Das Geborgene Land, Königreich Gauragar, Porista, 6241. Sonnenzyklus, Sommer.


Tungdil schreckte aus seinem Dösen auf. Er war über den Aufzeichnungen eingeschlafen, während die Nacht über Porista hereingebrochen war.

Mit schmerzendem Rücken erhob er sich und drückte sein Rückgrat durch; es knackte laut, als die Wirbel an ihre Plätze sprangen.

Im Schlaf war ihm kein Einfall gekommen, wie man die Elben prüfen und vor aller Augen einer Gemeinheit überführen konnte. Er hatte nichts gegen sie in der Hand, außer den Warnungen der Untergründigen und einigen seltsamen Beobachtungen in Älandur. Der Elb, den sie im Wald gefunden hatten, lag in einem Gasthaus am Rand der Stadt und bewacht von zehn Kriegern. Seine Anwesenheit blieb sorgfältig verborgen. »Wenn er doch nur zu sich kommen würde«, ärgerte er sich und nahm die Kanne Bier. Diese Versuchung wollte er sich vor dem Zubettgehen vom Hals schaffen. Er ging zum Fenster, öffnete es und kippte den Inhalt mit Schwung hinaus auf das Pflaster. Es platschte laut, die Gefahr war gebannt. »Wenn alles so einfach wäre.« Ein Schatten schwang sich vom Dach zur Öffnung herein und traf ihn gegen die Brust.

Tungdil fiel rücklings zu Boden und prallte mit dem Kopf gegen die Tischkante, Diamanten funkelten vor seinen Augen.

Drei schwarz gekleidete Gestalten sprangen zum Fenster herein. Sie trugen dunkle Tücher vor dem Gesicht und hielten Kurzschwerter in den Händen. Eine sicherte die Tür, die anderen zwei eilten zu Tungdil und hielten seine Arme fest. Eine Klinge näherte sich seiner Kehle.

»Wo ist sie?«, flüsterte eine Frauenstimme.

»Wer?«

»Feuerklinge!«, fauchte sie ihn an.

»He, ihr Schwachköpfe«, sagte der Mann an der Tür und deutete auf die Wand, wo die Axt in ihrem Futteral an einen hervorstehenden Balken gehängt worden war.

»Samusin steht uns bei. Es geht einfacher, als ich gedacht habe«, lachte sie leise. »Ich fürchtete schon, wir müssten uns mit dem verrückten Zwerg und seiner Schülerin auch noch anlegen.« Der Mann neben ihr sprang auf und eilte zur Axt.

Damit zwang er Tungdil zu handeln. Er zog den Kopf zur Seite und schlug die Klinge von sich weg, genau in den ungeschützten Oberschenkel der Frau. Das brachte ihm zwar eine schmale Schnittwunde in der Hand bei, ihr aber ein tiefes Loch im Bein.

»Sie ist mein«, grollte er und zog seinen Dolch. Er hatte schnell erkannt, dass es sich bei den Eindringlichen keinesfalls um Mörder oder geschulte Räuber handelte. Hier waren Anfänger zu Gange, und warum sie ausgerechnet die berühmteste Waffe des Geborgenen Landes stehlen wollten, interessierte ihn brennend. Er schlug der vor Schmerzen schreienden Frau den Knauf des Dolches gegen die Stirn, und sie sackte auf die Dielen. Dann sprang er auf und folgte dem Mann, der sich eben die Axt genommen hatte, und stach ihm von hinten in den Oberschenkel.

Brüllend drehte sich der Mann nach ihm um und schwang die Feuerklinge gegen ihn. Tungdil duckte sich darunter hinweg, und die Schneide fuhr in einen Stützbalken, wo sie stecken blieb.

»Lass den Griff los«, knurrte Tungdil drohend und sprang mit dem Dolch vor, um den Gegner zum Zurückweichen zu bringen.

Der Mann prallte gegen die Kommode und bekam die Klinge in die linke Seite; fluchend brach er zusammen und presste die Hände auf die blutende Wunde.

