Das Geborgene Land, Königreich Gauragar 38 Meilen westlich von Porista 6241. Sonnenzyklus, Sommer.


Die Wagen der Schauspieltruppe rasten übers Land. Selten hatte es das Curiosum derart eilig gehabt, an einen neuen Ort zu gelangen.

Der Grund lag auf der Hand. Furgas musste seine Erlebnisse auf der Insel der Dritten unbedingt den Königinnen und Königen schildern. Allerdings gab es hierbei ein entscheidendes Hindernis.

»Und er hat noch immer nicht gesprochen?«, vergewisserte sich Tassia, die neben ihrem Geliebten auf dem Kutschbock saß und ebenso durchgeschüttelt wurde wie der Wagen selbst. »Er sitzt nur herum und wartet die Dinge, die er einst für dein Curiosum erfunden hat?«

»So ist es. Sein Verstand ist vollauf damit beschäftigt, das abzuwerfen, was er in den letzten fünf Zyklen durchleiden musste.« Rodario verlangsamte die Geschwindigkeit, als er einen Platz für die Nacht abseits des Weges fand. Kurz vor dem Ziel sollte keines der Vehikel einen Achsenbruch erleiden.

Die Wagen bildeten einen Kreis. Rodario half Tassia herab und schielte dabei auf die spärlich bedeckte Oberweite, die aus dem Kleid zu fallen drohte. »Oh, jetzt weiß ich wieder, was ich vermisst habe«, grinste er und küsste sie.

Sie lachte und schlug mit einem Stapel loser Blätter nach ihm, auf dem sie gesessen hatte. »Und wie viele Frauen hast du in Mifurdania glücklich gemacht, während ich und meine Truppe nach Norden gezogen sind?«, flachste sie.

»Deine Truppe?!«, sagte er betont und kreuzte die Arme vor der Brust. »Ich bin zurückgekehrt, teuerste Tassia, und damit wieder Herr über das Curiosum. Oder hast du mit deinen hübschen Augen und deinem zarten Mund eine Revolution angezettelt?«

Sie legte den Zeigefinger unter sein Kinn. »So ist es, mein Lieber. Ich habe mit allen Männern des Theaters geschlafen und sie mir hörig gemacht. Die Frauen sind ohnehin nicht gut auf dich zu sprechen. Du magst zwar der Kaiser der Mimen sein, aber dieses Reich hat eine neue Königin.« Tassia sagte das nur halb im Spaß. Rodario hatte durchaus bemerkt, dass seine Anweisungen erst ausgeführt wurden, wenn Tassia genickt oder zugestimmt hatte. Er hielt es zunächst für einen Scherz. »Nein, das meinst du nicht ehrlich«, lachte er unsicher. »Lies dir dein Stück nochmals durch. Ich habe es ein wenig umgeschrieben. Es ist jetzt besser geworden«, entgegnete sie selbstbewusst und drückte ihm die Blätter in die Hand. Sie grinste ihn an, dann gab sie ihm einen leidenschaftlichen Kuss und eilte davon, um Gesa beim Kochen zu helfen.

Rodario schaute ihr hinterher und kratzte sich am Kopf. »Diese Frau hat einen Dämon im Leib«, schmunzelte er. »Hätte man es mir vorher gesagt, wäre ich in Sturmtal niemals auf das Geschäft eingegangen.« Er ging zu der Hecktür des Wagens, klappte die kleine Leiter aus und setzte sich darauf, während seine Arbeiter die Pferde ausspannten, fütterten und tränkten.

In den Strahlen der sinkenden Sonne überflog er, was Tassia in seinem Stück verändert und umgeschrieben hatte.

Ärgerlicherweise musste er an mehreren Stellen lauthals lachen. Sie hatte ihr Talent eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Rodario kannte Stücke von langjährigen Schauspielerfreunden, die dem Werk seiner Gefährtin um Längen nachstanden.

Der Durst und die Sorge um seinen Freund machten sich schließlich bemerkbar. Er erhob sich und ging die schmalen Stufen hinauf. »Furgas?«

Während er auf eine Antwort wartete, drehte er rasch den Kopf, um zu Tassia zu schauen, die lachend am Feuer saß und mit Gesa ein Wettschälen veranstaltete. Jeder, der gerade nichts zu tun hatte, schlenderte zu der Feuerstelle, um in der Nähe der bezaubernden Frau zu sein. Da wurde Rodario bewusst, dass sie wirklich die Wahrheit gesagt hatte. Das Curiosum befand sich in den zarten, aber unnachgiebigen Händen Tassias. Seiner Schülerin. Seiner Muse.

