Das Geborgene Land, Königreich Idoslän, vier Meilen vor den Höhlen Toboribors, 6241. Sonnenzyklus, Spätsommer.


Tungdil und seine Begleiter hielten auf einer Anhöhe und sahen auf die größte und weitläufigste Belagerung hinab, die das Geborgene Land jemals gesehen hatte.

Der Anblick war beeindruckend.

Das Heer aus den Königreichen des Geborgenen Landes und der Elben hatte einen breiten Gürtel um die Eingänge zum unterirdischen Reich der Orks gezogen und erlaubte nichts und niemandem, unbemerkt zu entkommen. Nicht weniger als siebzigtausend Krieger und Freiwillige hatten sich versammelt, um das Böse in Gestalt der Unauslöschlichen und ihren abscheulichen Maschinenwesen niederzuwerfen.

Der ausgehobene Graben schnürte sich als schwarzer Streifen in das satte Grün der Wiesen und kleinen Obstbäume, unmittelbar dahinter lagerten die Krieger der verschiedenen Königreiche. Kleine, bewegliche Brücken erlaubten es, den Einschnitt bei Bedarf zu überwinden.

Die zahlreichen Zelte der Zwerge standen weit hinter der Sperrlinie. Von dort brachen die Einheiten auf und durchstöberten die Gänge Toboribors nach den Unauslöschlichen, wie ihnen der Vorposten, den sie auf dem Weg passiert hatten, erklärt hatte. Beinahe alle Clans der Zwergenstämme hatten Kämpfer entsandt, ein Wald aus Fahnen und Wimpeln wehte im warmen Wind. In einem kleineren Lager und etwas abseits flatterten die Fahnen der fünf Städte der Freien.

»Ist das nicht eine Pracht? Da gibt es kein Durchkommen für das Böse«, sagte Ingrimmsch voller Stolz. »Wenn das Böse überhaupt in den Höhlen verweilt«, meinte Lot-Ionan zweifelnd.

Tungdil nickte. »Finden wir heraus, wie weit die Bemühungen gediehen sind, die Unauslöschlichen ein für allemal zu zerstören.« Er drückte seinem Pony die Fersen in die Flanken und trieb es an. Für seinen Geschmack hatten die Freien ihre Unterkünfte zu weit von den Stämmen errichtet. Bramdal hatte anscheinend Recht. Lot-Ionan ritt neben ihn. »Bist du mit deinen Grübeleien weitergekommen, oder ergeht es dir wie mir?« »Ich fürchte, es ergeht mir wie Euch«, seufzte er. »Alles steht und fällt mit dem Verhalten der Elben. Ich wage nicht, es einzuschätzen.« Er zwang seinen Blick weg von den Stadtbannern.

»Ich auch nicht. Esdalän macht auf mich nicht den Eindruck eines Lügners, auch wenn ich mir durchaus andere Gründe vorstellen kann, weswegen Elben mit Pfeilen nach Elben schießen. Es war jedenfalls besser, dass wir ihn vorerst in dem Dorf gelassen haben. Erst möchte ich mir ein eigenes Bild machen.« Der Magus zeigte auf das Zelt, über dem Mallens Standarte wehte. »Reiten wir zu ihm. Ich bin dafür, dass wir ihn einweihen. Nach allem, was du mir erzählt hast, scheint er mir ein besonnener Herrscher zu sein. Auch wenn er ein Ido ist.« Bramdal musste sie angekündigt haben. Man empfing sie mit Freudenrufen und lautem Schlagen gegen die Schilde. Die Krieger verneigten sich vor dem zurückkehrenden Magus, einigen stand die Entrückung ins Gesicht geschrieben.

Mallen wurde von dem ungewöhnlichen Lärm aus seiner Unterkunft gelockt. Er hatte die eindrucksvolle Rüstung seiner Ahnen angelegt, das blonde Haar trug er offen. »Willkommen in Idoslän, ehrenwerter LotIonan«, verneigte er sich. »Und auch alle anderen, seid wohlwollend empfangen.« Er grüßte Rodario und Ingrimmsch mit einem Handschlag. »Meister Bramdal sagte uns, dass Ihr bald zu uns stoßen werdet. Die größten Helden sind versammelt. Nun werden wir die Unauslöschlichen stellen.« Er hielt den Eingang des Zeltes auf. »Kommt herein. Wenn ihr nicht zu müde seid, möchte ich euch gern erklären, was wir in den letzten Umläufen erreicht haben.« Er sandte einen Boten los, der die Befehlshaber der Zwerge holen sollte. Dann wandte er sich an Lot-Ionan. »Verzeiht, dass wir Euch keinen Empfang angedeihen lassen, der Euch und Eurer Rückkehr angemessen wäre, doch es ist keine Zeit zu verlieren.«

