XXI


Das Jenseitige Land, östlich der Stadt Letefora vor der Schwarzen Schlucht, 6241. Sonnenzyklus, Frühherbst.


Sirka stand vor der schützenden Kugel, eine Hand hatte sie gegen die glänzende Hülle gelegt. Sie spürte das Kribbeln in den Fingern, das von der Energie stammte.

Auf der anderen Seite sah sie den Kopf des Kordrion, der sich in der Schlucht zur Ruhe gelegt hatte und sie aus seinen oberen Augen betrachtete. Der hässliche Schädel ruhte auf den Vorderklauen; ab und zu zog er sich eine der Ubariu-Leichen heran und verschlang sie genüsslich, dann nahm er wieder seine alte Position ein. Und verharrte.

Ingrimmsch trat neben sie. »Er wartet, dass die Barriere Schwäche zeigt.«

»Er und Tausende andere«, sagte Sirka traurig. »Ich weiß, dass es keine Möglichkeit gibt, die Sperre für wenige Augenblicke aufzulösen, um nach Tungdil zu suchen. Der Kordrion würde sich sofort befreien. Einer von ihnen ist schon schlimm genug.«

Ingrimmsch betrachtete ihre Züge. »Du stehst schon seit drei Umläufen hier. Du hast kaum etwas getrunken und nichts gegessen. Komm ins Lager«, bat er sie. »Der Gelehrte wird nicht wollen, dass du dich seinetwegen zu Tode hungerst.« Er wischte eine Träne von seinem Gesicht.

Sie schluckte. »Ich komme«, lenkte sie ein und wandte sich um.

Über der Senke flatterten die Ubariu-Banner. Die Verstärkung war eingetroffen und hatte ein vorübergehendes Lager errichtet, um die Verletzten zu versorgen und den Bestien zu folgen, denen die Flucht gelungen war. »Sie haben gesagt, dass der Kordrion in die Berge geflüchtet sei«, sagte er zu ihr unterwegs, um das Schweigen zu brechen und sie von dem Schmerz abzulenken. Und von seinem eigenen.

»Glaubst du, dass er tot ist?« »Wen meinst du?« »Tungdil.«

Ingrimmsch schöpfte Luft und bildete sich ein, dass es ihm schwerer fiel als sonst. Er verließ sich auf seine Zwergennatur, die mit dem Gift fertig werden würde. Da es ihn nicht auf der Stelle umgebracht hatte, würde es sein Ziel auch nicht später erreichen. »Mein Verstand müsste ja sagen. Von den zwanzigtausend Kriegern sind gerade einmal vierhundert am Leben geblieben.« Er rang um seine Fassung. »Aber ich habe seinen Leichnam nicht mit meinen eigenen Augen gesehen. Und niemand hat mir sagen können, wie er gestorben ist. Also gebe ich einen Orkfurz auf meinen Verstand. Ich sage, dass er noch lebt. Er mäht sich durch die Reihen der Bestien und sucht sich einen Ausgang. Er wird die Schlucht vom Bösen befreien und nicht eher aufhören, bis sie alle gefallen sind. Eines Umlaufs wird er vor uns stehen. Und wenn es fünfhundert Zyklen dauert.« Eine neuerliche Träne rann durch seinen Bart. »Diese lange Wartezeit ist mir nicht vergönnt, Ingrimmsch«, sagte Sirka mit erstickter Stimme. »Wenn er zurückkommt und dich nach mir fragt, dann...« Sie weinte.

Ingrimmsch stand zuerst steif wie ein Amboss neben ihr, dann überwand er sich und nahm sie in die Arme. Ihre und seine Tränen mischten sich, die Qual verband die Untergründige und den Zwerg.

»Sage ihm«, bat sie leise, »dass ich keinen anderen Mann mehr nach ihm erwählte. Auch wenn es nicht die Art meines Volkes ist. Ich weiß, dass ich niemals mehr einen Gefährten wie ihn an meiner Seite haben werde.« Sie ließ ihn los und trocknete ihre Tränen mit dem Ärmelaufschlag.

