I


Das Geborgene Land, im Grauen Gebirge an der Südgrenze des Reichs der Fünften, 6241. Sonnenzyklus, Frühling.


»Als ich das letzte Mal hier war, lag alles in Trümmern, Spitzohr. Aber das... das hätte ich niemals vermutet.« Tungdil Goldhand tätschelte das graue Pony, zu dem er gesprochen hatte. Staunend ritt er die letzte Serpentine des Weges entlang, hielt an und legte den Kopf in den Nacken, um hinauf zur Spitze des fünfeckigen Turmes zu sehen, der sich imposant und uneinnehmbar neben dem Gebirgspfad in den Himmel reckte. »Nicht nach nur fünf Sonnenzyklen.« Er nutzte die kurze Rast, um den beinahe leeren Trinkschlauch an die Lippen zu setzen und den letzten Rest Branntwein seine Kehle hinabrinnen zu lassen. Der Alkohol brannte auf seinen rissigen Lippen. An dem Bauwerk vorbei, das selbst einen Oger hätte klein wirken lassen, gelangte er auf das Plateau vor dem Eingang in das Reich der Fünften, der Nachfahren Giselbart Eisenauges.

Es kam ihm wie gestern vor, als er zusammen mit seinem Freund Boindil und seiner heutigen Gefährtin Balyndis an der Spitze von zwanzig Kriegern die Erkundung übernommen hatte. Damals waren sie durch ein Trümmerfeld mit alten Ruinen und bemoosten Steinen gelaufen. Das Meiste, was die Fünften einst an Befestigungen geschaffen hatten, war zerstört gewesen.

An diesem Tag bot sich ihm ein gänzlich anderer Anblick, welcher das Herz eines jeden Kinds des Schmiedes vor Stolz zum Glühen brachte.

An der Stelle, die er nun auf seinem Pony passierte, hatte sich das Loch befunden, in dem sie Teile von Ushnotzs Orkheer ersäuft hatten. Nun war es verfüllt und mit Platten aus schwarzem Marmor abgedeckt worden; Inschriften aus Gold und Vraccasium erin nerten an den glorreichen Kampf und ehrten die gefallenen Zwerge. Ein jeder von ihnen war zum Held geworden und lebte in den Liedern über diese Schlacht fort.

Es gab nicht den leisesten Hinweis auf die verwitterten Ruinen, durch die Tungdil sich einst gepirscht hatte. Jeder der alten Steine war abgeräumt und an einen neuen Platz gesetzt worden. Quader aus hellem Granit und dunklem Basalt fügten sich zu einer zwanzig Schritt hohen, fugenlosen Ringmauer, die wie ein schützender Arm gestaltet war, der sich vor den eigentlichen Durchlass legte.

Drei Türme aus schwarzem Basalt erhoben sich daraus, von deren Plattformen aus die Zwerge über den geschwungenen Steilweg und bestimmt mehr als einhundert Meilen weit in das Königreich Gauragar blickten. Das Banner der Fünften - eine geschlossene Kette aus Vraccasium als Zeichen für die Goldschmiede und die Einigkeit des Stammes - wehte an den Fahnenmasten und verkündete weithin, wer die Wacht hielt. Tungdil spürte, dass Feuchtigkeit sein Gesicht benetzte. Er drehte den Kopf und schaute zu dem nahen Wasserfall, der toste und donnerte wie vor fünf Zyklen. Die weißen Kaskaden mit ihren Wolken aus feinem Dunst schillerten und glänzten in der Frühlingssonne, als wären sie aus Kristall. Alles zusammen ergab einen überwältigenden Eindruck.

Spitzohr schnaubte, hielt vor dem Tor der einschüchternden und zugleich prachtvollen Festung an und suchte nach Gräsern, fand auf dem blanken Fels jedoch nichts, was ihm zusagte. Sein rechter Vorderhuf scharrte ungeduldig.

