Das Geborgene Land im Grauen Gebirge an der Nordgrenze des Reichs der Fünften 6241. Sonnenzyklus, Frühling.
Tungdil und Boindil standen in einem dem Großkönig vorbehaltenen Gemach und warteten ungeduldig auf Gandogar. Der Staub des Jenseitigen Landes juckte auf ihrer Haut und klebte in ihren Barten, doch nichts, nicht einmal ein Waschtrog, hatte sie von dem raschen Wiedersehen abhalten können. Dafür gab es zu viel zu besprechen.
»Hast du gesehen, wie sie geweint hat, als wir ihr den Helm ihres Sohnes brachten?«, fragte Boindil, während er die Krüge mit Wasser füllte. Ausnahmsweise stand ihm mehr der Sinn danach als nach Bier - im Gegensatz zu Tungdil, der bereits einen Humpen Schwarzbier geleert hatte.
»Es war besser, sie davon ausgehen zu lassen, dass ihr Sohn tot ist«, beharrte Tungdil.
»Aber du hast selbst gesagt, dass er ebenso gut leben könnte und du den offenkundigen Zeichen nicht traust.« »Lieber finden wir ihren Sohn während eines Umlaufs und bringen ihn lebendig zu ihr zurück, als sie in Ungewissheit zu lassen.«
Ingrimmsch schwieg. »Und was, glaubst du, war diese Gestalt? Und dieses seltsame Ding hinter ihr?« »Es könnte ein verkleideter Gnom gewesen sein«, meinte Tungdil leichthin und trank. »Oder ein Zwerg.« »Oder ein Untergründiger?«
Diese Frage hatte sich Tungdil auf der Rückreise vom Steinernen Torweg ständig gestellt.
Tatsache war, dass sie auf unlesbare Runen in den Felswänden gestoßen waren. Er und Boindil hatten sie wegen ihrer Vollkommenheit und der Hingabe, mit der sie in den Untergrund getrieben worden waren, als zwergisch eingestuft.
Tatsache war auch, dass in alten Aufzeichnungen von Verwandten ihres Volkes jenseits des Berggürtels um das Geborgene Land berichtet wurde. Sie waren es gewesen, die eine erste Feuerklinge geschmiedet hatten, also verstanden sie sich meisterlich aufs Schmieden und liebten die Glut und Esse. Leider war es ebenso Tatsache, dass noch niemand einen dieser anderen Zwerge zu Gesicht bekommen hatte. »Ich weiß es nicht«, seufzte Tungdil ehrlich. »Aber wenn es einer war, dann wissen wir, dass sie uns nicht wohl gesonnen sind.« Die Stirn des Kriegers legte sich in Falten, und die Brauen zogen dich drohend zusammen. »Du meinst, die haben es auf unsere Horte abgesehen?« Er stellte den Becher ab und fuhr prüfend mit dem Finger über den Sporn seiner Waffe. »Sollen sie es nur versuchen«, brummte er bärbeißig.
»Warten wir ab, weshalb uns Gandogar so schnell wieder hier haben wollte«, beschwichtigte Tungdil ihn. »Er muss uns den Boten, der bei unserer Ankunft an der Pforte auf uns wartete, schon kurz nach unserer Abreise hinterher gesandt haben.«
»Es kann nichts Schlimmes sein«, meinte der Zwilling zuversichtlich. »Sonst wären die Wachen an den Toren in Alarmbereitschaft versetzt worden.«
Die Tür öffnete sich, und Gandogar trat ein. Ihm folgten drei Elben, die in ihren fein gewobenen Stoffen und hellen Farben hier völlig fehl am Platz wirkten. Tungdil befand, dass allein schon ihre Gewänder überhaupt nicht zu den gedeckten Brauntönen und dunkleren Farben passten, welche die Kinder des Schmieds bevorzugten, und Unruhe mit sich brachten.
Wenn er es recht bedachte, waren es jedoch nicht die Kleider, die ihm missfielen. Es waren die Elben selbst. Er hatte nichts gegen sie; es war etwas anderes. Ihre Art zu leben, von den Bauten über die Kleidung bis zur ihrer Sprache, fügte sich in Älandur zu einem vollkommenen Ganzen. Hier dagegen erzeugte ihre Anwesenheit einen schrillen Misston, so wie ein herausstechender Sopran in einem harmonischen, tiefstimmigen Zwergenchor. Nach der Miene von Boindil zu schließen, sah der es genauso. »Es ist doch was Schlimmes«, murmelte er bei dem Anblick halb ernst, halb im Spaß. »Zarte Eiblein.«
»Ah, die Helden sind zurück«, grüßte Gandogar sie freundlich und reichte ihnen die Hand. »Hast du dich gefreut, deinen alten Freund wieder zu sehen, Tungdil?« »Die Überraschung ist dir gelungen, Großkönig«, lächelte er.
Gandogar trat etwas zur Seite. »Das sind Eldrur, Irdosil und Antamar. Sie wurden von Elbenfürst Liütasil zu uns gesandt. Nicht als Boten, sondern als Abordnung, die eine neue Ära des Zusammenlebens zwischen unseren einstmals verfeindeten Völkern vorbereiten soll.« Er stellte die beiden Zwerge vor.
Die Elben verneigten sich vor Tungdil und Ingrimmsch. Diese Geste des Respekts wäre vor zehn Zyklen sicherlich weniger deutlich ausgefallen, wenn nicht sogar ganz ausgeblieben. Sie waren zudem vor dem verwahrlosten Aussehen Tungdils gewarnt worden, sonst hätte sich deutliche Abscheu in ihren Gesichtern gespiegelt.
Boindil konnte nichts anders. »Da steck mir doch einer eine glühende Kohle in die Hose!«, entfuhr es ihm lachend. »Die...«, um ein Haar hätte er ›Spitzohren‹ gesagt, »... die Elben und die Zwerge möchten unter einem Dach miteinander leben?« Er rempelte Tungdil in die Seite. »Was sagt deine Weisheit dazu, Gelehrter?« Eldrur stimmte in das Lachen mit ein. »Es mag Euch seltsam erscheinen, Boindil Zweiklinge, doch unserem Fürsten erscheint es lange überfällig. Er brauchte jedoch diese Zeit, um die letzten Zweifler in unseren Reihen von der Großartigkeit einer engen Gemeinschaft zu überzeugen.« Er schaute sich um. »Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, dass wir auf Dauer einziehen. Wir halten uns die nächsten einhundert Umläufe hier wie auch in allen anderen Zwergenreichen auf, um mehr über das Volk und die Kultur zu erfahren.« »Klingt nach Spionen«, meinte Ingrimmsch. »Ihr wollt die Rezeptur unseres Eisens und unserer Stähle erfahren, habe ich Recht?« Er zwinkerte Tungdil zu.
»Nein, ganz im Gegenteil. Wir sind es, die Wissen zu geben haben. Ohne Gegenleistung, doch ich bin mir sicher, dass Euer Volk«, Eldrur richtete sich an Gandogar, »die Großzügigkeit entlohnen wird. Damit meine ich keine Wertgegenstände oder dergleichen, sondern Eure Erkenntnisse und die Eurer Ahnen.«
»Ho, keine Spione, sondern Erpresser«, raunte Boindil vergnügt. »Auch wenn sie sich blumig ausdrücken.« »Endlich wächst des Geborgene Land zusammen«, meinte Tungdil. Er leckte über seine trockenen Lippen und sehnte sich nach mehr Bier. »Es scheint, dass es im rechten Augenblick geschieht, denn wir haben einiges von unserem Ausflug ins Jenseitige Land zu berichten.«
Die Elben wechselten schnelle Blicke. »Der Großkönig hat so etwas angedeutet. Dann habt Ihr wieder Mut bewiesen, Tungdil Goldhand«, zollte ihm Eldrur Achtung.
