Das Geborgene Land, Königinnenreich Weyurn, Insel Windspiel, 6241. Sonnenzyklus, Spätsommer.
Esdalän atmete tief ein, nachdem er diese unglaubliche Wendung verkündet hatte. Es nahm ihn sichtlich mit, darüber zu berichten. »Sie haben es vor uns allen geheim gehalten und immer neue Ausreden erfunden, um sein Verschwinden zu vertuschen, bis sie ihre Gefolgsleute überall positioniert hatten. Dann schlugen sie zu und rotteten die letzten Vernünftigen meines Volkes aus.«
Die Ungeheuerlichkeit, die Tungdil eben erfuhr, verschlug ihm die Sprache. »Sie?«, krächzte er. »Wer sind sie?« »Die Eoil Atär, die Getreuen der Eoil. Es ist eine Gruppe von Eiferern, welche die Eoil beinahe als göttergleich betrachten und sie knapp unter Sitalia stellen. Sie waren damals diejenigen, die von Liütasil verlangt hatten, sich der Eoil anzuschließen und gemeinsam mit ihr und ihrem Heer gegen die Geschöpfte Tions und Samusins im Geborgenen Land zu ziehen. Liütasil hatte sich geweigert und ihnen befohlen, nichts zu tun.« »Das klingt, als hätten sie es doch getan?«
»Ja. Sie sandten heimlich Boten zu der Eoil, um mit ihr zu sprechen und zu erfahren, wie sie ihr beistehen könnten. Was genau die Eoil ihnen sagte, weiß niemand außer den Eoil Atär. Seitdem trachten sie danach, die Macht in Älandur an sich zu reißen, um die Elben wieder zu dem reinen Volk zu machen, das es einst gewesen ist und das nichts Böses um sich herum duldet, so wie es die Eoil tat.«
In Tungdil durchbrach die Erkenntnis gleich einem Rammbock die letzten Schranken des Verstehens. Sie tönte in ihm wie der Schall eines Signalhorns: Die Heiligtümer, die neuen Bauten, die er und Ingrimmsch bei ihrem Aufenthalt bei den Elben gesehen hatten, das alles ging auf die Anweisungen der Eoil zurück! Esdalän senkte die Augen. »Wir haben sie alle unterschätzt. Ihre Ansichten verbreiteten sich schnell und fanden mehr Anhänger als es Liütasil recht war - wie er mir offenbarte. Als er gegen die Atär vorgehen wollte, war es zu spät. Ich durchschaute ihre Ränke wie die meisten Vernünftigen erst seit kurzem. Von da an belauschte ich mehrere Gespräche, darunter auch eines, in dem sie sich über die Zukunft des Diamanten unterhielten. Sie hätten ihn geprüft und herausgefunden, dass es nicht der echte Stein sei.«
»Geprüft? Wie soll das angehen?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht hat die Eoil den Atär offenbart, wie man Magie beherrscht oder zumindest erkennt. Unser Volk ist in der Lage, einfache Formeln zu sprechen, die einer Eurer Magi niemals als Zauber bezeichnen würde. Das kann sich durch die Eoil geändert haben.«
»Hm. Dann war es wenigstens nicht schlimm, dass er in die Hände der Unauslöschlichen fiel.« Esdalän schüttelte den Kopf. »Er fiel niemals in die Hände eines der Monstren. Sie haben die Geschichte erfunden, um Liütasils Tod erklärbar zu machen. Sie planten außerdem, die restlichen Steine aus der Festung zu rauben, sobald sie in Paland versammelt sein würden. Da bemerkten sie mich und jagten mich. Ich entkam ihnen, trotz der Pfeile im Leib.« Er griff nach Tungdils Hand und drückte sie. »Dass ich noch lebe, verdanke ich Euch.« Er lächelte schief. »Einem Zwerg.«
»Nein, nicht mir allein. Die Magi haben den wichtigsten Beitrag geleistet«, schwächte er den Dank ab. »Was sie aber nicht hätten tun können, wenn Ihr mich nicht mitgenommen hättet.« Esdalän machte ein ernstes Gesicht. »Älandur ist unter die Herrschaft der Atär gefallen. Wenn ich deren Absichten richtig verstanden habe, werden sie den Willen der Eoil erfüllen.«
»Sie möchten das Böse im Geborgenen Land vernichten. Aber... die wenigen Orks und die Unauslöschlichen...«
»Ihr begeht einen Denkfehler, Tungdil Goldhand«, unterbrach ihn Esdalän. »Die Eoil hat ihnen gewiss die Anweisung gegeben, jegliches Böse zu vernichten. Egal in welcher Form es daherkommt.« »Die Abordnungen!«, fiel es Tungdil ein. »Die Elben haben Ab Ordnungen in die Königreiche entsandt, angeblich um Wissen auszutauschen. Aber sie haben wohl nichts anderes getan, als die Königreiche und ihre Bewohner auszuhorchen.«
»Die Auswahl hat begonnen. Es werden am Ende nur wenige Völker und Menschen im Geborgenen Land übrig bleiben, wenn die Atär nicht aufgehalten werden. Das Volk der Zwerge hat bereits Tote zu betrauern, die auf sie zurückfallen. Auch die Angriffe auf die Dörfer und Städte in Toboribor oder in der Nähe von Borwöl haben sie zu verschulden. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.«
»Wie können sie nur? Sie tun Böses, verstehen sie das nicht?« Tungdil dachte an die vergifteten Kinder des Schmieds.