»Ich weiß, du bist hungrig. Wir werden sicher gleich eingelassen.« Tungdil erhielt vorerst keine weitere Gelegenheit mehr, die prachtvollen Bauten, die von der vollendeten Steinmetzkunst des Stammes der Zweiten zeugten, ausgiebiger zu betrachten.

Die Flügel des haushohen Portals öffneten sich gemächlich. Eisenplatten auf seiner Außenseite boten noch mehr Schutz vor Rammböcken und anderen Belagerungsmaschinen.

Aus dem Eingang schritt ein Zwerg, dessen Helm diamanten funkelte und blitzte. Tungdil wusste, wer einen solchen aufwändigen Kopfschutz trug. Großkönig König Gandogar Silberbart aus dem Clan der Silberbärte vom Stamm des Vierten höchstselbst empfing ihn und eilte ihm mit großen Schritten entgegen.

»Großkönig Gandogar«, grüßte ihn Tungdil. Er ließ sich auf ein Knie herab und langte nach der Axt Feuerklinge, um sie ihm entgegenzurecken und den Gruß der Zwerge zu entbieten. Es war die stumme Erneuerung des Schwurs, das eigene Leben für das Wohl der Zwerge und des Geborgenen Landes zu geben. Gandogar verhinderte es mit einer raschen Geste. Stattdessen streckte er ihm die Hand entgegen. »Nein, Tungdil Goldhand, du sollst nicht vor mir knien. Schlag ein, und es ist gut. Du bist der größte Held unseres Volkes. Deine Verdienste sind unermesslich. Ich sollte mich...«

Tungdil erhob sich, ergriff die ihm dargebotene Hand und unterbrach so den Lobgesang des Großkönigs. Sein von Rostflecken übersätes Kettenhemd knirschte bei der Bewegung.

Gandogar verbarg seinen Schrecken, so gut es ging. Tungdil sah alt aus, älter als er in Wirklichkeit war. Die braunen Augen schauten stumpf umher, als habe die Einfalt hinter ihnen Einzug gehalten. Sein Gesicht wirkte aufgedunsen, der braune Bart und die Haare hingen ungepflegt, teilweise verfilzt herab. Es konnte nicht ausschließlich von der langen Reise herrühren. »Ich sollte mich vor dir verbeugen«, führte er seinen Satz zu Ende.

»Lobe mich nicht zu sehr«, lächelte Tungdil. »Du machst mich verlegen.« Sie schüttelten sich die Hände. Aus den Rivalen von einst waren Vertraute geworden.

»Gehen wir hinein, damit du mit deinen eigenen Augen sehen kannst, was die Besten aus den Stämmen der Ersten, Zweiten und Vierten geleistet haben.« Gandogar hoffte, dass er sein Entsetzen nicht zu offensichtlich gezeigt hatte, und deutete einladend auf den Durchgang. »Nach dir, Tungdil.«

»Was ist mit den Dritten, Großkönig? Was ist deren Beitrag?«, fragte Tungdil, während er die Zügel seines Ponys nahm und es hinter sich her führte.

»Außer deinem, der dies alles erst ermöglichte?«, gab Gandogar zurück. Es fiel ihm nicht leicht, in dem verwahrlosten Tungdil den Zwerg von vor fünf Zyklen zu sehen. Wenn ein Kind des Schmieds sein Kettenhemd rosten ließ, war das ein übles Zeichen. Nun, es würde sich gewiss eine Gelegenheit ergeben, ihn darauf anzusprechen. Doch nicht jetzt. Er nahm den Helm ab, unter dem sein langes, dunkelbraunes Haare zum Vorschein kam. »Die Dritten tun, was sie am besten können: Sie bilden uns im Kämpfen aus. Und sie sind unglaublich gut darin.« Er lächelte. »Komm. Wir haben eine Überraschung für dich.«

Sie schritten durch das Tor.

