten.
»Hast du diese Beweise, Tungdil Goldhand?«, fragte der Großkönig ein weiteres Mal.
»Nein«, presste er zerknirscht hervor und war am Verzweifeln. Wenn der verwundete Elb im Gasthaus nur erwachte und reden könnte! »Nein, die habe ich nicht.«
»Dann muss ich schweigen.«
»Versprich mir wenigstens, dass du unsere Krieger vor den Elben warnst«, bat Tungdil.
»Das werde ich.« Gandogar richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Versammlung. Die Mächtigen des Geborgenen Landes waren einverstanden, sogar Isika willigte in Rejalins Vorschlag ein. »Es ist beschlossene Sache. Die vereinigte Streitmacht der Zwerge wird aufbrechen und nach Toboribor eilen. Die Dritten und die Zweiten machen den Anfang«, sprach er mit lauter Stimme und wischte sich den Schweiß ab. Seine Ankündigung wurde mit anhaltendem Beifall aufgenommen.
Sündalon hielt es nicht länger aus. Seine Sache war bislang nicht berücksichtigt worden. Er hob die Hand und wartete, bis der Beifall endete. »Bekommen wir den Stein, wenn ihr über die Unauslöschlichen gesiegt habt?« »Nein«, sagte die Elbenfürstin sofort.
»Ich bin dafür, diese Entscheidung Lot-Ionan zu überlassen«, warf Tungdil ein, um einen Streit zu verhindern. »Er wird die Macht des Steines am besten einschätzen können.«
»Meiner Ansicht nach wäre es zu gefährlich, den Diamanten aus den Händen zu geben, bevor er nicht sorgfältig geprüft wurde.« Rejalin lächelte den Untergründigen an. »Versteht mich richtig: Ich traue Euch, aber ich habe kein Vertrauen in das Jenseitige Land. Außerdem berichtetet Ihr, dass diese angeblich gutmütigen Orks einen... war das Wort Runenmeister?« Sündalon nickte. »Einen Runenmeister besitzen, der sich mit Magie sehr gut auskennt. Das Letzte, was ich haben möchte, ist ein Ork, der unbändige magische Kräfte besitzt. Auch nicht im Jenseitigen Land.«
»Damit gibst du unsere Heimat dem Untergang preis, Broka«, schnaubte Sündalon. »Und wenn sich die Geschöpfe aus der Schwarzen Schlucht ihren Weg ins Geborgene Land schlagen, denkt an diesen Tag und die Worte der Broka.«
»Wir haben die Kinder des Schmieds, die über unsere Pforten wachen«, erwiderte sie gelassen. »Sie haben bislang erst ein einziges Mal versagt. Das wird ihnen nicht wieder passieren. Wir stehen ihnen bei. Gibt es ein stärkeres Bündnis?«
Sündalon packte seine Waffe mit beiden Händen, als suchte er daran Halt oder stellte sich vor, den Hals der Elbin zu quetschen. »Es passt zu deinem Volk, verstecktes Gift und Beleidigungen zu versprühen. Nicht umsonst haben wir es in unserem Reich ausgelöscht.«
Rejalin hob immer noch lächelnd die Augenbrauen. Sie hatte ihr Ziel erreicht und den Untergründigen auf dem dünnen Eis, auf das sie ihn gelockt hatte, einbrechen lassen.
»Ihr habt was getan?«, raunte Königin Wey blass.
»Dann bedeutet Broka also Elb und nicht Alb?«, sagte Isika tonlos. »Wir sitzen hier mit Kreaturen am Tisch, die sich ihren Schöpfer mit Orks teilen und die Elben in ihrem Land vernichtet haben?«
»Ihr versteht es falsch«, warf Tungdil ein, um zu retten, was zu retten war. »Sie mussten es tun! Die Eoil raubte ihnen den Stein und stachelte die Elben auf. Sie waren verblendet.« Er nahm all seinen Mut zusammen, um seinen Verdacht laut auszusprechen, aber Rejalin kam ihm zuvor.
»Damit hat sich die Frage erübrigt, ob wir den Diamanten an Euch übergeben, Sündalon. Mein Volk wird es niemals zulassen.« Ihr schönes Gesicht zeigte Überheblichkeit und Eiseskälte. »Solltet Ihr aus irgendwelchen Gründen in den Besitz des Steines gelangen, werdet Ihr ihn wieder durch die Hand der Elben verlieren. Egal, ob im Geborgenen oder im Jenseitigen Land.« Ihre Leibwachen hinter ihr legten die Hand an die Schwertgriffe. »Es ist besser, wenn ihr geht«, sagte Gandogar zu Sündalon. »Und Ihr, Fürstin Rejalin, achtet auf Eure Worte, bevor sie Unaufhaltsames auflösen.«
Die Untergründigen verließen das Zelt.
Tungdil schloss sich nach kurzem Zögern an. Als er halb durch den Vorgang getreten war, drehte er sich um. »Wir sehen uns in Toboribor«, sagte er in die Runde und verzichtete auf die Verbeugung. »Mögen euch euere Götter beistehen und die Augen öffnen, ihr Königinnen und Könige, bevor es zu spät ist.« Er ging; Ingrimmsch und Goda folgten ihm ebenso wie Furgas und Rodario.
Zurück blieb eine unheilvolle, drückende Stille, die nicht weichen wollte.
Da niemand mehr etwas sagte, hob Bruron die Versammlung auf. Es gab genug zu tun und noch mehr, über das Menschen, Elben und Zwerge schweigen wollten.