Das Geborgene Land, Königreich Gauragar, Porista 6241. Sonnenzyklus, Spätfrühling.


Die junge, knabenhafte Lia hockte bei den anderen Arbeitern. Sie schaute über die tellerflach anmutende Fläche inmitten Poristas, trank dabei von dem kalten Tee und aß gelegentlich einen Löffel des dicken Eintopfs, den man unentgeltlich hier austeilte. Ihre Aufgabe war gefährlich, aber sehr gut bezahlt: Kundschafterin in einem ganz besonderen Gebiet.

Die Stadt Porista hatte in den letzten Zyklen harte Wandlungen erfahren.

Einst Mittelpunkt des Reiches von Nudin dem Wissbegierigen, einem der Magi des Geborgenen Landes, war es nach dessen Wandlung zu Nöd'onn dem Verräter Austragungsort einer gewaltigen Schlacht und zu großen Teilen in einem Feuersturm vernichtet worden. Gerade kehrten die Menschen zurück, um Neues aus den verrußten Trümmern ihrer Häuser zu schaffen, da marschierten die Avatare mit ihrem Heer ein, um sich die magische Quelle unterhalb des alten Magus-Palastes zu sichern. Das hatte der Rest des Geborgenen Landes nicht zulassen dürfen und sich gewehrt - auch dieses Gefecht hinterließ Narben im frisch wachsenden Porista. Sogar die prunkvolle Palastanlage verkam zu einer Halde unansehnlicher Steine.

Danach war der Frieden eingezogen.

Vor etwa fünf Zyklen, nachdem alle großen Magae und Magi vernichtet und die Magiefelder zusammengebrochen waren, hatte König Bruron Anspruch erhoben und Porista seinem eigenen Königreich zugeschlagen.

Seitdem wuchs die Stadt beständig.

Ein friedliches Heer aus Tagelöhnern war vom Herrscher ausgesandt worden, um die Trümmer der Palastanlage Stein für Stein abzuräumen und Platz für seine eigene Residenz zu schaffen. Und sie hatten es geschafft. Jetzt erinnerten nur noch die Böden der Gebäude und die Zugänge zu den schuttgefüllten Kellern daran, welche gigantischen Ausmaße der Palast Nudins einst besessen hatte.

Lias schmächtige Statur hatte einen Vorteil: Sie erlaubte es ihr, an den Trümmern vorbei in die Keller zu gleiten, durch das Geröll zu schlüpfen und sich umzusehen. Nach ihrer Rückkehr ans Tageslicht erstattete sie den Baumeistern des Königs Bericht, die danach entschieden, wie es mit den erkundeten Kammern weiterging: einreißen und mit flüssiger Schlacke auffüllen oder mühsam von Hand ausräumen.

Niemand der Vorgesetzten ahnte, dass sie dabei Nachforschungen in eigener Sache anstellte. Franek, einer ihrer Freunde, näherte sich ihr und reichte ihr einen Brotfladen. Er trug wie sie einfache Kleidung, der Stoff war mitunter durchgescheuert und löste sich an manchen Stellen bereits auf. Seinen dunkelblonden Schopf hatte er mit einer Lederkappe bedeckt. »Hast du sie entdeckt?«, flüsterte er dabei. Auch er gehörte zu den Kundschaftern und wurde an einer anderen Stelle eingesetzt. Auch er hatte sich einem höheren Ziel verschworen.

Die junge Frau nahm das Brot, legte es auf die Schüssel mit dem Eintopf und richtete ihr hellbraunes Kopftuch, unter dem sie die braunen Haare vor dem unterirdischen Staub schützte. »Nein,« sagte sie leise und gestikulierte dabei, als beschwere sie sich über die Qualität des Brotes.

Franek seufzte. »Dann weiß ich nicht, wie lange wir noch suchen sollen. Es sind nicht mehr viele Keller übrig, in denen wir fündig werden können.«

»Ich habe gleich gesagt, dass sie zerschlagen ist. Hast du gesehen, dass selbst die dicksten Quader entzwei gesprungen sind? So enorm war der Druck auf ihnen.« Lia pflegte ihre Schwarzseherei. »Von manchen Mauern ist nichts als zerriebenes Ziegelmehl geblieben.« Sie hielt ihm das Brot wieder hin, er verstaute es unter seiner Jacke.