Auf der anderen Seite erwartete Tungdil ein bewegender Empfang. Zwerginnen und Zwerge jeden Alters säumten den Weg bis zum Eingang in den Berg. Er blickte in fröhliche, lachende Gesichter. Sie freuten sich über seinen Besuch, bejubelten ihn, klatschten. Musikanten standen verteilt auf dem Pfad, auf den Türmen und Mauern. Ihm zu Ehren ertönten Krummhörner und Flöten, den Takt zu der Weise schlugen Zwerge gegen ihre Schilde. Es herrschte eine unfassbare Begeisterung, die einzig ihm galt und ihn wie flüssiges Gold umschmeichelte.

»Es hat sich schnell herumgesprochen, dass du uns besuchst«, meinte Gandogar grinsend. Er freute sich über die gelungene Überrumpelung. »Sie hatten Sehnsucht nach dem größten Helden des Zwergenvolkes.« »Bei Vraccas!« Tungdil spürte die Rührung als Trockenheit und leichten Druck in seiner Kehle. »Man könnte meinen, ich kehrte aus einer siegreichen Schlacht zurück.« Seine Augen schweiften über die freudigen Gesichter der Männer, Frauen und Kinder, die es sich nicht hatten nehmen lassen, ihm ein herzliches Willkommen zu bereiten. Und das, obwohl er fünf Zyklen abgeschieden im Stollen seines Ziehvaters gelebt hatte. Andererseits bedeuteten fünf Zyklen für einen Zwerg nicht die Welt.

Er winkte ihnen zu, während er an der Seite des Großkönigs durch das Spalier schritt. »Danke«, rief er froh. »Danke euch allen!«

Der Beifall schwoll an, sie riefen seinen Namen.

Dabei hätte es leicht zu einem Spießrutenlauf werden können. Denn seine Gemahlin Balyndis war einst die Gattin Glaimbar Scharfklinges aus dem Clan der Eisendrücker vom Stamm Borengars gewesen. Und dieser war nunmehr kein Geringerer als König der Fünften.

Ihm zu begegnen, stellte die größte Herausforderung seines Besuchs dar. Die Bewohner des Grauen Gebirges sahen es ihm offenkundig nach, dass er und Balyndis zusammengefunden hatten, aber mussten es gleich dermaßen viele sein? Er lächelte ihnen tapfer zu und atmete auf, als sie in den riesigen Gang eintraten, der ins Innere des Massivs führte.

Gandogar blieb am Eingang stehen; er bemerkte, dass Tungdils Freude inmitten des heiteren Trubels nicht ungetrübt war. »Wie fühlst du dich?«

Der Zwerg antwortete nicht sofort. »Seltsam. Einerseits singt mein Herz wie klingendes Eisen auf dem Amboss unter dem Hammer eines Schmieds. Andererseits...« Er brach ab, schwieg nachdenklich und räusperte sich. »Ich schätze, ich bin es nicht mehr gewohnt, so viele Zwerge um mich zu haben, Gandogar.« Er lächelte entschuldigend, hob die Hand und winkte. »Gewöhnlich ist es nur eine Zwergin.«

»Ich verstehe dich. Zum Teil«, räumte Gandogar ein. »Wie du abseits jeglicher Gemeinschaft leben kannst, ist mir ein Rätsel. Viele fremde Gesichter um sich zu haben, kann einem schon Angst machen.« Er zwinkerte. »Ich weiß, wovon ich spreche. Der Clan meiner Gemahlin ist riesig. Ich fürchte mich vor ihren Familienfeiern.« Tungdil lachte. Währenddessen nahm einer der Zwerge die Zügel seines getreuen Ponys entgegen und versprach die sorgfältigste Pflege. Tungdil und der Großkönig gingen weiter durch die Korridore, Gänge und Kammern; die Musik und die Rufe der Zwergenmenge wurden leise und leiser.

