Das Geborgene Land, Königreich Idoslän, zehn Meilen vor den Höhlen Toboribors, 6241. Sonnenzyklus, Spätsommer.


Lot-Ionan saß schweigend am Feuer und wärmte sich die Finger. Die Sommernächte verloren ihre Wärme, und seit er sechs Zyklen als ein Stein verbracht hatte, hockte eine Kälte in ihm, die sich weder durch heißen Tee, heißen Branntwein oder eine dicke Lage Decken aus ihm vertreiben ließ.

Dergard hatte sich bereits zum Schlafen niedergelegt. Ingrimmsch schnitt sich ein Streifen Fleisch von dem am Spieß garenden Kaninchen ab und schob ihn sich in den Mund. Er kaute laut und unzufrieden. »Bist du sicher, Magus, dass du die letzten Meilen nicht doch noch schaffst? Es ist nicht mehr weit.« Lot-Ionan hob das weiße Haupt. »Glaube mir, Boindil, dass ich lieber in einem warmen Zelt als im Freien übernachten wollte.« Er legte die Rechte auf seinen Rücken. »Mein Kreuz schmerzt jedoch zu sehr, als dass ich es länger in einem Sattel aushalte.«

Ingrimmsch schätzte stumm das Gewicht des Mannes. »Ich könnte dich tragen.«

Tungdil schnitt Sirka einen Happen ab. Er hatte im Verlauf der Reise viel Zeit damit verbracht, darüber nachzudenken, welche Lösung es für die heikle Situation gab, in der sich das Geborgene Land befand. Zwar hatte er Lot-Ionan in alles eingeweiht, aber auch mit ihm zusammen gelangten er zu keinem Ergebnis, mit dem er aufrichtig zufrieden gewesen wäre.

Ansonsten bewahrten sie eisernes Schweigen. Nicht einmal Ingrimmsch hatten er und der Magus vollständig ins Vertrauen gezogen. Seit dem Vorfall auf dem Gehöft gab es einen Riss durch ihre Freundschaft, die zwar schon öfter auf die Probe gestellt worden war. Doch dieses Mal schien der Riss sich nicht kitten zu lassen. Selbst Schweigen verbreitete Unwohlsein. »Lass es gut sein, Ingrimmsch. Gönne dem ehrenwerten Magus Ruhe. Es nützt uns nichts, wenn er zerschlagen und kaputt beim Heer angelangt.«

Sirka nahm das Fleisch entgegen und legte es zwischen zwei Scheiben Brot. Sie biss ab und kostete sehr, sehr vorsichtig. »Jetzt weiß ich, warum ich meine Heimat liebe«, sagte sie und würgte mehr, als dass sie schluckte. »Das Fleisch bei uns schmeckt besser als eures.«

»Es wird am Futter liegen, nehme ich an«, grinste Tungdil.

»Mir mundet es«, grummelte Ingrimmsch und machte sich über den Rest des Kaninchens her, nachdem Rodario mit einer knappen Geste bedeutet hatte, dass er nichts mehr wollte. Er saß neben Lot-Ionan und schrieb im Schein einer Kerze Seite um Seite voll.

»Sagt, Sirka, könnt Ihr nicht ein wenig von Eurer Heimat berichten?«, sprach er sie unvermittelt an und tauchte die Feder ins kleine Tintenfässchen. »Wir sehen Euch, wir sahen Eure Soldaten und hörten von den Abenteuern im Geborgenen Land.« Seine Hand mit der Feder vollführte mehrere kreisende Bewegungen. »Aber wie ist es in...?« Er schaute sie gespannt an.

»Letefora?«, vollendete sie den Satz. »Wozu willst du das wissen?«

»Für ein Bühnenstück. Und für meine Neugier«, lachte Rodario. »Exotik macht sich in einem Theaterstück einfach sehr gut. Die Spectatores brennen darauf, mehr über das Jenseitige Land zu erfahren.« Sirkas kahler Schädel glänzte im Schein der Flammen, ihre dunkle Haut betonte das Weiß ihrer Zähne. »Letefora ist eine Stadt, in der viele Rassen leben, von Menschen über Actonta, Ubariu und uns. Die Bauwerke übertreffen alles, was ich bislang im Geborgenen Land gesehen habe. Nicht einmal die der Zwerge reichen heran. Und das ist nicht übertrieben.« Sie sah die Empörung in Ingrimmschs Gesicht. »Schau mich nicht so an. Ich kann nichts dafür, dass es so ist. Ich habe nicht gesagt, dass sie schlechter sind. Sie sind eben...«, sie zuckte mit den Achseln, »kleiner.«

»Wie steht es mit den Monstren und Scheusalen?«, hakte Rodario nach.