Der Magus nickte. »Ich verstehe das sehr gut, Prinz Mallen. Es gibt Wichtigeres. Feiern können wir nach unserem Sieg.«

Ihm fiel wie allen anderen sofort das große, sehr seltsame Gemälde auf, das auf die Innenseite der Stoffbahnen gezeichnet worden war.

»Eine Karte«, erklärte Mallen ihnen. »Das ist ein Verdienst der Zwerge. Sie haben die Höhlen und Gänge, in die sie vorgedrungen sind, vermessen und aufgezeichnet.« Er zeigte auf die blau schraffierten Abschnitte. »Diese sind von ihnen erobert und kontrolliert. Sie haben in den Höhlen kleinere Unterlager angelegt und befestigt.« »Sind die Unauslöschlichen überhaupt in den Höhlen?«, wollte der Magus wissen und setzte sich an den Tisch; die anderen folgten seinem Beispiel.

»Wir nehmen es zumindest an. Die Zwergentrupps haben alle ihre Scheusale inzwischen gesichtet. Ich vermute, die Monstren hatten zunächst die Aufgabe, uns von den Unauslöschlichen abzulenken, weswegen die Zwerge entschieden, in die Gebiete vorzustoßen, wo ihnen bei ihrer Jagd kaum Widerstand entgegenschlug.« Mallen zeigte auf ein grün gekennzeichnetes Gebiet. »Sie lagen richtig. Hier traf die Zwerge plötzlich der härteste Widerstand, und wie es aussieht, müssen die letzten Albae irgendwo in diesen Höhlenbereichen sein.« Durch den Eingang schritt Gandogar, vor dem sich Tungdil und die anderen Zwerge des Geborgenen Landes verneigten. Ihm folgten mit etwas Abstand die Kommandeure der Freien - und Bramdal. Er grüßte sie mit einem unergründlichen Lächeln.

»Was für eine Freude, euch alle wohlbehalten zu sehen«, rief Gandogar erleichtert. »Euch kenne ich nur als Statue. Ihr müsst demnach Lot-Ionan der Geduldige sein!«

»Nicht alle kamen mit dem Leben davon. Viel zu viele zogen in die Ewige Schmiede zu Vraccas«, warf Tungdil ein und berichtete knapp, was ihnen in Weyurn widerfahren war. »Wir haben Furgas auf der Insel verloren. Er wurde von glühendem Eisen bei lebendigem Leib verbrannt. Wir sahen ihn vergehen und konnten nichts mehr ausrichten.«

Betroffenheit senkte sich auf Mallen und den Großkönig.

»Furgas ist tot?« Mallen legte die Arme auf die Tischplatte. »Wir werden seinen genialen Verstand vermissen, der in der Vergangenheit nicht nur Schlechtes brachte. Hat er, und das soll keinesfalls herzlos klingen, wenigstens vor seinem Ableben notiert, welche Schwachstellen seine geschaffenen Kreaturen besitzen?« »Ja.« Rodario, dem die schmerzliche Erinnerung an seinen toten Freund Tränen in die Augen trieb, legte eine Mappe auf den Tisch, die er aus seiner Satteltasche genommen hatte. »Er hinterließ mir mehrere Bögen Papier, auf denen er einzeichnete, wo welches Ungeheuer am einfachsten zu verwunden ist.« Er machte ein trauriges Gesicht, räusperte sich. »Die Stellen sind nicht groß. Es wird treffsichere Hände und gute Augen benötigen, um sie zu attackieren.«

Mallen reichte die Mappe an einen Bediensteten, damit Abschriften angefertigt wurden. »Glaubt mir, dass ich seinen Tod bedauere, aber es ist nicht die Zeit, uns lange mit dem Tod von Freunden aufzuhalten. Trauern können wir angemessen, wenn die Albae vernichtet sind.«

Wieder klappte der Zelteingang auf, und herein kam Rejalin mit einem Gefolge aus drei Leibwächtern und zwei unbewaffneten Elben.

