Das Geborgene Land, Königreich Gauragar, Porista, 6241. Sonnenzyklus, Sommer.
Tungdil, Boindil, Goda, die Abteilung der Fünften und der Untergründigen mussten gar nicht bis nach Paland reisen.
In Porista wehten die Banner der Königreiche auf den Zinnen der Stadtmauer, was bedeutete, dass sich die Mächtigen des Geborgenen Landes erneut versammelt hatten. Und die Banner wehten auf Halbmast. Die Zwerge marschierten durch eine auffallend ruhige Stadt. Ruhig vor Bedrückung und Angst, die jegliche Heiterkeit erstickten. Auf dem Weg zum Versammlungszelt erfuhren sie von den Vorgängen in Paland und der vernichtenden Niederlage der Verteidiger.
Als Tungdil, Ingrimmsch und Sündalon am frühen Nachmittag das Zelt betraten, beratschlagten Menschen, Elben und Zwerge, was als Nächstes zu tun sei. Goda wartete wie immer draußen.
Der Platz von Prinz Mallen blieb leer, und auf dem thron ähnlichen Stuhl, auf dem einst Liütasil gesessen hatte, sah Tungdil eine Elbin in weißen Gewändern und den Insignien einer Herrscherin. In den langen, hellen Haaren funkelte Geschmeide aus kostbaren Edelsteinen, die blaugrünen Augen schweiften mit Wachheit über die Neuankömmlinge. Die Nachfolgerin Liütasils war gefunden worden und überstrahlte alle im Zelt mit ihrer Schönheit und ihrer Aura. Sie wurde ihm als Fürstin Rejalin vorgestellt. Tungdil dachte sofort an die Eoil.
König Bruron empfing die Zwerge mit einem misslungenen Lächeln und schaute verwundert zu dem bartlosen Zwerg, der Tungdil um eine Handbreit überragte. »Du hast gewiss von Paland gehört?«
Er nickte, grüßte die Herrscherinnen und Herrscher mit einer Verbeugung. »Ich habe es mit Schrecken vernommen. Damit gibt es nur noch einen Stein im geborgenen Land, von dem keiner weiß, wo er sich befindet.«
»Einen?«, sagte Isika voller böser Vorahnung. Mit ihren schwarzen Haaren und ihrem betagten Gesicht wirkte sie wie das dunkle Gegenstück zu Rejalin. Das Gewand der Elbenfürstin ließ ihre prunkvolle Garderobe geradezu minderwertig erscheinen. »Unterlagst auch du einer dieser Bestien?«
»Nein. Ich unterlag Sündalon.« Er trat zur Seite, um den Anblick des Untergründigen wirken zu lassen. »Er kommt aus dem Jenseitigen Land, aus einer Stadt am Fuße des Gebirges, und ist auf der Suche nach dem Eigentum seines Volkes. Hört seine Geschichte.«
Und Sündalon berichtete, wie er es zuvor mit Tungdil abgesprochen hatte, von dem Artefakt, das die Schlucht verschloss, und von dem Raub durch die Eoil, ohne zu erwähnen, dass es sich um eine Broka, eine Elbin gehandelt hatte. »Wir konnten uns nicht offenbaren. Wir fürchteten langwierige Verhandlungen, obwohl es sich um unser Eigentum handelte, und dass die Scheusale auf diese Weise umso eher von dem Fehlen des Artefakts erfuhren.« Er trat an den Tisch und breitete die Bruchstücke der Fälschungen aus. Die Mächtigen schauten niedergeschlagen auf das schimmernde Häuflein Überreste.
