Das Geborgene Land, Schwarzes Gebirge, Zwergenreich der Dritten 6241. Sonnenzyklus, Spätfrühling.


König Malbalor Weißauge aus dem Clan der Knochenbrecher vom Stamm der Dritten, Lorimbur, verlas die Nachricht, die ihm der Bote von Königin Xamtys überbracht hatte. Darin stand etwas von einer Maschine und Zwergenrunen geschrieben, die den Tod verhießen. Eine Versammlung sollte stattfinden, die Herrscher und Stadtkönige der Freien sollten ins Graue Gebirge reisen.

»Es wird die alten Gräben aufreißen«, sagte er zu den Vertretern der Clans und den vier übrigen Zwergenstämmen, die mit ihm zusammen in der Halle um den Tisch saßen.

Das Reich der Dritten bestand lediglich dem Namen nach. Nach dem Ende von Lorimbas Stahlherz und der nahezu gänzlichen Ausrottung des Stammes der Dritten durch das Heer des wahnsinnigen und inzwischen abgesetzten Königs Belletain hatten die anderen Stämme Krieger in den Osten gesandt, um den Durchgang ins Geborgene Land zu sichern. Dritte gab es im Schwarzen Gebirge nur noch wenige, und sie bildeten die Minderheit. Manche sagten, die geduldete Minderheit.

»Ihr wisst, dass die meisten Überlebenden meines Stammes sich dem Frieden angeschlossen haben und nun Seite an Seite mit euch leben.« Malbalor hielt das Papier in die Luft. »Diese Zeilen bedrohen die neue Gemeinschaft.«

»Falls es jemals eine gewesen ist«, kam es irgendwo aus der Runde.

Der König konnte nicht einschätzen, wessen Mund die Worte entsprangen. Malbalor erhob sich erbost und zeigte seine imposante Gestalt. Er war ein klassischer Dritter, groß, kräftig und kampfgestählt. Über seinem Kettenhemd trug er einen Panzer aus dünnen Eisenplättchen, die Beine wurden durch einen Kettenrock geschützt. Die braunen Augen versprühten Feuer. »Genau solche Äußerungen sind es, welche die Gräben aufreißen!«, rief er und schlug mit der Faust auf den Tisch; sein langer, blau gefärbter Bart zitterte. »Merkt ihr nicht, dass es eine List ist? Die Runen sollen doch das Misstrauen gegenüber den Dritten schüren, die friedlich unter euch leben, und neuen Hass säen. Haben wir, die Nachfahren des Zwergentöters Lorimbur, nicht bewiesen, dass wir eben nicht nach dem Tod der anderen Stämme trachten?«

»Was sind schon fünf Zyklen«, erklang es wieder halblaut.

Aber dieses Mal wurde der Zwischenrufer verraten, denn sein Nachbar wandte sich ihm zu und sagte: »Wieso stehst du nicht auf und erhebst deine Stimme laut, anstatt dich feige zu verkriechen, Ginsgar Ungewalt aus dem Clan der Nagelschmieds vom Stamm des Ersten, Borengar?«

Derart entlarvt, erhob sich der Zwerg; er war breit an Statur, mit einem dichten feuerroten Bart und langen Haarlocken. In der Linken hielt er einen Kriegshammer, wie es einem Zwerg aus dem Clan der besten Schmiede gebührte. »Ich habe die Dritten niemals leiden können. Ich verachte sie aufgrund ihrer Niedertracht, ihrer Hinterlist und ihrer Unehrenhaftigkeit«, sagte er unerschrocken und blickte dabei dem König ins Gesicht. »Dass einer von euch, Malbalor, eine solche Maschine ersonnen hat, wundert mich nicht. Ich sehe, dass die Dritten wieder töten, und das wundert mich schon gar nicht.« Er drehte sich, um alle anderen Anwesenden ansehen zu können. »Senden wir ein Heer aus und vernichten das Lager im Jenseitigen Land, danach treiben wir alle Dritten zusammen und sperren sie ein. Dann herrscht endlich Ruhe.«