»Niemand hat mir gesagt, dass eine Besprechung anberaumt wurde«, lächelte sie verzeihend. »Wenn ich Gandogar nicht ins Zelt hätte gehen sehen, wäre es mir entgangen. Wollte man die Stimme der Elben nicht hören?«

Ingrimmsch öffnete den Mund. »Darauf kannst du...«

»Boindil möchte sagen, dass Ihr darauf vertrauen könnt, dass wir Euch gerufen hätten«, fiel ihm Tungdil rasch ins Wort. »Denn wir brauchen Eure Krieger so schnell wie möglich in Toboribor und nicht mehr in den Zwergenreichen.«

»Weswegen? Ich denke schon, dass die Tore vorsichtshalber auch durch uns gesichert bleiben sollten, solange sich viele Eurer Krieger in Toboribor befinden. Nach wie vor besteht eine nicht zu verleugnende Gefahr durch die Monstren. Und durch die unerkannten Dritten in Euren Reichen.« Rejalin sagte es in dem zuvorkommendsten, einnehmendsten Tonfall, aber die Kritik darin war unüberhörbar. Ihrer Ansicht nach hätten die Verräter durch jegliches Mittel gesucht werden müssen.

Tungdil wunderte sich nicht über diese Ansicht. Nicht mehr. Sie wandelte auf den Pfaden der Eoil. »Wir haben einen Hinweis erhalten, dass die Höhlen eine Verbindung ins Jenseitige Land besitzen. Tief unter den Füßen der Belagerer sammelt sich eine neue Horde. Die Zwerge in den Höhlen sind gute Krieger, aber selbst sie und das Menschenheer wären ihnen ohne die Elben unterlegen.« Er wusste, dass sie der Lüge aufsitzen würde. Sie konnte nicht anders, selbst wenn sie ihn durchschaut hätte.

»Woher bezieht Ihr Eure Weisheit, Tungdil Goldhand?«, fragte sie verblüfft.

»Die Dritten, die wir gestellt haben, verrieten es uns.« Und er erzählte das Abenteuer in Weyurn in einer abgewandelten Version, ohne die Rolle, die Furgas dabei vermutlich hatte. Er ließ die Dritten und die Unauslöschlichen die Bösen sein. »Bandilor hatte sich mit den Albae verbündet. Er berichtete uns von den Plänen der Unauslöschlichen, die ihm sehr entgegen kamen.«

Die Elbin betrachtete ihn ergründend. »Und Ihr glaubt den Worten eines Zwergs, der dem Bösen folgt?« »Ich traue den Worten, die in Todesangst gesprochen wurden«, verbesserte er. »Er dachte, dass ich ihn verschone, und Lot-Ionan prüfte die Wahrheit der Worte mit Magie.« Tungdil schaute sie bittend an. Er bekam Beistand von unerwarteter Seite. »Wir brauchen die Elbenkrieger Älandurs hier, Fürstin. Auf der Stelle, bevor die finsteren Heerscharen hervorquellen und uns überrennen. Wollt Ihr die Schuld daran tragen, dass Idoslän und das Geborgene Land unter ihre Knute fällt?« Prinz Mallen forderte mehr als er bat. Zwei Sachen kamen zusammen. Es war sein Land, in das die Bedrohung einfallen könnte, und er mochte die Elbin immer weniger. Auch wenn es nicht klug schien, forsch zu reden, so drängte es aus ihm heraus. Tungdil freute sich darüber. Das machte seine Lüge glaubwürdiger.

»Nun verlangt Ihr meinen Beistand, Prinz Mallen?« Rejalin hob ihren Becher mit Wasser und trank in aller Ruhe, ließ Zeit verstreichen, bevor sie weitersprach. »Habt Ihr meine Abordnung, die an Euren Hof kam, nicht erst vor kurzem außer Landes gewiesen?«

»Es besteht ein Unterschied zwischen einer Abordnung und einem Heer, Fürstin«, sagte er. »Mir steht im Augenblick nicht der Sinn nach schöngeistigen Unterhaltungen über den Austausch von Wissen, während ich versuche, neuerliches Unheil von unser aller Heimat abzuwenden.« Er lehnte sich vor. »Wenn wir gewonnen haben, soll mir Eure Delegation willkommen sein, aber bis dahin seid so gütig und verschont mich mit den Angeboten. Sendet lieber ein Heer. Das werde ich mit offenen Armen empfangen.«