Tungdil zog die Axt mit einem Ruck aus dem Holz und wirbelte sie in seinen Händen. Lauernd bewegte er sich auf den Letzten der Maskierten an der Tür zu. »So. Du wirst mir erzählen, wer ihr seid und wie ihr auf den unsinnigen Gedanken kommen konntet, mir die Feuerklinge rauben zu wollen.«

Der Mann reckte sein Kurzschwert gegen den Zwerg, die Schneide zitterte. »Zurück!«

»Ganz im Gegenteil.« Tungdil täuschte einen Hieb mit der Axt vor, welchem der Mann auszuweichen versuchte, und trat ihm dann mit Wucht in den Schritt. Stöhnend sank er auf die Knie. Tungdil setzte ihm die schwere Klinge an den Nacken, damit er den tödlichen Druck spürte. »Also?«

»Töte uns, und du wirst Lot-Ionan niemals mehr wieder sehen«, sagte die Frau und zog sich am Stützbalken in die Höhe. Ächzend ließ sie sich auf einen Stuhl fallen und begutachtete die Wunde in ihrem Schenkel.

»Ihr gehört zu denen, die ihn gestohlen haben?«

»Ich habe gleich gesagt, dass es eine dumme Idee ist, dem Zwerg die Axt zu klauen«, stöhnte der Mann, der den Stich in den Leib bekommen hatte. »Holt einen Medicus! Ich verblute!«

»Niemand verlässt dieses Zimmer, bevor ich nicht weiß, wer ihr seid.« Tungdil stand drohend an der Tür. Die Frau zog das Tuch von ihrem Gesicht und verband damit den Schnitt. Sie war nicht älter als achtzehn Zyklen, unter ihrer Kopfbedeckung spitzte eine hellbraune Strähne hervor. »Ich bin Risava von Panok, das sind Dergard und Lomostin. Wir waren Famuli von Nöd'onn und versuchen seit seinem Tod und dem Erlöschen der magischen Felder einen Weg zu finden, die Magie zurück ins Geborgene Land zu bringen«, eröffnete sie dem erstaunten Zwerg. Sie stand auf und hinkte zu dem verletzten Mann am Boden.

»Was wollt ihr dann mit Lot-Ionans Statue, wenn ihr Nöd'onn gefolgt seid?«

Risava schaute zu den Männern, die ihre Tücher ebenfalls abnahmen. »Wir wollten versuchen, den Zauber von ihm zu nehmen. Er kann uns unterrichten. Unsere Heimat benötigt die Zauberkunst, damit wir diesen Wesen, die auf der Suche nach dem Stein umherziehen, Einhalt gebieten können.« Ihr Gesicht verfinsterte sich. »Hättet ihr damals auf Nöd'onn gehört, wäre es nicht dazu gekommen.«

Tungdil glaubte an einen Scherz. »Andökai hat gesagt, dass die Versteinerung unumkehrbar wäre.« »Für Andokai vielleicht«, sagte Risava verächtlich.

»Vorsicht«, warnte Lomostin. »Verrate ihm nicht zu viel.«

»Falsch.« Tungdil streichelte seine Axt. »Verrate ihm alles. Das ist besser für eure Gesundheit. Zaubern kann man zur Not auch ohne einen Fuß.«

Risava wich zurück und beriet sich leise mit ihren Freunden. Tungdil ließ sie dabei nicht aus den Augen und hielt sich bereit, auf jeglichen Fluchtversuch zu reagieren.

Schließlich wandte sie sich zu ihm. »Also gut, ich erkläre es dir. Andokai besaß nicht das Wissen, das wir haben. Wir haben näm lieh die letzten Zyklen damit verbracht, Nudins verborgene Bibliothek zu studieren und Zauber jeglicher Art zu erlernen. In der Theorie. Aber uns fehlt die magische Kraft, den Formeln Leben zu geben.« Risava zeigte auf die Axt. »Wir dachten, dass wir aus der Feuerklinge genug ableiten könnten, um Lot-Ionan von dem Fluch zu befreien. Er wüsste, was zu tun ist.«

»Er würde euch niemals ausbilden.« Tungdil wagte nicht zu glauben, was sie ihm erzählte. Er konnte nicht erkennen, ob sie ihn belog oder nicht.