Tungil erinnerte sich... Hier hatten er und seine Freunde damals nichts als Staub und Unrat vorgefunden. Nach der Vernichtung des Stammes der Fünften hatten die Scheusale des Gottes Tion hunderte von Sonnenzyklen in den Bergen geherrscht.

Damit war es nun vorbei. Die Abordnung aus allen Zwergenstämmen war eingetroffen und hatte nach dem Sieg neues Leben gebracht. Das Graue Gebirge pulsierte, Tungdil hörte das helle Lachen von Kinderstimmen. Der Klang schmerzte ihn.

»Wir haben uns nicht darauf beschränkt, die Schäden am Gestein und in den unzähligen Kammern auszubessern«, hörte er eine männliche Stimme aus einem Nebengang. Ein Zwerg trat samt seinem Gefolge heraus. »Wir haben neue Hallen geschaffen. Neue Hallen für den Nachwuchs, der hier das Licht der aufgehenden Sonne über der Drachenzunge, der Großen Klinge und den anderen Gipfeln erblickt.« Tungdil wusste die eindrucksvolle Erscheinung und die Stimme sofort einzuordnen; er hatte sich gewünscht, erst später auf den Zwerg zu treffen. »Ich grüße dich, König Glaimbar Scharfklinge«, sagte er und verbeugte sich leicht. Überrascht stellte er fest, dass hinter dem Herrscher eine Zwergin in einem bestickten braunen Gewand stand, die ein Neugeborenes auf dem Arm hielt. »Darf ich dir zu deinem Spross gratulieren?« Glaimbar, größer und kräftiger gewachsen als Gandogar, strich sich über den dichten schwarzen Bart. »Meinen Dank, Tungdil Goldhand, und willkommen in meinem Königreich.« Er deutete auf das Kind. »Das sind die wahren Fünften. Wir anderen achten darauf, dass ihnen niemand ihr Reich streitig macht, bis sie es selbst verteidigen können.« Er streckte die Hand aus; die Metallplättchen seiner aufwändigen Rüstung rieben aneinander. »Ich sehe die Sorge in deinem Gesicht, Tungdil. Es sei vergessen, was in der Vergangenheit geschah. Mein Herz hat eine andere gefunden, und ich hege keinen Groll. Weder gegen dich noch gegen Balyndis. Richte es ihr aus, sobald du zu ihr zurückkehrst.«

Trotz der zahlreichen Abenteuer, die er in seinem kurzen Leben bestritten hatte, und der vielen glücklichen Ausgänge aus gefährlichen Lagen hatte sich Tungdil selten so erleichtert gefühlt wie jetzt. Er umfasste die Finger des Königs mit beiden Händen und schüttelte sie wild, dass Gandogar ihn bremsen musste. »Halt, halt, mein Freund. Glaimbar benötigt seinen Arm noch«, lachte er gutmütig. Er wusste um die Vorgeschichte der beiden.

Ein rascher Blick in Glaimbars Gesicht zeigte Gandogar, dass der König der Vierten sich ebenfalls über den ungepflegten Tungdil wunderte. So sah kein Held aus. Auch wenn er lange zurückgezogen gelebt hatte. »Leider brauche ich meine Arme nicht mehr zum Kämpfen«, setzte Glaimbar nach einigen Augenblicken des Schweigens hinzu. »Es ist ruhig geworden am Nordpass.«

»Sei froh, König Glaimbar«, sagte Tungdil. Er fühlte sich wie von tonnenschweren Bleigewichten erlöst. Nach dem mehr als freundlichen Empfang die verzeihenden Worte des einstigen Rivalen zu vernehmen, befreite ihn zumindest von zwei seiner Sorgen. Dennoch mahnte er sich, nicht zu vertrauensselig zu sein. Ohne entsprechende Taten, welche die Worte der Versöhnung belegten, würde er vorerst wachsam bleiben. »Deine Arme werden sicherlich bald müde vom Kinderschaukeln.« »Kommt. Ich führe euch herum und zeige euch die Schönheiten eines erblühenden Zwergenreiches.« Gandogar, Gla'imbar und Tungdil schritten nebeneinander her und erkundeten die Feste.