»Bei Palandiell, so geht das nicht«, murmelte der entthronte Kaiser. »Ich muss ein ernstes Wörtchen mit der jungen Dame reden.«

Schon setzte er an, die Stufen nach unten zu steigen, da hörte er ein leises Stöhnen aus dem Wagen. »Furgas?« Er öffnete die Tür, ohne hereingebeten worden zu sein, und fand seinen Freund blutüberströmt auf dem Boden liegen. Furgas hatte die Handgelenke mit langen, tiefen Schnitten geöffnet und war durch den Blutverlust halb in Ohnmacht gesunken.

»Verdammt!« Rodario eilte hinein, riss einen Bettbezug entzwei und verband hastig die Schnitte. »Was sollte das?«, herrschte er ihn an und richtete ihn auf. »Ich habe dich nicht befreit, damit du dich selbst umbringst.« »Ich kann nicht mit meiner Schuld leben«, raunte Furgas. »Ich habe die Maschinen gebaut, die den Tod zu den Zwergen bringen«, flüsterte er und rang mit der Fassung. Er wankte, doch Rodario hielt ihn. »Ruhig, mein Freund. Sie haben dich dazu gezwungen...«

»Ich hätte mich ebenso gut umbringen können, anstatt mich ihren Drohungen zu beugen, aber...« Er schaute den Mimen an. »Zuerst haben sie Bohrmaschinen durch alte, verschüttete Stollen geschickt und gehofft, dass sie sich einen Weg graben. Danach folgten die Todesmaschinen.« Er wischte sich die erste Träne weg. »Die Maschinen...«

Rodario reichte ihm einen Becher mit Wasser. »Beruhige dich.«

»Ich kann mich nicht beruhigen. Hast du gehört, wovon uns die Menschen unterwegs berichtet haben? Die Monstren aus Stahl und Fleisch?« Er schluckte, die Finger krampften sich um den Becher. »Auch sie sind mein Werk. Die Dritten haben sich mit den Unauslöschlichen zusammengetan«, sagte er und bemühte sich um Beherrschung.

Rodario überlief es eiskalt. »Nein.« Er sah Tassias Kopf in der Tür erscheinen, die nicht wagte, auf sich aufmerksam zu machen. Sie stand da, lehnte sich an den Rahmen und lauschte.

»Doch.« Furgas lachte bitter. »Bandilor kam eines Umlaufs zu mir und zeigte mir abstruse Skizzen von widerlichen Mischwesen, die zu einem Teil aus Eisen bestehen sollten. Er hatte die Rezeptur für das Metall, das Magie leitet, und ein Stück Glut aus der Drachenesse der Fünften gestohlen. Damit schuf er die Legierung, aus der ich ihm die Maschinen nach seinen Vorstellungen bauen sollte. Und ich baute, ohne zu wissen, was er bezweckte.« Er erbleichte. »Dann kamen sie. Ich weiß es noch genau... Wir tauchten auf, und sie wurden zu uns gebracht. Kleine, hässliche Bastarde aus Orks und Albae, der größte nicht älter als vier Zyklen. Bandilor fuhr mit der Insel an eine geheime Stelle irgendwo im See und senkte sie auf den Grund. Dort steckten wir die Bastarde in die Maschinen, schraubten und nagelten sie darin fest, trennten ihnen Gliedmaßen ab und setzten stattdessen Dinge ein, die Bandilor brachte. Gläser oder Kristalle, ich kann es nicht genau sagen. Er schob die Gestänge aus dem magieleitenden Material durch die kleinen Leiber und warf die Bastarde in ein Loch, das er dort gegraben hatte. Sie schrien. Oh, wie sie schrien!«

Er erschauderte, als die Bilder immer deutlicher aus seiner Erinnerung aufstiegen. »Grüne Blitze zuckten aus dem Loch hinauf und schlugen in das Eisen ein. Die Albaerunen flammten auf und erstrahlten, und diese Bastarde... Sie wuchsen und kreischten. Ihre Körper wurden untrennbar eins mit den Konstrukten. Meinen Konstrukten.« Er trank den Becher leer. »Ich weiß nicht mehr, wie lange es so ging. Irgendwann befahl Bandilor, die Insel auftauchen zu lassen, und ich sah die Wesen niemals mehr wieder. Bis wir unterwegs von ihnen hörten.«

Er schwieg, und es blieb sehr lange still.

