Das Geborgene Land, Königreich Idoslän einstiges Orkreich Toboribor 6241. Sonnenzyklus, Frühsommer.


Speerjunkerin Hakulana betrachtete die kahle Erhebung inmitten der grünenden Landschaft Idosläns, die einen der vielen Eingänge ins unterirdische Höhlensystem Toboribors markierte. Sie erkannte die Reste der geschliffenen Orkbefestigungen darauf, die alten Grabsteinen gleich schief und krumm in den Himmel ragten. »Es sieht ruhig aus«, sagte sie zu Torant, einem jungen und hoffnungsvollen Dolchjunker, der neben ihr ritt. Sie mochte seine ruhige Natur und die Umsicht, mit der er an seine Aufgaben ging. »Habt ihr Spuren gefunden?« »Nein, Speerjunkerin. Nichts.«

Hakulana schaute zum Himmel, der zu einem Sommergewitter ansetzte. Schwarze und graue Wolken hatten sich vor das Blau geschoben, die Luft wehte stärker und brachte den Wimpel an seiner Lanze zum Flattern. Sie und ihre zwanzig berittenen Späher befanden sich eine halbe Meile von dem Ort entfernt, durch den man in das Reich eines Orkfürsten gelangte, der sich einmal Ushnotz genannt hatte.

Hakulana war zu jung, um sich an das Scheusal erinnern zu können, aber einige ältere Soldaten in Prinz Mallens Heer berichteten von der Kreatur, die unbeugsam und grausam gewesen war. Er hatte versucht, nach der verlorenen Schlacht am Schwarzjoch nach Norden zu ziehen und ein neues Reich zu gründen. Den Zwergen sei Dank, war das schreckliche Vorhaben vereitelt worden.

Torant betrachtete das Wolkenspiel. »Sollen wir Zelte aufbauen, Speerjunkerin?«

Hakulana schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie zeigte mit der Lanze auf den Hügel. »Wir lagern dort, im Eingang zu den Höhlen, dann haben wir uns diese Mühe gespart.«

»Wie Ihr befehlt, Speerjunkerin.« Torant brüllte den entsprechenden Befehl, die Truppe ritt in lockerem Trab zu ihrem neuen Ziel.

Hakulana folgte ihnen mit etwas Abstand und nahm die Augen nicht von der Anhöhe, deren Verteidigungsbauten kurz nach der Schlacht am Schwarzjoch von den Truppen des Prinzen niedergerissen worden waren. Nichts mehr erinnerte an die Herrschaft der Orks und ihre hässlichen Burgen aus unförmigen Steinquadern, die sie von ihren Menschenvasallen hatten errichten lassen. Sie und ihre Späher befanden sich hier, um sicherzustellen, dass es so blieb. Jeder noch so kleine Hinweis auf die Rückkehr der Orks würde sofort von ihnen gemeldet werden und den Entsatz des Heeres nach sich ziehen. Und sie fühlte, dass sich etwas in diesem Hügel vor ihnen verbarg.

Als die ersten Regentropfen vom Himmel fielen, ritten sie durch die eingerissenen Mauern, vorbei an den zerschlagenen Portalen und tauchten in das Dunkel der Höhle ein.

Ihre Leute, unter denen sich auch Frauen befanden, entzündeten Fackeln und bereiteten das Lager vor. Alles war genau eingeteilt, jeder Späher und jede Späherin wusste, welche Aufgabe zu erfüllen war, angefangen vom Versorgen der Pferde bis hin zum Kochen und dem Absichern der Umgebung.

»Speerjunkerin!«, hallte Torants Ruf durch die Höhle. »Ich habe Orkgebeine im hinteren Bereich gefunden.« Er näherte sich ihr und reichte ihr einen Oberschenkelknochen. »Er ist nicht älter als ein Zyklus.« »Du täuschst dich nicht?« Hakulana saß von ihrem Pferd ab und schaute zum Höhleneingang. Tief zogen die Wolken über das Land und ließen sich die Bäuche von den Erhebungen streicheln; sie ergossen Unmengen von Wasser auf die Erde, das in dicken Rinnsalen vor der Höhle auf den Boden platschte und losen Grund davon schwemmte.

»Nein, Speerjunkerin. Es liegen mehr davon herum.«

Ein erster Blitz zuckte lautlos in den Hügel gegenüber, gleich darauf ertönte anhaltender Donner. Die Pferde wieherten erschrocken, Hakulana hörte das Trappeln der Hufe.