Sein Nachbar, der ihn bloßgestellt hatte, hob die Augenbrauen. »Es gibt Dritte, die vorgeben, einem anderen Stamm anzugehören, um Unruhe zu stiften. Wenn man dich so reden hört und deinen Wuchs betrachtet, könnte man auf dumme Gedanken kommen.«

Ginsgar wirbelte herum, reckte den Hammer gegen ihn. »Du wagst es, mich einen Dritten zu schimpfen?«, schrie er zornig. »Mein Clan lebt seit unzähligen Zyklen im Roten Gebirge und...«

»Genug!«, befahl Malbalor. »Setz dich wieder hin, Ginsgar. Im Übrigen ist es mir gleich, zu welchem Stamm du gehörst. Solche Hetzreden werde ich nicht dulden. Weder in dieser Halle, noch in diesem Königreich. Wir werden alle einen kühlen Kopf bewahren.« Er atmete tief ein. »Ich habe euch hergebeten, damit ihr eure Leute anweist, die Augen offen zu halten und umsichtig zu sein, ohne dabei willkürliche Beschuldigungen auszusprechen. Weiterhin gehen nur noch Trupps von vierzig Zwergen in die Stollen, um die Ausbesserungsarbeiten fortzusetzen. Nehmt lange Eisenstangen, Haken und Ketten mit. Damit werdet ihr die Maschine zu Fall bringen, hoffe ich.« Er sah die versammelten Zwerge eindringlich an. »Es sind Maschinen! Was von Zwergenhand erbaut wurde, kann durch Zwergenhand vernichtet werden. Vraccas möge uns diese Prüfung bestehen lassen. Ich breche in zwei Umläufen nach Nordwesten auf, um mich mit Gandogar und den anderen zu beraten.« Er nickte ihnen zu und entließ sie.

Malbalor wartete, bis er allein in der Halle war, und sank bleischwer auf seinen Stuhl. Als ihn Gandogar gebeten hatte, König zu sein, und er dann auch tatsächlich gewählt worden war, hätte er niemals gedacht, dass sein Amt derart schwierig sein würde.

Fünf Stämme in einem Hort vereint - bei Gla'imbar Scharfklinge im Grauen Gebirge ging das reibungslos vonstatten. Dort war es wie ein Schmelztiegel, aus dem eine ganz neue Art von Zwergen entstand. Aber im Schwarzen Gebirge wollte es nicht gelingen. Hier schmolz nichts, und hier mischte sich nichts. Ganz im Gegenteil, jedes einzelne Element verhärtete und dachte nicht daran, mit anderen neue Verbindungen einzugehen.

Die Abergläubischen behaupteten, es sei der Fluch des Stammvaters der Dritten, Lorimbur, der in den Wänden stecke und jeden Frieden verhinderte. Beinahe war Malbalor so weit, daran zu glauben.

Er nahm sich von dem Wasser, das in der Karaffe vor ihm stand, und betrachtete sein müdes Gesicht in der schwach spiegelnden Oberfläche. Die Sorgen schlugen ihm tiefe Furchen ins Antlitz, meißelten sie an den Augen, auf der Stirn ein. Der Rest lag unter dem Bart verborgen, und das war gut. Er wollte nicht noch älter aussehen, als er sich bereits fühlte.

Kühl rann das Wasser die Kehle hinab; erfrischt erhob er sich und verließ die Halle, um Vorbereitungen für seine Abwesenheit zu treffen. Während er durch die hohen Gänge lief, entschloss er sich, Ginsgar zu seinem Vertreter zu bestimmen, damit der Streitbold am eigenen Leib spürte, was es bedeutete, eine solche Verantwortung zu tragen. Das war eine köstliche Art der Rache, wie er fand.

