Das Geborgene Land, Elbenreich Älandur, 6241. Sonnenzyklus, Spätfrühling.


»Ihr seid schon wach, Tungdil Goldhand! Da komme ich mit dem Frühstück hoffentlich nicht zu spät?« Der Zwerg fuhr erschrocken zusammen, obwohl die freundliche Stimme in seinem Rücken keinen Anlass zur Beunruhigung gegeben hatte. Sie klang nicht bedrohlich, sondern erstaunt und auch ein wenig beleidigt. Das Begleitschreiben, über dem er noch immer brütete, hatte der Elb nun auf jeden Fall gesehen. Jetzt half nur noch die Flucht nach vorn.

»Ich bin es gewohnt, mit den Vögeln aufzustehen«, antwortete Tungdil und wandte sich Tiwalün zu, der lautlos das Zelt betreten hatte und nun hinter ihm stand. »Ich weiß, es ist schwierig, an ein Zelt zu klopfen, um auf sich aufmerksam zu machen, bevor man eintritt, aber Ihr hättet es wenigstens versuchen können.«

»Ich entschuldige mich vielmals. Das Frühstück sollte eine Überraschung werden«, sagte der Elb und verneigte sich, ohne die Augen jedoch von dem Schreiben zu wenden. »Ihr habt es also gefunden?«

Tungdil wusste nicht recht, was Tiwalün damit meinte, den Brief oder die geheime Botschaft darin. »Ja. Mein Freund hatte das Schreiben dort verstaut, wo es eigentlich nicht hingehörte.« Er hatte sich entschlossen, ein wenig Wahrheit aufblitzen zu lassen. »Es fiel ins Wasser, ich trocknete es am Ofen, und da kamen diese Zeilen zum Vorschein.« Er deutete auf die blassblauen Symbole. »Ich frage Euch und verlange Ehrlichkeit: Was hat diese koboldische Geheimniskrämerei zu bedeuten? Sind Eure Delegationen, die durch das Geborgene Land reisen, Spione, wie man annehmen könnte? Versucht erst gar nicht, mich zu belügen, denn ich werde Fürst Liütasil persönlich danach fragen.«

Tiwalün sah ihn eindringlich an und versuchte offenbar, an seinen Zügen abzulesen, was oder wie viel er wusste. »Niemals könnte ich einen Helden belügen, der unser Reich Älandur mit vor dem Untergang bewahrt hat«, sagte er ernst. »Die Zeilen, die durch die Wärme sichtbar wurden, haben nichts mit dem Volk der Zwerge zu tun. Das schwöre ich bei Sitalia.«

»Dann sagt mir, was sie bedeuten.«

»Das darf ich nicht. Fragt unseren Fürsten. Es geschieht auf sein Geheiß.« Er streckte die Hand aus. »Darf ich das Schreiben haben?«

Tungdil faltete es zusammen und schob es unter sein Ledergewand. »Ich werde es Liütasil selbst überreichen«, sagte er freundlich. So ging er sicher, dass der Elbenfürst ihn empfing und er ihn nach dem geheimnisvollen Getue fragen konnte.

Tiwalün machte ein Gesicht, als hätte ihm ein Ork einen Heiratsantrag angedient. »Wie Ihr wünscht, Tungdil Goldhand. Er wird sich sicher freuen, mit Euch zu sprechen.« Der Duft von frischem Brot durchzog das Zelt. »Stärkt Euch, danach führe ich Euch und Euren Freund durch unser Reich.« Er verneigte sich und zog sich zurück, während Elben in weniger festlicher Kleidung den Tisch deckten und Getränke eingössen. Boindil erschien im Kettenhemd; er hob die Nase und schnupperte absichtlich laut. »Wenn das mal nicht gut riecht«, rief er. Er freute er sich auf das Essen und schaute den Elben zu, die letzte Handgriffe versahen, bevor sie sich aus dem Zelt zurückzogen und die Zwerge allein ließen. »Hast du die ganze Nacht gewacht?«, fragte er, als es keine neugierigen Ohren mehr um sie herum gab.

»Ich habe übersetzt«, verbesserte Tungdil und begab sich an den Tisch.