»Ich bat ihn darum«, sagte Gandogar und winkte sie an den runden Tisch in der Mitte, auf dem Kleinigkeiten zu essen standen. Das Wort »Kleinigkeiten« unterlag dabei der zwergischen Auslegung, wie man an den Gerichten aus der klassischen Küche erkannte. Die gesottenen Pilzscheiben sagten den Elbengaumen durchaus noch zu, aber der würzige Käse oder die Nachspeise aus den Innereien von Gugullarven stellte ihren guten Willen auf eine harte Probe. Tungdil freute sich besonders über das Fässchen Schwarzbier.
»Wir haben die Käfer aus den Städten der Freien erworben und sie selbst verarbeitet«, erklärte der Großkönig stolz, dem die pikierten Mienen der Gäste entgangen waren, weil er sich ganz mit der weißlichen Creme beschäftigte. »Allein schon dafür, dass du diese Handelswelt erschlossen hast, gebührt dir eine Auszeichnung«, sagte er zu Tungdil, dem es ebenfalls schmeckte. Er vermied allerdings die Gerichte, die ihn zu sehr an den Aufenthalt in der Stadt der Freien und bei Myr erinnerten.
»Eine Zwergin sprach uns an, die uns bat, nach ihrem verschollenen Sohn Gremdulin Ausschau zu halten«, begann Tungdil seinen Bericht über die Reise ins Jenseitige Land, leerte dabei einen weiteren Humpen Bier und dann noch einen, bis ihm Ingrimmsch zu verstehen gab, dass seine Zunge schwerer wurde und er nicht mehr ganz so leicht zu verstehen war. »Wir fanden zahlreiche Orkgebeine in einer Höhle, die Scheusale waren zu Hunderten abgeschlachtet worden. Und wir wollten die Höhle gerade weiter erkunden, als uns ein unbekannter Zwerg über den Weg lief und den halben Berg zum Einsturz brachte. Er hatte eine merkwürdige Maschine bei sich, so etwas habe ich noch nie gesehen...« Er vollführte mehrere Gesten, um ihre Ausmaße zu beschreiben. »Als wir den Steinschlägen entkommen waren, liefen wir geradewegs zurück zur Pforte«, brachte er seine Rede rasch zum Abschluss. Gerade noch gelang es ihm, aus einem schallenden Rülpsen ein heftiges Ausatmen zu machen; aber auch das genügte den Elben, um zusammenzuzucken.
»Ich wette, sie bereuen es, bei uns zu sein«, flüsterte Boindil heiter. »Schau, wie ihre Ohrenspitzen nach unten hängen. Ich werde ihnen zur Aufmunterung meinen Witz von dem Ork und dem Zwerg erzählen.« Gandogar sah über das fragwürdige Verhalten seiner Helden hinweg. »Es klingt, als nähere sich eine neue, bislang unbekannte Gefahr von außen«, sagte er besorgt in die Runde. »Hat euer Volk jemals von solchen Maschinen gehört, wie sie Tungdil erwähnt hat?«
Eldrur zögerte mit der Antwort, seine braunen Augen ruhten auf Tungdils leerem Humpen. »Verzeiht mir meine offenen Worte, doch kann man seinen Äußerungen glauben? Sind Untertreibungen ausgeschlossen?« Er schaute Ingrimmsch an. »War es so, Boindil Zweiklinge, oder hattet Ihr unterwegs einen ebensolchen Durst wie Euer Freund jetzt?«
Die freundlich ausgesprochene Beleidigung hätte Boindil vor dem Tod seines Bruders dazu gebracht, über den Tisch zu springen, den Elben bei den Ohren zu packen und ihn einhändig in seiner Suppe zu ertränken, während er die anderen beiden mit seinem Beil in Scheibchen schnitt.
Aber sein Gemüt war abgekühlt, der Fluch des heißen Blutes gebrochen. »Ich sage es einmal so, Freund Elb: Selbst wenn ein Zwerg derart besoffen ist, dass er seine Schuhe nicht mehr schnüren kann, wird ihm niemals eine Lüge über die Lippen kommen.« Sein Lächeln war scharf wie eine Axtklinge.
Eldrur bemerkte seinen Fehler und verneigte sich. »Verzeiht mir, Tungdil Goldhand.«
Tungdil winkte ab. Auch wenn er äußerlich ruhig blieb, fraßen ihn die Worte des Elben auf. Nun war es schon so weit, dass man seine Berichte anzweifelte! Er blickte an sich herab, sah den Bauch, das von Essensresten und Staub besudelte Kettenhemd, in dem er wie eine Wurst steckte, dann schaute er auf die vielen leeren Humpen um seinen Platz herum. Was ist aus mir geworden?, fragte er sich niedergeschlagen - und streckte die Hand nach dem nächsten Bier aus.
»Nein, ich habe von solchen Dingen noch niemals etwas vernommen, Großkönig Gandogar«, sagte Eldrur. »Hat es nicht einmal Gerüchte um einen Zwergenstamm gegeben, die als Untergründige bezeichnet wurden? Vielleicht...«
Die Tür wurde geöffnet, ein schweißnasser Bote eilte herein. »Entschuldigt die Störung. Mein Name ist Beldobin Ambosskraft aus dem Clan der Eisennägel.« Er verneigte sich vor dem Großkönig. »Ich bringe eine Nachricht von meiner Königin, Xamtys der Zweiten, Großkönig Gandogar«, sagte er außer Atem. »Ihr müsst sie unverzüglich lesen! Schreckliche Dinge geschehen im Roten Gebirge.«
Die Lederhülle wechselte den Besitzer, Gandogar brach das Siegel, zog das Papier heraus und überflog die Zeilen; dann hob er den Kopf. »Meine Freunde, hier kommt die Lösung für unser Rätsel.« Er verkündete den Inhalt laut:
Werter Großkönig Gandogar wir haben den langen Atem unserer Feinde unterschätzt, fürchte ich.
Nach mehr als fünf Zyklen der Ruhe haben sie sich aufgemacht, Tod und Verderben über unsere Stämme zu bringen, und zwar auf eine neue Weise, mit der niemand gerechnet hat.
Ich habe inzwischen vierundfünfzig gute Arbeiter und zehn Krieger durch eine seltsame Maschine verloren, die durch unsere Tunnel streift und alles angreift, was ihr begegnet. Sie besitzt Zangen, Klingen und weitere tödliche Waffen, mit denen sie hackt und zusticht. Ich habe dir eine Zeichnung beigelegt, falls eine solche Maschine bei dir oder bei den Fünften, wo du dich derzeit aufhältst, auftauchen sollte.
Sie bringt unsere Bemühungen, die Tunnel instand zu setzen, völlig zum Erliegen, da es keiner mehr wagt, einen Fuß in die Gänge zu setzen. Ich verstehe die Furcht sehr gut. Uns ist es bisher nicht gelungen, ein Mittel gegen die Maschine zu finden, da sie zu plötzlich und unerwartet zuschlägt. Wir können uns nicht auf sie vorbereiten. Die Fallen, die wir ihr gestellt haben, sind nicht zugegangen.