»Ich werde es ihm sagen«, versprach er ihr rau.

Schweigend gingen sie in das Gemeinschaftszelt, wo Lot-Ionan, Goda, Rodario und die Gemahlin des Stadtkönigs warteten.

Ihnen gegenüber saß ein von Kopf bis Fuß verhüllter Acront, der Kopf lag hinter einem netzartigen Stoff verborgen. Sein Gewand glich dem des ubarischen Runenmeisters.

Die Frau des Herrschers schaute zu Sirka und sagte etwas. »Sie haben auf mich gewartet«, übersetzte sie. »Der Acront möchte mit Goda über die Zukunft sprechen.«

Ingrimmsch betrachtete den Berg aus Stoff argwöhnisch. »Was soll es da zu besprechen geben?« Eine Hitzewelle lief durch seinen Leib und trieb ihm den Schweiß aus den Poren. Sein Körper schwitzte das Gift aus. Das war gut.

Der Acront erhob seine Stimme, die Gemahlin übersetzte die unheimlichen Geräusche, und Sirka wiederum gab sie in der Sprache des Geborgenen Landes wieder.

»Er sagt, dass die Ubariu noch keinen neuen oberen Runenmeister haben. Es käme dir zu, Goda, so lange in Letefora zu bleiben und über das Artefakt zu wachen, bis die Ubariu einen Nachfolger aus ihrer Mitte gewählt haben und er die Ausbildung durchlaufen hat. Er hat kleine, winzige Risse in der Kugel um die Schwarze Schlucht entdeckt, weil etwas den Diamanten verunreinigt hat. Etwas aus dem Geborgenen Land.« Sie wartete, bis ihr die Herrschersfrau weitere Worte des Acronten übermittelte. »Deswegen ist es unerlässlich, dass jemand Wache hält, um den Stein bei Bedarf zu stärken. Es wäre nur für die Dauer von...«, Sirka rechnete um, »vier Zyklen. Danach dürfte sie wieder zurück in ihre Heimat.«

»Und was ist, wenn sie nicht möchte?«, wollte Ingrimmsch wissen.

»Ihr dürft natürlich gehen. Aber denkt daran, dass ein Bruch in der Sphäre sehr wohl großes Unheil für das Geborgene Land bedeutet«, übersetzte Sirka. »Es wäre eben nur für den Übergang. Alle Wünsche werden erfüllt, es wird Goda an nichts mangeln. Und sie wird für ihren Dienst entlohnt.«

Goda saß verunsichert neben ihrem Meister. »Ich bin keine Maga«, sagte sie.

»Doch, das bist du«, sagte Lot-Ionan, der seinen verletzten Arm verbunden in einer Schlinge trug. »Du hast zwar noch keine Ausbildung erhalten, aber in deinem Inneren bist du eine Maga.«

»Es ehrt mich, dass Ihr so sprecht, ehrenwerter Lot-Ionan. Aber im Augenblick bin ich nicht einmal eine Famula.« Goda war unglücklich. »Was könnte ich ausrichten ohne das immense Wissen von Lot-Ionan?« Der Acront sprach wieder.

»Er sagt, du bist die Einzige, welche den Diamanten und das Artefakt berühren darf. Du bist mit den beiden verbunden und un erlässlich. Sollte sich irgendetwas an dem Artefakt ereignen, das zum Zusammenbruch des Schutzes führt, wäre niemand in der Lage, ihn wieder zu errichten«, lieh ihm Sirka ihre Stimme. »Er bittet dich um vier Zyklen deiner Anwesenheit.«

Goda schaute zu Ingrimmsch, aber der schüttelte den Kopf, dass der kurze schwarze Zopf hin und her tanzte. »Nein, es ist allein deine Entscheidung. Aber wenn du bleiben möchtest, werde ich nicht von deiner Seite weichen«, versprach er ihr. »Ich werde dich niemals wieder allein lassen. Und wer weiß, vielleicht kommt der Gelehrte zurück. Dann soll er wenigstens zwei bekannte Gesichter sehen«, grinste er.