»Entweder die Bestien besitzen den Stein, oder es ist der verschwundene Diamant, der die unvorstellbare magische Macht in sich trägt«, sagte Tungdil in das Schweigen hinein. »Wobei ich glaube, dass die Bestien den verschwundenen Diamanten schon lange in ihren Besitz gebracht haben.« Er wandte sich an die Königinnen und Könige. »Wir müssen jetzt aus zwei Gründen alles daran setzen, ihn zurückzuerhalten: Er darf den Unauslöschlichen nicht für seine finsteren Zwecke dienen, und die Schlucht muss damit wieder versiegelt werden. Nur so ist auch das Geborgene Land geschützt.«
Rejalin legte den Kopf zur Seite und betrachtete Sündalon. »Ihr habt gemeinsame Sache mit Orks gemacht, um an die Steine zu gelangen, das habe ich doch richtig verstanden?«
Sündalon verzog angewidert das Gesicht. »Niemals würde ich mit diesen Kreaturen Seite an Seite kämpfen. Die Ubariu sind ehrenhaft und die größten Feinde der Orks. Sie sind unsere Brüder, wir beide sind Geschöpfe des Gottes Ubar.«
»Sie gleichen den Orks sogar bis auf die Anordnung der Hauer, ist es nicht so?«, setzte Rejalin lächelnd nach. Für dieses Lächeln würden Männer sie als Göttin anbeten.
Bei Sündalon verfehlte es seine Wirkung. »Vom Wuchs her überragen sie die Orks, ihre Augen sind hellrot wie die aufgehende Sonne, und ihre Gesinnung ist tausendmal besser als die eines Broka«, gab er scharf zurück. »Wer sie als Feind betrachtet, muss uns ebenso als Feind ansehen.«
»Bemerkenswert«, meinte die Elbin bedeutungsvoll. »Was sind... Broka?«
»Sie ähneln dir, aber sie sind verdorben und hinterhältig. Sie geben vor, gütig und weise und allen Völkern gut Freund zu sein. In Wirklichkeit trachten sie danach, ihre eigenen Ansichten durchzusetzen. Ohne Rücksicht. Man muss sie vernichten.« Sündalon hatte mit dunkler, belegter Stimme gesprochen. Es fiel ihm sehr schwer, sich zu beherrschen.
»Er meint die Albae«, rettete ihn Tungdil. »Wir können von dem Äußeren nicht auf das Innere schließen, Fürstin Rejalin. Gerade Euer Volk weiß es sehr genau.«
Ihr durchdringender Blick senkte sich. »Ich bitte um Verzeihung, Sündalon. Ich wollte dich nicht beleidigen.« »Es sind keine guten Nachrichten, die du uns bringst, Tungdil Goldhand«, seufzte König Bruron. »Es wird wohl das Beste sein, wenn du mit der Feuerklinge sofort nach Idoslän reist, wo Prinz Mallen im Begriff ist, die Höhlen Toboribors zu belagern. Wir vermuten, dass sich die Monstren darin mit ihrem Raub verbergen. Es ist ein sehr gefährliches Unterfangen, ganz ohne einen Magus gegen diese Bestien zu ziehen. Uns wurde schon einmal vor Augen geführt, dass eine Übermacht gegen sie nichts bedeutet.« Er betrachtete die wunderschönen Verzierungen auf dem Axtkopf. »Nur sie wird den magischen Angriffen der Unauslöschlichen und ihrer Verbündeten trotzen.«
»Sobald sich die Sonne erhebt, werde ich mich auf den Weg machen«, nickte Tungdil.
Ein Bote eilte in das Zelt und trat neben Bruron, raunte ihm etwas zu. Tungdil befürchtete sogleich, dass sein Aufbruch am nächsten Morgen zu spät wäre.
»Wir haben Besuch erhalten, der uns wichtige Neuigkeiten verkünden möchte«, sagte der König und wandte sich zum Eingang. »Schickt die beiden herein.«
Der Vorhang teilte sich in theatralischer Manier, und herein trat Rodario, gekleidet in auffällige bunte Gewänder, die denen der Mächtigen am Tisch ebenbürtig waren. »Meine Hochachtung, ihr Edlen des Geborgenen Landes, ihr Menschen, Zwerge und Elben«, sagte er und verneigte sich tief.
