Das Geborgene Land, Nordosten des Braunen Gebirges, Im Reich der Vierten, 6241. Sonnenzyklus, Spätsommer.
Tandibur Schachtstolz aus dem Clan der Schachtstolzens eilte auf den langen Basaltplanken über die unzähligen Gräben, die vor dem Hohlweg ins Geborgene Land angelegt worden waren, nach vorn zur Silberfeste. Jeder einzelne Graben war sieben Schritte lang und zwanzig Schritte tief, aus den Wänden standen messerscharfe Kanten hervor, die jeden, der hineinfiel, aufschlitzte; selbst die Ringe von Kettenhemden wurden durchtrennt. Tandibur wandte den Kopf nach hinten. Im Anschluss an die Gräben und in seinem Rücken versprach die gewaltige Goldfeste jedem Eroberer Widerstand und stemmte sich mit unüberwindbaren goldfarbenen Mauern gegen einen Angriff. Steinmetzen hatten ihnen die Form von aufrecht stehenden Speeren verliehen; hier und da funkelten Edelsteine auf, die dem Bauwerk einen verschwenderischen Glanz verliehen. Dreißig Schritte ragten die Wände empor, dahinter erhob sich der Bergfried in Gestalt eines fünfzig Schritte hohen Zwerges. Der grimmig gestaltete Kopf war nach allen Seiten drehbar; bei Bedarf wurde er mit der Kraft von Ponys und Ketten bewegt. Auf der steinernen Helmspitze, in den Augen, in den Nasenlöchern und im Mund standen Wächter und Kriegsmaschinen bereit. Bislang war noch kein Scheusal bis vor ihre Tore gelangt, die Katapulte hatten niemals feuern müssen.
Das drohte sich an diesem Umlauf zu ändern.
»Los, schneller!«, spornte er die einhundert Krieger an, die ihm folgten und die er zur Verstärkung der Verteidiger in die vorgelagerte Feste führte.
Tandibur drängte nicht umsonst. Es stand schlecht um die Silberfeste. Sie trug ihren Namen wegen des silbrig schimmernden Felsens, aus dem sie geschlagen worden war. Gnomensilber nannten die Zwerge die Erscheinung, hübsch anzuschauen, doch wertlos, wenn man von der Härte des Gesteins absah. Aus einem ähnlichen Grund hatte die Goldfeste ihren Namen erhalten.
Die ersten Vierten hatten der Silberfeste fünf unterschiedlich hohe Türme gegeben, die gigantischen Fingern gleich in den Himmel ragten und sich zu einer abwehrenden Hand formierten. Der höchste von ihnen belief sich auf fünfzig Schritte. Aus den steinernen Ausgussrinnen schwappte flüssiges Blei in die Tiefe über die Angreifer, deren Schreie hinaufdrangen.
Zwischen den Türmen war eine Mauer errichtet worden, auf der die Verteidiger auf und ab liefen, Steine über die Zinnen warfen oder mit Armbrüsten schössen.
Die Orks hatten die massiven Eisentore unaufhörlich angegriffen. Sie rannten Sturm gegen die erste Linie der Vierten und verlangten mit aller Macht auf die andere Seite. Weder das geschmolzene Blei noch die Steinbrocken oder die Armbrustbolzen schreckten sie anhaltend zurück.
Wenn Tandibur es nicht besser gewusst hätte, würde er annehmen, etwas säße den Grünhäuten im Nacken, das sie noch mehr fürchteten als die Äxte und Beile der Zwerge. Er blickte hinauf zu den Turmspitzen, von denen schwarze Rauchfahnen aufstiegen und in die Wolken trieben. Die Feuer unter den Schmelzkesseln waren nicht ein einziges Mal erloschen. Das Blei wurde allmählich knapp. »Wir werden bald unser Gold einschmelzen und es ihnen übergießen müssen«, sagte er leise.
Dumpf hallte das ständige Rumpeln des Rammbocks von den umliegenden Berghängen, das Metall schrie und verbog sich aufkreischend unter der Gewalt der Stöße.
