Das Geborgene Land, Königinnenreich Weyurn, Mifurdania 6241. Sonnenzyklus, Spätfrühling.
»Duck dich, Unglaublicher!« Rodario erhielt Tassias Warnung gerade noch rechzeitig. Er bückte sich, und der gegen seinen Rücken geschwungene Kehrichteimer verfehlte ihn knapp - und traf stattdessen die Frau gegen die Brust. Aufschreiend taumelte sie rückwärts und fiel in die Fluten Mifurdanias, die ihr den stinkenden Inhalt des Eimers gleich wieder vom Kleid spülten.
»Glück im Unglück«, grinste Rodario und schlug dem vorletzten Verfolger, der gerade aus dem Boot auf den Steg gesprungen kam, die Faust ins Gesicht. Auch er tauchte ins Wasser ein. Dann wandte sich der Mime strahlend um. »Herr Umtaschen! Ihr habt mich nicht vergessen? Es freut mich, dass Ihr so rüstig geblieben seid.« »Du Schwängerer!«, schrie der ältere Mann, der unvermutet aufgetaucht war und den Kehrichteimer geschwungen hatte. Er holte ein weiteres Mal aus. »Sie war dem Sohn des Richters versprochen. Der wollte sie mit deinem Balg im Bauch nicht mehr nehmen!« Er schlug zu. »Dafür entmanne ich dich.« »Herr Umtaschen, Eure Tochter hat mich verführt«, gab Rodario zurück und fing den Eimer ab. »Und ich war nicht der Erste, den sie hatte. Glaubt mir, ich hätte es sofort erkannt, wäre es anders gewesen.« Er entriss ihm den Behälter und warf ihn dem letzten ihrer Verfolger entgegen, die ihnen Noliks Vater auf den Hals gehetzt hatte.
Der Mann, der in dem schwankenden Boot stand und gerade überlegte, was er tun sollte, wurde von dem Eimer am Bein getroffen und verlor auf dem unruhigen Untergrund das Gleichgewicht. Platschend folgte er Tassia und seinem Kameraden in die Fluten.
»Die anderen haben ihr dabei wenigstens kein Kind gemacht!«, tobte Umtaschen weiter und schwang die Fäuste. »Wenn das so ist, werter Herr Umtaschen, werde ich mich gern noch mal mit ihr treffen und sie verwöhnen. Euren Segen habe ich demnach ja, wenn ich dieses Mal ein wenig darauf achte, wohin ich ziele«, lachte Rodario und machte einen schnellen Schritt auf den Gegner zu.
Umtaschen sprang zurück und flüchtete in sein Haus. »Wir sprechen uns noch!«, versprach er wütend und verschwand eilends, als Rodario fest auf den Boden stampfte.
Jemand bespritzte ihn mit Wasser, und er drehte sich um.
Eine Frauenhand reckte sich über den Rand des Steges und winkte. »Hilf mir raus, bevor die anderen beiden mich schnappen!«, rief Tassia, und er eilte an den Rand, um sie hinaufzuziehen. Nass bis auf die Knochen stand sie vor ihm und bemerkte, dass ihr Kleid vollständig durchsichtig wurde, wenn es mit viel Wasser in Berührung kam.
Die zwei Männer, die sie verfolgt hatten, wagten sich nicht näher heran, sondern schwammen auf die andere Seite des Kanals, wo drei weitere Schläger auftauchten.
»Was jetzt?«, fragte Tassia und strich sich das nasse blonde Haar nach hinten. In Rodarios Augen war sie die reine Verführung. »Sie werden sicher schon beim Curiosum gewesen sein.«
»Und weil sie die Kette dort nicht fanden, nehmen sie an, dass einer von uns sie dabei hat«, nickte er. »He! He, ihr Rinderhirne!«, rief er den Männern zu und täuschte vor, etwas in der Hand zu halten. »Ihr wollt die Kette? Daraus wird nichts! Sagt Noliks Vater, dass wir sie verkaufen werden. Er kann nach Mifurdania kommen und sie auslösen.« Einer der Schläger schickte sich an, über die vertäuten Boote zu ihnen zu springen, aber Rodario machte einen Schritt ans Ende des Steges. »Halt! Wenn einer von euch uns weiterfolgt, werden wir die Kette in einem der Kanäle versenken, und ihr könnt tauchen gehen«, drohte er. Auf den Wink ihres Anführers kehrte der Mann ans Land zurück. »Brav!«, lobte ihn der Mime, nahm Tassias Hand und lief los. »Bleibt, wo ihr seid«, mahnte er ein letztes Mal und rannte lachend um die Ecke.