»Samusin wird uns nicht im Stich lassen«, verabschiedete sich Franek und kehrte an seinen Platz zurück. Lia beendete ihr Mahl, wischte sich die Hände an der Hose ab und kehrte zum Einstieg zurück, vor dem ein offenes Zelt errichtet worden war. Unter dem Tuch, das als Schutz gegen die Sonne diente, unterhielten sich Tamäs und Ove, zwei der Baumeister, und studierten Pläne. Sie grüßte sie im Vorbeigehen. Tamäs, der Jüngere von ihnen, erwiderte ihren Gruß und blickte sie an. Er fand Gefallen an ihr und betrachtete sie daher mit weniger gelehrtenhaften Augen. »Du bist spät dran. Es sind schon zwei unten«, sagte er ihr zwinkernd. »Ich hoffe, es ist Platz genug. Andernfalls darfst du gern oben bleiben, uns Gesellschaft leisten und Karten zeichnen.«

Lia stutzte. »Verzeiht, Herr, wer ist unten?«

»Zwei Jungs, die ich nach unten sandte«, murmelte Ove, ohne die Augen zu heben. »Wir haben nicht mehr viel Zeit. König Bruron möchte endlich mit den Bauarbeiten beginnen. Die letzten Geheimnisse der Gewölbe müssen erkundet sein. Und da du eine Pause eingelegt hast, musste ich die runterschicken, die frei waren.« Er blätterte um und machte einen Vermerk auf dem Lageplan.

»Unten ist es gefährlich. Ich gehe besser zu ihnen.« Sie zwang sich zu einem Lächeln und sprang die Stufen hinab, hinein in den Keller.

Das hatte ihr noch gefehlt: Kinder. Ihre sonstigen Mitstreiter fürchtete sie nicht, sie blieben meistens in den engeren Regionen stecken, aber die noch jüngeren, biegsameren Körper bedeuteten eine harte Konkurrenz. An den Geräuschen erkannte Lia, dass sich die Jungen tief in das Gewölbe vorarbeiteten und sich irgendwo dort aufhielten, wo sich die große Kuppel befunden hatte. Sie unterhielten sich, sprachen über den guten Lohn und die Hoffnung, auf verborgene Schätze der einstigen Bewohner der Palastanlage zu stoßen.

»He, ihr Bengel«, rief sie und wand sich aalgleich zwischen den engsten Hohlräumen hindurch. »Verschwindet! Das ist mein Keller.«

»Hättest du wohl gern«, lachte einer von ihnen.

»Herr Ove hat uns befohlen einzusteigen«, rief der andere. »Beschwer dich bei ihm, wenn es dir nicht passt, dass wir den Schatz vor dir finden.«

Lia presste sich unter einem Quader hindurch, der bedenklich wackelte, als sie mit ihrem Oberkörper darunter lag. »Es gibt keinen Schatz«, sagte sie laut. »Hier ist es zu gefährlich für euch. Die Kammer ist nicht beständig.« »Wir haben viel Erfahrung«, klang es übermütig. »Und außerdem...«

Schutt rutschte rumpelnd in sich zusammen, eine Staubwolke flog heran und raubte ihr die Sicht, sie hustete und schimpfte gleichzeitig. »Was ist?«, rief sie und rieb sich die Augen. »Lebt ihr noch?«

»Ich werd verrückt!«, hörte sie einen der Jungs aufgeregt sagen. »Da liegt einer zwischen den Trümmern! Ein alter Mann mit langem Bart.«

Lia gab sich Mühe, noch schneller vorwärts zu kommen. Es war geschehen! Nun galt es, einige Dinge zu verhindern. »Wo seid ihr?«

»Idiot!«, schnauzte der andere Junge seinen Freund an. »Du bist gegen den Stützpfeiler gestoßen und hast mich beinahe unter dem Dreck begraben! Und das ist kein Mann«, Bretter klapperten, »das ist eine Statue.« »Nein, ich war es nicht. Es ist von selbst eingestürzt«, verteidigte sich der Gescholtene, und endlich gerieten die Kinder in Lias Blickfeld.

Sie standen in einem kleinen Hohlraum, nicht größer als eine Abstellkammer, der sich durch einen Zufall aus ineinander verschobenen Säulen und Balken gebildet hatte. Zwischen ihnen lag eine Statue mit dem Gesicht nach oben. Sie war so lebensecht gestaltet, dass Lia sich über den Irrtum des einen Jungen kaum wunderte.