»Bei Vraccas!«, rief einer der Krieger hinter Tandibur. »Hört, wie es wummert und kracht! Was greift uns da an? Welche Scheusale sendet uns Tion?«
»Du wirst es gleich selbst sehen«, meinte Tandibur knapp. »Was immer du in der Schlucht vor der Silberfeste erblickst, bewahre dir deinen Mut, dein tapferes Herz und eine scharfe Axt. Sie sind das Einzige, was dich und uns alle vor den Ungeheuern beschützt.«
Sie sahen, wie menschengroße Steine über und gegen die Mauern und Türme flogen. Die schweren Geschosse rissen mancherorts die Zinnen ab und die dahinter Schutz suchenden Verteidiger in den Tod. An anderen Stellen zerbarsten mit Petroleum und Pech gefüllte Säcke an der Mauer, der schwarze Qualm stank furchtbar, brannte in den Augen und in der Brust. Lodernde Wellen überschütteten die Zwerge auf den Gängen mit flüssigem Feuer und verbrannten sie in Windeseile zu Asche. Und dennoch hielten sie die Stellung, schleuderten Steine auf die Angreifer und wehrten sich mit Wolken aus Armbrustbolzen. Das, was die Neuankömmlinge sahen, verstärkte ihren Wunsch, die Scheusale zu besiegen. Endlich gelangten sie an die breiten Treppen zu den Wehrgängen. Tandibur teilte sie in zwei Gruppen, sandte eine nach links, er selbst hetzte zusammen mit den anderen fünfzig Kriegern den rechten Aufgang hinauf. Dunkelrotes Zwergenblut lief die Stufen hinab, als wollte es Tandibur warnen, nicht weiterzugehen.
Ihnen bot sich ein furchtbares Bild.
Die Gänge hinter den dicken Zinnen waren mit einem grausigen Teppich bedeckt, gewoben aus den erkaltenden Körpern von Freunden und Bekannten. Dicht an dicht lagen die Leichname ihrer Soldatinnen und Soldaten, es gab kaum mehr Platz, um die Stiefel auf Stein anstatt auf Füße, Hände oder andere Glieder zu stellen. Die meisten von ihnen waren durch Pfeile ums Leben gekommen, andere waren dem nicht enden wollenden Hagel aus Katapultgeschossen zum Opfer gefallen. Der metallische Geruch von warmem Blut, das auf dem Wehrgang stand, sich in Pfützen sammelte und die Stufen und Wände hinabrann, mischte sich mit dem Gestank von verbranntem Fleisch und den Ausdünstungen der Bestien.
Rauschend flogen falsch gezielte Steine und Brandgeschosse über sie hinweg. Tandibur schluckte und duckte sich unwillkürlich hinter seinen Schild.
Sie wurden sehnsüchtig von dem Befehlshaber erwartet. Er hatte bereits zwei Pfeilwunden im rechten Arm davongetragen, humpelte wegen eines Bolzens im linken Bein, den er jedoch nicht herauszog, um nicht zu verbluten. Er blieb einige Schritte vor ihnen stehen, deutete auf einen Stapel Steine. »Vraccas sei Dank, dass ihr kommt! Nehmt sie und schleudert sie nach unten«, rief er und eilte zurück. »Schaut, dass ihr die Mannschaft am Rammbock vernichtet.«
Tandibur war noch immer vor Grauen wie gelähmt. Er nahm einen der kantigen Brocken, hievte ihn oberhalb des Tores auf die Zinnen. Und er sah hinab.
Auf der Ebene vor der Silberfeste drängte sich Scheusal an Scheusal. Es mussten Tausende sein, vornehmlich Orks, die brüllend gegen die Mauern anstürmten. Hässliche, riesenhafte Oger und widerliche behaarte Trolle, die so groß waren wie ihre Verwandten, die Oger, blieben weiter zurück und beluden unablässig die Katapulte, damit den Verteidigern keine Ruhe gewährt wurde. Leichtere Steine schleuderten sie selbst auf die Zwischenräume zwischen den Zinnen. Ihre Würfe trafen entmutigend genau.
Tandibur erstarrte. Er, der vorhin einem Zwerg noch ins Gewissen geredet hatte, nicht zu verzagen, verlor nun all seine Zuversicht.