Als sie unter einem Dach aus gespannten Wäscheleinen mit aufgehängten Kleidern entlangliefen, blieb Tassia stehen. »Warte! Mach eine Räuberleiter.« Rodario tat, was sie verlangte.
Sie stieg mit einem Fuß auf die gefalteten Hände, den anderen stemmte sie gegen seine Schulter. So sicher, als stünde sie auf festem Boden, fischte sie sich ein dunkelgelbes Kleid von der Leine und sprang wieder hinab. Ohne sich um die Umgebung oder sogar ihn zu kümmern, schlüpfte sie aus ihrer nassen Kleidung und bedeckte die Blöße mit ihrer Beute; danach gab sie Rodario einen leidenschaftlichen Kuss, lachte und rannte weiter. »Dieser Wildfang wird entweder mein Ende oder die Krönung meines Lebens«, grinste er und hetzte ihr hinterher.
Am späten Nachmittag gelangten sie auf Umwegen zu der Schmiede von Lambus. Rodario wollte sich bei dem Mann bedanken und noch ein paar weitere Einzelheiten zu Furgas' Aufenthaltsort erfahren. Das Tor ins Innere der Schmiede stand offen. Ein Feuer brannte in der Esse, zwei rechteckige Eisenrohlinge glühten in den Flammen und warteten darauf, bearbeitet zu werden. Den Schmied sahen sie nicht. »Lambus, alter Eisenklöppler«, rief Rodario. »Bist du hier?« Er trat in das Halbdunkel. Noch bevor sich seine Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten, stolperte er über ein Hindernis am Boden. »Was, bei...« Er bückte sich und sah, dass er beinahe über die ausgestreckten Beine eines jungen Mannes gefallen wäre, in dessen rechter Seite ein großes Loch klaffte. Blut hatte sich auf dem Boden ausgebreitet. »Gibt Acht, Tassia!«, warnte er die Frau, die zu ihm aufschloss. »Hier ist ein Mord geschehen.«
»Vielleicht die Schläger von Noliks Vater?« Sie sah über seine Schulter und erbleichte. Würgend ging sie rückwärts, wandte sich um und rannte zum Ausgang, um frische Luft zu schöpfen.
Rodario betrachtete die klaffenden Schnitte, die das Werk einer sehr scharfen Axt waren. »Glaube ich nicht. Sie hatten nichts dabei, was eine solche Wunde...« Rodario stand auf und betrachtete die Eisen im Feuer. Und wirklich mochte eines davon ein Axtkopf gewesen sein. »Lambus?«, rief er nochmals, nahm einen Schürhaken als Waffe und tastete sich tiefer in das Zwielicht hinein.
Da sprang ihn eine Gestalt aus dem Schatten heraus an.
Geistesgegenwärtig drehte sich Rodario zur Seite, und der Dolch verfehlte seinen Hals knapp. »Du Meuchler!«, rief er, drosch mit dem Schürhaken zu und traf den dunkel gekleideten Angreifer quer ins Gesicht, der daraufhin ächzend zusammenbrach. Das Messer fiel klirrend auf den Boden. Sicherheitshalber verpasste er ihm noch einen Hieb, danach packte er ihn und zerrte ihn in den helleren Teil der Scheune. »Schauen wir mal, wer du bist.« Er blickte in ein dreckiges, von leichten Brandflecken geziertes Gesicht. Der Mann war sicherlich fünfzig Zyklen alt und wirkte mehr wie ein einfacher Arbeiter denn wie ein berufsmäßiger Mörder. Der Schürhaken hatte ihm die Nase gebrochen und zwei Zähne ausgeschlagen, Blut rann aus den Nasenlöchern und dem Mund. Benommen versuchte er, sich loszureißen, was ihm aber nicht gelang.