»Nöd'onn oder Nudin, es spielt keine Rolle mehr. Er ist tot«, sagte Dergard, der sich noch immer den schmerzenden Schritt hielt. »Wir haben lange genug um ihn getrauert, aber verstanden, dass seine Ansichten von dem Dämon in ihm verzerrt wurden. Er besaß keinen freien Willen mehr.« Er schaute zu Risava. »Auch sie wird es verstehen. Im Herzen haben wir uns schon längst von Nöd'onn losgesagt. Wie sie richtig erwähnte: Wir besitzen Nudins Wissen und möchten sein Vermächtnis fortführen, nicht das des Verräters Nöd'onn. Lot-Ionan würde uns ausbilden, da bin ich mir sicher.«

»Mit dem Raub der Statue habt ihr euch keinen guten Dienst erwiesen.« Tungdil nahm die Axt vom Nacken des Famulus. »Ihr hättet euch König Bruron und mir offenbaren sollen.«

»Er würde uns ebenso wenig glauben wie die Menschen des Geborgenen Landes oder du.« Risava stützte sich ab und stand vorsichtig auf. »Wir wollten Lot-Ionan erwecken. Ihm glauben die Menschen, Zwerge und Elben. Es hätte sich ein Weg gefunden, uns als seine neuen Famuli zu präsentieren, ohne dass ein Makel auf uns gefallen wäre.«

Tungdil schritt an ihm vorbei zu dem Verletzten und überprüfte seine Wunden. »Der Stich im Bein ist nicht schlimm, und deine linke Seite wird verheilen«, sagte er nach einer knappen Begutachtung. »Wir reinigen und vernähen sie, danach solltest du ein paar Umläufe ruhig im Bett bleiben, bis das Fleisch verwachsen ist.« Er blickte Risava an. »Du wirst mich und meine Freunde zur Statue bringen. Du bekommst die Feuerklinge von mir und darfst versuchen, ihn zu erwecken.« Seine Augen nahmen einen drohenden Ausdruck an. »Solltest du einen Verrat planen, werden wir dich und deine Freunde töten. Im Augenblick seid ihr nutzlos für das Geborgene Land, also spielt es keine Rolle, ob es euch gibt oder nicht.«

»Es ist vergebliche Mühe«, sagte Lomostin gepresst. »Ich hielt die Axt in den Händen, und ich spürte viel zu wenig Magie darin. Sie taugt nicht für unser Vorhaben. Die Quelle...«

Risava beugte sich rasch nach vorn und berührte wie aus Versehen seine Wunde; der Rest des Satzes ging in einem Schrei unter.

Tungdil genügte die Andeutung. Er packte sie beim Arm und drehte ihn hart zur Seite. »Ihr wisst von der Quelle?«

Risava starrte ihn trotzig an und schwieg beharrlich.

»Sag es ihm«, meinte Dergard; er atmete tief ein und aus, um das Ziehen in seinen Eingeweiden endlich zu vertreiben. »Vielleicht weiß er einen Rat. Es geht um das Geborgene Land, nicht mehr nur um unsere Zukunft als Famuli.«

»Was sollst du mir sagen?«, grollte Tungdil und verstärkte seinen Griff. Der Unterarmknochen würde bald brechen. »Ohne eine Hand wird das Zaubern schwierig.«

Sie biss die Zähne zusammen, Tränen liefen ihr die Wangen hinab. »Ich würde dich mit einem einzigen Spruch in einen Haufen Asche verwandeln«, ächzte sie.