Als er um die Ecke bog, kam ihm eine Abteilung verdreckter Zwerge entgegen, die aussahen und rochen, als seien sie nach einem Umlauf unentwegten Schuftens soeben aus einem Steinbruch gestiegen. Sie trugen nicht mehr als eine kurze Hose und dicke Stiefel, deren Schaft bis an die Knie reichte; die Oberschenkel und Oberkörper waren nackt. Auf den Köpfen saßen Helme gegen herabfallende Steinchen, und sie trugen Hacken, Schaufeln und Pickel mit sich. Zum Schutz vor dem feinen Gesteinsstaub hatten sie sich Tücher vor die Nasen gebunden, hier und da spitzen die Enden von Barten hervor.

Im Grunde bedeutete ein solcher Anblick nichts Außergewöhnliches. In einem anderen Bereich des Schwarzen Gebirges hätte Malbalor die zwanzig Zwerge starke Einheit gleich wieder vergessen.

Doch zwei Dinge kamen ihm seltsam vor: Zum einen gab es keinen Grund, weswegen sie sich hier aufhalten müssten, weder Unterkünfte noch eingestürzte Tunnel; zum anderen grüßte ihn kein Einziger der Vorbeigehenden, obwohl er ihnen zugenickt hatte.

Malbalor gehört nicht zu den Herrschern, die unbedingt sehen wollten, wie sämtliche Köpfe sich vor ihnen neigten, aber ein gewisses Maß an Respekt verlangte er schon. Er blieb stehen und wandte sich um. »He, ihr da! Einen Augenblick.«

Sie gingen weiter.

Jetzt erwachte sein Misstrauen.

Er schloss zu dem Letzten der Gruppe auf, packte ihn an der Schulter und drehte ihn um. Ganz aus der Nähe betrachtet, konnte er mit der Gestaltung des Helms nichts anfangen, die Form wich von allem Bekannten ab. Der Nasenschutz war länger und reichte bis zum Kinn, strahlenförmig verlaufende Eisendrähte ergaben ein engmaschiges Gitter, hinter dem die Augen verborgen waren.

»Ich rede mit euch!«, sagte der König streng und riss ihm das Tuch herab. Erschrocken machte er einen Schritt zurück. Zum ersten Mal in seinem Leben sah er einen erwachsenen bartlosen Zwerg! Die schwarzen Locken, die unter dem Tuch hervorgeschaut hatten, waren an dem Stoff angeklebt worden, um andere zu täuschen. Bei ihm hatte es bis eben funktioniert. »Bei Vraccas, was hat...« Seine Hand fuhr an den Griff seiner Keule. Der Zwerg schlug ihm ansatzlos die flache Seite der Schaufel gegen den Kopf, sodass Malbalor gegen die Wand taumelte und halb ohnmächtig zu Boden sank.

»Verräter!«, rief er so laut er konnte, dann wurden seine Lider zu schwer, und sie fielen ihm zu. Als er sie bald darauf wieder öffnete, sah er Ginsgars besorgtes rotbärtiges Gesicht vor sich schweben. Zu seiner Verwunderung lag er nicht mehr im Gang, sondern in seinem Bett. Die Ohnmacht hatte wohl länger angehalten. »Er ist wach«, rief er über die Schulter. »So, König. Wir haben Neuigkeiten, die dich an der glanzvollen Rechtschaffenheit deiner Leute zweifeln lassen werden«, sagte er genüsslich, ehe er zurücktrat und einem anderen Zwerg Platz machte.

Malbalor kannte ihn. Diemo Todkling aus dem Clan der Todklingen befehligte die Krieger, die den Durchgang ins Geborgene Land und der Schatzkammer bewachten. Ihn zu sehen und eine Neuigkeit aus seinem Mund zu erfahren, machte den König schon vorab unruhig.