Tungdil freute sich sehr und grinste, als er seinen Freund sah. Diese Art des Auftritts passte zu ihm. Eigentlich hielt Rodario sich noch zurück, es fehlten die Trommeln, Fanfaren und Ausrufer. Die Königinnen und Könige betrachteten den schwungvollen Aufzug des Neuankömmlings mit Staunen, beschränkten sich jedoch auf unterschiedliche Gesichtsausdrücke, die von Erheiterung bis zu Missfallen reichten.
»Wo Helden versammelt sind und Geschichte geschrieben wird, darf ich nicht fehlen. Denn wer sonst könnte es aufnotieren und der Nachwelt auf der Bühne so zeigen, wie es sich wahrlich zutrug?« Rodario strahlte in die Runde.
»Ho! Sperrt die hübschen Weiber weg, der Unglaubliche ist wieder da«, grinste Boindil.
Rodario lächelte und strich sich über das dünne Kinnbärtchen, das Tungdil länger in Erinnerung gehabt hatte. »Ich bin nicht allein gekommen, ihr Hochwohlgeborenen, sondern ich bringe Euch einen Mann, der viele Rätsel im Geborgenen Land zu lüften vermag.« Er deutete mit dem Gehstock auf den Eingang.
Es dauerte eine Weile, dann zeigte sich ein Mann mit kurzen schwarzen Haaren, der durch den dünnen Oberlippenbart eine entfernte Ähnlichkeit mit Furgas aufgewiesen hätte, wenn er nicht unfassbar alt ausgesehen hätte. Er trug eine einfache Hose, ein Hemd darüber, Stiefel und einen Mantel; alles wirkte zu groß an ihm und schlackerte um seinen dünnen Leib.
»Ich bin gekommen, um...«, raunte er und schaute verunsichert zu Rodario. »Ich bin gekommen, um für meine Taten zu büßen, denn man kann mir nicht verzeihen, was ich anrichtete.«
»Bei Vraccas! Es ist wirklich Furgas«, sagte Boindil entgeistert, der den Magister technicus an der Stimme erkannte. »Der Unglaubliche hat ihn aufgestöbert.«
»Nein, nicht aufgestöbert, mein guter Freund Boindil Zweiklinge, sondern befreit. Allein. Aus der Hand zweier Dritter, die sich Veltaga und Bandilor nennen und auf einer Insel hausen, die sie nach Belieben auf- und untertauchen lassen können. Und zwar inmitten des Sees von Weyurn!« Der Schauspieler zog alle Register seines Könnens, schilderte sein Zusammentreffen mit Furgas ausufernd und so schillernd, dass bald jeder an seinen Lippen hing. »Schließlich schwammen wir fünf Meilen durch die tobende See und gelangten nach Mifurdania; von dort aus ging es mit dem Curiosum nach Porista«, endete er. »Wir haben also die Schuldigen gefunden, welche die Todesmaschinen zu den Zwergen senden.«
»Ein wahres Meisterstück, Rodario«, sagte Isika freundlich. »Magister Furgas... Von welchen Taten sprecht Ihr? Warum kann man Euch nicht verzeihen?«
»Weil ich für Bandilor und Veltaga nicht nur die Insel gebaut habe, sondern auch die Maschinen«, flüsterte er. Er wiederholte die Schilderung, die er Rodario gegeben hatte. »Durch meine Schuld sind unzählige Zwerge gestorben. Und es werden weitere sterben. Die nächste Maschine ist auf dem Weg.« Er bat um ein Glas Wasser. »Richtet über mich. Ich erdulde jegliches Urteil.«
Gemurmel setzte ein.
Tungdil trat an Gandogars Seite, um für Furgas zu bitten.