»Und?«, drängte ihn Ingrimmsch. »Was haben die Elben geschrieben?«

Tungdil erzählte ihm von der knappen Unterhaltung mit Tiwalün. »Was er nicht weiß, ist, dass ich einen Teil des Briefes übersetzt habe. Aber er hilft uns nicht wirklich dabei, hinter das Rätsel zu kommen. Der Rest ist unleserlich, entweder durch das Badewasser vernichtet oder mittels Zeichen geschrieben, die ich nicht kenne.« Er belegte sich ein Brot, goss sich von dem Tee ein und gab etwas Honig hinein. Der Geruch von Nelken, Zimt und zweierlei Mokardamsorten schlug ihm entgegen. Die Zutaten waren aufgekocht worden und verbanden sich zusammen mit den Kräutern und der Milch zu einem sehr feinen, gewürzten Getränk, wie er nach einem Schluck feststellte. Auch wenn alles in ihm nach Bier, Branntwein oder anderem Alkohol lechzte, hörte er nicht auf das Verlangen und blieb bei seinem Tee.

Boindil betrachtete ihn mürrisch. »Du machst das absichtlich, Gelehrter«, unterstellte er ihm. »Du lässt mich zappeln.«

»Wegen des Briefs?« Tungdil grinste. »Nein, ich war nur in Gedanken.« Er schmierte sich ein Brot und suchte wie Ingrimmsch vergebens nach einem Stück saftigem Fleisch. Offenbar verzichteten die Elben morgens darauf, und so langte er nach den gekochten Eiern. »Was ich lesen konnte, war durchaus eine Empfehlung, die uns als Helden pries und größtmögliche Aufmerksamkeit verlangte. Die übrigen Worte waren verhindern, dass sie Liütasil, außerdem nur abseits von unseren neuen Bauten führen und nicht länger als vier Umläufe verweilen, danach sollten sie unter Ausreden abgeschoben werden. Schützt ihr schlechtes Benehmen vor.« Er versuchte eines der Eier und wurde von dem Geschmack überrascht. Ohne dass er es gewürzt hatte, schmeckte es nach einer Prise Salz und weiteren Aromen.

Boindil war es gleichermaßen aufgefallen. »Womit die wohl ihre Hühner füttern?«

»Wer sagt, dass es Eier von Hühnern sind?«

Der Zwerg kaute langsamer. »Ich habe die Gefahren von solchen Missionen falsch eingeschätzt: fremde Küche«, seufzte er und schluckte geräuschvoll. Er dachte an das erste Mahl bei den Freien in Goldhort, das aus seltsamen Zutaten bestanden hatte, wie Käferfleisch und Madenbier. »Ich verstehe die Anweisung so, dass die Elben uns ausgewählte Orte zeigen sollen, ohne dass wir mit Liütasil reden, und wir bald wieder aus Älandur verschwinden müssen.«

Tungdil nickte. »Die Erwähnung dieser neuen Bauten macht mich stutzig«, sagte er. »Was gibt es an ihnen, dass man sie vor uns und wahrscheinlich vor dem Rest des Geborgenen Landes verheimlichen muss?« Ingrimmsch zeigte ihm sein altes Kämpferlächeln, auch wenn es ohne das Feuer in den Augen nicht mehr so irre wirkte wie früher. Abgesehen von seinem Sinn für Humor und der Frisur, glich er immer mehr seinem verstorbenen Zwillingsbruder. »Ich verstehe. Wenn sie uns sagen, wir gehen nach links, gehen wir nach rechts.« »Damit sie einen Vorwand bekommen, uns noch schneller des Landes zu verweisen?« Tungdil nahm sich noch mehr von den Eiern, schnitt sie klein, gab sie aufs Brot und verteilte Bärlauchsenf darüber. »Aber sie haben den Brief doch nicht bekommen und wissen nichts von den Anweisungen.« »Tiwalün kam leise wie eine Felsenkatze herein. Ich weiß nicht, wie lange er hinter mir stand. Ich vermute, er hat mindestens einen Teil davon lesen können«, meinte er. »Wir haben noch drei Umläufe Zeit. An den Tagen werden wir uns fügen, doch in der Nacht gehen wir auf die Suche. Halte dich bereit, ohne Schlaf auszukommen.«