»Du kannst es aber nicht«, erwiderte er und drehte ein kleines bisschen weiter; es knirschte leise. »Sprich oder bewundere, wie die Knochen von innen durch deine Haut stechen.«

Risava stöhnte. »Eine neue Quelle«, haspelte sie, und er ließ ihren Arm los. Sie krümmte sich zusammen, hielt den Arm gegen den Oberkörper gepresst. »Wir haben eine neue Quelle ausgemacht, doch sie liegt in Weyurn. Im See. Es ist zu tief, um dorthin zu gelangen.«

Tungdil fühlte eine riesige Erleichterung, eine Hochstimmung, wie er sie seit langem nicht mehr empfunden hatte. Es gab eine Lösung für die Bedrohung durch die Unauslöschlichen in Gestalt von Lot-Ionan, der tauchenden Insel und den Famuli. Alle drei zusammen ergaben die Antwort auf seine Gebete an Vraccas. Doch er zwang sich dazu, sich nichts anmerken zu lassen. Wenn sie wirklich Nudins Aufzeichnungen besaßen und Formeln gelernt hatten, durften sie nicht erfahren, dass es eine Möglichkeit gab, auf den Grund zu gelangen. Erst wenn Lot-Ionan lebte und er ein Urteil über sie fällte... »Wir werden sehen, ob uns dazu etwas einfällt«, sagte er ruhig. »Zuerst bringt ihr mich und meine Freunde zu der Statue. Lot-Ionan wird von nun an in meiner Obhut bleiben.«

»Was kann dir denn schon einfallen?«, hakte Risava nach. »Das Wasser ist, wenn die Fischer Recht haben, die wir fragten, viele hundert Schritt tief. Kein Taucher gelangt bis dahin, geschweige denn wieder hinauf.« »Mein Volk hat schon ganz andere Dinge geleistet.« Er lächelte sie an. »Und jetzt holen wir einige meiner Freunde und bringen die Statue in Sicherheit.« Tungdil öffnete die Tür, in einer Hand nach wie vor die Axt haltend.

Dergard deutete auf Lomostin. »Und was ist mit ihm?«

Tungdil bedachte ihn mit einem aufmunternden Blick. »Ein Medicus wird sich um ihn kümmern. Sobald wir die Statue haben.« Er scheuchte den Mann und die Frau hinaus, schloss die Tür und versperrte sie von außen mit einer Fahnenstange, die er von der Wand nahm und unter dem Griff verkeilte.

Die Vorstellung lief ausgezeichnet.

Die Mächtigen des Geborgenen Landes saßen im Curiosum und verfolgten das Treiben auf der Bühne, das aus der Feder Tassias stammte, mit vornehmem Lächeln, während die weniger Mächtigen schallend lachten. Tassia nahm sie mit ihrer Darstellung gefangen, ihre Reize und ihr Talent mischten sich aufs Unwiderstehlichste. Rodario, der in dem Akt nicht gebraucht wurde, betrachtete die Gesichter der Zuschauer sowohl glücklich als auch neidvoll durch ein Loch in der Dekoration. Tassia war sein Geschöpf, das inzwischen jedoch mehr Aufmerksamkeit errang als er. Sie lief ihm den Rang ab, zuerst bei seiner eigenen Truppe, jetzt bei den geschätzten Spectatores.

»Schau dir das an, Furgas«, flüsterte er. »Die Männer lieben sie, und die Frauen bewundern sie.« »Du hast dir die Gegenspielerin selbst erschaffen«, gab der Magister leise zurück und prüfte die Bändchen, mit denen er die Rauchfarben, die Flammen, einfach alles, was mit besonderen Effekten verbunden war, kontrollierte.

Er hatte die restlichen Umläufe damit zugebracht, die letzten kleinen Fehler in den Konstruktionen zu beheben. Die Zeit war nicht spurlos an seinen Erfindungen vorüber gegangen. Aber nun lief alles im wahrsten Sinn des Wortes wie geschmiert. Das Bühnenbild wechselte von selbst, die Sonne erhob sich und sank wieder, Bäume neigten sich im Wind, und er hatte sogar künstlichen Waldgeruch geschaffen, um die Illusion vollkommen zu machen.

»Habe ich schon gesagt, wie sehr ich mich freue, dass du wieder bei uns bist?«, meinte Rodario gedämpft. »Weil ich alles in Stand gesetzt habe?«, grinste sein Freund.