Der Großkönig beugte sich zu ihm. »Sei unbesorgt. Ich trachte ihm nicht nach dem Leben«, sagte er leise und hob die Stimme: »Wir werden dich, Magister technicus, nicht zur Rechenschaft ziehen. Deine Genialität und deine wunde Seele wurden von den Zwergenhassern missbraucht. Sie wird unsere Rache treffen, nicht dich. Du warst das Werkzeug für ihre Niedertracht. Dennoch werden wir unsere unzähligen Opfer niemals vergessen. Wir verlangen von dir, dass du alles unternimmst, damit sich diese Vorkommnisse nicht wiederholen. Für das eine Mal besitzt du unser Verständnis. Enttäusche uns nicht.«
»Siehst du? Wie ich dir sagte: Sie können unterscheiden. Nun sei tapfer und berichte ihnen alles«, sagte Rodario sanft und spielte über die Drohung Gandogars hinweg. »Sie werden dir nichts tun.«
Furgas schluchzte. »Ich... habe die Maschinen gebaut«, wiederholte er verzweifelt.
»Wir haben dir verziehen«, wiederholte Gandogar.
»Nein, noch mehr Maschinen.« Er erzählte unter Tränen von den Mischwesen, die er mit seinen eigenen Händen erschaffen hatte. Die Königinnen und Könige saßen wie versteinert auf ihren Stühlen und lauschten, das Grauen faszinierte sie und stieß sie gleichzeitig ab. Was Furgas da schilderte, hatte es nicht einmal in den schrecklichsten Träumen gegeben. Es übertraf alles Vorstellbare. »Es ist meine Schuld, dass sie mordend durch das Geborgene Land ziehen und Vernichtung bringen.«
Tungdil blickte zur Elbin, die außer ihm als Einzige nicht die Maske aus Abscheu und Faszination auf ihrem Gesicht trug. Ganz im Gegenteil, sie wirkte erfreut. Sie ahnte wie er, worum es sich bei diesem Loch auf dem Grund des Sees von Weyurn handelte.
Abrupt drehte sie den Kopf und schaute ihm in die Augen. Ihm war, als könnte sie jeden seiner Gedanken lesen. »Sehen wir das Gute in Magister Furgas' Bericht: Es gibt eine neue magische Quelle im Geborgenen Land«, sagte Rejalln mit klarer Stimme. »Und die Unauslöschlichen wissen allem Anschein nach nicht, wo sie sich befindet. Die beiden Dritten sind schlau genug, es vor ihnen zu verbergen, um sie in Abhängigkeit zu halten.« »Ich erkläre es Euch.« Tungdil verstand sofort, was sie meinte. »Die Magi des Geborgenen Landes hatten ihre Stammsitze nicht umsonst so gewählt, dass sie sich in magischen Feldern befanden. Diese speisten ihre Macht, und bewegten sich die Magi außerhalb der Felder, erlosch die Kraft alsbald nach ein paar Zaubern«, erklärte er. »Andökai die Stürmische und mein Ziehvater Lot-Ionan haben mir einst die Wirkungsweise erklärt. Nur durch die Kraft der Magiequelle waren sie in der Lage, aus Worten, Gesten und Konzentration die unglaublichsten Wunder zu weben.« Er rang nach Luft. »Ich nehme an, dass auch die Maschinenmonstren diesem Gesetz unterliegen. Sie und ihre Konstrukte müssen sich von Zeit zu Zeit trotz aller Mechanik mit Magie laden.«
Gandogar schlug auf den Tisch. »Endlich haben wir einen Schwachpunkt entdeckt«, rief er freudig. »Magister Furgas, wo befindet sich die Quelle?«
Furgas zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Irgendwo auf dem Grund des Weyurnschen Sees.« »Ihr habt nicht einmal einen Anhaltspunkt? Irgendeine Insel oder etwas in der Nähe?«, ächzte Isika bestürzt. »Bei Palandiell, erinnert Euch, Mann! Euch haben wir die Plage schließlich zu verdanken.« »Die meisten meiner Inseln schwimmen, Königin Isika«, kam ihm Königin Wey zur Hilfe. »Selbst wenn er eine gesehen hätte, es würde kaum helfen.«
»Dann«, sagte Tungdil betont langsam, »heben wir eben die Insel mitsamt den beiden Dritten und fragen sie selbst.«
»Und wir werden dabei sein«, sagte Gandogar grimmig. »Für diesen Anlass gehen Zwerge sogar aufs Wasser und trotzen dem Fluch Elrias.« Er schaute zu Königin Wey. »Das ist eine Angelegenheit meines Volkes, Königin. Ich sende Euch ein Kontingent meiner besten Krieger, die von untadligem Ruf sind und nicht einmal in der Nähe des Verdachts stehen, zu den Dritten zu gehören. Sie werden die Lücken in Eurem Heer, die Ihr nach dem Massaker in Paland zu erleiden hattet, mit Freuden schließen und die Insel der Dritten im Sturm erobern. Und sie werden die Quelle beschützen.«
Königin Wey neigte das Haupt als Zustimmung.
