Das Geborgene Land Königreich Urgon, Hauptstadt Dreigipfelburg 6241. Sonnenzyklus, Spätfrühling.
»Ist es in Gauragar zu dieser Zeit bereits wärmer als bei uns?«, fragte König Ortger, ein Mann von beinahe zwanzig Zyklen, mit einer Gestalt wie jeder andere und leider deutlich hervorstehenden Froschaugen; ohne sie wäre er zweifellos als adrett zu bezeichnen gewesen. Er rückte seine mit Blattgold veredelte Lederpanzerung zurecht und zog den Helm ab. Darunter kamen kurze schwarze Haare zum Vorschein, die sich am oberen Hinterkopf bereits lichteten. Dafür wuchs ihm ein dichter schwarzer Bart, den er sich stehen ließ, um älter zu wirken.
»Hoheit, Eure Reise führt Euch nach Porista. Es ist, so wurde mir gesagt, eine sehr schöne und liebreizende Gegend«, antwortete der Leibdiener.
Ortger schaute über die zehn Truhen, in denen sich seine Gewänder für die Reise befanden. »Ich wollte wissen, ob es wärmer als bei uns ist. Dann könnte ich mit einer einzigen Truhe auskommen.«
»Eine Truhe?«, fragte der Mann ungläubig.
»Gewiss. Ich will schnell vorankommen, und das gelingt mir nicht, wenn ich wie ein Kleiderhändler beladen bin.« Er zeigte auf eine. »Diese nehme ich mit, die anderen sollen im Palast bleiben.«
»Sehr wohl«, verneigte sich der Diener und winkte vier Ankleidedamen heran, die sofort begannen, die nicht benötigten Gewänder zurück in die Schränke zu packen.
Ortger sah ihnen zu, dann stellte er sich ans Fenster und schaute über die unendlich wirkenden Gipfelketten, die sich vor ihm ausbreiteten.
Der Palast stand auf dem mächtigsten der drei Hügel, auf denen die Hauptstadt errichtet worden war; unter ihm lag die Siedlung mit ihren bunten Steinhäusern. Holz gab es in den Bergen kaum, daher wurde alles aus Stein errichtet, sofern es möglich war. Verschiedene Gesteinsarten ergaben unterschiedliche Farben, und so zeigte sich Urgon trotz der klobigen, viereckigen Bauart als bunte Stadt.
Ortger war recht unerwartet zu seinem Thron in Urgon gekommen. Nachdem der wahnsinnige Belletain in seiner Verblendung gedroht hatte, nach dem Überfall auf das Schwarze Gebirge und dem Tod Tausender unschuldiger Zwerge einen weiteren Angriff zu führen, hatten ihn mutige Offiziere abgesetzt. Ortger war ein entfernter Verwandter von Lothaire, dem beliebten Vorgänger Belletains, und hatte ein beschauliches Leben weit, weit abseits von Dreigipfelburg in der Nähe der Grenze zum Trollreich Borwöl geführt, als ihn die Nachricht erreicht hatte, dass er der neue Herrscher über die Berge Urgons werden solle. Er hatte nicht lange gebraucht, um die Entscheidung zu treffen. Bereut hatte er sie in den fünf Zyklen seiner Herrschaft niemals.
Es klopfte, ein Wärter trat ein. »Eure Garde ist abreisebereit, Hoheit«, meldete er.
»Es sind nur die schnellsten Pferde ausgewählt worden?«, vergewisserte sich Ortger.
»Wie Ihr es befohlen habt, Hoheit. Die fünfhundert Meilen bis nach Porista werden schnell zurückgelegt sein.« Ortger stülpte den Helm auf den Schopf und schickte die Truhe nach unten. »Eile ist auch dringend geboten.« Er erinnerte sich an die Nachricht von Prinz Mallen, in welcher der Raub des Diamanten Tabains geschildert wurde. Die Beschreibung des schrecklichen Wesens, das unter den Wachen schlimmer als ein Tier gewütet hatte, hatte ihm einen Albtraum beschert. Einen sehr echt wirkenden Traum, der sein Herz zum Rasen gebracht hatte. Eine Bestie hatte ihn durch den Palast gehetzt und jeden Mann, dem sie begegnet war, mit bloßen Händen zerrissen. Er hatte das Brüllen so deutlich vernommen, als hätte sie neben seinem Bett gestanden.
Ihn schauderte es. Ortger wollte nicht an die Bilder der Nacht denken und blickte aus dem Fenster über die friedlichen Gipfel Urgons und seine Stadt.