»Tassia, bring mir ein glühendes Eisen!«, bat Rodario sie. »Wir werden damit seine Zunge lockern.« »Nein, lasst mich gehen«, bat er sie undeutlich und voller Angst. »Er bringt sie um, wenn ich nicht rechzeitig zurückkehre.«
»Hast du den Mann getötet?« Rodario nahm das glühend heiße Stück Metall und hielt es vor die weit aufgerissenen Augen des Mannes. »Wer schickt dich, und wo ist Lambus?«
Der Mann zappelte wie ein Fisch. »Ich war es nicht! Ilgar hat es getan, weil der Junge sich geweigert hat mitzukommen und uns alle verraten wollte.«
Mit jeder Antwort türmten sich gleich die nächsten Rätsel. »Erzähle in einem Guss, alter Mann, oder - das schwöre ich dir bei Samusin - das Eisen hier brennt dir die Augen trocken«, schüchterte Rodario den Gefangenen weiter ein und setzte seine berüchtigte Miene auf, mit der er vorzugsweise finstere Gesellen spielte. Dabei dachte er nicht im Traum daran, dem Alten noch mehr Schaden zuzufügen.
»Seid Ihr ein Freund vom Schmied?«, fragte der Mann, dessen Benommenheit wich. »Dann bitte ich Euch, Herr, bei der Gnade von Palandiell: Berichtet niemandem von dem, was Ihr gesehen habt. Sagt, Lambus sei auf Wanderschaft, und lasst die Leiche des Jungen verschwinden. Nur so wird Euer Freund wieder zurückkehren dürfen.«
»Ist Furgas ebenfalls in der Gewalt von dem, der Lambus mitgenommen hat?«, fragte Rodario ihn aus einer Eingebung heraus. »Er ist ungefähr so groß wie ich, hatte schwarze Haare und...«
Das Gesicht des Mannes veränderte sich, er wirkte verblüfft. »Ihr kennt den Magister?«
»Er ist mein bester Freund.«
Der Mann spie ihm ins Gesicht. »Die Dämonen sollen Euch...«
Rodario hörte ein leises Schwirren, wie er es aus seinen Abenteuern außerhalb der Bühne kennen gelernt hatte; ein leichter Ruck ging durch den Leib seines Gefangenen, und er erschlaffte im Griff des Mimen. Ein Pfeilschaft ragte aus seinem Rücken, die Spitze hatte augenblicklich den Tod gebracht.
»Runter, Tassia! Geh in Deckung!«, rief Rodario, hechtete zur Seite hinter einen Stapel Kohle und wischte sich den blutigen Speichel des Mannes aus dem Gesicht. Er hatte schon manches Mal in seinem Leben Dinge nicht begriffen, aber in diesem Augenblick erlebte er den Höhepunkt von Verständnislosigkeit.
Leise Schritte näherten sich. Rodario vernahm das Knirschen einer Lederrüstung, Eisenringe schlugen aneinander, und ein Schwert wurde gezogen. Als ein Stiefel neben ihm erschien, hielt er die Zange über den Rand und ließ das heiße Eisen in den Schaft gleiten.
Es zischte laut, der Mann schrie gellend auf und rannte aus der Scheune, eine Qualmwolke hinter sich herziehend. Gleich darauf platschte es. Der Fremde war ins Wasser gesprungen, um seinem geschundenen Bein Kühlung zu verschaffen.