Wir wissen nichts über sie. Nur, dass sie sehr stark und sehr schwer ist, ein Teil von ihr wird mit Dampfbetrieben. Ich vermute, sie ist ähnlich gebaut wie unsere Hebemaschinen, mit denen wir die Loren auf die Schienen setzen, aber eben kleiner und beweglich konstruiert.
Die Runen auf ihrer Panzerung lassen keinen Zweifel offen, dass dahinter ein Dritter steckt: Geschlagen, doch nicht vernichtet, bringen wir die Vernichtung!
Ich möchte nicht, dass wir die Gesamtheit der Dritten, die in unseren Reihen leben, für die Tat eines Einzelnen oder einer kleinen Gruppe Unbelehrbarer zur Rechenschaft ziehen. Doch sie müssen befragt werden, wen sie für fähig halten, eine solche Maschine zu entwerfen.
Ich habe Warnungen an alle anderen Zwergenreiche geschickt, da ich nicht weiß, ob sich die Gefahr allein auf uns konzentriert oder es vielleicht - Vraccas möge es verhindern - noch andere dieser Maschinen gibt. Die Versammlung aller Stämme sollte einberufen werden, um das Vorgehen zu besprechen. Vraccas segne und behüte dich, Großkönig Gandogar Königin Xamtys die Zweite Trotzstirn aus dem Clan der Trotzstirns vom Stamm des Ersten, Borengar
»Da haben wir es! Jetzt erklärt sich, was uns widerfuhr. Diese Gestalt im Gang war ein Dritter«, rief Ingrimmsch laut und schlug auf den Tisch, dass die Bestecke hüpften. »Wir haben ihr Lager im Jenseitigen Land entdeckt!« Tungdil schnaufte, er fühlte sich gar nicht wohl. Er hatte das Bier zu schnell getrunken. »Wieso sollten sie sich die Mühe machen, sich einen Weg nach außen zu graben und die Maschinen aus dem Jenseitigen Land in unsere Stollen zu schicken?«, warf er nuschelnd ein und rülpste.
»Weil sie dort ungestörter vorgehen können als von einem Ort im Geborgenen Land aus«, gab Gandogar dem Zwilling Recht.
»Es würde erklären, weshalb sie die Tunnel und Hallen, von denen Ihr spracht«, mischte sich Eldrur ein, »zum Einsturz brachten: Sie wollten sichergehen, dass niemand sie findet und erreichen kann.« Er folgte den Vermutungen seiner beiden Vorredner. »Ich denke, dass sie kurz hinter der Grenze im Jenseitigen Land sitzen und ihre Maschinen gegen Euch senden.«
Gandogar legte den Brief auf den Tisch. »Xamtys' Vorschlag ist gut. Ich berufe eine Versammlung ein. Alle Stämme und auch die Freien sollen entscheiden, was wir unternehmen. Im Grunde müssten wir über den Nordpass ausziehen und nach der Werkstatt der oder des Übeltäters suchen.«
»Einen zumindest haben wir gesehen«, sagte Boindil und ballte beide Fäuste. »Oh, wären wir nur ein wenig schneller gewesen... Wer weiß? Am Ende hätten wir den Spuk rascher beendet, als wir es uns jemals erträumten.«
Tungdil war nicht mehr in der Lage, dem Gespräch zu folgen; der Raum drehte sich um ihn, und sein Magen zog sich zusammen. »Ich muss gehen«, brabbelte er undeutlich, erhob sich und schwankte zum Ausgang. Boindil folgte ihm und stützte ihn, ehe er vor der Tür gestrauchelt wäre. »Lass mich«, wies Tungdil ihn zurück. »Ich kann alleine gehen.« Er riss sich los, wankte hinaus und verschwand.
Ingrimmsch schaute ihm betrübt nach. Er erkannte seinen Freund fast nicht mehr wieder. Seufzend kehrte er an den Tisch zurück, wo die Elben mit gerümpften Nasen und Gandogar mit unfreundlicher Miene warteten. »Es ist ein Fieber, das er sich unterwegs zugezogen hat«, sagte er, um eine Ausrede vorzubringen. »Es benebelt gelegentlich seinen Verstand.«
Irdosil lächelte ihn an; in seinen hellen Augen stand zu lesen, dass er dem Zwerg nicht eine Silbe glaubte, doch er ersparte ihm die Peinlichkeit, ihn einer Lüge zu überführen. Zwerge logen doch angeblich nicht. »Dann machen wir es auf diese Weise«, sagte der Großkönig. »Noch heute gehen die Einladungen für eine Versammlung der Stämme auf Reisen.« Er wandte sich an die Elben. »Ihr seid sehr herzlich eingeladen, der Versammlung beizuwohnen.«
Boindil öffnete den Mund und wollte etwas anmerken. Er besann sich anders und schob sich stattdessen einen Bissen in den Mund. Die Offenheit Gandogars schmeckte ihm gar nicht. Die Spitzohren am Leben und den Gewohnheiten teilnehmen zu lassen, war eine Sache, aber sie im wichtigsten Gremium dabei zu haben, fand er als starkes Stück. Da fiel ihm etwas ein, wie der Spieß in zwei Richtungen stach. »Sag, wer von uns wird nach Älandur gehen, Großkönig?«, meinte er gelöst und zwinkerte Eldrur zu.
»Ich verstehe nicht, Boindil«, gab Gandogar irritiert zurück. »Was meinst du?«
»Den Besuch unseres Volkes. Unsere Elbenfreunde sind allerorten zu Gast, wenn ich die Worte richtig verstanden habe«, holte er aus. »Da werden sie doch sicherlich erwarten, dass zumindest wir, die Kinder des Schmieds, eine Abordnung nach Älandur senden, um ihnen die gleiche Ehrerbietung zu erweisen.« Eldrur lächelte misslungen. »Fürst Liütasil besteht nicht darauf, Boindil Zweiklinge, da er um das Unwohlsein Eures Volkes weiß, längere Zeit unter freiem Himmel oder in Wäldern leben zu müssen.«
Ingrimmsch kreuzte die Arme vor der Brust und über seinem schwarzen Bart. »So haben wir nicht gewettet, Freund Elb. Was du ertragen kannst, nämlich unter Tage zu leben, das schaffen wir sicherlich ebenso gut. Ich fürchte mich nicht vor einem Baum.«
Gandogar grinste, er hatte verstanden. »Ein sehr guter Vorschlag, Boindil. Warum übernimmst nicht du das vertrauensvolle Amt?«
»Ich?« So hatte sich der Zwilling den Ausgang des Disputs allerdings nicht vorgestellt. »Ich denke, dass ich hier besser aufgehoben bin, Großkönig Gandogar. Wenn wir ins Jenseitige Land ziehen, wirst du mich benötigen.« »Daran bestand niemals ein Zweifel. Doch es wird lange dauern, bis alle Vertreter der Clans und Stämme hier eintreffen«, meinte Gandogar unnachgiebig. »Und da Älandur nicht weit von hier entfernt ist, schlage ich vor, dass du dem Reich der Elben zumindest einen Höflichkeitsbesuch abstattest. Wer könnte dazu besser geeignet sein als einer unserer größten Helden?«
»Großkönig, ich...«, versuchte Boindil, seinen Herrn umzustimmen, und schaute nun ebenso betroffen drein wie Eldrur.