Direkt unter ihm, etwa dreißig Schritt entfernt, bewegten einhundert Oger den größten Rammbock, den Tandibur jemals gesehen hatte. Er war aus dem Holz vieler Bäume gemacht worden, an seiner Spitze prangte ein überlebensgroßer Monsterkopf aus Eisen. Nur sie waren mit ihren titanischen Kräften in der Lage, dieses Belagerungsgerät anzuheben und zu führen.
Das Tor gab mit jedem Treffer, bei dem ein Zittern durch die Mauer lief und donnergleiches Krachen ertönte, etwas mehr nach. Noch hielten die Riegel stand, aber sie hatten sich bereits so stark verbogen, dass die Silberfeste bald fallen würde.
Tandibur schüttelte sein Bangen ab und betete zu Vraccas. Die Festung durfte einfach nicht untergehen. Er schleuderte seinen Stein in die Tiefe und zog schnell genug den Kopf ein, um nicht von einem feindlichen Geschoss getroffen zu werden. Der schrille Schrei eines Zwerges neben ihm zeigte, dass nicht alle mit diesem Glück gesegnet waren. Rasch kniete er neben dem Unglücklichen nieder. »Bleib ruhig liegen. Das wird wieder«, sagte er zu ihm und gab sich Mühe, zuversichtlich zu klingen. Ein Stein hatte dem Zwerg das Gesicht zerschmettert, er röchelte, und das Blut, das aus seiner Nase sprudelte, warf Blasen.
»Wir geben nicht auf«, ächzte der Zwerg und versuchte, Tandiburs Hand zu fassen. In der Bewegung erschlaffte sein Leib, der Brustkorb sank zusammen. Der Teppich aus Toten hatte einen weiteren Webfaden erhalten. »Vraccas, nimm ihn auf.« Tandibur schluckte die Trauer herunter und erlaubte sich keine Tränen. Noch nicht. Er sah, wie vier schwere Steine dicht hintereinander in die Mitte des zweithöchsten Turmes einschlugen und ein breites Loch schufen. Zu breit. Das Bauwerk schwankte, Risse zogen sich nach oben und unten. Tandibur erkannte, dass die Zwerge auf der Turmspitze weg von der Brüstung rannten. Der obere Teil neigte sich drohend über die linke Flanke der Orks und knickte in der Höhe der Lücke ab. Ein elf Schritt langes, massives Turmstück fiel auf die Angreifer nieder und zerbrach, das Mauerwerk zerschellte und sandte Trümmer in hohem Bogen bis weit in die Linien der Orks.
Die graue Staubwolke raubte Tandibur die Sicht auf die Verwüstung im gegnerischen Heer. Er wusste, dass der gefallene Turm unzählige Orks erschlagen hatte. Aus dem wirkungsvollen Beschuss der Katapulte waren unschöne Nachwirkungen für die Fußtruppen erwachsen, deren Quieken laut gegen die Mauern brandete. »Tandibur!« Sigdal Rubinrot aus dem Clan der Schönsteins rannte zu ihm, packte ihm beim Arm. Er war noch jung, knappe fünfzig Zyklen, und gehörte zu denen, die eine Sache lieber aufgaben als durchzuhalten. Jedenfalls, wenn es um das Schleifhandwerk ging. Das Kettenhemd starrte vor fremdem Blut, ein Schnitt zierte seine Wange, darunter schimmerte das Weiß des Knochens. Die Abwehrschlacht an der Stelle, wo er gefochten hatte, tobte anscheinend furchtbar. »Wir müssen uns hinter die Gräben in die Goldfeste zurückziehen«, sagte er keuchend.
»Wir haben einen Befehl erhalten«, erwiderte Tandibur und konnte die Augen nicht von dem verstümmelten Turm wenden, aus dem immer noch Rauch stieg.