»Nein, denn in ihren Augen tun sie nichts Böses, ganz im Gegenteil. Sie sehen das Unverständnis als Beweis dafür, dass sie das Richtige tun. Denn solange das Böse unentdeckt ist und es sich nicht offen zeigt und von allen erkannt wird, muss es von denjenigen bekämpft werden, die es durchschauen.« Esdalän schluckte. »Sie trachten nach dem Diamanten, Tungdil Goldhand, in dem sich die Göttlichkeit und die Macht der Eoil manifestiert hat. Auch wenn es mir selbst wehtut und ich Sitalia um Vergebung für meine Worte bitte, so ist es doch die Wahrheit: Traue meinem Volk nicht länger. Es gibt lediglich vor, ein Freund aller Völker zu sein. In Wahrheit hegt es abgründige Pläne.«
Tungdil kratzte sich am Kinn, sein Verstand arbeitete fieberhaft. Das Geborgene Land stand vor seiner schwierigsten Prüfung. Die Elben, die Untergründigen und die Unauslöschlichen verlangten den Stein für sich. Inzwischen verhielt es sich so, dass es am besten war, wenn die Untergründigen den Diamanten erhielten und ihn weit weg aus dem Geborgenen Land schafften.
»Gibt es denn keine Elben mehr, die sich der Verblendung entziehen konnten?«, fragte er Esdalän. »Keinen Widerstand gegen die Atär?«
»Nein«, sagte er traurig. »Ich fürchte, dass es keine Vernünftigen mehr von uns gibt.«
»Und«, Tungdil zögerte, »wie viele Elben leben überhaupt in Älandur?«
»Ich kann es nicht sagen«, erwiderte Esdalän. »Ich sehe den Sinn Eurer Frage. Wenn es zu einem Krieg kommt, gehe ich davon aus, dass jeder Krieger, den die Atär aus den Hainen Älandurs entsen den, ihren Worten gehorcht und von dem Wunsch beseelt ist, den Willen der Atär zu erfüllen.« Tungdil kannte die Schlagkraft der elbischen Krieger und Bogenschützen. Sie waren den Menschen weit überlegen, und auch die Zwerge hätten enorme Schwierigkeiten, durch den treffsicheren, tödlichen Pfeilhagel bis zu den Reihen der Gegner zu gelangen. Vielleicht benötigte man das Heer der Untergründigen nicht gegen die Geschöpfe Tions, sondern gegen die Geschöpfe Sitalias, so unvorstellbar es für ihn auch klang. Und noch unvorstellbarer für alle anderen.
»Wie viel Wahrheit kann das Geborgene Land ertragen?«, sagte er mehr zu sich als zu Esdalän. »Ihr müsstet Euch eher fragen, wie viel davon es glauben würde«, meinte Esdalän. »Die Elben haben sich nichts zu Schulden kommen lassen und galten stets als das edelste Volk im Geborgenen Land, das für die Kunst und das Gute steht.« Seine blauen Augen musterten Tungdil prüfend. »Ihr glaubt meinen Worten, weil Ihr vieles gesehen habt. Aber versetzt Euch in die Lage der Königinnen und Könige, deren Beistand wir benötigen. Sie haben die scheinbare Großzügigkeit meines Volkes erfahren und würden mir niemals glauben. Die Atär würden eine Geschichte erfinden, die mich als Verräter dastehen lässt.« Er seufzte verzweifelt. »Kein Mensch wird sich ihnen entgegenstellen. Anfangs. Danach wird es zu spät sein.«
»Ganz Recht, Esdalän. Kein Mensch.« Tungdil schaute zu Sirka. »Aber die Zwerge werden es tun, sobald wir den Diamanten aus den Klauen der Albae geborgen und ihn vor den Elben in Sicherheit gebracht haben. Solange sie ihn nicht besitzen, dürfen sie es nicht wagen, ihre wahre Absicht zu enthüllen. Diese Ruhe vor dem Sturm werden wir mit Eurer Hilfe dazu nutzen, die Völker des Geborgenen Landes wachzurütteln und sie vor den Atär zu warnen.«
Der Elb nickte. »Ich bete, dass Sitalia und alle Ahnen ihren Segen geben, um das Schlimmste zu verhindern.« Esdalän wirkte erleichtert, dass er sein schreckliches Wissen hatte teilen dürfen. Er ließ den Blick über die Anwesenden hinter Tungdil schweifen. »Wen werdet Ihr einweihen?«