»Es gibt keine Widerrede, Boindil«, sagte Gandogar freundlich. »Du wirst bei Sonnenaufgang mit Geschenken aufbrechen und Liütasil meinen persönlichen Dank für seine Bemühungen für den Austausch zwischen den Völkern überbringen. Ich lasse dich rufen, sobald die Versammlung zu einer Einigung gekommen ist und wir ins Jenseitige Land vorstoßen.« Er erhob sich und nickte den Elben zu. »Eldrur, sei so freundlich und stelle meinem Gesandten ein Schriftstück aus, in dem in deiner Sprache steht, was er möchte und dass er auf Geheiß sowie mit der besten Empfehlung des Großkönigs kommt.«
»Gewiss, Großkönig Gandogar«, verneigte sich der Elb, während Gandogar die Halle verließ und Boindil mitsamt den Gästen allein mit dem Essen ließ.
Eldrur musterte die bärtigen Züge des Kriegers, der lustlos in seinem Mahl stocherte. »Ihr verwünscht Euch gerade selbst, nicht wahr?«, meinte er und traf die Gedanken des Zwergs haargenau.
»Nein.« Ingrimmsch kaute auf einem Stück Pilz. »Ich könnte mich ohrfeigen.« Er zeigte auf den Krähenschnabel. »Mit dieser Waffe hier.«
Die Elben lachten. Ein leises, unaufdringliches und melodisches Geräusch, mehr ein vornehmer, zu heller Chor als ein echtes, freudiges Gelächter und falsch wie Gnomengold. »Ihr seid mit Sicherheit eine Abwechslung für Älandur«, prophezeite Eldrur, ohne wirklich glücklich zu sein.
»Schreib in deinen Wisch, dass dein Fürst mich gleich wieder nach Hause schicken soll«, bat er grimmig. »Ist es mit Eurer Leidensfähigkeit doch nicht so bestellt, wie Ihr uns glauben machen wolltet?«, flachste Irdosil. »Was gäbe ich, an Eurer Stelle sein zu dürfen.«
»Das würde nicht gehen.« Ingrimmsch warf ihm einen abschätzenden Blick zu, dann schaute er auf seinen Teller. »Du bist zu lang für einen Zwerg«, brummte er, schob das Gedeck von sich und stand auf. »Ich meinte damit nicht, ein Zwerg sein zu wollen, sondern...«
»Ach? Du willst also kein Zwerg sein?« Seine schwarzen Augenbrauen zogen sich zusammen. »Hast du doch etwas gegen mein Volk?« Er legte die kräftige Hand auf den Kopf des Krähenschnabels. »Sag es frei heraus, Freund, dann ist es ausgesprochen.«
»Nein, nein!«, wehrte Irdosil hastig ab. »Was ich damit meinte, war...«
Eldrur lachte. »Er hat dich aufgezogen, Irdosil, hast du es nicht bemerkt?«
Nun grinste Boindil. »Es hat lange gedauert, bis er es bemerkte.« Er schlenderte zur Tür, die Waffe geschultert. »Kennt einer von euch dreien den Witz, bei dem der Ork den Zwerg nach dem Weg fragt?« Sie schüttelten die Köpfe. »Dann wird es Zeit, dass ich den wahren Humor in die Wälder trage.« Er blinzelte und ging hinaus. Antamar, der bislang kein einziges Wort gesagt hatte, sah Eldrur an. »Eine dumme Sache.« »Ich weiß«, erwiderte Eldrur verstimmt. »Aber was hätten wir tun sollen?«
»Vorhin? Nichts.« Antamar schaute sie der Reihe nach an. »Jetzt wirst du ihm einen passenden Begleitbrief schreiben.«
Eldrur hatte die Betonung des Wortes passend genau vernommen. Mehr musste nicht mehr gesagt werden. Auf dem Weg zu seiner Unterkunft verlief sich Tungdil mehrmals, bis ihn jemand zu einem Bett geleitete. Er hatte keinen blassen Schimmer, wo er sich befand, aber sein trunkener Kopf entdeckte sogleich die Flasche Branntwein auf dem Vorratsregal.
So sehr sein Magen ihm drohte, den Inhalt herauszuwürgen, er stand auf und nahm die Flasche an sich. Gierig entkorkte er sie und nahm einen tiefen Schluck.
Kaum schwappte das scharfe Getränk seine Kehle hinab, übergab er sich auch schon vor das Bett. Mehrfach drängte sein Essen mit Macht nach oben, sodass der Nachttopf, den er in seiner Not ergriff, nicht ausreichte. Hustend rang Tungdil nach Luft. Dabei fiel sein Blick auf den großen Silberspiegel mit seinem Abbild darin. Er sah sich in seinem ganzen Elend, in der einen Hand die Flasche, in der anderen den Nachttopf, den Bart und das Kettenhemd voller Erbrochenem, der Körper dick und aufgedunsen, ungepflegt - eine Hohnfigur des Helden, der er einst gewesen war.
Tungdil sank in die Knie; er konnte die braunen Augen nicht von dem Spiegelbild wenden, das ihm seine ganze Erbärmlichkeit gnadenlos zeigte.
»Nein«, wisperte er. Er schleuderte die Flasche gegen das polierte Silber; sie zersplitterte und übergoss das Abbild mit Alkohol. Der hässliche Tungdil glotzte ihn immer noch aus roten Augen an. »Nein!«, schrie er und warf den Topf, verfehlte den Spiegel jedoch. Er hielt sich die Augen mit den Händen zu. »Geh weg!«, brüllte er und fing an zu weinen. »Geh weg, du Mörder. Du hast ihn umgebracht...« Er sank auf die Steinplatten und ergab sich der Trauer, schluchzte und jammerte, bis ihn der Schlaf übermannte.
Daher spürte er nicht mehr, dass starke Hände ihn hochhoben und davontrugen.
Das Geborgene Land Königinnenreich Weyurn, Mifurdania 6241. Sonnenzyklus, Spätfrühling Rodario saß in bequemen und weniger teuren Kleidern auf den Stufen der schmalen Leiter, die in seinen Wagen führte, und dachte über ein neues Stück nach, das er zum Besten geben könnte.
Er und sein Tross lagerten auf einer kleinen Insel vor der eigentlichen, von Wasser umspülten Stadt. Nach dem Beben hatten sich die Wasserflächen Weyurns vervielfacht und etliche Bewohner ihr Hab und Gut verloren. Rodarios Truppe hatte im Königinnenreich mehr Strecke auf Schiffen und Inseln denn auf festem Land zurücklegen müssen, denn lediglich kleine Teile Weyurns waren von Überschwemmungen verschont geblieben. Ein merkwürdiges Bild.
Es wurde Zeit für eine neue Heldengeschichte, denn die alte vom Sieg über die Eoil und die Avatare begeisterte ihn längst nicht mehr wie früher. Es kam ihm so vor, als ginge es den Zuschauern ebenso.
Oder vielleicht lieber eine Komödie?, fragte er sich. Den geschätzten Spectatores stand der Sinn mehr nach Unterhaltung, nach Witz, und weniger nach Pathos und Gemetzel. Die Zeiten waren gut und sorgenfrei, die Menschen des Geborgenen Landes wollten sich vor Lachen biegen und sich ordentlich über Zoten auf der Bühne amüsieren.