»Die sind vermutlich auch größer«, brummte Boindil. »Sie können fliegen, ihre Schreie machen dich taub, und bei manchen genügt der Anblick, um dich zu lähmen«, sagte er übertrieben. Er streifte sich das Fett und den Bratensaft aus dem kurzen Bart. »Wie bei Djerün.«

Sirka nickte. »Es stimmt, Boindil. Es stimmt alles, auch wenn ich nicht weiß, was ein Djerün ist. Unsere Bestien kennen die Vielfalt. Wir haben Phottör... Orks mit Flügeln und andere Wesen, vor denen eure mutigsten Krieger davonrennen würden.«

»Höchstens die Krieger der Menschen«, warf Goda sofort ein und erntete einen lobenden Blick ihres Meisters. »Oder der Elben. Aber niemals die Kinder des Schmieds.«

Bevor sich aus der harmlosen Erzählung ein Streit über den Mut der Zwerge entsponn, warf Tungdil eine Frage ein. Er hatte bisher mit großer Neugier zugehört und an Sirkas dunklen Lippen gehangen. »Wir fanden damals bei unseren Ausflügen nach Norden ins Jenseitige Land eine Rune an der Wand.« Er malte sie in den lockeren Boden zwischen sich und der Untergründigen. »So ungefähr sah sie aus.«

Sirka dachte nach und zeichnete die richtige Version daneben. »Das müsste sie gewesen sein. Es ist ein uralter Wegweiser meines Volkes. Er besagt, dass der Weg zu einem gesicherten Durchgang führt. Wir haben einst das gesamte nördliche Gebirge ausgekundschaftet.«

»Aha!« Ingrimmsch richtete einen abgenagten Knochen gegen sie. »Ihr wolltet das Geborgene Land angreifen.« »Ja«, nickte Sirka. »Aber nachdem wir in Erfahrung brachten, dass es bereits Zwerge an den Toren gab, sahen wir davon ab. Wir nahmen an, dass sich das Land dahinter in euren Händen befand.« Sie sagte es in einem Tonfall, der Lüge wie auch Wahrheit sein mochte. Keiner wurde schlau aus ihren Worten. »Wie äußerst aufschlussreich«, bemerkte Rodario und schrieb weiter. »In Anbetracht der Lage werde ich diese Sache mit der Eroberung vorerst den Spectatores unterschlagen.« Er machte ein wichtiges Gesicht. »Das könnte zu gewissen Verstimmungen führen, die wir nicht benötigen.«

»Falls es stimmt, was sie gesagt hat«, ergänzte Goda und nahm den Nachtstern, um die Klingen an den Eisenkugeln mit einem schmalen Schleifstein zu schärfen. »Sie klang, als wollte sie uns foppen.« Sirka grinste. »Wer weiß? Vielleicht sind unsere Kundschafter noch immer da und warten auf eine Gelegenheit?«

»Ho, sie hat Sinn für Humor. Kennst du den Witz, wo der Ork den Zwerg nach dem Weg fragt?«, erkundigte sich Boindil.

»Wartet einen Augenblick...« Tungdil war der verschollene Zwerg plötzlich wieder in den Sinn gekommen. Als Sirka die Kundschafter der Untergründigen erwähnte, kam ihm eine Lösung für dessen Verschwinden. »Ja, ich kannte einen«, lautete die Antwort.

»Was?« Ingrimmsch schleuderte den Knochen über die Schulter nach hinten in die Dunkelheit. »Was habt ihr denn mit dem Clanzwerg zu schaffen? Ich dachte, er sei ein Dritter und habe sich abgesetzt!« »Ein Dritter? Nein.« Sirka bat um den Wasserschlauch und schwemmte die letzten Reste Kaninchen aus dem Mund. »Er war unseren Kundschaftern gefolgt und hatte sich verirrt. Wir fanden ihn zu spät. Er war völlig abgemagert, faselte etwas von Maschinen und dass er das Geborgene Land davor beschützen müsse. Er starb bald darauf an Entkräftung.«

Tungdil nickte. Es war gut gewesen, der Mutter von Gremdulin Eisenbeiß vom Tod ihres Sohnes zu berichten und keine falschen Hoffnungen in ihr zu wecken. »Was wollten eure Kundschafter am Torweg?« »Schauen, was es Neues gibt.« Sirka legte einen Scheit ins Feuer. »Ob alles in Ordnung ist.« Sie hörten den Hufschlag, der sich ihrem Lager näherte. Eine Blendlaterne schwebte einen Schritt über der Erde und beleuchtete die Straße für Ross und Reiter.

»Ein Bote von Prinz Mallen?«, schätzte Rodario und erhob sich. »Das trifft sich gut. Er kann dem Heer gleich mitteilen, dass wir morgen zu ihm stoßen.« Die Zwerge standen ebenfalls auf, hielten sich kampfbereit. Der Reiter sah das Lagerfeuer und hielt darauf zu. »Vraccas segne euch«, hallte es durch die Nacht. »Aller guten Dinge sind drei, was?«

»Bramdal!« Ingrimmsch fluchte. »Damit ist es sicher«, raunte er Tungdil leise zu. »Er ist ein Spion. Es kann kein Zufall sein, dass er uns ständig über den Weg läuft.«

Der Henker lenkte sein Pferd ins Licht, zügelte es und stieg mithilfe seiner Strickleiter ab. »Es roch einfach zu gut, um vorüberzureiten«, lachte er.