Ein jeder Stamm hatte sich durch seine vollendete Handwerkskunst verewigt. Die Steinmetzen der Zweiten lieferten makellose Ausbesserungsarbeiten und gruben neue Unterkünfte, Säle, Säulen, Brücken und Treppen aus dem Stein, die von solcher Genauigkeit waren, dass man nur staunen konnte.

Die Schmiede der Ersten krönten die Arbeiten mit Verstrebungen, Schmuckgittern, Gattern und Möbelstücken, Leuchtern und anderen Dingen, die aus Metall jeglicher Art bestanden.

Die Vierten erhoben die Kunst der anderen zur Vollendung, indem sie Edelsteine und Gemmen schliffen, die allerorten für das rechte Funkeln sorgten.

Zusammen mit den meisterhaften Wandbildern aus Gold, Vraccasium und anderen Edelmetallen des vernichteten Stammes der Fünften schufen die neuen Bewohner das mit Abstand prachtvollste aller Zwergenreiche. Es vereinte das Beste von allen in sich.

Gla'imbar labte sich an dem Staunen in den großen Augen seiner hochrangigen Gäste. »Ihr seht, das ganze Graue Gebirge ist zu einem einzigen Hort geworden. Und die außergewöhnlichen Krieger vom Stamm der Dritten lehren uns neue Kampfweisen, um unseren Reichtum und das Geborgene Land zu schützen«, schloss er ihren Rundgang ab und geleitete sie in die Versammlungshalle.

Tungdil erinnerte sich sehr genau an den ungewöhnlichen Raum, der ähnlich einem Theater aufgebaut war. Er besaß eine kreisrunde Grundfläche, die zwanzig Schritt im Durchmesser maß. Die Wände stiegen einen Schritt senkrecht nach oben an und verliefen dann im rechten Winkel etwa vier Schritte nach hinten, woraus sich ein breiter Sims ergab, ehe die Wände erneut senkrecht aufragten.

Hier hatte er Gla'imbar zum König vorgeschlagen. Hier hatte er seine Ansprüche aufgegeben. Wie wäre es gekommen, wenn ich König der Fünften geworden wäre?, fragte er sich, während er die leeren Ränge betrachtete. Besser oder schlechter?

Heute gab es keine Abstimmung. Stattdessen warteten die Clan anführer auf sie, um gemeinsam mit ihnen zu speisen. Sie saßen an einer langen Tafel im Mittelpunkt der untersten Ebene, auf der sich die Köstlichkeiten nach Rezepten aus allen Zwergenreichen türmten. Als die drei eintraten, verstummten die leisen Unterhaltungen, und die Anwesenden erhoben sich alle von ihren Stühlen. Die Knie wurden gebeugt, Waffen gezogen und empor gehalten, Häupter gesenkt. Es war das stumme Versprechen, Leib und Leben für den Großkönig zu geben.

»Erhebt euch und esst«, sagte Gandogar und ging zu seinem Platz am oberen Ende der langen Tafel. »Wir werden es uns schmecken lassen. Die Wanderung hat mich hungrig und sehr durstig gemacht. Wir reden später.« Tungdil setzte sich zu seiner Linken, Gla'imbar zu seiner Rechten. Das Mahl begann, Musikanten spielten dazu auf.

Tungdil freute sich und nahm sich von den Leckereien, die seinem Gaumen entgegenkamen: würziges Wurzelgelee, Ziegenfleisch, Kimpa-Pilze, Sauerkäse mit Kräutern und dampfende Klöße aus dem Mehl von Steinknollen. Das Mahl bedeutete eine außergewöhnliche Abwechslung zu seinem Essen im Stollen, denn zum einen beherrschten weder er noch Balyndis die hohe Kochkunst; zum anderen mochte er das Menschenessen, sie dagegen liebte es traditioneller. Die Kompromisse schmeckten meistens mäßig.