»Da steckt ihr!« Sie rutschte unter einer Strebe hindurch, ohne sie zu berühren, und stand auf. Langsam kam sie auf die beiden Finder zu, ihre Augen glitten über die Statue. Es stimmte alles. Jede Feinheit der Kleidung, jedes einzelne Barthaar, jedes Fältchen in dem alten Gesicht war zu erkennen.

»Als ob man einen Menschen zu Stein verwandelt hätte«, raunte der Größere der beiden ehrfürchtig. »Ein schönes Stück.«

»Es wird uns ein bisschen Geld zusätzlich bringen. Einer von den reichen Säcken wird sie für seinen Garten oder sein Arbeitszimmer haben wollen. Hat sich der Tag heute gelohnt«, nickte sein Freund und schaute skeptisch nach oben. »Wir werden von oben buddeln und sie mit einer Winde raushieven müssen. Durch das Trümmerfeld bekommen wir sie nicht gezogen.« Dann blickte er Lia warnend an. »Die Statue gehört uns, damit das klar ist.« Sie ärgerte sich maßlos über die Pause, die sie eingelegt hatte. Wäre sie ein wenig früher zurückgekehrt, hätte sie sich die Scherereien in Form der Kinder ersparen können. »Sicher gehört sie euch. Doch sie wird euch kein Geld bringen. Sie gehört schon jemandem: Tomba Drinkfass«, erfand sie einfach einen Namen. »Er hat die Statue damals Nudin geschenkt.«

»Um so besser«, meinte der Größere. »Dann ist uns ein Finderlohn sicher.«

»Uns«, betonte sein Freund und zeigte mit dem Finger auf sich und den anderen. »Nicht dir.« Lia überschlug, wie sich das Beste aus dieser Lage machen ließ. Sie konnte sich fügen, abwarten, die Statue verfolgen und sie dem neuen Besitzer abnehmen, was alles mit sehr viel Zeit und Aufwand verbunden war. Zumal die Aufregung sehr groß werden würde, sobald auch nur einer von den älteren Bewohnern Poristas verstand, was die Jungen entdeckt hatten. Oder aber...

»Samusin ist mein Zeuge, dass ich nicht ein Wort über die Statue sagen werde. Und über euch beide«, sprach sie langsam, bevor sie mit enormer Schnelligkeit ihren Dolch zog und ihn dem Jungen zur ihrer Linken durch den Hals stieß.

Rasch schnitt sie ihm die Kehle durch und jagte sodann ihre Waffe dem entsetzten größeren Jungen in die Brust. Röchelnd sank er auf die Statue und benetzte sie mit seinem Blut. Seine Augen starrten die Mörderin an und sprachen Bände von seiner Überraschung und dem Unverständnis über die Tat.

Sein Freund rollte sich schwächer werdend am Boden und starb kurz nach ihm. Das Blut an seinem Hals gerann, es sprudelte nicht mehr aus dem breiten Schlitz, sondern quoll heraus wie zäher Eintopf aus einem überkochenden Kessel.

Lia sah ihnen beim Sterben zu. Ihr Opfer war notwendig. Für eine größere Sache, die mehr bedeutete als zwei junge Leben und die unter Umständen tausende Leben bewahrte. Sie zerrte die noch warmen und zuckenden Körper in einen kleinen, engen Hohlraum und brachte ihn zum Einsturz.

Dann machte sie sich auf den Rückweg, zählte dabei die Schritte und schätzte die Lage der Statue ungefähr ab. Immer noch schniefend, kehrte sie zu den Baumeistern zurück und schilderte, dass sich ein schrecklicher Unfall ereignet habe.

»Die Kellerwände sind weich wie Wachs«, berichtete sie unter einem neuerlichen Weinkrampf. »Noch einmal hineinzugehen wäre töricht, ihr Herren.«

Ove und Tamäs berieten sich kurz, danach ließen sie die Arbeiten für den Rest des Tages einstellen, um den beiden toten Kindern zu gedenken. Am folgenden Morgen sollten die Leichen von oben geborgen und der Keller aufgefüllt werden.

Lia kehrte in der Nacht mit Franek und zehn Helfern auf die Baustelle zurück.

Sie trugen Gestänge, Hacken und Pickel, Seilwinden, Taue und einen Flaschenzug mit sich. In der Seitenstraße wartete ein Pferdegespann, mit dem sie ihre Beute sofort abtransportieren konnten. Im weiteren Umkreis hatten sie Aufpasser aufgestellt, die sie vor zufälligen Beobachtern und der Stadtgarde warnten. Es musste schnell gehen. Und vor allem musste es gelingen, koste es wessen Leben auch immer.