»Herumschleichen wie ein Alb«, brummte Boindil unglücklich. »Die Heimtücke war noch nie meine Stärke. Ich hoffe, ich verrate uns nicht durch eine Ungeschicktheit.«

»Wir schlagen sie mit ihren eigenen Waffen«, meinte Tungdil. »Was bleibt uns anderes übrig?« Sie verzehrten ihr Frühstück in aller Ruhe und ließen sich nicht von dem wieder auftauchenden Tiwalün hetzen. Auf den Ponys ging es gegen Mittag weiter in Richtung des Landesinneren. Sie ritten durch die tiefgrünen, friedlichen Wälder, in denen üble Gedanken nicht lange verweilten. Dazu war es einfach zu schön, auch ohne das Gebirge, das zumindest von Ingrimmsch lautstark vermisst wurden.

Der Elb wurde nicht müde, ihnen die Schönheit der verschiedenen Bäume in gewandter Sprache zu schildern; es war, als versuche er, sie mit seinen Beschreibungen einzulullen.

Hätte es den Brief nicht gegeben, wäre es ihm gewiss gelungen.

So aber nickten Tungdil und Ingrimmsch zwar, schauten sich jedoch unentwegt um und hielten Ausschau nach den kleinsten Auffälligkeiten. Dabei entging ihnen nicht, dass sie niemals über Berge ritten, sondern immer in den waldreichen Tälern blieben, wo die Sichtweite nicht mehr als einen Pfeilflug betrug.

Sie kannten natürlich den Grund. Als Tungdil Vilanoil nach Gebirgen oder wenigstens ein paar waldlosen Hügeln fragte, zeigte der Elb sich bestürzt, dass die Gäste schon genug von den herrlichen, einmaligen, unerreichten Hainen Älandurs hätten. Für den nachfolgenden Tag versprach er ihnen eine Route mit Aussicht. Mit Einbruch der Dunkelheit ritten sie auf ein von innen hell erleuchtetes Gebäude zu, das Tungdil und Boindil bereits kannten. Hier hatten sie zusammen mit Andökai den Elbenfürsten zum ersten Mal um Beistand gegen Nöd'onn gebeten. Mächtige Bäume bildeten wuchtige, lebende Pfeiler für das dichte Dach aus Laubkronen in zweihundert Schritt Höhe.

Doch die natürliche Halle selbst hatte sich gegenüber dem ersten Besuch radikal verändert. Die kunstvollen Mosaiken aus hauchdünnen Gold- und Palandiumplättchen zwischen den Stämmen, durch die einst die Sterne gefunkelt hatten, fehlten. Sie waren einfachen, doch riesigen Gemälden gewichen, die nichts als verschiedene Abstufungen von Weiß zeigten; hier und da schimmerten Diamanten im Licht der Fackeln auf, die wie willkürlich darauf gestreut wirkten. Aus dem Prunk und der Zuschaustellung der überlegenen Handwerkskunst war eine ungewohnte, seltsame Schlichtheit geworden, welche die Zwerge wegen ihrer Monumentalität nicht weniger beeindruckte.

»Was habt ihr denn mit dem ganzen Zeug gemacht?«, ließ sich Boindil zu einer Bemerkung hinreißen. »Ist ein Volk gezwungen, seine künstlerische Begabung in stets gleich bleibender Form zum Ausdruck zu bringen?«, gab Tiwalün zurück. »Da wir bislang keine oder wenig Besucher in unseren Wäldern hatten, wurden die wechselnden Vorlieben in unserer Kunst nicht bemerkt. Und es sei Euch versichert, Boindil Zweiklinge, wir haben schon viele Dinge ausprobiert. Ähnlich wie bei Eurem Volk bedeuten uns ein- oder zweihundert Zyklen nicht viel.«