Er wischte sich die Finger am dreckigen Bart ab. In seiner Begeisterung für den Schmaus bemerkte er die entsetzten Mienen der Clanführer nicht. Sein heruntergekommener Anblick traf sie schwer. Gandogar reichte ihm einen Krug Bier. »Koste es. So etwas hast du bei dir nicht, oder?«

Es war sicher nicht unfreundlich gemeint gewesen, aber es traf die dünne Stelle in Tungdils Gemütspanzer. Seine Miene verschloss sich. »Ich bin zufrieden mit dem, was ich bekomme.« Er nahm sich vom Braten, schlug die Zähne ins Ziegenfleisch; die braunrötliche Soße rann ihm blutgleich in die langen, verfilzten Gesichtshaare. Sein unwirsches Verhalten strafte seine Worte Lügen.

»Habt ihr schon Nachwuchs?«, erkundigte sich Gla'imbar, ohne zu ahnen, dass er die nächste Kerbe traf. »Wer weiß, wann wir die nächsten Helden benötigen, und wenn es eure Kinder...«

Tungdil warf das Stück Fleisch kraftvoll zurück auf den Teller, wischte sich den Mund mit dem Ärmel des Kettenhemdes ab und stürzte sein Bier hinunter. Gleich darauf winkte er einen Zwerg herbei, damit dieser ihm nachschenkte. »Wenn es recht ist, erzähle mir, weshalb du mich hast rufen lassen, Großkönig Gandogar«, sagte er und wechselte damit den Gegenstand der Unterhaltung so nachdrücklich, dass es selbst der Begriffsstutzigste verstand.

Glaimbar und der Großkönig wechselten rasche Blicke. »Wie ich vorhin schon erwähnte, ist es sehr ruhig hier geworden, Tungdil«, sagte der König und aß weiter. »Das macht mich stutzig.«

»Zu Recht«, fügte Gandogar an. »Wir haben im Braunen Gebirge seit einem Sonnenzyklus einen regen Ansturm von Orks, die mit aller Macht über die Pässe drängen, als sei die Macht des Guten hinter ihnen her.« Er bekam die Süßspeise gereicht. »Aber am Steinernen Torweg ist es still wie in einer Grabkammer.« »Wir könnten die Tore seit vier Zyklen offen stehen lassen, es würde nichts geschehen«, setzte Glaimbar hinzu. Tungdil erkannte die Nachspeise sogleich und orderte sie für sich selbst. Es war eine süße, helle Creme, wie er sie bei den Freien in der Stadt Goldhort gegessen hatte. Im Haus der Zwergin Myr, die Verrat begangen und mit dem Leben bezahlt hatte. Die er geliebt hatte.

Die Wahl war ein Fehler gewesen. Der erste Löffel brachte die Erinnerung zurück, die bitter schmeckte und ihm den Genuss auf der Zunge verdarb. Wieder langte er nach dem Bier.

»Das ist in der Tat ungewöhnlich«, raunte er mehr, als dass er sprach. Er hüstelte und würgte die Bilder aus der Vergangenheit hinunter. Man benötigte viel Bier, um solche Bilder zu schlucken, und noch mehr, um sie am Aufsteigen zu hindern. »Habt ihr Späher ausgesandt?«

»Nein«, antwortete Glaimbar . »Wir wollten keine schlafenden Oger wecken, solange wir die Befestigungsanlagen hier und auf der anderen Seite nicht instand gesetzt und weiter ausgebaut haben.« »Deswegen bist du hier. Wir dachten an eine kleine Einheit und an dich, Tungdil Goldhand«, übernahm Gandogar. »Du warst schon einmal im Jenseitigen Land, wie mir berichtet wurde.« Seine Hand deutete auf die Axt des Helden, die neben dem Stuhl ruhte. »Du besitzt die Feuerklinge, die alles bezwingt, was dir begegnen könnte. Du bist der beste Anführer für ein solches Unterfangen.«