Mit dem Raub rückte das Verschwinden des ersten Steines in Ran Ribastur für ihn in ein neues Licht. »Ist unser Diamant sicher verwahrt?«
»Wir haben ihn an den Ort gebracht, den Ihr uns gezeigt habt, Hoheit.«
»Wie viel Mann stehen Wache?«
»Dreißig Wärter, Hoheit. Tag und Nacht. Vier Speerschleudern sind aufgestellt und jederzeit feuerbereit. Wir laden und entspannen sie im Wechsel, damit die Sehnen nicht durch den ständigen Zug reißen.« Der Herrscher hörte es mit Zufriedenheit. Mehr konnte er zum Schutz nicht aufbieten. Wer sich den Weg durch seine Soldaten gebahnt hatte, wurde durch die steinerne Tür vor der Kammer tief im Bauch des Palastes aufgehalten. Sie war so dick und schwer, dass sie an Ort und Stelle aus dem Berg gemeißelt und mit Scharnieren versehen worden war; erst danach hatten sie den Raum dahinter aus dem Felsen geschlagen. Es bedurfte der Kraft von vier Ochsen, um sie mithilfe einer Winde und Ketten überhaupt zu öffnen. Nicht einmal die Kraft eines Trolls hätte ausgereicht, um die Tür zu bewegen.
Dennoch schritt Ortger mit einem unguten Gefühl durch seinen schlichten Steinpalast, der Besucher mehr an eine militärische Befestigung denn eine königliche Residenz erinnerte. Er erreichte den Hof, schwang sich in den Sattel und begab sich an die Seite von Meinart, dem Hauptmann der Garde. »Im Galopp nach Porista«, befahl er knapp. Gleich darauf donnerten die Pferde zum Tor hinaus und die Sträßchen Dreigipfelburgs entlang nach Südwesten.
Sie jagten die schmalen Wege entlang, die mitunter nur zwei Pferde nebeneinander erlaubten. Rechts ragten Wände senkrecht auf und stürmten den Himmel, links gähnten finstere Abgründe und schier unendlich lange Steilhänge, während in weiter Entfernung Gipfel und Bergwiesen von der Sonne beschienen wurden; Licht und Schatten spielten miteinander. Vergaß man aufgrund der schönen Aussicht, wohin man ritt, bezahlte man die Unachtsamkeit rasch mit dem Leben.
Der forsche Ritt erforderte stete Umsicht. Der Hauptmann sandte einen Gardisten voraus, der ihnen Platz schaffen sollte. Falls ihnen ein Gespann ohne Vorwarnung hinter einer Biegung begeg nete, könnte es zu Verletzten, wenn nicht sogar Toten kommen. Wer vom Bock oder aus dem Sattel stürzte, war verloren. Die Schluchten Urgons kannten keine Gnade.
Sie überquerten einen schmalen Pass.
Ortger dachte an seinen Traum und wandte den Kopf aus einem unbestimmten Gefühl heraus zurück. Von hier aus hatte man einen guten Blick auf Dreigipfelburg, das malerisch vom Sonnenlicht umspielt wurde. Und in einem der Strahlen, die durch die weißen Wolken brachen, blitzte es unmittelbar vor dem Eingang zum Palast metallisch auf.
»Haltet an!«, befahl Ortger, brachte sein Pferd zum Stehen und wendete, damit er besser sehen konnte. Wieder flammte ein gleißendes Funkeln auf, das dieses Mal viel zu hell war, um auf einem Helm oder Schild gespiegeltes Licht zu sein; gleich darauf stieg Rauch aus dem Palast auf.
»Zurück!« Der König deutete zur Dreigipfelburg. »Ein Überfall! Sie haben es auf unseren Diamanten abgesehen. Wir stoßen in den Rücken des Gegners und überrumpeln ihn.«
»Hoheit, ist es weise zurückzukehren, während der Angriff läuft?«, warf Meinart ein. »Erinnert Euch an die Botschaft von Prinz Mallen. Wenn Magie im Spiel ist, solltet Ihr dem Kampf fern bleiben. Sendet einen Boten aus, der Euch über die...«
Ortger wäre zu gern auf den Vorschlag eingegangen, doch er erlaubte sich keine Schwäche. Im Traum hatte die Kreatur ihn gejagt. Es wurde Zeit, dass er den Spieß umdrehte. »Es ist lediglich eine Kreatur, Meinart. In Güldengarb hat sie die Männer mit ihrem Auftauchen überrascht, meine Soldaten sind auf sie vorbereitet. Wir vernichten sie.« Ortger stieß dem Pferd die Fersen in die Flanken und preschte den Weg zurück, den sie gekommen waren.
In der Stadt herrschte helle Aufregung. Die Bewohner rannten auf den Straßen umher und zeigten immer wieder zum Palast, aus dessen Fenstern Qualm stieg. Manche bewaffneten sich mit Eimern, um beim Löschen zu Hilfe zu eilen, andere trugen Schwerter und Speere, um den Soldaten beizustehen. Die Kunde vom Überfall hatte sich rasch verbreitet.