Gandogar nickte. »Seid unbesorgt, Rejalin. Wir wissen Eure Hilfe zu schätzen, aber wir können uns sehr gut selbst verteidigen. Und zu Eurer Beruhigung sei gesagt, dass wir schon sieben Zwergenhasser ausgemacht und eingesperrt haben, die unerkannt in unseren Gemeinschaften lebten. Ohne Folter«, fügte er hinzu. »Die Dritten, die es mit dem Zusammenleben ernst meinen, halfen uns dabei.«

Nun gab es keinen Ausweg mehr für die Elbin. »Dann sei es so«, beschied sie und lächelte ihre Niederlage weg. »Noch heute werden die Boten losreiten, um die Krieger nach Toboribor zu holen.« Sie betrachtete die Karte der Höhlen. »Die Zwerge sollten schneller vorstoßen. Je mehr wir von diesen Tunneln und Kammern erkunden, desto besser können wir gegen das zu erwartende Heer aus dem Jenseitigen Land vorgehen. Hinterhalte werden uns einen wertvollen Dienst erweisen.«

»Da stimme ich Euch zu.« Gandogar hob seinen Humpen und prostete ihr zu. »Meine Mineure werden die besten Stellen erkunden und mit den Arbeiten beginnen.«

»Ist etwas über den Zeitpunkt bekannt, wann diese Streitmacht auftauchen wird?«, fragte Rejalin. »Womöglich kommen meine Krieger viel zu spät?«

»Nein. Bandilor sprach von Vorbereitungen. Wir haben noch ein wenig Zeit«, beruhigte er sie. »Verzeiht, aber meine Freunde und ich sind von den Strapazen der Reise müde. Wir können morgen gern eine richtige Versammlung abhalten, um die anderen Befehlshaber einzuweihen. Jetzt würde ich mich gern hinlegen.« Die Elbin stimmte zu und verließ das Zelt. Ihr folgten die Kommandeure der Städte und Bramdal. Kaum waren sie verschwunden, vereinbarte Tungdil mit Gandogar und Mallen ein geheimes Treffen unmittelbar nach Einbruch der Nacht abseits des Lagers. »Keine Wachen, kein Gefolge. Nur ihr beide«, verlangte er, bevor er ging. »Vertraut mir. Es geht um Wichtiges, deshalb sprecht mit niemandem darüber«, mahnte er eindringlich. Verblüfft stimmten die Herrscher zu.

Als sich die Sterne über Idoslän zeigten, trafen sich die drei am verabredeten Ort. Mallens und Gandogars Neugier war groß, aber Tungdil bat sie um Geduld und schwieg dann eisern. Lot-Ionan stieß bald darauf zu ihnen, und zu viert ritten sie davon, geradewegs in die Schänke von Deichseldorf, wo sie Esdalän zurückgelassen hatten. Tungdil gewann den Eindruck, dass der Elb seit dem ersten Umlauf seiner Genesung hübscher geworden war. Oder besser ausgedrückt: Er wirkte frischer, strahlender als jedes andere Lebewesen in seiner Umgebung. Ähnlich wie Rejalin.

Als Mallen und Gandogar in der leeren Gaststube saßen und im Schein vieler Kerzen die Geschichte des Elben vernahmen, wurden ihre Gesichter besorgt.

»Dann habe ich mit meinem Misstrauen wohl getan«, sagte der Prinz, »auch wenn es mir lieber gewesen wäre, ich wäre von der Untadeligkeit der Elben überzeugt worden, anstatt diese Neuigkeiten zu hören.« »Dass sie ihren Fürsten umgebracht haben, ist ungeheuerlich.« Gandogar konnte es ebenso wenig fassen. »Und weil ich den Kriegern alles zutraue, habe ich sie unter dem Vorwand der Hilfe nach Toboribor gelockt«, sagte Tungdil. »Ich habe sie lieber an einem Ort versammelt, wo sich das Heer der Königreiche befindet, als verstreut im gesamten Geborgenen Land, wo sie immensen Schaden anrichten könnten.«

»Es war von Magie die Rede.« Mallen hob die Augen und blickte zu Lot-Ionan. »Wisst Ihr etwas über die Macht der Elben, ehrwürdiger Magus?«