Lia maß die Entfernung vom Eingang oberirdisch ab und markierte die Stelle auf der Bodenplatte mit einem Stein. »Hier drunter musste er sein«, sagte sie zu ihren Begleitern, und die Männer machten sich an die harte Arbeit.

Franek und Lia halfen, das Geröll zur Seite zu schleppen, wäh rend das Loch wuchs und wuchs. Dabei war Umsicht geboten, damit nicht ein zu großes Stück der Oberfläche einbrach und mehr verschüttete, als gut war.

»Und ich wollte schon aufgeben«, sagte Lia fasziniert von dem Gedanken, den besonderen Schatz bald geborgen zu haben.

Ihre Freude überlagerte ihr schlechtes Gewissen wegen des Mordes an den beiden Jungen. Sie hatte Franek von ihrer Tat berichtet, um sich die Last von der Seele zu reden, was aber nicht gelang. Wenigstens hatte er ihr zugestimmt, das Richtige getan zu haben. Sie musste Porista für immer verlassen. Fand man die Jungen, würde man sie für die Mörderin halten.

»Samusin ist uns wieder wohlgesonnen«, nickte er und betrachtete, wie die Männer den loseren Füllgrund freigelegt hatten und sich durch die gemauerte Gewölbehaut hackten. »Ein erster Schritt ist gemacht.« »Nicht so voreilig«, meinte Lia. »Erst wenn wir die Statue aus Porista geschafft haben, können wir den Gott des Ausgleichs loben.«

Knackend brach ein Stück der Tunneldecke ein; zwei Männer sackten mit ihr ruckartig nach unten und verschwanden schreiend im Keller.

Franek blickte sich alarmiert um und hielt Ausschau nach einem Zeichen von einem der Aufpasser. Weder die lauten Rufe noch das Rumpeln war vernommen worden'. »Los, holt sie raus.« Fünf Mann sprangen mit Laternen hinab.

»Die Statue zuerst«, rief ihnen Lia unruhig nach und trat zwei Schritte weg von dem Loch, falls weitere Teile nachgaben. »Dann die Verletzten.«

Die Helfer vergrößerten den Durchlass von unten, währenddessen setzten die anderen die Gestänge und die Winde zusammen. Taue wurden nach unten geworfen und um den steinernen Mann geschlungen. Bald schwebte die Statue aus dem Dunkel nach oben, überzogen mit einer dünnen Schicht Staub und einem riesigen roten Fleck - dem Blut eines der beiden Jungen, die für ihre Entdeckung gestorben waren. Es machte den Eindruck, als verlöre die Statue das Blut.

»Her mit dem Karren!«, befahl Franek, hob eine Lampe und gab das vereinbarte Signal. Gleich darauf rollten die mit Lappen umwickelten Kutschräder ganz leise heran, die Pferde trugen die gleichen dämpfenden Schoner um die beschlagenen Hufe.

Lia wurde immer unruhiger. »Schafft euch herauf«, rief sie in das Gewölbe. »Beeilt euch, damit wir endlich fort von hier kommen.«

Das Tau arretierte, das Gestänge bog sich unter der Last, hielt das Gewicht aber glücklicherweise aus. Die Männer stiegen aus dem Loch und hievten die schwere Statue auf den mit Strohsäcken gepolsterten Wagen. »Die Garde!«, hallte der Ruf über den Platz und kehrte als Echo zu Franek und Lia zurück. »So ein dämlicher Esel«, beschimpfte Franek den Aufpasser, der es mit seiner Warnung zwar gut gemeint hatte, aber die Soldaten Brurons mit Sicherheit noch aufmerksamer hatte werden lassen. Fackeln tanzten als kleine Lichtpunkte heran. »Die Lappen ab«, herrschte er die Umstehenden an und schwang sich auf den Wagen. »Sie haben uns sowieso bemerkt, da kommt es auf das Geklapper auch nicht mehr an.«

Lia folgte ihm und hockte sich neben die Statue. Die Peitsche knallte, die Räder ratterten los. »Halt«, gellte der Befehl eines Gardisten zu ihnen herüber. »Halt, im Namen König Brurons!« Es wurde nicht lange geredet, schon sirrten die ersten Pfeile heran und schlugen überwiegend hinter ihnen ein. Zwei bohrten sich in das Holz, einer zerschellte an der Statue, und ein Geschoss traf Lia in den Unterschenkel; sie schrie auf. Im Schein der Fackeln verfolgte sie, wie die Gardisten sich auf ihre Helfer stürzten und sie festnahmen. Wer den Anschein von Widerstand erweckte, starb, wo immer er stand. Brurons fünf Zyklen alter Erlass zum Schutz von Hab und Gut bestrafte Plünderer nach wie vor mit dem Tod. Dass sie die Gewölbe eines Toten ausgenommen hatten, spielte dabei keine Rolle.