Mit Ortger an der Spitze, galoppierte die Garde durch das zerstörte Haupttor in den Innenhof. Das herabgelassene Eisengatter war geschmolzen und zerdrückt, als hätten die glühenden Finger eines Riesen damit gespielt. Im Hof lagen abgerissene, verbrannte Körperteile neben verkohlten Speerschäften und zerronnenen Schwertern. Hier und da waren schwarze Stellen auf den Pflastersteinen zu sehen, die leise knisterten und unter unvorstellbarer Hitze leise klirrend barsten.
»Ich bekomme Zweifel, ob meine Schutzmaßnahmen ausreichen«, sagte Ortger entsetzt zu Meinart und konnte die Augen nicht von den blutigen Leichenteilen abwenden. Bei Sonnenaufgang hatte er sich noch mit einigen seiner Untergebenen unterhalten und gelacht. Jetzt war nichts mehr von ihnen geblieben als geschundene Kadaver. Ortger würgte, zitterte. Was immer die Menschen getötet hatte, besaß Kräfte, wie sie lange nicht mehr im Geborgenen Land zu spüren gewesen waren. Wie er sie noch niemals zu spüren bekommen hatte. Sie folgten der Spur der Verwüstung, liefen durch den in Mitleidenschaft gezogenen Haupttrakt, in dem an verschiedenen Stellen Feuer ausgebrochen war. Achtlos rannten sie an den stöhnenden Verletzten vorüber zu der Treppe in den Keller. Der Schutz des Diamanten hatte Vorrang.
Als die Truppe die letzten Stufen zum Vorraum der Schatzkammer hinabstieg, hörten sie ein lautes Zischen und sahen flackernden Lichterschein über die Wände und die Treppe huschen. Begleitet wurde das Schauspiel von einem bestialischen Brüllen und menschlichen Todesschreien. Eine beißende Rauchwolke schlug ihnen entgegen, von der selbst der Einfallsloseste unter den Gardisten ahnte, was in der Kammer in Flammen aufgegangen war.
Ortger blieb stehen. Das Zittern hatte sich verstärkt; sein Körper weigerte sich, noch eine Bewegung zu machen und sich dahin zu begeben, wo schrecklicher Tod hauste und sich nahm, was er wollte. Auch wenn sein Geist genau wusste, welchen Wert und welche Macht der verwahrte Diamant besaß: Nichts hätte den jungen König jetzt noch dazu gebracht, ihn zu verteidigen. Die Gestalt aus seinem Traum war wirklich zu ihm gekommen. Es krachte laut. Rumpelnd zerbarst das Gestein, abgesplitterte Bröckchen sprangen gegen die Treppenwände und hüpften dem König vor die Füße. Gleich darauf brandete ein siegessicheres Lachen zu ihnen, Eisen klirrte, und zwei abgeschlagene Köpfe rollten bis zur ersten Stufe.
»Es hat die Tür zur Schatzkammer zerschlagen. Palandiell steh uns bei!«, flüsterte Ortger angsterfüllt und machte einen Schritt rückwärts. »Der Stein... ist verloren.«
Ein dumpfes Krachen näherte sich der Treppe, es wiederholte sich in regelmäßigen Abständen wie die Schrittfolge eines Giganten. Ein langer, breiter Schatten wurde von den Feuern auf den Boden geworfen und kam auf sie zu. Er wuchs, griff auf die Schatten der Männer über und verschluckte sie. Die Kreatur, die den monströsen Umriss auf den Stein warf, folgte, sie lief vornübergebeugt, weil sie aufrecht nicht in den Gang passte.
Aber es war nicht die Kreatur aus dem Traum. Diese hier war weitaus schrecklicher.
Sie bestand aus Tionium, vollkommen aus schwarzem Tionium! Arme und Beine waren zwei Schritt lang, der Rumpf nicht weniger hoch und so dick wie drei Bierfässer. In dem stierähnlichen Dämonenkopf aus Metall glommen zwei rote Augen, weißer und dunkler Dampf quoll aus dem Visier.
Ein Geflecht aus unleserlichen Symbolen überzog die Konstruktion; sie leuchteten fahlgrün und schienen zu lauern, um im nächsten Augenblick erstrahlen zu dürfen. Ringsum standen schimmernde Klingen und giftfeuchte Dornen hervor. Das Blut der getöteten Soldaten haftete beinahe überall an dem künstlichen Wesen, Ortger erkannte Haarbüschel und Kleidungsfetzen, die an den Spitzen hingen.