»Nicht viel. Die Elben sind ebenso wie ihre finsteren Verwandten, die Albae, in der Lage, kleinere Zauber zu sprechen, die mit ihrem Wesen zusammenhängen. Es betrifft, soweit meine Bücher mich damals nicht belogen haben, in erster Linie Pflanzen und die Künste. Liütasil hat niemals etwas davon erwähnt, dass einer seines Volkes in der Lage war, Magie zu nutzen wie ich oder einer der anderen Magi und Magae.« »Nun, das mag bis zu einem gewissen Teil zutreffen«, meldete sich Esdalän, dessen Stimme für die Menschen betörend rein klang. »Die Elben Älandurs standen nie im Ruf, besonderes Augenmerk auf die Kunst der Magie zu legen. Aber andere meines Volkes, die Elben der Goldenen Ebene, die von den Albae vernichtet wurden, verhielten sich dieser Kraft gegenüber aufgeschlossener. Es ist mir wieder in den Sinn gekommen, während ich hier verweilte. Es heißt, dass die wenigen Elben der Goldenen Ebene, die den Angriff der Albae überlebten, nach Älandur kamen und sich uns anschlössen.«

Tungdil merkte, dass sich die Sprache des Elben mehr und mehr veränderte, blumiger und für ihn unausstehlicher wurde.

»Das ändert die Lage. Wir können demnach nicht ausschließen, dass es in den Reihen der Atär einen Nachfahren dieser magisch befähigten Elben gibt. Vielleicht hat die Eoil ihm Teile ihres Wissens zukommen lassen«, fasste Lot-Ionan zusammen. »Das erklärt, weswegen sie den Diamanten haben wollen.«

Gandogar schaute mit zusammengekniffenen Augen zum Magus. »Haltet mich nicht für unverschämt, ehrenwerter Lot-Ionan, aber was wäre, wenn Ihr oder Dergard die Macht des Steins bekämt? Welche Macht besäße einer von Euch?«

»Wenn es sich so verhält, wie mir von Tungdil geschildert wurde, dann wäre diese Macht... mh, welches Wort trifft es?«, grübelte er und rieb sich den weißen Bart. »Unermesslich«, sagte er schließlich. »Die Macht wäre unermesslich.« Er lächelte listig.

»Keine Sorge, Großkönig Gandogar. Es lockt mich nicht, und Dergard ebenso wenig. Wir haben die Quelle, die uns die gleiche Kraft verleiht. Für uns wäre es nichts Besonderes. Zudem trachten weder ich noch Dergard nach dem Bösen.«

»Seid Ihr sicher?« Gandogar verschwand hinter dem Tresen und schenkte ihnen allen etwas von dem einfachen Wein ein. »Er war ein Schüler von Nudin. Wir wissen, was aus dem Magus geworden ist.« »Vergesst nicht die Umstände, geschätzter Großkönig«, sprach Lot-Ionan für den jungen Dergard. »Es gibt keinen Dämon, der Einflüsterungen aussendet. Unsere Gegenspieler sind dieses Mal gewaltig, aber körperlich. Und damit angreifbar.« Er streckte die Hand nach dem dargebotenen Tonbecher aus und sog scharf die Luft ein. Wieder hatte er einen Stich im Kreuz gespürt, seine Sicht trübte sich und verschwamm... Dann meinte er, eine Gestalt im Dunkel neben der Tür gesehen zu haben. Eine merkwürdig bekannte Gestalt. »Nudin?« »Ehrenwerter Lot-Ionan, was ist mit Euch?« Vor seinen Augen erschien das bärtige Gesicht Tungdils, der sehr besorgt dreinblickte. »Habt Ihr wieder Kreuzschmerzen?«

Der Magus schüttelte den Kopf, leerte den Wein und ließ sich neuen bringen. »Es sind vermutlich immer noch winzige Gesteinsreste in meinem Körper«, sagte er behäbig. »Sie wirken sich auf meinen Geist aus und bringen mich dazu, Dinge zu sehen, die nicht sein können.« Er stand auf und schritt in die dunkle Ecke, in der er seinen alten Freund wahrgenommen hatte. Doch so sehr er nach einem Hinweis suchte, er fand nichts. Und das beruhigte ihn sehr.

»Was habt Ihr, ehrenwerter Magus?«, erkundigte sich Tungdil.