Rodario wandte sich zu ihm. »Nicht nur deswegen«, erwiderte er lächelnd und klopfte ihm auf die Schulter. »Ich bin sehr froh, den Dritten entkommen zu sein. Meine Schuld dir gegenüber ist unendlich.« Furgas betätigte auf das Stichwort von der Bühne hin das gelbe Bändchen, und über Tassia wurde es dunkel. Das Licht nahm ab, die Sonne sank, und der Nachthimmel zog auf, was von den Zuschauern mit erstaunten Rufen zur Kenntnis genommen wurde.

Der Schauspieler lachte auf. »Du bist auf dem besten Weg, sie abzuarbeiten.«

Die Seitentür flog auf, und Tungdil betrat den kleinen Raum hinter der Bühne. »Oh, tut mir Leid. Ich dachte, es wäre der Nebeneingang.«

»Ist es auch. Für die Schauspieler«, zischte Rodario. »Sei leise! Du bist viel zu spät für die Vorstellung. Platz haben wir auch keinen mehr, aber du kannst dich in den Gang setzen. Ich erlaube es dir«, sagte er huldvoll. »Es wird gleich wieder Platz sein. Ich brauche Ingrimmsch.« Er schob Rodario zur Seite und schaute durch das Loch, um nach seinem Freund zu suchen.

»Was ist passiert?«, fragte Furgas aufgeschreckt. »Sind die Monstren etwa aufgetaucht?«

»Nein. Endlich ist Gutes geschehen«, raunte er glücklich. »Bei mir sind drei Famuli aufgetaucht, die Lot-Ionans Statue gestohlen und mir erklärt haben, dass es einen Weg gibt, ihn zu einem Menschen zu verwandeln. Einer liegt verletzt auf meinem Zimmer, mit den beiden übrigen gehe ich die Statue abholen.«

»Bei Palandiell! Kann es wahr sein?« Rodario beugte sich neben den Zwerg. »Soll ich die Vorstellung unterbrechen?«

»Nein! Ich will erst Gewissheit, dass sie die Statue haben, und sie in meinen Besitz bekommen, bevor wir die anderen in Kenntnis setzen.« Tungdil strahlte ihn an. »Und sie wissen, wo sich die Quelle befindet.« »Welche Quelle?« Furgas zog am roten Bändchen und schuf aufwallenden Nebel auf der Bühne. »Die Quelle?« »Genau die magische Quelle, aus der die Ungeheuer ihre Kraft ziehen.« Er eilte zu dem Durchgang, der ihn zu den Spectatores führte. »Später erzähle ich euch mehr«, sagte er aufgeregt. »Jetzt muss es schnell gehen.« Er nickte ihnen zu. »Es gibt Hoffnung, Freunde. Große Hoffnung.« Damit verschwand er.

Rodario beobachtete durch das Loch, wie er sich Ingrimmsch und Goda näherte, gleich darauf verließen die drei das Zelt. »Was sagt man dazu?«, lächelte er. »Da fällt man von einem bedeutenden Augenblick in den nächsten. Ich habe gar nicht so viel Zeit, wie ich Stücke zum Aufführen hätte.« Er strich sich über das Kinnbärtchen. »Ich gründe einfach noch ein Curiosum«, überlegte er. »Ich übergebe Tassia die Leitung. Was hältst du davon?« »Sehr pfiffig, Rodario«, sagte Furgas. »Das nennt man einen Gegenspieler wegloben.«

Rodario nickte. »Exakt. Und sie wird mir dafür auf ewig dankbar sein. Liebesakte in Hülle und Fülle, Nächte der Leidenschaft, wann immer ich an ihre Pforte klopfe.« Er hörte sein Stichwort, rückte die Garderobe zurecht und zwinkerte Furgas zu. »Ich könnte mir selbst auf die Schulter klopfen.« Dann trat er durch den Spalt im Vorhang auf die Bühne.

Es folgte eine Abwandlung der Szene, als Nolik ihn damals im Wohnwagen überfallen hatte. Natürlich vergrößerte sich hier auf der Bühne die Anzahl der Gegner, und das Ganze geriet zu einem heldenhafteren Kampf um die Liebe zu Tassia und um das wertvolle Geschmeide. Letztlich lagen die Angreifer am Boden oder waren in die Flucht geschlagen.