»Ha!« Rodario lief hinaus, nahm einen leichteren Schmiedehammer und folgte ihm. Doch der Mann war verschwunden, lediglich die Wellen auf dem Wasser verrieten, dass jemand eingetaucht war. Tassia kam an seine Seite. »Er ist abgesoffen?«, wunderte sie sich. »Er hat in seinem Schmerz wohl vergessen, dass er nicht schwimmen kann.«
Aus den Augenwinkeln bemerkte Rodario ein Boot, das sich bereits einige Mastlängen von Mifurdania entfernt hatte. Es war ein plumper Frachtkahn, beladen bis zur obersten Bordkante, und er lag derart tief im Wasser, dass ein sanfter Wellenschlag ausge reicht hätte, um ihn vollaufen zu lassen. Das breite Segel schob den Kiel voran, er fuhr nach Norden. Am Heck stand eine brünette Frau in einem schlichten, dunklen Miederkleid, die durch ein langes Rohr zu ihnen schaute, Glas blitzte im Schein der Sonne auf. Dann legte sie das Rohr hinter sich.
»Tassia. Wir gehen.« Rodario ließ die Gestalt nicht aus den Augen. Sie erinnerte ihn an jemanden, doch das konnte nicht sein...
Tassia starrte auf die vielen kleinen Strudel. »Vielleicht taucht er wieder auf?«
Die fremde Frau nahm einen Kurzbogen und legte einen Pfeil auf die Sehne.
»Tassia! Komm!«
Die Sehne wurde mit einem schnellen Zug nach hinten gedehnt, die Spitze zeigte zu ihm und seiner selbst ernannten Gemahlin.
»Was denn, Unglaublicher?« Sie deutete nach links. »Da könnte er sein. Ich sehe was Dunkles. Vielleicht...« Rodario reichte die Zeit gerade noch, um sich gegen Tassia zu werfen und zusammen mit ihr in die kalten Fluten einzutauchen. Er wollte keine Pfeilspitze in seinem und auch nicht in ihrem Leib. Das Wasser umfing ihn mit kalten, weichen Armen, prustend kehrte er im Schutz eines Steges an die Oberfläche zurück. Tassia durchbrach mit einem lauten Fluch die Wasseroberfläche und schlug nach ihm. »Was hat das zu bedeuten?! Zweimal an einem Tag nass zu werden ist mir zu viel, Rodario!«
»Langsam, kleine Meermaid.« Er deutete nach vorn in Richtung Kahn.
Die Frau stand noch immer auf ihrem Posten, den nächsten Pfeil auf die Sehne gelegt, und lauerte darauf, dass sie ein Ziel zu Gesicht bekam.
Als der Kopf eines Menschen plötzlich wie ein Korken auf dem ruhigen Wasser tanzte, zögerte sie nicht. Ziehen, zielen, loslassen - die Bewegung war fließend, schnell und fehlerlos. Das Geschoss sirrte heran und bohrte sich seitlich vom rechten Ohr in den Schädel.
Der Schrei des Getroffenen wurde durch das in den Mund eindringende Nass zu einem erstickten, blubbernden Laut. Sie hatte in ihrem Eifer den eigenen Gefolgsmann getötet, ohne es zu ahnen.
»Palandiell sei Dank«, raunte Tassia und konnte den Blick nicht von der Leiche wenden, die mit dem Gesicht nach unten an ihnen vorbeitrieb; der Pfeil ragte wie ein toter Ast nach oben. »Und natürlich dir, Rodario. Ich schulde dir mein Leben.«, sagte sie ernsthaft und küsste ihn lange auf den Mund. Trotz der Kühle um ihn herum spürte er ein warmes Kribbeln in seinem Bauch.
Als sie wieder nach dem Kahn sahen, war er hinter einer Häuserreihe verschwunden. Sie kletterten an Land und machten sich - nass wie sie waren - auf den Weg zum Lager des Curiosum.
Zurück blieben drei Leichen und ein Berg neuer Ungereimtheiten. Da sich die Mehrzahl der ungeheueren Begebenheiten des heutigen Tages offensichtlich alle um seinen besten Freund Furgas drehten, war Rodario fest entschlossen, die Rätsel zu lüften. Und ein Bühnenstück daraus zu machen.