Ingrimmsch hielt das Kaninchengerippe feixend hoch. »Zu spät, Henker. Der Tod ist dir in diesem Fall voraus gewesen. Du kannst weiterreiten.«

Bramdals dunkle Kleider machten es schwer, ihn vor dem Hintergrund zu erkennen. Hilfreich waren seine blonden Bartzöpfe und das helle Gesicht, die sich von der finsteren Umgebung abhoben. »Es scheint, als hätte ich wenig Freunde an diesem Feuer«, sagte er bedächtig. »Aus welchem Grund?«

»Das fragst du?« Ingrimmsch machte einen Schritt vorwärts, Goda folgte ihm. »Du tauchst mir zu oft bei uns auf, du machst Geschäfte mit dem Tod und verhökerst die Leichenteile auch noch. Welcher anständige Zwerg würde so etwas tun?«

Bramdal hakte die Daumen unter seinen Gürtel. »Ich übe den Beruf des Henkers nicht mehr aus, Boindil Zweiklinge. Das sagte ich bereits. Und dass wir uns ständig begegnen, liegt daran, dass wir entweder die gleichen Ziele haben oder die Straße nehmen, die uns an unterschiedliche Ziele führt. Welchen Grund hätte ich, um bei euch aufzutauchen?« »Mein Freund glaubt, du bist ein Spion der Zwergenhasser.« Tungdil betrachtete das Gesicht seines Gegenübers aufmerksam.

»Dann sollte ich wohl meine Waffe ziehen und euch angreifen, wenn dem so wäre.« Bramdal setzte sich ins Gras. »Ich könnte natürlich auch ruhig bleiben und so tun, als ginge mich die Beschuldigung nichts an, um euch in Sicherheit zu wiegen. Später, im Schlaf, könnte ich euch die Kehlen öffnen, um dem Geborgenen Land die größten Helden zu rauben.« Er blickte zu Lot-Ionan. »Habe ich etwas vergessen?«

»Das Aufsitzen und Weiterreiten?«, schlug Ingrimmsch knurrig vor. »Verschwinde, Henker. Wir wollen dich nicht hier haben.«

»Auch nicht, wenn ich Neuigkeiten aus Goldhort ins Heereslager brächte?«

Tungdil stellte sich neben ihn. »Wenn du möchtest, berichte davon und ziehe weiter. Wenn nicht, steige auf und reite davon.« Er wollte den Henker loswerden, weil er um Boindils Beherrschung fürchtete. Bramdal machte ein bedauerndes Gesicht. »So dankst du mir meinen Hinweis, der dich zu den Freien brachte? Du verjagst mich von den Flammen?«

»Nein.« Ingrimmsch baute sich vor ihm auf, den Krähenschnabel locker in den Händen haltend. »Ich verjage dich.«

Bramdal seufzte. »Ich hätte wissen müssen, dass ihr mich nicht freundlich empfangt. Es deutete sich bereits beim letzten Treffen an.« Er stand auf und schritt zu seinem Pferd. »Goldhort sendet Prinz Mallen Gold, um die Ausgaben für das Belagerungsheer zu decken. Und Waffen. Im Gegenzug möchten die Freien ihren Handel auch auf Idoslän ausdehnen und Gespräche mit den größten Städten des Landes führen dürfen.« Er erklomm seinen umgebauten Sattel. »Es erwächst eine neue Freundschaft, würde ich sagen.« Bramdal nickte ihnen von oben herab zu. »Denn man weiß nie, wie lange andere Freundschaften halten.«

Das Pferd trabte an und ritt auf dem Weg entlang nach Südosten. Den Strahl der Laterne sahen sie noch lange, bis er über einen Hügel wanderte und verschwand.

»Endlich.« Ingrimmsch setzte sich auf seinen Platz. Er zog ein zweites Kaninchen hinter dem Felsen hervor und enthäutete es. Von einem Tier wurde er nicht satt. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte sich Rodario selbst und damit die Runde. »Fürchten die Freien, dass die Zwergenstämme ihre Meinung ändern?«

»Es scheint so.« Lot-Ionan blickte zu Tungdil. »Kann es dafür einen Grund geben?«

»Nein. In den Besprechungen habe ich nichts bemerkt, was auf eine Verschlechterung der Beziehungen deutet. Ich kann es mir nicht erklären, was die Suche nach neuem Beistand soll. Das haben sie vorher auch nicht getan.« Tungdil warf sich ins Gras, Sirka gesellte sich zu ihm. »Wissen sie mehr als wir?«

»Wir werden es morgen schon sehen.« Lot-Ionan fröstelte und legte noch mehr Holz in das Feuer. »Verschwenden wir vorerst keine Gedanken mehr daran. Es gibt Wichtigeres. Schlafen wir und ruhen uns aus.« Goda bekam die erste Wache zugeteilt, alle anderen legten sich neben den Flammen nieder. Tungdil brütete noch lange über den Worten des Henkers.


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