»Aber er ist unnütz«, widersprach Sigdal und breitete die Arme aus. »Sieh! Die Geschosse haben drei meiner Freunde vor meinen Augen zerschmettert und ihr warmes Blut gegen mich geschleudert. Es wird nicht mehr lange dauern, und die Silberfeste ist verloren. Retten wir die Leben, die wir noch auf den Mauern haben, und erwarten den nächsten Angriff in der zweiten Festung.«
Tandibur wandte sich zu dem Befehlshaber der Verteidiger um. Er hatte sich rechzeitig umgedreht, um zu sehen, wie der Zwerg in eine brennende Wolke eingehüllt wurde und rücklings als ein kleiner, flammender Komet von der Mauer stürzte. Beim nächsten Zusammentreffen zwischen Rammbock und Tor erbebten die Steine derart unter ihren Füßen, dass sich dicke Fugen bildeten. Der ehrwürdige, uralte Granit gab erneut nach. Der Wind wehte ihnen neue, leise Signale der Scheusale zu.
Solche tiefen, bedrohlichen Töne hörte Tandibur zum ersten Mal, er kannte kein Instrument, aus dem sie stammen könnten.
Sigdal schaute über die Zinnen. »Sieh dir das an! Sie bekommen Nachschub.« Er war nicht mehr zu bändigen. »Ich sage, geben wir diese Stellung auf.«
Nur ein Narr hätte sich dem Offensichtlichen verschlossen. »Du hast Recht«, sagte Tandibur, erhob sich und nahm das Rufhorn vom Gürtel, um seine Leute zu sammeln. Nach dem Tod des Kommandanten würden die Überlebenden auf seine Anweisungen hören.
Da erklang das Quäken zahlreicher Orktrombonen, und der gnadenlose Beschuss endete abrupt. Weder ein Pfeil noch ein Stein noch ein Brandgeschoss stürzte mehr auf die Silberfeste nieder. Vor dem Tor wurde es grabesstill. »Was bedeutet das?« Sigdal spähte in die Ferne. »Eine List?«
»Wenn ich es richtig gehört habe, drehen sie die Katapulte«, übersetzte Tandibur und stellte sich neben ihn, die Hand mit dem Schild halb erhoben, um einen Bolzen oder einen Pfeil abwehren zu können. Auf der anderen Seite der Ebene walzte eine breite, tiefschwarze Front heran. Im Vergleich zu den Scheusalen in der Ebene waren es nicht viele frische Truppen, Tandibur schätzte nicht mehr als zweitausend. Aber jeder einzelne Krieger war sicherlich so groß wie zwei Zwerge übereinander und in eine schwere Rüstung gehüllt. »Was sind das für Wesen?«, fragte Sigdal fasziniert. »Siehst du, dass sie rennen? Bei Vraccas, sie haben von Kopf bis Fuß Eisen am Leib und rennen schnell wie ein Pony!«
Inzwischen waren mehrere Katapulte gedreht worden. Hektisch luden die Oger und Trolle die Wurfarme und sandten die Steine den unbekannten Kriegern entgegen; doch die Geschosse richteten keinen Schaden an, sie plumpsten wirkungslos hinter den Angreifern nieder. Sie bewegten sich zu schnell und ließen den Schützen keine Gelegenheit, die Waffen neu auszurichten.
Das metallische Reiben der Panzerplatten, die beim Rennen aneinander scheuerten, schwoll an und wurde zu einem äußerst bedrohlichen Geräusch.
Noch immer starrten die Ungeheuer schweigend auf die herannahenden Feinde, mit denen sie nicht gerechnet hatten. Dann tönte ein ängstliches Quieken aus der ersten Reihe, und einer der Orks drängte sich rückwärts durch die Reihen in Richtung der Silberfeste, um die Mauer mit bloßen Fingern zu erklimmen.
Das war das Zeichen, auf das die Masse gewartet hatte. Die Lähmung war gebrochen.
Grunzend und quiekend setzten die Orks den Versuch fort, das erste Bollwerk einzunehmen. Sturmleitern wurden angelegt, doch dieses Mal beherrschte sie absolute Kopflosigkeit. Sie warfen jeglichen Ballast von sich, Waffen und Rüstungsteile fielen auf den Boden. Andere zerbrachen ihre Schwerter und benutzten sie als Kletterhilfe. Die Orks zeigten untereinander wenig Rücksicht, zerrten die Langsameren vor sich von den Mauern, um rasch über das Hindernis zu gelangen. Zwei Oger nahmen ebenfalls Reißaus und trampelten die Orks nieder, die ihnen nicht schnell genug auswichen. Als sie versuchten, die für sie viel zu dünnen Sprossen zu erklimmen, zerbrach das Holz, und sie stürzten auf die Orks, zerquetschten etliche von ihnen und blieben schwer verletzt liegen.