Aus dem Dunkel einer Seitengasse galoppierten vier berittene Gardisten heran, die durch den Lärm aufmerksam geworden waren. Es war ihnen ein Leichtes, auf gleiche Höhe der Kutsche zu gelangen.

»Halt an!«, schrie der vorderste Reiter Franek an. »Ich kann dich...«

Ihr Freund drehte den Oberkörper zur Seite, die Peitsche zischte heran und traf den Soldaten mitten ins Gesicht. Sein Auge zersprang förmlich unter der Wucht des harten geflochtenen Lederriemens. Er stürzte aus dem Sattel; der nachfolgende Reiter musste ausweichen und verlor den Anschluss.

Ein Gardist sprang von seinem Pferd wagemutig auf die Ladefläche und schlug Lia die Faust ins Gesicht, um sie ruhig zu stellen, dann kletterte er über die Statue zu Franek.

»Pass auf!«, krächzte Lia und schluckte ihr eigenes Blut. Ächzend zog sie den Dolch und kroch über den hopsenden Karren dem Gardisten hinterher.

Der dritte Soldat preschte an ihnen vorbei. Sein Ziel war mit Sicherheit das Tor, um den Wärtern den Befehl zu erteilen, dass sie den gewissenlosen Plünderern den Weg versperrten.

Franek hatte aufgepasst. Er schleuderte sein Schwert nach dem Mann, als er drei Armlängen vom Kutschbock entfernt war, und traf ihn in die Seite. Aus vollem Ritt stürzte er zu Boden, überschlug sich mehrmals und wurde von dem linken Hinterrad der Kutsche überrollt.

Der letzte Gardist wollte Franek gerade hinterrücks attackieren, da stieß Lia ihm den Dolch in den Oberarm. Gezielt hatte sie eigentlich auf den Nacken, doch die heftigen Bewegungen der Kutsche machten es ihr zusammen mit ihrer Verletzung unmöglich, genauer zu treffen. Sie wankte, klammerte sich an dem Gegner fest und zog ihn ihm Fallen mit sich. Gemeinsam rollten sie über die Statue und fielen von der Ladefläche des schnell fahrenden Karrens.

Dieses Mal hatte Lia kein Glück.

Sie landete unter dem gerüsteten, schweren Mann und fing seinen Sturz ab. Als ihr Kopf auf das Kopfsteinpflaster Poristas schlug, spürte sie das Knacken ihres Schädels und einen sengenden Schmerz in ihrer Brust. Wärme umspülte ihren Kopf, dann fühlte sie sich federleicht, körperlos.

»Lia!«, hörte sie den leisen Ruf ihres Freundes, den sie durch das laute Klappern der Hufe und der Räder mit viel Mühe verstand.

»Fahr weiter«, sagte sie angestrengt und in dem Wissen, dass er sie nicht mehr vernahm. »Wir haben den ersten Schritt getan Samusin«, flüsterte sie hinauf zu den Sternen. »Dafür gebe ich dir gern mein Leben, Gott des Ausgleichs.« Lia versuchte zu lächeln, bevor der Tod ihr Gesicht erstarren ließ. Es gelang ihr nicht mehr.

Der Gardist, der benommen einige Schritte neben ihr lag, richtete sich auf und langte nach seinem Rufhorn, um die Torwächter zu warnen. Doch an seinem Gürtel hing es nicht mehr. Er fand es zu zwei Dritteln in der Brust der Frau steckend. Beim gemeinschaftlichen Sturz vom Karren hatte es sich unglücklich durch ihr Fleisch und ihre Knochen gebohrt und war gesprungen; das Blut lief umgekehrt wie aus einem Trichter heraus. Er würde seine Lippen bestimmt nicht mehr daran setzen.

»Verdammt«, ärgerte sich der Gardist und rappelte sich auf. Der Plünderer war mitsamt seiner Beute entkommen. Und wenn er es richtig erkannt hatte, was auf dem Wagen lag, handelte es sich um eine ganz besondere Beute: den versteinerten Magus Lot-Ionan.


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