»Dann ist es abgemacht«, willigte Goda ein, wobei man ihr ansah, dass es ihr nicht leicht fiel. »Ich bleibe, bis die Ubariu einen neuen Runenmeister haben.«

Der Acront verneigte sich, seine violetten Augen leuchteten hinter dem Stoff auf. Dann erhob er sich und verließ gemeinsam mit der Herrschergattin das Zelt. Er hatte alles gesagt, was wichtig war.

Rodario schaute ihm nach. »Das bedeutet dann wohl, dass auch er weder seelenrein noch unschuldig ist«, stellte er fest. Er zog den Verband um seinen Oberschenkel zurecht. »Was mich angeht, liebe Freunde, nehmt es mir nicht übel, aber ich ziehe nach ein paar Umläufen wieder ins Geborgene Land. Jemand muss denen sagen, was sich ereignet hat und dass wir alle in Sicherheit sind. Jedenfalls bis zu zum nächsten Abenteuer«, fügte er hinzu und strich sich über sein Kinnbärtchen. Er freute sich darauf, Tassia in die Arme zu schließen und seine Heldengeschichten zum Besten zu geben. »Ich sage euch, die Spectatores werden meine Zelte stürmen, um zu erfahren, was sich hier zugetragen hat.«

Ingrimmsch hob die Augenbrauen. »Zelte, Unglaublicher? Seit wann besitzt du mehrere?«

»Noch nicht, lieber Boindil, noch nicht. Aber es wird Zeit, aus meiner kleinen Wandertruppe ein Schauspielerimperium zu formen, das im gesamten Land vertreten ist.« Er nickte Goda zu. »Ich komme in regelmäßigen Abständen nach Letefora, um nach Neuigkeiten zu fragen, einverstanden?«

»Du wirst dich verirren und bei den Monstren landen«, neckte ihn der Krieger, der sich den Schweiß auf der Stirn mit dem Handrücken abwischte.

Der Hinweis beunruhigte Rodario in der Tat. »Mh, da werde ich mir was Hübsches einfallen lassen müssen, um die Strecke unbeschadet zu überstehen. Vielleicht nutze ich den geheimen Weg, diesen rätselhaften Pass, der unbemerkt ins Geborgene Land führt.« Er erhob sich. »Die Zelte werden morgen abgebrochen, wir kehren nach Letefora zurück, wurde uns gesagt. Und ich hoffe sehr, dass es da einige Eroberungen zu machen gibt. Es sind sehr hübsche Frauen auf den Straßen unterwegs.« Er hob grüßend die Hand und verließ die Unterkunft. »Auch ich werde das Jenseitige Land verlassen«, sagte der Magus zu den drei Zwergen. »Ich habe so eine Ahnung, dass ich zu Hause gebraucht werde. Es ist an der Zeit, neue Famuli zu suchen und die hohe Kunst der Magie im Geborgenen Land zu verbreiten.« Als er sich bewegte, fühlte er wieder einen Stich in seinem Rücken. Er dachte, dass er Nudins Silhouette neben dem Ausgang stehen gesehen hätte, aber die schwarzen Umrisse waren gleich wieder verschwunden. »Es wird nicht leicht sein, die magische Quelle auf dem Grund des Sees zu nutzen, aber es wird gehen. Tungdils Gedanke, künstliche Tauchglocken aus Blech zu formen, war sehr gut.« Goda lächelte. »Das Geborgene Land wird froh sein, wenn Ihr Eueren Beistand bringt. Werde ich in vier Zyklen als Euere Famula aufgenommen?«