Nachsinnend betrachtete er Tassia, die ihre Wäsche über einezwischen zwei Wagen gespannte Leine hängte. Die Sonnenstrahlen machten ihr dünnes Leinenkleid an manchen Stellen durchsichtig. Als ob sie seinen begehrenden Blick bemerkte, hielt sie inne, drehte sich zu ihm und winkte.
Er hob die Hand mit der Feder und grüßte zurück. Keine Frage, sie würde die Hauptrolle in dem Stück spielen und ihm die Männer in Scharen ins Zelt treiben.
»Ach ja, die Männer«, murmelte er. Eifersüchtig verfolgte er, wie Reimar, einer der Arbeiter, die er für das Aufschlagen der Zelte eingestellt hatte, mit einer Blume zu ihr trat und sie überreichte. Tassia lachte fröhlich und gab Reimar einen Kuss. Auf den Mund. Und sie erlaubte ihm, dass er eine Hand an ihre Taille legte. »Tassia, kommst du bitte zu mir?«, rief er lauter als gewollt. »Und du, Reimar, scher dich zurück an die Arbeit!« »Sofort, Meister des Wortes.« Sie klammerte ein Leibchen auf der Leine fest, strich Reimar über die Wange und schlenderte mit dem leeren Korb unter dem Arm auf Rodario zu. »Womit kann ich dir dienen?« »Ich brauche deinen Rat«, erfand er aufs Geratewohl einen Vorwand. In Wirklichkeit hatte er sie von Reimar befreien wollen. Er hielt ihr seine Notizen hin. »Was sagst du dazu?«
Sie nahm die Blätter und warf einen Blick darauf. »Unmöglich.«
»Unmöglich?«, wiederholte er entsetzt und entriss sie ihr. »Aber es ist...«
»Unmöglich zu lesen«, lachte sie ihn aus und setzte sich auf seinen Schoß. »Deine Schrift ist furchtbar. Du wirst mir erzählen müssen, was du vorhast.« Sie fuhr durch sein langes, dunkelbraunes Haar und spielte mit einer Strähne. Dann grinste sie. »Es war nicht nur ein Vorwand?«
»Nur um dich in meinen Armen zu halten, liebreizendste Gestalt des Geborgenen Landes«, lächelte er falsch, wobei niemand, der ihn nicht länger als zehn Zyklen kannte, einen Unterschied zu einem echten Lächeln bemerkt hätte.
»Aber doch nicht, um den armen Reimar zu verscheuchen?«, stichelte sie. »Er ist so nett. Und stark und voller Muskeln.«
»Leider wohnt kein Grips in seinem tumben Schädel. Seine Manieren befinden sich auf der gleichen Höhe mit denen eines Schweins.« Rodario strich sich über sein Kinnbärtchen. »Und ich sehe eindeutig besser aus. Wie du feststellst, ist er kein Konkurrent für mich.«
Tassia gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Manchmal, mein genialer Schöpfer von Sätzen und Szenen, braucht eine Frau keinen Mann mit Grips oder Manieren«, erwiderte sie mit einem vorgetäuscht unschuldigen Augenaufschlag, der ihm alles sagte.
Rodario sprang auf und ließ sie absichtlich zu Boden rutschen. »Du vergnügst dich hinter meinem Rücken mit anderen?«
»Wir wollen doch mit gleichem Maß messen, Liebster«, lachte sie und legte sich ins Gras, die Arme hinter dem blonden Schopf verschränkt. »Ich habe Geschichten über dich gehört, welche den Vermehrungsdrang eines Rammlers in den Schatten stellen. Und mir sind sehr wohl die entzückten Frauenzimmer aufgefallen, die am Straßenrand Mifurdanias standen und dich anhimmelten.« Tassia schloss die Lider und wandte ihr anmutiges Gesicht der Sonne zu. »Sie waren zwar nicht mehr die Jüngsten, aber sie wären einem Techtelmechtel mit dem Unglaublichen Rodario keinesfalls abgeneigt.«
»In der Tat, ich... bin bei Frauen begehrt«, räusperte sich der Schauspieler. »Seit ich dich kenne, Tassia, ist es anders geworden.«
»Ah, ah, ah!« Sie hob den Arm und reckte mahnend den Zeigefinger. »Dafür würde ich an deiner Stelle die Hand nicht ins Feuer legen, mein Geliebter. Ich bin weder blind noch taub oder dumm und durchaus in der Lage, manche nächtliche Geräusche gewissen Akten zuzuschreiben.«
Rodario fing an zu schwitzen, und daran war nicht allein die Frühlingssonne schuld. Sein Angriff drohte in einer breiten Niederlage zu enden. In einer vernichtenden Niederlage. »Ich... habe... das Fechten geübt.« »Deswegen schwankte dein Wohnwagen so sehr?«
»Es waren... schnelle Sprünge und Ausfälle.«
»Und mit welchem Schwert, Liebster?«, fragte Tassia zuckersüß. »Oder war es ein Dolch? Oder das Taschenmesser, das jeder Mann mit sich herumträgt?« Sie öffnete die Augen und lächelte ihn an. »Ich stelle mir das Fechten sehr schwer vor, wo du doch gleichzeitig noch eine Frauenrolle eingeübt hast, deren Text darin bestand, leise zu stöhnen und Oh, du Unglaublicher zu hauchen.«
Rodario starrte sie an, er öffnete den Mund, er stammelte und stotterte, bis ein Lachen aus ihm herausbrach, in das Tassia einstimmte. »Ich glaube, ich werde meinen Titel an dich abtreten müssen«, lobte er sie und setzte sich neben sie ins frische Grün.
»Den des Herzensbrechers oder das unglaublich!«, flachste sie und bewarf ihn mit einem Grashalm. »Ich sollte mich wirklich weniger über Dinge aufregen, die ich in meinem Leben bislang ständig getan habe«, sagte er mehr zu sich selbst als zu ihr. Er legte sich hin, stützte den Kopf auf den Arm und betrachtete sie voll geheucheltem Mitleid. »Du armes, armes Ding hast noch so viel nachzuholen, wo dein Gatte sich mehr für Männer als für Frauen begeisterte.«
Ihre Heiterkeit verflog. »Ja«, sagte sie mit zitterndem Kinn, den Tränen nahe. »Oh, ich bin schändlich, nicht wahr?« Sie legte die Hände vors Gesicht, ihre Schultern bebten. »Schande über mich. Die Götter...« »Halt, halt!«, unterbrach er sie. »Du hast zu schnell angefangen zu heulen.«
Abrupt endete ihr Geschniefe, sie schaute zwischen den Fingern hindurch. »Zu schnell?«
»Mehr Übergang, sonst nimmt man es dir nicht ab.« Er zog ihre Hände zur Seite und küsste sie auf die Stirn. »Ansonsten, begnadete Tassia mit dem Leib und dem Antlitz einer verführerischen Elbengöttin, gefiel mir deine kleine Vorstellung sehr gut. Du brauchst jedoch noch ein wenig Übung.«
Sie lachte und rollte sich auf ihn, sodass er in ihren Ausschnitt schauen durfte. Es gefiel ihm, was er sah. »Eines Tages wird mir das Curiosum gehören, und du wirst nach meinen Anweisungen springen«, drohte sie ihm scherzhaft.