»König Malbalor, ein Überfall«, gestand er zerknirscht. »Wir sind Opfer eines heimtückischen Überfalls aus den eigenen Reihen.«

Malbalor setzte sich und stieg aus dem Bett. »Sag nichts: Es waren etwa zwanzig, sie sahen aus wie Arbeiter«, erriet er ohne Anstrengung. »Jedenfalls hat mich einer von ihnen zu Boden geschickt.«

»Ja. Die Wärter vor der Schatzkammer sahen sie und dachten, sie hätten sich verlaufen. Als sie die Täuschung bemerkten, war es zu spät. Sie wurden mit Schaufeln niedergeschlagen und...«

»Niedergeschlagen oder getötet?«

»Niedergeschlagen. Es gab leichte Verletzungen, Platzwunden in erster Linie und brummende Schädel«, sagte Diemo. »Wie bei dir, König.«

Malbalor freute sich natürlich, am Leben zu sein, wunderte sich aber über die plötzliche Zurückhaltung der Dritten, wenn es um das Leben von Zwergen ging, die nicht zu ihrem Stamm gehörten. »Es war niemand von den Dritten«, sagte er mit fester Stimme und unmittelbar zu Ginsgar. »Ich habe einem von ihnen das Tuch heruntergerissen. Keiner von uns verzichtet auf seinen Bart.«

»Ein bartloser Zwerg?«, entfuhr es Ginsgar. »Dann kann es ebenso ein Ausgestoßener gewesen sein. Wir bei den Ersten haben es immer so gehandhabt: Wer gegen die Gesetze verstößt, wird geschoren und muss das Reich verlassen, bis ihm ein neuer Bart gewachsen ist.« Er legte die Hände an den Gürtel. »Ein listiger Dritter oder Räuber aus den Städten der Freien?«

»Was sollten die Freien mit...« Malbalor sah zu Diemo. »Was ist eigentlich gestohlen worden?« Die Kiefer des Kriegers mahlten. »Nur der Diamant, König.«

»Welcher Diamant? Wir...« Er verstummte, als er die Tragweite der Worte verstand. »Dieser Diamant? Das Geschenk Gandogars?« Seine Falten wurden noch tiefer, er glaubte zu spüren, wie sie sich in sein Fleisch gruben.

Ginsgar trat vor. »Dein Hinweis war sehr wichtig, König. Ich schlage vor, dass wir dem Großkönig eine Nachricht zukommen lassen. Ich bleibe dabei, wenn es um die Schuldigen geht: die Dritten oder die Freien.« »Aus welchem Grund, Ginsgar?«, fragte Malbalor hart und entfernte den Ersten in Gedanken von der Liste seiner Stellvertreter. »Was nutzt ihnen der Diamant ohne einen Magus?«

»Die Freien könnten eifersüchtig sein, weil sie keinen bekommen haben. Es sind Ausgestoßene. Verbrecher. Das dürfen wir niemals vergessen.«

»Du vergisst niemals etwas, Ginsgar. Weder die Vergangenheit der Dritten noch die der Freien«, erwiderte der König scharf.

»Im Gegensatz zu manch anderen«, gab er entschlossen zurück. »Die Dritten stehlen, um uns in tiefere Bedrängnis zu bringen. Zuerst bauen sie diese Maschine, dann rauben sie uns aus, um sich über uns lustig zu machen. Sie nehmen sich das Wertvollste des Geborgenen Landes.«

Malbalor schritt an ihm vorbei. »Das Wertvollste des Geborgenen Landes ist der Zusammenhalt seiner Bewohner. Unser Zusammenhalt.« Er schaute ihn an. »Du, Ginsgar Ungewalt aus dem Clan der Nagelschmieds vom Stamm des Ersten, wirst das Schwarze Gebirge morgen mitsamt deinem Clan verlassen. Stifte in deiner Heimat Unfrieden, aber nicht bei mir.« Er ließ ihn stehen und verließ das Zimmer.

Mit den Erklärungen des Zwerges konnte er sich ganz und gar nicht zufrieden geben, auch wenn es sicher einfacher gewesen wäre.


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