»Damit haben wir wohl einen Beweis gefunden. Es wäre mir lieber gewesen, wir hätten nichts entdeckt.« Sie wandte sich zu ihrer Truppe. »Gut, dass wir keine Zelte aufgeschlagen haben«, meinte sie zu Torant. »Geh und hilf den anderen, die Pferde zu beruhigen, bevor sie sich losreißen und alles niedertrampeln. Ich schaue mir die Stelle sofort an.«

Im aufflackernden zweiten Blitz sah sie das Monstrum, das sich unbemerkt aus dem Hintergrund ihres Lagers näherte. So kurz dieser Augenblick auch war, erkannte Hakulana in dem gleißenden Licht jede schreckliche Einzelheit.

Es war riesig, zweifellos dreieinhalb Schritte groß und enorm breit. Auf dem Kopf saß ein aus Tionium geformter, starrer Helm, der einem Totenschädel nachempfunden war und Feinarbeiten aus poliertem Silber aufwies. Sie waren so angebracht, dass sie den unheimlichen Eindruck noch verstärkten. Eine Aussparung war für den Mund gelassen worden. Dem Wesen hatte man die Lippen entfernt, sodass man die Reißzähne sah und es aussah, als grinse es unaufhörlich. Im Helm selbst staken lange Stifte, die das Metall und den Schädel darin untrennbar miteinander verbanden.

Hakulana wich zurück und spürte in ihrer Angst nicht einmal, dass sie den Unterschlupf verließ und der heftige Regen sie durchnässte. Sie konnte weder sprechen noch ihre Augen abwenden.

Der Körper des Monstrums war mit dicken, lamellenartigen Platten aus Tionium versehen worden, die entweder durch Drähte oder Nägel mit dem Leib befestigt waren. Die Unterarme hatte man ihm zwischen Ellbogen und Handgelenk abgetrennt und durch ein metallenes Gestänge ersetzt, das einen Kern aus schwach schimmerndem Glas umschloss; die Hände wiederum saßen an ihrem Platz und hielten zwei runengezierte Äxte. Der Donner brüllte von neuem auf, das Wesen fiel zurück in die Dunkelheit. Hätten seine faustgroßen Augen nicht dunkelgrün geschimmert, Hakulana hätte an eine Sinnestäuschung geglaubt.

»Palandiell, stehe uns bei!«, raunte sie. Die Lähmung wich mit ihren ersten Worten. »Rückzug!«, schrie sie und zog ihr Schwert. »Alles sofort raus aus der Höhle!«

Die Fackeln erloschen auf einen Schlag.

Die unerwartete Finsternis ergab zusammen mit dem überraschenden Befehl der Speerjunkerin ein heilloses Durcheinander. Pferde wieherten furchterfüllt und rissen sich los, preschten rechts und links an Hakulana vorbei. Gleich darauf erschallten dumpfe Schläge, das Reißen von Metall, das Knacken und Knirschen von brechenden und sich verdrehenden Knochen. Ein schriller Schrei, kaum mehr als der eines gestandenen Mannes zu erkennen, verkündete den ersten Toten unter den überrumpelten Spähern. Für Hakulana war es lediglich der Auftakt zu Schlimmerem.

Die Blitze folgten nun sehr dicht hintereinander, das Unwetter erreichte seinen Höhepunkt und gewährte der Frau kurze, grausame Einblicke in das Geschehen in der Höhle. Es waren Gemälde des Grauens, in dessen Mittelpunkt stets das Scheusal stand. Mal zerteilte es die Soldaten mit den Äxten, mal zerriss es einem Junker mit seinem Gebiss den Hals, ein anderes Mal zerquetschte es den Kopf einer Späherin mit einem Fußtritt. Die entstehenden Geräusche brachten Hakulana zum Würgen.

Die Beine der Speerjunkerin weigerten sich, die Höhle zu betreten, so sehr ihr Verstand es den Muskeln auch befahl, um bei ihren Untergebenen zu sein und ihnen beizustehen. Sie verharrte bebend im Regen, hörte und sah ihre Truppe sterben.

Aus der Schwärze rannte ein Schatten auf sie zu. Schreiend drehte sie sich zur Seite und schlug nach ihm, bevor sie ihren Irrtum bemerkte: Hakulana hatte Torant getötet.

Mit einem tiefen Schnitt im Hals stürzte er neben ihr in den Schlamm, krümmte sich und blieb liegen. Torant richtete die Augen ungläubig auf die Speerjunkerin, dann keuchte er sein Leben zu ihren Füßen aus. »Nein«, flüsterte sie und machte noch zwei Schritte rückwärts, weg von der verfluchten Höhle, in die das Böse eingefahren war. Das Keuchen des Dolchjunkers würde sie ihr Leben lang verfolgen.

Zwei weitere Soldaten taumelten ins Freie, dem einen fehlte der rechte Arm, sein Kamerad blutete aus einer Wunde über der Brust, die er aber überstehen konnte.