Tungdil schob die gefüllten Teller von sich und begehrte einen dritten Humpen Bier. Er war dazu übergegangen, seinen Hunger mit Gerstensaft zu stillen. Wie so oft in den vergangenen Zyklen. »Ja, Großkönig, ich war schon im Jenseitigen Land. Ungefähr einen Sonnenumlauf lang. Es war neblig, ich habe drei Krieger gegen Orks verloren, und in einer Höhle habe ich eine Rune entdeckt, die ich nicht entziffern konnte. Den Ausflug war es nicht wert.« Er stürzte das Bier hinab, setzte den Humpen ab und rülpste unterdrückt. »Du musst zugeben, meine Erfahrung ist nicht sehr groß.«

»Nichtsdestotrotz benötigen wir Gewissheit, was dort vor sich geht.« Der Großkönig klang nicht danach, als akzeptierte er eine Ablehnung, nicht einmal eine angedeutete. »Ich möchte, dass du morgen zum Steinernen Torweg aufbrichst und eine Gruppe der besten Krieger ins Jenseitige Land führst, um nach dem Rechten zu schauen.«

Tungdil hatte den vierten Humpen zum Mund geführt, senkte ihn aber wieder. »Es ist neblig, Großkönig. Du kennst Nebel. Wie viele Arten von Grau soll ich dir beschreiben, wenn ich zurückkehre?«

»Warte es ab, Tungdil Goldhand.« Glaimbar verzehrte seine Nachspeise betont langsam. »Du wirst dich vielleicht beim Großkönig entschuldigen müssen, weil es dort vor Ungeheuern wimmelt, die sich zusammenrotten.«

Tungdil widmete sich wieder seinem Bier und betrachtete dann Glaimbar . Er wollte ihn also ins Jenseitige Land schicken. Vielleicht war es mit der Versöhnung doch nicht so weit her, wie er vorhin getan hatte? Wegen seiner misstrauischen Gedanken schalt er sich selbst einen Gnom.

Mit einem Fluch setzte er das Bier ab. »Verzeih mir meinen ungebührlichen Ton, Großkönig Gandogar«, sagte er milder und leise. »Selbstverständlich gehe ich zum Nordpass.« An Glaimbar gewandt: »Es würde mich sogar freuen, auf Tions Geschöpfe zu stoßen. Wenn ich im Kampf den Tod finden sollte, ist es mir auch Recht! Denn...« Er presste die Lippen aufeinander. »Entschuldigt, ich bin zu müde, um ein guter Gesellschafter zu sein.« Er stand auf, verneigte sich vor den beiden Herrschern, langte nach dem Humpen und verließ den Saal.

Die Zwerge folgten ihm mit ihren Blicken, schweigend und kauend. Niemand sprach, um die geballten Zweifel an dem einstigen Helden nicht laut werden zu lassen.

Gandogar betrachtete besorgt die vollen Teller, die Tungdil zurückgelassen hatte. »Etwas hat ihn verändert.« »Was hat ihn verändert?«, setzte Gla'imbar hinzu. »Mein Gefühl sagt mir, dass Balyndis etwas damit zu tun hat.« »Er wird am Steinernen Torweg jemanden finden, mit dem er darüber reden kann. Jemand, der ihm näher steht als wir beide.« Er nahm einen Schluck Bier, während Gla'imbar ihn erstaunt anblickte.

»Er kommt?«

»Nein«, kam die großkönigliche Stimme hohl aus dem Humpen. Gandogar blinzelte über den Rand hinweg, setzte ab, schwenkte das Gefäß, um den Schaum von den Rändern zu spülen, und schüttete den Rest Bier die Kehle hinab. »Er ist schon hier, guter Gla'imbar.«

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