Er bog nach links und versuchte, sie aus der Halle der Bäume zu lotsen, da deutete der Ingrimmsch auf einen weißen, dreikantigen Monolithen, der an der Stelle aufragte, an dem sich damals der Thron Liütails befunden hatte. Aus dieser Entfernung geschätzt, betrug seine Höhe gewiss fünfzehn Schritte und der Umfang sieben Schritte. »Kann ich das näher betrachten, Freund Elb?«

»Das ist kaum von Bedeutung«, spielte Tiwalün die Bedeutung der Entdeckung herunter. »Das Mahl wartet...« Boindil hatte Tungdils Mahnung, sich tagsüber den Anweisungen der Gastgeber zum Schein zu fügen, nicht in Erinnerung behalten. Unerschrocken marschierte er an Tiwalün vorbei und lief zu dem dreieckigen Monolithen. »Hier ist das Auge eines Steinkenners gefragt«, verkündete er. »Mein Stamm ist bekannt für seine herausragenden Steinmetzkünste.«

Der Elb setzte ihm nach und lief dann rückwärts vor ihm her. »Nein, Boindil Zweiklinge. Ich bitte Euch, von Eurem Vorhaben abzusehen. Es ist eine Art Heiligtum, das nur von Elben berührt werden darf.« Er blieb stehen und hoffte, den Zwerg damit aufzuhalten. »Eine Missachtung durch Euch darf ich nicht ohne Folgen lassen. Eigentlich hättet Ihr es nicht einmal ansehen dürfen!«

Ingrimmsch schaute an den Beinen des Elben entlang, über den Oberkörper hinauf bis zum Gesicht Tiwalüns. »Das ist sehr unhöflich!«, beschwerte er sich. »Eure Abordnung gelangt in jeden Winkel unseres Reiches, aber ich darf mir nicht einmal einen Stein anschauen?«

»Es ist ein Heiligtum, du hast es doch gehört, Boindil«, griff Tungdil rettend ein.

»Und warum hat er dann zuerst gesagt, es wäre kaum von Bedeutung?«

»Für Euch ist es kaum von Bedeutung«, lächelte Tiwalün. Ein Schweißtropfen rann von seiner Stirn über die glatte, faltenlose Haut, die gewiss in einhundert Zyklen noch straff und jugendlich sein würde. »Bitte, kehrt um.« »Elben und heilige Steine«, grinste der Krieger. »Unser Volk besitzt doch mehr Übereinstimmungen, als ich annahm. Sehen wir mal von den Vorlieben beim Essen ab.« Friedlich schwenkte er herum und zeigte auf den Durchgang, durch den Tiwalün vorher hatte gehen wollen. »Da lang?«

»Da lang«, sagte Tiwalün erleichtert und lief los, bevor es sich der störrische Zwerg noch anders überlegte. »Ich bedanke mich für Euer Verständnis, Boindil Zweiklinge.«

»Das ist doch selbstverständlich«, grinste Ingrimmsch breit und zwinkerte Tungdil zu.

Der späte Abend hielt eine Überraschung für Elben und Zwerge bereit.

Sie saßen zusammen mit Vilanoil und Tiwalün beim letzten Gang des üppigen, doch keinesfalls schweren Essens, als ein Bote eintrat und dem Elben einen Brief überreichte. Er las ihn und sah zu den beiden Zwergen. »Äußert beunruhigende Nachrichten«, sagte er sorgenvoll. »Drei der Diamanten wurden gestohlen, sowohl der von König Nate als auch der von König Ortger und König Malbalor. Die Rede ist von schrecklichen Kreaturen und Zwergen, welche die Überfälle begangen haben.« Er verlas die Zeilen, in denen die Begebenheiten in den drei Königreichen ausführlich niedergeschrieben waren. Die Gäste lauschten entsetzt; die Angriffe dieser Maschine im Roten Gebirge blieben nicht unerwähnt. »Das Böse hat wieder Fuß gefasst und reckt seine gierigen Klauen nach der Macht«, schloss Tiwalün.