Endlich schüttelte Hakulana die lähmende Furcht ab. Sie stützte den Mann mit der leichteren Verletzung und überließ den Amputierten seinem Schicksal. Der Blutverlust würde ihn umbringen, daran vermochte sie nichts zu ändern.

»Weg von hier«, rief sie dem Mann durch das Toben des Sturmes ins Ohr. »Wir müssen dem Prinzen Bericht erstatten. Gegen das Monstrum können wir nichts ausrichten.«

»Was war das?«, wimmerte der Soldat ächzend, seine Beine knickten ein.

Sie packte ihn unter der Achsel und schleifte ihn rückwärts den Hügel hinab, dorthin, wo einige der Pferde stehen geblieben waren und sich Schutz suchend unter einen Baum drängten. »Eine neue Ausgeburt Tions.« Sie keuchte. Der Mann war schwer und half kaum mit, sie schleppte beinahe sein ganzes Gewicht und das seiner Rüstung.

Etwas schlug gegen seine Brust, Hakulana spürte den Einschlag ganz deutlich, und gleich darauf erschlaffte er und wurde schwerer. Sie starrte auf den langen schwarzen Schaft des Albae-Pfeils, der aus seinem Körper ragte. Als sie den Blick hob, sah sie das Monstrum am Ausgang der Höhle stehen und unmittelbar daneben eine schlanke, hoch gewachsene Gestalt. Sie trug eine schwarze, prachtvolle Rüstung aus Tionium in der Art der Albae. Der Kopf war unter einem aufwändig gearbeiteten Helm verborgen, am Gürtel hingen zwei Schwerter. Man hätte sie für ein Mahnmal halten können, das an die Gefährlichkeit des grausamen Volkes aus Dsön Balsur erinnern sollte.

Die Gestalt legte einen neuen Pfeil auf die Sehne des geschwungenen Bogens und richtete die Spitze auf Hakulana.

Die Frau ließ den Leichnam fallen, hechtete zur Seite und spürte gleich danach ein Brennen in ihrer linken Schulter. Sie war von dem Geschoss getroffen worden.

Fluchend brach sie den gefiederten Schaft ab und ließ die Spitze vorerst im Arm stecken. Immer in Deckung der Ruinen und des Schutts bleibend, rutschte sie zu den fahrigen Pferden und versuchte, auf eines zu steigen. Gerade als sie es geschafft hatte, die Mähne zu packen und sich auf den ungesattelten Rücken zu schwingen, brach es schnaubend zusammen; ein Pfeil ragte aus dem rechten Auge.

Hakulana sprang geistesgegenwärtig auf das nächste Tier, das daraufhin erschrocken lospreschte. Das nächste Geschoss verfehlte sie nur um eine Handbreit, bohrte sich in den oberen Rücken und stachelte das Pferd zu höherer Geschwindigkeit bei der Flucht an.

Die Blitze krachten nieder, so laut hatte die Speerjunkerin niemals zuvor ein Gewitter erlebt. Und trotzdem hörte sie etwas. Rhythmisches Stampfen ließ sie über die Schulter nach hinten blicken.

Das Monstrum verfolgte sie! Mit weit ausholenden Schritten hetzte es in all seiner Furcht einflößenden Hässlichkeit hinter ihr her, den lippenlosen Mund weit geöffnet und laut schnaubend. Die Stiefel hinterließen tiefe Abdrücke in dem weichen Boden, das Wasser spritzte auf. »Schneller, Pferd!«, schrie sie und bohrte den Pfeil tiefer in das Fleisch des Tieres, um es anzutreiben. Das Monstrum holte mit einer seiner Äxte aus und wollte es nach den Flüchtenden schleudern, als Hakulana wahrlich göttlichen Beistand erhielt.

Der nächste Blitz löste sich aus den schwarzen Wolken und fuhr geradewegs in die gereckte Klinge. Sämtliche Runen auf der Rüstung und den Waffen erstrahlten in grellem Grün, auch die Augen, die hinter dem Helm verborgen lagen, warfen einen Schein in die Dunkelheit, der den einer Blendlaterne übertraf. Die Kraft des Strahls war selbst für eine Kreatur Tions zu viel. Sie überschlug sich aus vollem Lauf, verlor ihre Waffen und blieb regungslos liegen; Dampf stieg von ihr auf.

Hakulana beging nicht den Fehler anzuhalten.

Sie ritt weiter und weiter durch das Unwetter, um die nächste Garnison zu erreichen. Wenn sie die schützenden Mauern nicht lebend erreichte, gäbe es niemanden, der das Geborgene Land vor dem Unauslöschlichen warnte, den sie gesehen hatte.


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