»Daran hege ich keinerlei Zweifel. Reimar hast du schon auf deiner Seite, und die anderen wirst du auch mit Leichtigkeit verführen. Sogar die alte Gesa«, nickte er und warf sie herunter. Sie quietschte auf und landete mit dem Hintern in der einzigen Pfütze auf der ganzen Wiese. Rodario stand auf. »Oh, das tut mir aber Leid.« »Komm und rette mich!«, verlangte sie quengelnd.
Aber da, genau da kam ihm die Eingebung. »Hilf dir selbst raus, Tassia, ich muss unbedingt etwas aufschreiben.« Er eilte zu den Stufen, wo Papier und Tinte lagen. »Geistesblitze verglühen zu schnell, als dass man sich erlauben könnte, sie nicht gleich zu notieren.«
Die Frau fluchte und stemmte sich in die Höhe, stellte sich an seine Seite und wrang den nassen Rock über seinem Kopf aus. »Du sollst auch etwas davon haben.«
»Nicht jetzt, Tassia.« Er arbeitete wirklich. »Ich habe einen Einfall für eine Komödie.«
»Ach?« Sie setzte sich neben ihn. »Wovon handelt sie?« Sie wischte die Tropfen von seinen Haaren und seinem Gesicht.
»Von einem Mann und einer Frau.«
»Wie originell.«
Er hielt mit dem Schreiben inne und schaute sie an. »Besser gesagt, es geht um dich und mich.« Tassia wirkte plötzlich neugierig. »Dann klingt es nach einer Liebeskomödie.«
»Exakt, meine blonde Schönheit. Das, was wir bisher erlebt haben, soll die Vorlage sein: ein Mann, eine Frau mit einem männerbevorzugenden Gatten, ein böser Vater, ein Fechtkampf, eine Beziehung voller Feuer, Leidenschaft, mit Witz und...«
»Einem Schatz!«, fiel Tassia ihm ins Wort.
Rodario ließ die Feder über das Papier huschen. »Sehr gut, sehr gut«, lobte er. »Aber wo bekommen wir den her?«
Sie funkelte ihn an. »Ich könnte ihn doch von dem bösen Vater meines männerbevorzugenden, einstigen Gemahls gestohlen haben«, meinte sie.
Er verstand sofort. »Oh, Tassia, nein.«
»Doch«, lächelte sie übermütig.
»Sag, dass das nicht wahr ist!«
»Aber es ist so.« Sie nahm ihn bei der Hand, zerrte ihn in seinen Wohnwagen und hob eines der Dielenbretter an. Darin lag ein zusammengedrückter Lappen, den sie herausnahm und auseinander schlug. Rodario wusste ganz sicher, dass er dieses Versteck nicht angelegt hatte. »Schließ die Tür«, sagte sie und wartete mit dem vollständigen Auspacken, bis sie sicher war, dass niemand sie beobachten konnte.
In ihren Händen funkelte es golden. Es war eine Halskette aus dünnen Goldplättchen, und in der Mitte prangte ein Anhänger mit einem Edelstein, der in den durch das Fenster hereinfallenden Son nenstrahlen glitzerte und funkelte. Tassia hielt die Kette Rodario hin. »Was sagst du dazu? Ist das ein Schatz?« »Ach du liebe Güte«, flüsterte er. »Ist das... ein Diamant?« Ehrfürchtig nahm er den Schmuck und drehte und wendete ihn.
»Nein. Dafür wäre Noliks Vater viel zu geizig, obwohl er in Geld erstickt. Es ist ein Imitat aus geschliffenem Bergkristall, wie mir Nolik sagte.«
»Hat er dir die Kette geschenkt?«
»Schon.« Tassia grinste. »Aber zuerst hat er sie seinem Vater gestohlen und mir als Entschädigung für die schlechte Behandlung gegeben. Er wird nicht einmal merken, dass sie ihm fehlt.«
Rodario sah das anders. Er schätzte das Gold als sehr rein ein, und ein derartiger Bergkristall besaß einen beträchtlichen Wert. »Es wäre besser, wenn wir die Kette zurücksenden«, meinte er.
Sie entwand ihm den Schmuck. »Niemals«, sagte sie unnachgiebig. »Außerdem brauchen wir die Kette für dein Theaterstück. Und unsere Auseinandersetzung darüber kannst du gleich mit einbauen.« Sie streichelte seine Wange. »Liebster, wenn Noliks Vater seine Leute uns bisher nicht auf den Hals gehetzt hat, wird er es auch nicht mehr tun. Wir haben mehr als dreihundert Meilen hinter uns gebracht, ohne dass wir aufgehalten wurden. Du musst nichts befürchten.«
Er ließ sich von ihr einwickeln und fand es zudem reizvoll, den Schatz in das Stück einzubauen. »In meinem Stück werden wir Besuch von Bösewichtern erhalten, die uns die Kette stehlen wollen«, grinste er sie an und drückte ihr einen wilden Kuss auf die Lippen. »Oh, ich sehe es schon vor mir.« Er hob die ausgestreckte Hand, führte sie von rechts nach links, als könne er damit in die Luft malen. »Wir, umzingelt von Schurken, kämpfen uns den Weg frei. Denn in Wirklichkeit... ist die Kette viel mehr als nur ein Kleinod!« Er redete sich warm, seine Gedanken glühten förmlich, und er stand auf, um sich seine Einfälle fieberhaft zu notieren. »Ja, natürlich! Die Kette ist ein Schlüssel! Der Kristall öffnet... eine geheime Grotte, in der eine Kammer voller Diamanten und Geschmeide lagern.« Seine Augen nahmen einen verträumten Ausdruck an, und er nahm eine seiner berühmten heroischen Bühnenposituren ein. »Tassia, ich bin ein Genie! Niemand kann es bezweifeln, nicht einmal die Götter! Und es wird ein großartiges Abschlussgefecht! Ich gegen eine Überzahl von drei, ach, was sage ich, sieben!«
»Bei dem ich natürlich mitmachen werde«, warf sie ein. »Bringst du mir das Fechten bei?«
Rodario grinste dreckig. »Welches Fechten meinst du, Liebste?« Er beugte sich zu ihr herunter und streichelte ihr Haar. »Dieses Stück wird einschlagen wie ein Komet.« Mit einem Mal dämpfte sich seine Hochstimmung. »Wir brauchten Furgas«, sagte er leiser, nachdenklicher. »Er allein ist in der Lage, meine Vorstellung in die Tat umzusetzen.«
Tassia wickelte die Kette wieder in die Lappen, versteckte sie und stellte sich vor ihn. »Du machst dir große Sorgen um ihn«, sagte sie, erstaunt über die Ernsthaftigkeit, die man ansonsten meist vergeblich bei dem Mimen suchte.
Er nickte. »Seit fünf Zyklen suche ich ihn und habe niemals aufgegeben, weil ich die feste Überzeugung hege, dass mein Freund noch lebt und sich in den größten Schwierigkeiten befindet«, erklärte er ihr, setzte sich und zog sie mit aufs Bett. »Nicht körperlich, sondern seelisch. Er hat seine Gefährtin und seine beiden Kinder in der Schlacht in Porista verloren. Und in der Verbitterung dieser schwärzesten Stunde ist er voller Wut und Hass auf alles Lebendige gegangen. Einfach so, ohne sich zu verabschieden oder zu sagen, was er zu tun und wohin er sich zu wenden gedenkt.«
Sie nahm seine Hand und drückte sie mitfühlend.