»Wir reisen morgen früh ab«, sagte Tungdil aufgeregt. Unter diesen Umständen durfte sein Stein, den Gandogar ihm damals überlassen hatte und der in einem sicheren Versteck im Stollen verwahrt lag, nicht ohne Aufsicht bleiben. Er fürchtete um das Wohl seiner Gemahlin Balyndis, die von den Vorgängen sicherlich noch nichts gehört hatte. Wenn die unbekannten Räuber die Steine in den König- und Zwergenreichen aufspürten, gelang ihnen dieses Kunststück sicherlich auch in einem vergleichsweise einfach einzunehmenden Stollen. Die einzige und damit hoffnungslos unterlegene Soldatin war Balyndis. »Aber wir haben doch die Mission...«, versuchte Boindil zu widersprechen, bis ihm einfiel, dass sein Freund einen der Diamanten besaß. »Vergiss meine Worte, Gelehrter. Die Ponys werden uns schnell wie der Wind zu dir nach Hause tragen.«

Tungdil erhob sich vom Tisch. »Wir wollen nicht unhöflich sein, Tiwalün und Vilanoil. Wir begeben uns besser zur Ruhe. Die folgenden Umläufe werden hart für uns. Richtet Fürst Liütasil unsere allerherzlichsten Grüße aus. Ich nehme an, dass wir ihn bald bei der Versammlung der Herrscher treffen.«

Tiwalün wirkte zutiefst erleichtert, als er von dem Abreisevorhaben der Zwerge hörte. »Sicherlich. Er wird Verständnis für Euer Handeln haben. Ich lasse Euch Proviant richten, damit Ihr morgen aufbrechen könnt, sobald Ihr mögt.« Er stand ebenfalls auf und verneigte sich. »Ich hätte mir einen friedlicheren Ausklang für Euren Besuch in Älandur gewünscht, doch die Götter haben uns eine neue Prüfung gesandt.« Er lächelte. »Ihr werdet sicherlich wieder eine wichtige Rolle dabei spielen, oder was denkt Ihr?«

»Ich könnte darauf verzichten«, entgegnete Tungdil ehrlich. »Doch wenn mein Volk und das Geborgene Land mich benötigen, werde ich zur Stelle sein.« Er schritt zum Ausgang, Ingrimmsch nahm sich eine beladene Schüssel mit und folgte ihm.

Tiwalün und Vilanoil verfolgten die beiden mit Blicken, bis sich die Tür hinter ihnen schloss, dann langte Tiwalün nach dem Wein und goss sich ein Glas bis zum Rand voll. Er hatte die verborgenen Anweisungen im Brief lesen können; der Zwerg hatte ihn am Morgen im Zelt erst durch sein Sprechen bemerkt. Umso gelegener kam die schlechte Nachricht, welche die ungeliebten Gäste von selbst aus Älandur trieb.

Dass sie den Monolithen gesehen hatten, war ein gehöriger Fehler gewesen, und um ein Haar wäre es noch schlimmer gekommen.

Tiwalün hob den Kelch. »Sitalia, auf dein Wohl. Ich trinke dir und deinen reinsten Kreaturen zu Ehren.« Zeremonienhaft führte er den Rand an die Lippen, nippte dreimal daran und leerte den Rest auf die Erde. »Mögen die Eoil eines Tages zurückkehren und die Herrschaft übernehmen.«

Vilanoil lächelte.

Und doch tat sich etwas in dieser Nacht.

Boindil hatte es sich trotz seiner Müdigkeit nicht nehmen lassen, auf eigene Faust loszuziehen und sich den weißen Stein aus der Nähe zu betrachten, den Tiwalün vehement vor ihm abgeschirmt hatte. Da sie Älandur am folgenden Umlauf sowieso verlassen würden, konnte er es wagen, bei seiner heimlichen Untersuchung erwischt zu werden. Was sollte ihm dann noch geschehen? Sie würden ihm sicherlich nicht gleich den Kopf abschlagen. Weder beherrschte noch mochte er die Heimlichkeit, aber es ging nicht anders. Er hatte sogar die Stiefel mit den harten Sohlen ausgezogen und das Kettenhemd abgelegt. Vollkommen nackt, so fühlte er sich zumindest, pirschte er durch den Baumpalast, in dem sich niemand außer ihnen aufzuhalten schien. Zwar hatte er geglaubt, sich den Weg in die Halle gemerkt zu haben, doch nach einer Weile verlief er sich und streifte orientierungslos umher. Unter der Erde wäre ihm das sicherlich nicht passiert, dort fand er sich immer zurecht. »Verdammte Bäume. Einer sieht aus wie der andere«, grummelte er und bog beim nächsten Korridor nach links. Zunächst hatte er sich gefreut, keinem Elbenwächter zu begegnen, inzwischen machte ihn dieser Umstand stutzig. Es war immerhin eine der Residenzen des Fürsten, und sie sollte von Bediensteten wimmeln. Mutig öffnete er die nächstbeste Tür und sah in einen leeren Raum; Sternenlicht fiel in das verwaiste Zimmer, ein wenig Staub und ein paar Blätter hatten sich auf dem Boden angesammelt. Kein Bett, kein Schrank, keine Kleider, nichts.