Tassia erschauderte, hatte eine Gänsehaut am ganzen Körper, weil ihre Vorstellungskraft schreckliche Wesen schuf und ihr Angst machte. »Ihr Götter«, entfuhr es ihr schließlich leise. »Wie furchtbar.« Auch Rodario benötigte Zeit, um sich von dem Gehörten zu erholen. Der Magister technicus hatte seine Meisterwerke erschaffen. Meisterwerke des Grauens und der Zerstörung, Wesen aus Magie und Technik, gesteuert vom Bösen und beherrscht von dem Willen, Tod und Vernichtung zu bringen. »Nicht du bist der Schuldige«, brachte er endlich über die Lippen und half Furgas, sich auf das Bett zu setzen. Er tauschte das Wasser gegen Wein, den sein Freund in großen Zügen hinabstürzte.

Furgas zitterte am ganzen Leib. »Ich habe den Tod verdient, Rodario«, sagte er niedergeschlagen. »Tatsächlich haben mich die Dritten gezwungen, aber ich habe meine Arbeit gut verrichtet. Zu gut.« Seine Fäuste ballten sich. »Denn ich dachte die ganze Zeit über an Narmora und an meine Kinder. Ich leistete den Dritten gute Dienste, um mich an den Zwergen und an dem Geborgenen Land dafür zu rächen, dass sie mir meine Familie nahmen. Erst gegen Ende verstand ich, was ich den Menschen, Elben und Zwergen angetan hatte.« Er leerte den Wein und schloss die Augen. »Mir... ist schwindlig«, flüsterte er und sank seitlich auf das Lager. Der Wein und der Blutverlust taten ihre Wirkung.

»Schlaf dich aus«, sagte Rodario bewegt zu seinem Freund, deckte ihn zu und wischte das Blut von den Brettern; später würde er das Holz gründlich schrubben. »Und lass die Finger von den Messern.« Er verließ den Wagen und zog die Tür zu.

Mit der Flasche Wein setzte er sich auf die Stufen und schaute in die untergehende Sonne, trank einen Schluck und reichte die Flasche an Tassia.

»Was hat er damit gemeint, dass man ihm die Familie genommen hat?«, fragte sie stockend. »Du sagtest, es wäre in der Schlacht um Porista geschehen.«

Er zog sie zu sich heran und schaute ihr in die Augen; gleich darauf stellte er sich vor, wie es wäre, sie für immer zu verlieren, und eine Welle der Angst durchlief sein Gemüt. Er küsste sie innig, zärtlich.

Tassia fühlte den Unterschied zwischen einer wollüstigen Liebesattacke und diesem Kuss, in dem kein Begehren, sondern tiefere Gefühle lagen, die nicht mal ein Dichter annähernd treffend zu beschreiben vermochte. Sie lächelte ihn an und streichelte sein Gesicht. »Wofür war das?«

Rodario seufzte. »Narmora, so hieß seine Gefährtin, war eine Halbalbin. Sie focht mit uns auf der Seite des Guten gegen Nöd'onn und ging danach bei der letzten Maga, Andökai der Stürmischen, in Lehre. Sie trat an die Stelle der Maga und bewahrte das Geborgene Land gegen die Avatare und die Eoil vor großem Schaden. Als Dank für ihre Mühe verbrannte ein Teil von ihr zu Asche. Der Stern der Prüfung aber gewährte keine Gnade. Nicht für sie...«

»... und nicht für ihre Kinder«, vollendete Tassia betrübt. »Wie schrecklich. Der arme Furgas.« »Nach der Schlacht gab er den Zwergen und den Menschen die Schuld an den Toten. Hätte man die Avatare ihre Arbeit tun lassen, sagte er damals im Wahn seines Seelenschmerzes, wäre die Zahl der Opfer im Geborgenen Land viel geringer gewesen. Sie hätten das Böse in der Gestalt der Albae vernichtet und wären wieder abgezogen. Ohne den Stern der Prüfung aufgehen zu lassen. Und er selbst wäre ein glücklicher Familienvater geworden.« Er schaute an ihr vorbei in die rote Sonne. »Manches Mal habe ich mich gefragt, ob er nicht Recht hatte.« Sie schwieg, trank und gab ihm die Flasche zurück.

Rodario seufzte. »Damals wäre es gelogen gewesen zu sagen, ich verstünde ihn. Ich trauerte um Namora als eine Freundin. Heute kann ich mir vorstellen, wie es in ihm ausgesehen haben muss.« Er streckte die Hand aus und berührte Tassias blondes Haar. »Ich bete zu den Göttern, dass ich niemals Gleiches erfahren muss. Wer immer die Schuld daran trüge, ich würde ihn bis ans Ende meines Lebens hassen und verfolgen.«

Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihre Wange.

So verharrten sie, bis die Dunkelheit hereingebrochen war. Rodario schaute leise nach Furgas, der schlafend im Bett lag, dann setzten sie sich ans Feuer zur Truppe und lauschten eng umschlungen dem Lied, das Gesa anstimmte.


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