Rodario schenkte ihr ein gequältes Lächeln. »Seitdem suche ich ihn überall, und als du mir von ihm berichtet hast, ist die Hoffnung in mir aufgeblüht wie ein Mohnfeld im Sommer. Ich werde Mifurdania auf den Kopf stellen, bis mir jemand sagen kann, wo er abgeblieben ist.«
»Du wirst ihn finden«, sagte Tassia und fuhr liebevoll über seinen Handrücken.
Rodario küsste ihre nackte Schulter. Er sagte ihr nicht, dass ihm zugleich ein wenig vor dem Wiedersehen mit seinem besten Freund bangte. Er konnte nicht voraussehen, wie sich Furgas verhalten würde. Tungdil hatte ihm seine damalige Unterredung geschildert und Furgas als einen Mann beschrieben, den er so nicht kannte. Irgendjemand hatte einmal gesagt, dass der Tod auch die Lebenden veränderte. Vielleicht wollte er gar nichts mehr mit ihm zu tun haben.
»Ich werde ihn finden«, wiederholte er Tassias Worte. »Alles Weitere wissen die Götter.«
Wenig später gingen Rodario, gekleidet, wie es sich für den selbst ernannten Kaiser der Schauspieler gebührte, und Tassia durch die Straßen Mifurdanias. Besser gesagt, sie wandelten auf schmalen und breiten Stegen aus Holz und Stein zwischen den Häusern, denn die Seen Weyurns hatten sich bis hierher ausgebreitet. »Sie haben aus der Not eine Tugend gemacht«, bemerkte Rodario bewundernd, als sie durch seine alte Heimat streiften, die vor langer Zeit von den Orkhorden des Verräters Nöd'onn dem Erdboden gleichgemacht worden war. »Eine Stadt auf Stelzen.« Er zeigte auf eine Stelle, wo ein Rest Mauer aus dem Wasser ragte. »Da drüben sind Furgas und ich zusammen mit Tungdil und seinen Zwergenfreunden durch eine Pforte in der Mauer dem Angriff auf die Stadt entkommen.« Er erinnerte sich immer besser an die Ereignisse von damals. »Komm, ich zeige dir, wo das alte Curiosum stand.«
Sie liefen durch ein Gewirr von Gassen, das selbst für Rodario neu und fremd war. Mit dem alten Mifurdania hatte der größte Teil der Siedlung nichts mehr zu tun, denn sie war kleiner, aber eindeutig verschachtelter und verwinkelter als früher. Mehr als einmal standen sie wieder an der Stelle, von der aus sie losgegangen waren, bis er glaubte, den Platz wieder zu erkennen.
Enttäuschung machte sich in ihm breit. Von dem hölzernen Bau war nichts mehr übrig, stattdessen erhob sich ein schmales Haus, gegen dessen Mauern die seichten Wellen schwappten.
»Nichts ist mehr geblieben«, sagte er. »Es tut mir Leid, Tassia, aber...«
»Herr Rodario?!«, rief eine Stimme laut in seinem Rücken, dann schlug ihm jemand hart auf die Schulter, dass er in die Knie ging. Zwei starke Arme drehten ihn herum. »Er ist es! Ihr Götter, steht Mifurdania bei, der Verrückte ist wieder in der Stadt!«
Der Schauspieler blickte in das breite, bärtige Gesicht eines kräftigen Mannes von fünfzig Zyklen, der ihm vage bekannt vorkam. Dünnes Hemd, eine dreckige Lederschürze, Unterarme dick wie vier Axtstiele, kurze blonde Haare mit Asche darin - dann erinnerte er sich. »Lambus!«, lachte er. »Alter Schmied, du lebst?!«
»Die Orks haben mich nicht bekommen, das Wasser hat mich nicht davongetragen, so bin ich geblieben«, sagte der Mann heiter und schaute zu Tassia. »Wann sieht man Euch ohne ein hübsches Weib an Eurer Seite?«, scherzte er.
»Wenn er tot ist«, grinste sie und hielt dem Mann die Hand hin. »Ich bin Tassia, seine Gemahlin und Schauspielerin.« Rodario warf ihr einen mehr als verwunderten Blick zu und verdrehte die Augen, sie jedoch lächelte herzensgut. »Wir führen das Curiosum gemeinsam.«
»Äh, das ist ein...«, warf er ein, um gegen die neue Rollenverteilung aufzubegehren, bekam jedoch einen Tritt auf den Fuß, der ihn zum Schweigen brachte.
»Oh, das hört man gern, dass der berühmte unglaubliche Rodario in seine Heimat zurückkehrt. Frohsinn tut gut.« Lambus lachte. »Inzwischen sind auch Eure Eskapaden vergessen. Die gehörnten Ehegatten haben Euch Eure Gastspiele in fremden Betten sicherlich längst verziehen.« Er grinste. »Unfassbar, dass Ihr Euch fest gebunden habt. Andererseits, bei diesem Weib wäre ich auch geblieben.« Auf eine Schenke deutend, sagte er: »Kommt, ich lade Euch zu einem Glas ein.«
»Ja, ich kann es selbst kaum glauben. Ich muss besoffen gewesen sein, als ich ja sagte«, antwortete Rodario leichthin und versetzte Tassia einen harten Rempler zwischen die Rippen, der sie aufstöhnen ließ. Sie trat ihm dafür gegen das Schienbein, der Schmerz war heiß.
Lambus bekam davon nichts mit. Er führte sie in die Gaststube, setzte sich an den erstbesten Tisch und orderte ein kräftiges Essen samt einer Karaffe Wein und Wasser.
»Mein Freund mit der breiten Brust«, stellte Rodario den Schmied derweil vor, »hat früher viele Dinge für unser Curiosum hergestellt, von Schwertern über Eisenstangen und alle Metallanfertigungen, die Furgas als Magister technicus für die verborgenen Spielereien unter den Bühnenbrettern benötigte.«
Lambus nickte. »Das waren Zeiten! Mich hat der Einfallsreichtum des Magisters immer wieder überrascht. Wie man sich die ganzen Vorrichtungen aus dem Nichts ersinnen kann, bleibt mir ein Rätsel. Und die Götter wissen, wie oft ich in der Schmiede stand und fluchte, weil die verlangten Werkstücke beim ersten Anlauf missrieten.« Sie stießen miteinander an. »Auf die alten Zeiten!«
»Auf die alten Zeiten«, stimmte Rodario ein, und Tassia lächelte.