»Wir harren aus! Stoßt sie zurück!«, schrie Tandibur nach rechts und links. »Es ist leichter, als Fliegen zu erschlagen. Lasst keinen durch.« Er hob die Axt und schlug sie einem Ork zwischen Hals und Schlüsselbein in den Leib. Dunkelgrünes Blut spritzte in den Himmel, röchelnd fiel er hinab und riss vier weitere seiner Artgenossen mit sich.
Es war wirklich einfacher als vorhin, denn die Scheusale verzichteten in ihrer unerklärlichen Furcht auf Bogenschützen und Deckungsfeuer aus ihren Katapulten. Somit konnten sich die Zwerge offen zwischen den Zinnen zeigen und auf die breiten, hässlichen Köpfe eindreschen, sobald einer in die Reichweite ihrer Waffen gelangte.
Dann waren die schwarz gerüsteten Angreifer heran.
Kurz vor dem Zusammenprall der Reihen öffneten sie ihre Visiere, und violettes Licht erstrahlte dahinter. Tandibur hörte diesen Laut, diesen Mark erschütternden Laut aus Fauchen und Grollen, der dem Zischen eines Schlangenheeres und dem Donnern eines bevorstehenden Vulkanausbruchs gleichkam. Er verkündete die Lust am Töten, die Gefahr, die Unbarm herzigkeit der Wesen, bevor sie in die Linien der Orks fuhren wie eine scharfe Klinge durch morsches Holz. Sie blieben nicht stehen, sondern rannten mitten in den Pulk der Scheusale und droschen mit zwei Waffen gleichzeitig um sich. Gespalten, verstümmelt, zerquetscht fielen die Orks auf den Stein vor den Mauern der Silberfeste.
»Bei Vraccas, was sind das für Bestien?« Die Nackenhaare des Zwergs richteten sich auf, die Angst der Orks schlüpfte nun auch in Tandiburs Körper. Unwillkürlich wich er vor den Wesen hinter die Zinnen zurück. Was blieb, waren die unauslöschliche Erinnerung und die anhaltenden Geräusche: Scheppern, grelles Quieken und Brüllen, das meist abrupt endete. Ein Chor des Sterbens, der selbst am felsenfesten Gemüt eines Zwerges zehrte. Sigdal schaute Tandibur an. »Ich habe von einem solchen Wesen gehört«, erinnerte er sich. »Es war der Leibwächter der Maga Andökai der Stürmischen. Niemand wusste, woher es stammte, aber es soll genauso ausgesehen haben wie die da unten. Sie nannte ihn Djerün. Er war der König aller Ungeheuer, die Samusin und Tion erschaffen haben.«
»Du siehst doch gar nichts von dem, was in den Rüstungen steckt!«
»Aber das Leuchten«, Sigdal deutete auf das Gesicht, »das Leuchten hat sie verraten.«
Tandibur schüttelte sich, um sich von seiner Furcht zu befreien.
Ein dritter Zwerg eilte heran. »Sollen die Türme auf sie schießen, Tandibur?«, fragte er aufgeregt. »Es sind leichte Ziele, groß und unverfehlbar.«
Tandibur blickte Sigdal an. »Der Leibwächter von Andökai, sagst du?«
»Wenn die Geschichten stimmen, die man mir erzählt hat«, meinte der Zwerg und ließ eine Spur von Zweifel offen.
Der Kampflärm auf der anderen Seite brandete näher an die Mauer heran. Tandibur schaute über die Zinne nach unten.
Die Wesen hatten die Ebene einmal der Länge nach durchquert und schnitten ihre blutige Spur weiter durch das sich auflösende Orkheer, wüteten wie Bären in einem Hühnerstall. Eine Hand voll Angreifer war gefallen, ansonsten hatten sie keine Verluste zu beklagen.