»Nichts. Ich muss mir nur die Beine vertreten. Mein Rücken. Er schmerzt. Als Statue habe ich es nicht bemerkt.« Er kehrte zu der Gruppe zurück. »Was machen wir mit den Elben?«, nahm er den Faden wieder auf; er fröstelte leicht. »Stellen wir sie gleich zur Rede und hören, was sie dazu zu sagen haben, oder bringen wir erst die Unauslöschlichen zur Strecke?«

»Ich bin sehr dafür, dass wir den Zwist mit der Fürstin nicht aufschieben«, sagte Mallen. »Ich werde Euch sagen, weswegen. Die Vorstellung behagt mir nicht, dass die Elben mitten im Kampf gegen die Albae und ihre neuen Kreaturen ihre eigenen Ziele verfolgen, sich den Diamanten nehmen und mit seiner Macht unsägliche Taten vollbringen. Sicher, sie werden das Böse besiegen, daran zweifle ich nicht.« Seine Augen wanderten über die Züge der Anwesenden. »Aber ich bezweifle, dass sie danach noch mit sich reden lassen. Ich möchte Rejalin als Pfand. Vor der Schlacht.«

»Ein guter Plan. Wenn die Elben darauf eingehen«, gab Lot-Ionan zu bedenken und rieb sich die müden Augen, die ihm den Streich gespielt hatten, wie zur Strafe.

»Nun, Prinz Mallen sprach mit seinen Worten genau das aus, was ich vermute. Wenn sie sich verweigern, wird somit ans Licht kommen, dass sie ein unredliches Spiel treiben«, meinte Esdalän und fuhr sich durch die feinen Haare. »Ich wäre dafür, überhaupt keinerlei Gefahr einzugehen und die wenigen Krieger Älandurs, die sich bereits vor Toboribor befinden, zu ergreifen und einzusperren.«

»Wir nehmen Esdalän mit und lassen ihn morgen vor der Versammlung sprechen«, schlug Tungdil vor. »Und danach sehen wir, was die Elben gegen Eure Geschichte vorbringen können.«

»Eines sollten wir nicht vergessen: Wir, so wie wir hier sitzen, sind eine Gruppe, die Esdalän gerne Gehör schenkt, weil wir unsere eigenen Erfahrungen mit den Atär gemacht haben.« Mallen wandte sich an den Elben. »Aber geht davon aus, dass Ihr morgen weniger aufgeschlossene Zuhörer haben werdet. Sie haben in König Nate aus Tabain und Königin Isika zwei starke Fürsprecher, die Ihr nicht ohne weiteres auf Euere Seite ziehen werdet.«

Esdalän neigte huldvoll sein Haupt, als sei er ein König, der eine Bitte bewilligt. »Meinen Dank für die Warnung, Prinz Mallen. Doch ich bin fest überzeugt, dass ich den Menschen die Augen öffnen werde, auch wenn es meinen Tod bedeutet.«

»Euren Tod?«, sagte Gandogar erschrocken. »Besser nicht. So weit wollen wir nicht gehen, den einzigen vernünftigen Elben Älandurs zu verlieren.«

»Es wird sich nicht verhindern lassen«, blieb er dabei. »Ich weiß Rejalin sehr genau einzuschätzen. Ich werde sie reizen, und ab einem gewissen Punkt in meiner Rede wird die Grenze für sie überschritten sein.« Er legte seine Hand auf Tungdils Unterarm. »Diese Tat schulde ich Euch und dem Geborgenen Land. Mein Leben wurde von Sitalia bewahrt, indem sie mir einen Zwerg sandte. Ich verstehe den Willen der Göttin. Unsere beiden Völker sollen gemeinsam gegen diejenigen vorgehen, die den Untergang der Elben heraufbeschwören könnten.«

»Auch Vraccas sieht mit Wohlwollen, was in dieser Stube geschieht«, sagte Gandogar ergriffen. Seine braunen Augen wanderten über die Gesichter der verschworenen Gemeinschaft. »Dennoch, vergessen wir nicht, für das Gelingen unseres Vorhabens zu beten. Wir haben den Beistand der Götter dringend nötig.« Er hielt die Hand über die Mitte des Tisches, und Esdalän legte seine darauf. Danach folgten Mallen, Tungdil und Lot-Ionan. »Möge es gelingen«, sagte der Magus getragen.


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