»So triumphieren ein schnelles Schwert und die Liebe über jedes Unbill«, sagte Rodario zu den Spectatores. Tassia stellte sich an seine Seite und hielt das Geschmeide hoch. »Und die Halskette entschädigt mich für das, was ich erdulden musste.« Die dünnen Goldplättchen schimmerten warm; der geschliffene Bergkristall brach das Licht der falschen Bühnengestirne und sandte sein Funkeln auf die Gesichter der Menschen, Elben und Zwerge. Tassia schmiegte sich an Rodario. »Was ist es, das du mir schenkst, weil ich bei dir sicherlich viel erdulden werde?«, fragte sie und klimperte mit den Wimpern.

»Der Diamant!«, ertönte ein Ruf aus den Reihen der Spectatores.

»Nein, keinen Diamanten«, nahm Rodario den Einwurf auf. »Sondern mein Herz...«

Gandogar kam auf die Bühne gesprungen, seine Rechte schloss sich um den Anhänger. »Licht«, rief er laut. »Hochwohlgeborner Großkönig aller Zwergenstämme des Geborgenen Landes, ich weiß, dass Euer Volk von Schmuck begeistert ist und ein so schönes Stück Eure Leidenschaft entbrennen lässt, aber nehmt zur Kenntnis, dass Ihr gerade mein Schauspiel ruiniert«, sagte Rodario freundlich, doch ungehalten. Er schnappte nach dem Anhänger. »Setzt Euch wieder auf Euren Platz und lasst uns den letzten Akt zu Ende spielen. Auf diesen Brettern bin ich der Kaiser, und Ihr seid so freundlich und beugt Euch dieser Machtverteilung.«

Gandogar entriss ihm den Schmuck erneut. »Das ist einer der Diamanten, Schauspieler«, grollte er. »Hast du nicht verstanden, was ich sagte?«

Rodario lachte. »Da ist Euer Kennerauge getäuscht worden, hochwohlgeborener Großkönig.« Schneller als der Zwerg reagieren konnte, umfasste er die Kette und zog den Anhänger wieder zu sich. »Es ist ein Anhänger aus poliertem, geschliffenem Bergkristall, kein Diamant.« Er ließ ihn hin und her pendeln. »Eine Fälschung, hochwohlgeborener Großkönig. Ich würde doch niemals den echten Stein als Requisit hernehmen.« »Ich bin der König der Vierten, mein Stamm besteht aus den Nachfahren des besten Gemmenschleifers unter den Kindern des Schmiedes, und wenn einer etwas von Edelsteinen versteht, bin ich das wohl und nicht ein Schauspieler«, gab er so wütend zurück, dass der Bart bebte. »Gib den Diamanten her. Auf der Stelle!« Tassia wollte sich einmischen, da trat ein gewaltiges Wesen von der anderen Seite auf die Bühne. Es überragte Zwerg und Mensch, dicke Muskelstränge zuckten unter der grau und grün gefleckten Haut. Abgesehen von dem Lendenschurz und den Stiefeln war es nackt, und um die Unterarme trug es weiße Ketten geschlungen. Das Zerrbild seines Elbengesichts richtete sich auf den Anhänger, die Augen glommen grün auf. »Gib mir die Kette!«

Alle im Zelt starrten den unerwarteten Mitspieler an.

König Bruron klatschte als Erster. »Was für eine gelungene Darstellung!«, rief er laut. »Es sieht aus, wie es in den Berichten von Tungdil und den Soldaten geschildert wurde.«

»Ich finde es geschmacklos«, empörte sich Isika.

Rodario und Tassia wichen zurück, der Mime hob sein Schwert. »Lauft, Gandogar!«, sagte er heiser, das Grauen drückte ihm die Kehle zu. Hastig reichte er ihm den Anhänger. »Rettet den letzten Stein vor den Geschöpfen Tions.«

Dann brach heilloses Durcheinander im Zelt aus.

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