Die Orks waren derart eingeschüchtert, dass sie nur noch an Flucht dachten. In kleinen Schwärmen stoben sie davon und strebten dem anderen Ende der Ebene zu. Kurz bevor sie den Weg in Jenseitige Land betraten, schob sich eine neuerliche Wand aus schwarzem Eisen in ihren Weg.
Tandibur schluckte. »Schaut euch das an«, rief er. »Sie haben die Grünhäute in eine Falle gelockt. Sie metzeln sie alle nieder.«
»Sollen die Türme schießen oder nicht?«, fragte der Zwerg nochmals nach.
Tandibur schüttelte den Kopf. »Nein. Warten wir ab, was sie als Nächstes tun.«
Sie verfolgten bis zum Abend, wie die unbekannten Wesen die Orks hin und her trieben und einen nach dem anderen abschlachteten; am Ende fielen die Oger und die Trolle gegen die Übermacht.
Es wurde Nacht am Hohlweg, und mit der Dunkelheit kam die Stille.
Die Orkschreie waren verstummt, die Zwerge hörten nicht einmal mehr leises Stöhnen. Nichts, was vor den Türmen der Silberfeste auf dem Stein lag, trug einen Hauch von Leben in sich. Zwischen und auf den Kadavern wanderten die Unbekannten mit blutgetränkten Waffen und Rüstungen umher; und wenn sie irgendwo ein Zucken im Gewirr aus Beinen, Armen, Leibern und Köpfen sahen, schlugen sie unvermittelt zu. Die Sterne verbargen sich hinter dichten Wolken. Sie scheuten den Anblick der Wesen und des Massakers. Bald vernahmen die Zwerge anhaltendes leises Reiben und Schaben.
»Kann einer von euch erkennen, was sie tun?«, fragte Sigdal und spähte hinab. »Es ist so verflucht dunkel, dass selbst meine Augen nicht richtig sehen können.«
Tandibur nahm eine Fackel aus der Halterung und schleuderte sie mit einem kräftigen Wurf vor das Tor. Das spärliche Licht warf seine Strahlen auf vorüberziehende Krieger in schwarzen Harnischen, die zwei, drei Orks auf einmal an den Füßen hinter sich her im wahrsten Sinne des Wortes vom Schlachtfeld zogen. »Was haben sie mit ihnen vor?«, wunderte sich Sigdal.
Tandibur deutete nach links. Dort saßen mehrere der Wesen und beinten die Oger und Trolle an Ort und Stelle aus. Die breiten Knochen zerbrachen unter den wuchtigen Schlägen ihrer Waffen, und das Mark wurde herausgesogen. Für die Sieger war es anscheinend ein vorzügliches Festmahl.
»Bei Vraccas!«, raunte Sigdal entsetzt.
»Der König aller Scheusale, ja?«, meinte Tandibur und war froh, dass die Fackel erlosch und die Wesen samt ihrem Tun in der Düsternis versanken. »Dann haben wir es wohl mit einem Volk aus Königen zu tun.« Er ging langsam zur Treppe. Es wurde Zeit, dass er den Zwergen in der Goldfeste einen umfassenden Bericht ablieferte. »Lasst das Tor reparieren und neue Steine auf die Wehrgänge schaffen. Die Wesen sollen ständig beobachtet werden. Sie haben uns zwar von den Orks befreit, aber vielleicht wollen sie kosten, wie Zwergenfleisch schmeckt.«
Müde und mit schweren Gliedern stieg er die Stufen hinab und machte sich zusammen mit den Verwundeten über die Basaltplanken auf den Weg zur zweiten Festung.
Tandibur hatte die Vorahnung, dass sie gegen diese neuen Krieger, was immer sich hinter den schwarzen Visieren verbarg, antreten müssten. »Aber mit welchen Waffen?«, raunte er. »Wie kann man sie aufhalten?« Er betete zu Vraccas, dass sich das kleine und gleichzeitig gigantische Heer vor der Silberfeste nicht weiter um sie scherte. Nicht heute, nicht morgen und nicht in zehntausend Zyklen.