Er strich ihr über ihren blonden Schopf. »Wer weiß, was du in vier Zyklen beherrschst?«, deutete er an. »Vielleicht entdeckst eine eigene Form der Magie? Ich weiß nichts über die Art der Ubariu, Magie zu nutzen. Du wirst mir in dieser Hinsicht bald voraus sein. Die Wege der Magie sind unergründlich, selbst für einen Magus wie mich. Sie überrascht gerne. Ich kann dir nur raten, sparsam mit deinen Kräften umzugehen.« Er stand auf und reichte ihnen der Reihe nach die Hand. »Wir sehen uns gewiss wieder«, verabschiedete er sich. »Und wir sehen auch Tungdil wieder. Das fühle ich in meiner alten Seele, und deswegen bin ich nicht betrübt.« Dabei richtete er die hellblauen Augen auf Sirka. »Du wirst ihn noch zu deinen Lebzeiten zu Gesicht bekommen. Verzage nicht, sondern freue dich auf den Sonnenaufgang, an dem er aus der Schlucht tritt und zu dir kommt.« Er nickte ihr zu und ging.

Auch Sirka verabschiedete sich. Boindil ließ sie gehen, auch wenn er den Witz nicht zu Ende erzählt hatte. Es war nicht der passende Zeitpunkt für Scherze dieser Art. Die beiden Zwerge waren alleine.

»Weißt du, was mir Sorge bereitet?«, sprach Ingrimmsch nachdenklich, nachdem sich der Eingang geschlossen hatte und die Schritte verklungen waren. »Dass das Artefakt Lot-Ionan abgelehnt hat.«

»Nun, wenn einer seelenrein ist, dann ja wohl der ehrenwerte Lot-Ionan«, verteidigte Goda ihn. »Und wer verlangt von einem Magus, dass er keusch lebt? Jetzt tut er solche Dinge sicherlich nicht mehr, aber er weiß bestimmt, was er alles getan hat, als er jung war...« Sie nahm seine Hand. »Er ist ein guter Mensch.« Ingrimmsch überlegte. »Ja, du hast Recht«, ließ er sich überreden. Dann nahm sein Gesicht einen erschrockenen Ausdruck an. »Du weißt, was das für unseren Ehernen Bund bedeutet?« »Wir werden noch vier Zyklen warten müssen.« Er seufzte. »Das wird hart. Diamantenhart.« Goda lachte. »Du kannst mich in der Zeit zur besten Kriegerin ausbilden, die es jemals im Geborgenen und Jenseitigen Land gegeben hat. Den Lohn für deine Mühe und deine Enthaltsamkeit wirst du in vier Zyklen erhalten.« Sie küsste ihn lange. »Und das ist uns nicht verboten«, lächelte sie ihn an. Flüchtig dachte sie an den Zweikampf, den sie ihrer toten Urgroßmuhme mit ihm geschworen hatte. Er rückte in immer weitere Ferne.

Ingrimmsch berührte ihre Wange, den hellen, dünnen Flaum. »Das werden die schönsten und furchtbarsten vier Zyklen, die ich durchleben muss«, meinte er feixend. »Vraccas hasst mich aus irgendeinem Grunde.« Er gab ihr einen Kuss und wurde wieder ernster. »Ich bete täglich zu unserem Schöpfer, dass er Tungdil vor allen Schrecken bewahrt.« Er stand auf und schritt zum Ausgang des Zeltes, öffnete ihn und schaute auf die Schwarze Schlucht, die von dem schützenden Glanz umspielt wurde. »Wo er wohl sein mag? Und was er tut, so allein zwischen den Ausgeburten der fremden Götter?« Wieder wischte er Schweiß weg.

Goda stellte sich neben ihn und nahm seine rechte Hand. Sie konnte ihm keine Antwort geben, und schon gar nicht teilte sie seine Zuversicht, was Tungdils Schicksal anging. Sie hielt ihn für tot. Aussprechen würde sie es nicht.

Schweigend betrachteten sie die schillernde Sphäre, hinter der Hoffnung und Untergang verborgen lagen. Das eine gab es nicht ohne das andere.

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