Der Schmied leerte seinen Becher und schaute den Mimen neugierig an. »Na, welche Aufträge habt Ihr dieses Mal für mich? Hat sich der Magister wieder neue Sachen einfallen lassen? Ich habe ihn schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr zu Gesicht bekommen.«
Rodario schüttelte den braunen Schopf. »Er ist nicht mehr bei meiner Truppe. Deswegen suche ich ihn.« Lambus runzelte die Stirn. »Ach? Dann reist er mit einer eigenen Truppe umher?«
»Wie kommst du darauf?«
»Er war hier. In Begleitung eines Kindes.«
Rodario sprang beinahe über den Tisch vor Aufregung. »Wann, bester Lambus?«
»Vor einem halben Zyklus, kurz nach Herbstanfang.«
»Weiter, weiter!«, drängte der Schauspieler und goss ihm Wein nach. »Ich muss alles wissen. Wo er wohnt, was er macht...«
»Er besitzt kein Haus. Jedenfalls nicht in Mifurdania. Er kam mit einem Boot, einer Art Lastkahn.« Lambus überlegte. »Er hat Vorräte für den Winter gekauft, Butter und Schmalz, dazu säckeweise Getreide. Von mir wollte er die alten Formen, mit denen ich die Zahnräder fürs Curiosum gegossen habe.« Seine Züge wurden nachdenklicher. »Weil er viel Nahrung einkaufte, nahm ich an, dass es für Eure Theatertruppe wäre, die ihr Winterquartier auf einer der Inseln bezogen hatte, um in Ruhe ein neues Stück einzustudieren.« »Das verstehe ich nicht«, meinte Rodario. »Hat er wirklich eigene Schauspieler engagiert?« »Vielleicht wollte er mit Euch nichts mehr zu tun haben«, meinte Lambus. »Hattet Ihr Streit? Aber das kann ich mir bei Euch beiden nicht vorstellen.«
Rodario verspürte keine Lust, die ganze Geschichte vor dem Schmied auszubreiten. »Weißt du, auf welcher Insel er wohnt?«
Lambus zuckte bedauernd mit den Schultern. »Nein. Wenn Ihr ihn suchen möchtet, stellt Euch auf ein langes Unterfangen ein.
Seit der großen Flut entstehen und vergehen so viele Inseln, dass man bei jedem Sonnenaufgang etwas Neues auf dem umtriebigen Wasser entdecken kann.«
Rodario seufzte. Wenigstens wusste er jetzt, dass sein Freund lebte. Mehr aber auch nicht. »Hat er dir irgendetwas gesagt?«
»Nun, eigentlich nicht«, druckste der Schmied herum. »Das heißt, er wollte, dass ich ihn für vier Dutzend Umläufe begleite«, erzählte er schließlich. »Er bot mir einhundert Wey-Münzen, unter der Bedingung, dass ich Stillschweigen über meine Arbeit bewahre. Ich musste ablehnen. Ich habe zu viele Käufer in der Stadt, mit denen ich es mir nicht verscherzen kann.« Lambus schaute an Rodario und Tassia vorbei. »Kann es sein, dass man Euch sucht?«
Die beiden erstarrten und dachten das Gleiche. »Wie viele? Wie sehen sie aus?«, fragte Rodario, ohne sich umzudrehen. Er hatte nur einen schäbigen Dolch zu seiner Verteidigung dabei.
Lambus wiegte den Kopf. »Acht. Groß, breit gebaut, ich würde sagen, sie schleppen ordentliche Lasten, wenn es sein muss. Sie tragen einfache Kleider und stammen, der Art ihrer Hosen und Jacken nach zu urteilen, nicht aus Weyurn.«
»So viel zu deinem nicht vermissten Schatz, meine Liebste«, zischte Rodario Tassia an. » ›Er bemerkt nicht einmal, dass die Kette fehlt‹ «, äffte er sie in hoher Stimmlage nach.
»Wer sagt, dass ich die Schuld trage? Vielleicht sind es betrogene Ehemänner aus der Umgebung, die dein Taschenmesser knicken möchten«, gab sie nicht weniger gereizt zurück. »Schaut, ihr Weiber, ich bin der Ausdauerndste, ich bin der Unglaubliche«, imitierte sie ihn mit tiefem, prahlendem Tonfall. »Nein, Liebste. Noliks Vater hat uns seine Schläger auf den Hals gehetzt.«
»Probt Ihr gerade ein Stück?«, erkundigte sich Lambus begeistert. »Es gefällt mir wirklich.« Rodario wandte sich an den Schmied. »Lambus, mein Gutester, die Männer hinter uns sind nicht die besten Freunde. Besäßest du die Freundlichkeit...« Er schob ihm eine Wey-Münze hinüber.
Der Schmied nickte. »Geht durch die Küche. Ich werde sie ein bisschen aufhalten, falls sie Euch bemerken, Herr Rodario.«
Die beiden standen langsam auf, gingen zum Tresen, und der Wirt ließ sie tatsächlich durch die Küche gehen. Zu ihrer Über raschung warteten dort zwei weitere Schläger, wie unschwer an den Knüppeln in ihren Händen zu erkennen war. »Das ist sie!«, rief einer von ihnen und sprang auf Tassia zu.
»Siehst du? Sie sind doch deinetwegen hier«, konnte sich Rodario die Bemerkung nicht verkneifen und trat dem Mann mit Wucht in den Schritt. Aufstöhnend brach er zusammen.
Tassia wich dem Fallenden aus und ergriff seinen Holzprügel. Kurz entschlossen drosch sie damit auf den zweiten Mann ein, der von ihrer Attacke überrumpelt wurde und einen herben Schlag gegen das Kinn erhielt. Er taumelte rückwärts, und bevor er sich erholte, schlug ihm Rodario eine Kiste mit faulem Obst über den Schädel. Auch er fiel auf den Boden und rührte sich nicht mehr.
»Wir sind ein verflucht gutes Gespann«, juchzte er und wollte Tassia küssen, da flog die Hintertür auf, und vier neue Gegner erschienen.
Die Frau hob sofort den Prügel. »Verschwindet! Die Kette gehört mir!«
»Weg hier!« Rodario nahm sie bei der Hand und zerrte sie mit sich. Gemeinsam liefen sie um die Ecke und kamen auf einem Anlegesteg zum Stehen. Der Weg endete schneller als ihm lieb war.
Doch die nebeneinander vertäuten Boote boten sich als wacklige Brücke auf die andere Seite an. »Mir nach!« Rodario hopste und balancierte, während die Nussschalen unter seinen Füßen tanzten und schaukelten, als wollten sie ihn abwerfen. Doch es gelang ihm, trocken auf den schmalen Steg des Hauses zu gelangen. »Wo bleibst du denn?«
»Sei bloß still!« Tassia folgte ihm fluchend. Für sie war es schwieriger, weil er die Boote in Bewegung versetzt hatte. Sie riss einen langen Schlitz in ihr Kleid, damit sie sich besser auf dem tückischen Untergrund bewegen konnte.
In der Zwischenzeit kappte Rodario das Tau des letzten Kahns und hielt ihn fest, bis sie neben ihm stand; dann gab er dem Boot einen Stoß und ließ es davontreiben. Die Lücke zum sicheren Steg war nur durch einen Sprung zu überwinden.
Zwei ihrer Verfolger fielen beim Versuch, ihnen auf den Fersen zu bleiben, aus den wippenden Booten ins eiskalte Wasser. Der Dritte nahm gerade Anlauf, um mit einem gewaltigen Satz zu ihnen aufzuschließen. Da bemerkte Tassia einen Schatten, der von hinten über sie fiel.
Ein älterer Mann, der Kleidung nach aus Mifurdania stammend, stand im Durchgang und wollte eben seinen Kehricht in den Kanal schütten, als er Rodario am Steg stehen sah. »Du!?« Er hob den Eimer zum Schlag. »Darauf habe ich gewartet, verdammter Verführer! Ich reiße dir deine Männlichkeit heraus!«