Boindil schlich weiter durch den Palast und wiederholte sein Vorgehen. Nicht ein einziges Mal stieß er auf bewohnte Kammern. Der Palast war zu einem Geisterhort geworden.

Durch Zufall gelangte er in die große Halle, in welcher der weiße Monolith stand und sich herrschaftlich zur Decke reckte.

Obwohl kein Licht brannte, verbreitete der Stein Helligkeit, als habe er sie tagsüber gespeichert und gebe sie in der Dunkelheit ab.

»Da bist du ja, Steinchen«, grinste er. Er trat näher heran, umrundete ihn langsam und begutachtete ihn eindringlich. Es gab keine Fuge, nicht einmal einen winzigen Kratzer, jedenfalls nicht auf der Höhe des Steins, die der Zwerg betrachten konnte. Glatt wie Glas schimmerte die weiße Oberfläche, und Boindil reckte die Hand, um sie berühren.

Als seine Haut auf den Stein traf, wunderte er sich, wie warm sich der Monolith anfühlte. Demnach speicherte er nicht nur das Licht, sondern auch die Kraft der Sonne. Solche Steine kannte er nicht. Sicher, er war Krieger und nie ein besonders guter Steinmetz gewesen, aber er erinnerte sich nicht daran, dass ihm je dergleichen untergekommen wäre. Das bedeutete, dass es in Älandur Minen gab, die zumindest eine unbekannte Sorte Gestein bargen.

Boindil zog seine Hand zurück und wollte sich abwenden, da fiel sein Blick auf die Stelle, die er berührt hatte: Seine fünf Finger zeichneten sich als schwarze Abdrücke ab!

»Verfluchte Orkscheiße!«, ärgerte er sich und schaute auf seine Hand, die sauber war. Er wischte zuerst mit seinem schwarzen Bart, dann mit einem Taschentuch auf dem Stein herum, ohne die Spuren wegscheuern zu können. Anklagend befleckten sie die Makellosigkeit des Monolithen. Die geringe Größe der Abdrücke erlaubte keinen Zweifel daran, dass ausschließlich ein Zwerg der Schuldige gewesen sein konnte, der das Heiligtum entweiht hatte. Das würde mächtigen Ärger geben.

Tiwalüns Drohung, dass selbst das Herantreten für einen Nichtelben schwere Folgen haben würde, dröhnte plötzlich laut in Boindils Ohren. Ihm wurde heiß und kalt zugleich.

Er rannte zurück, rüttelte Tungdil aus dem Schlaf und packte seine Sachen. »Wir müssen auf der Stelle verschwinden«, raunte er gehetzt. »Hier stimmt was nicht.« Er schlüpfte in die Schuhe und in sein Kettenhemd. Müde richtete sich sein Freund auf. »Was ist denn?«

»Ich habe mir den Monolithen näher angeschaut, und dabei ist mir aufgefallen, dass in diesem Palast niemand zu leben scheint.

Sie haben ihn nur für uns zum Leben erweckt.« Rasch schilderte er seine Eindrücke von den leeren Zimmern. »Und der Stein ist nicht normal. Er wird fleckig, wenn man ihn berührt«, murmelte er leise. »Fleckig? Heißt das, du hast den Stein berührt?« Tungdil wurde hellwach. »Du hast Tiwalün genau gehört...« »Ja, ja, ich weiß, ein Heiligtum. Aber ich bin der Leiter der Mission, und wenn die Elben Geheimnisse vor uns haben, möchte ich ihnen auf den Grund gehen«, verteidigte er sich und verschränkte die Arme vor der breiten Brust.