Meinart packte Ortgers Arm. »Palandiell beschütze uns! Seht nur, ist das da, neben dem Hals, nicht eine Elbenrune?«
Ortgers Augen waren nicht in der Lage, die angegebene Stelle zu finden. Sein Blick huschte voller Angst über die Kreatur, und sein Verstand weigerte sich, das Grauen zu erfassen.
Wann immer das Wesen ein Gliedmaß bewegte, zischte es, und irgendwo aus dem Innern der überlebensgroßen, schwarzen Rüstung erklang mechanisches Klicken und Rattern. Eine einzige Metallklaue konnte spielend die Köpfe von drei Männern gleichzeitig umschließen. Unterhalb des Halses war ein rundes Fenster mit dickem Glas eingelassen, durch das ein furchtbares und zugleich anziehendes Gesicht blickte und die Reißzähne fletschte. Für Ortger reichte dieser Anblick aus. Seine bebenden Finger öffneten sich von selbst, das Schwert fiel ihm aus der Hand; klirrend prallte es auf den Stein und rutschte die Treppe hinab. »Weg von hier«, stammelte er und wandte sich zum Rückzug.
Die Runen leuchteten plötzlich auf. Seitlich taten sich fünf waagerecht nebeneinander liegende Löcher auf, die gefährlich nach Mündungen aussahen.
Dampf schoss fauchend aus den Öffnungen, und die Soldaten rund um Ortger fielen schreiend zu Boden; er selbst spürte nur einen Luftzug an seinem linken Ohr. Aus den Körpern der Getroffenen ragten die gefiederten Enden von eisenverstärkten Armbrustbolzen. Die vorderen Gardisten waren durchschlagen worden, und die Geschosse hatten die Reihen dahinter sogar noch verletzt. Zu den Toten zählte auch Hauptmann Meinart. Nun gab es kein Halten mehr.
Die Soldaten stürzten in heilloser Flucht die Treppe hinauf, Ortger rannte vorweg und beschmutzte sich vor Furcht die Hose mit seinem eigenen Urin.
Ein erfahrener Krieger hätte sicherlich befohlen, die Wehrgänge rund um den Hof zu besetzen, die Zinnen abzureißen und der Kreatur mit den Steinbrocken zuzusetzen. Aber der junge König besaß diese Abgebrühtheit nicht. Nicht nach diesem Traum, nicht nach diesem Anblick.
Allzu gern ließ er sich von den Gardisten eiligst zu den Pferden führen und flüchtete mit ihnen aus Dreigipfelburg, um sein Leben in Sicherheit zu bringen. Von seiner Kampflust, die er auf dem Pass an den Tag gelegt hatte, war angesichts der Kreatur nichts mehr geblieben. Erst in sicherem Abstand hielt sein Tross an, und Ortger sandte zwei Späher zurück in die Stadt, um zu erkunden, was weiterhin geschehen war. Sie kehrten mit vernichtenden Meldungen wieder.
»Der Diamant ist verloren, Hoheit«, bestätigte der eine, was alle bereits zu wissen geglaubt hatten. »Diese Kreatur hat die Tür zerschlagen und nichts mitgenommen außer dem Stein. Eure Kronjuwelen sind...« Ortger winkte ab und sah den zweiten Mann an. »Es gibt verschiedene Meldungen zum Verbleib des Angreifers«, berichtete dieser. »Die einen sagen, dass er durch die Straßen der Stadt in die Berge gelaufen wäre, die anderen, dass er sich in Luft aufgelöst hätte, Hoheit. Die Brände im Palast sind gelöscht, und die Verletzten werden versorgt.«
Dem König stieg der Geruch des eigenen, trocknenden Urins in die Nase und erinnerte ihn an die Schmach und seine allzu menschliche, durchaus verständliche Feigheit. Der Angreifer sah nicht wie dieses Ding aus, das Mallen in seinem Brief beschrieben hatte. Bis auf zwei Dinge. Ortger rief sich das schreckliche Gesicht hinter dem dicken Glas in Erinnerung, und er wusste das Leuchten der Zeichen auf der Rüstung zu deuten: Magie. »Wir ziehen weiter nach Porista«, entschied er. »Die Nachricht über den Raub eines weiteren Steines muss den anderen Herrschern mitgeteilt werden. Die verbliebenen Diamanten müssen noch besser beschützt werden.« Er ließ das Pferd antraben. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wie es aussieht, gibt es jemanden im Geborgenen Land, der sich auf Magie versteht und die Macht an sich reißen will. Und nun vorwärts!«
Der Trupp verfiel in Galopp und jagte ein zweites Mal den Weg entlang, den sie heute schon einmal genommen hatten.
Ortger versagte sich allerdings einen neuerlichen Blick über die Schulter nach Dreigipfelburg. Die Angst, wieder einer Katastrophe ins Auge sehen zu müssen, war zu groß.