Tungdil fluchte und stieg aus dem Bett. Die Elben hatten mindestens ein Geheimnis vor ihnen, und dieser weiße, dreieckige Stein schien ihnen viel zu bedeuten. »Komm. Vielleicht kann ich die Flecken wegwischen.« Vorsichtshalber packte auch er seine Ausrüstung zusammen, ehe sie sich aufmachten. Er nahm eine Schüssel Waschwasser und einen Lappen mit, dazu Seife und etwas von dem Duftwasser, das man ihnen hingestellt hatte. Mit ein wenig Glück ließ sich damit etwas ausrichten.

Im Baumpalast zeigte Boindil Tungdil die leerstehenden Räume, die sich der Gelehrte genauer besah. Er teilte die Meinung seines Freundes, dass lange Zeit niemand darin gelebt hatte.

Und die Merkwürdigkeiten häuften sich.

Während sie sich durch die Gänge bewegten, kam es ihnen vor, als verschöben sich die hölzernen Wände und wollten verhindern, dass sie den Weg zum Monolithen fanden. Die Korridore wandelten sich zu einem raschelnden Irrgarten, aus dem sie nicht mehr hinausfanden, bis Tungdil mit seinem Dolch winzige Kerben in die Wände schnitt, um Markierungen zu hinterlassen. Danach endete das Umherlaufen ohne Ziel, und sie fanden den Weg in die große Halle.

Die Abdrücke - so kam es Ingrimmsch vor - waren mittlerweile noch dunkler geworden und hatten sich wohl für die Unendlichkeit auf der Oberfläche eingebrannt. Nichts half dagegen, weder Wasser noch Seife, noch kräftiges Reiben oder die Behandlung mit Duftwasser. »Es sieht nicht gut aus«, sagte er und warf den Lappen in die Schüssel; Wasser schwappte über den Rand. »Der Stein ist beleidigt, weil ihn ein anderes Wesen als ein Elb angefasst hat«, schätzte er.

»Was meinst du: Beichten wir es Tiwalün, oder machen wir uns aus dem Staub?«

Er überlegte. Wären die Elben freundlicher und ehrlicher gewesen, hätte er ohne Zögern das Gespräch mit Tiwalün gesucht und um eine milde Bestrafung für Boindil gebeten; aber die Gastgeber benahmen sich äußerst merkwürdig. Außerdem musste er rasch zu seinem Diamanten. Eile war geboten.

Er tauchte die Seife ins Wasser und rieb sie zwischen den Händen, bis sich ein dicker, fester Schaum gebildet hatte. Vorsichtig schabte er die weiche, obere Schicht des Seifenstückes mit seiner Dolchklinge ab und schmierte sie auf die dunklen Abdrücke.

Es funktionierte. »Du bist einfach der schlaueste Zwerg, den ich kenne«, jubelte Ingrimmsch. Nachdem Tungdil drei dünne Lagen aufgebracht hatte, waren die unansehnlichen Stellen übertüncht. Ein oberflächlicher Betrachter würde nicht bemerken, dass es sich um einen Betrug handelte.

»So, das müsste genügen«, atmete Tungdil erleichtert auf. »Sobald wir Älandur verlassen haben, sende ich Fürst Liütasil ein Schreiben mit einer Entschuldigung. Du wirst dann persönlich vor ihm erscheinen und um Nachsicht bitten«, entschied er. Sein Freund nickte. »Also, zu den Ponys.«

Die beiden Zwerge fanden ohne Schwierigkeiten zu ihrer Unterkunft. Von dort ging es zu den Stallungen und schnurstracks auf den Pfad in Richtung Stollen. Erst als sie im Morgengrauen die Grenze Älandurs überschritten und die Hufe der Ponys Gauragar betraten, fiel die Anspannung von ihnen ab.

Niemand war ihnen gefolgt.

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