»Ich schlage vor, dass wir uns zurückziehen und morgen ein letztes Mal beraten, danach werden die Gruppen aufbrechen und tun, was getan werden muss«, meinte König Bruron. »Endlich sehen wir eine Gelegenheit, etwas gegen die Bedrohung zu unternehmen, die unsere Heimat schreckt. Palandiell wird uns schützen.« »Oh, lasst mich zuvor einen Beitrag dazu leisten, den Schrecken ein wenig vergessen zu machen«, meldete sich Rodario und verneigte sie wieder tief. »Ich bitte die Mächtigen heute Abend ins Curiosum, um bei einer Erstaufführung von größter Klasse dabei zu sein. Es ist eine exquisite Komödie, welche etwas Gelächter in die ernste Zeit bringen möchte. Denn wenn uns das Lachen vergangen ist, gibt es keine Rettung mehr.«
Tungdil neigte sich zu Ingrimmsch. »Er ist dein Bruder im Geiste. Noch einer, der zu Scherzen aufgelegt ist.« »Keiner erzählt Witze so gut wie ich«, antwortete der Krieger leise.
Rodario grinste. »Natürlich wird die Vorstellung kostenlos und ausschließlich von Euren Augen zu sehen sein. Ich werde Euch jedoch nicht von einer kleinen Spende abhalten, um die Künste der Truppe zu entlohnen.« Zu seinem großen Erstaunen versprachen die Mächtigen ihr Kommen. Es würde die wichtigste Aufführung seines Lebens werden.
Tungdil, Ingrimmsch und Goda hatten sich ein riesiges Zimmer in der Nähe des Platzes gesucht, auf dem Brurons Palast wuchs und die Versammlungszelte standen. Im gleichen Haus fanden die Untergründigen, die dem Wirt noch merkwürdiger vorkamen als die inzwischen bekannten Zwerge, eine Bleibe. Man brachte ihnen ein anständiges Mahl und eine große Kanne Bier.
Goda erhielt von dem Zwilling eine Lektion in Standfestigkeit während eines Kampfes und die verschiedenen Möglichkeiten aufgezeigt, den Gegner mit der Schildkante von den Beinen zu fegen.
»Du musst dich schwer machen«, erklärte er ihr und rannte mit seinem Schild gegen den ihren. Es krachte laut, und die Zwergin wich zwei Schritte zurück. »Schwer machen, habe ich gesagt«, schimpfte er. »Ich habe mich doch gegen die Dielen gestemmt!«, verteidigte sie sich.
»Ein guter Stand ist eine Sache.« Er bedeutete ihr, sich wieder an ihren Platz zu begeben. »Aber es gehört mehr dazu, als breite Füße und kräftige Schenkel zu haben. Stell dich so hin, dass deine Körpermitte zwischen deinen beiden Füßen ist, dann gehst du ein wenig in die Knie und senkst den Kopf.« Er machte es ihr vor. »Versuche, mich umzurennen.«
Goda hob den Schild, nahm Anlauf und prallte mit ihrem ganzen Gewicht gegen ihren Meister; es krachte Ohren betäubend laut.
Boindil wankte nicht einmal. »Das habe ich damit gemeint, als ich davon sprach, sich schwer zu machen. Es ist wichtig, um dem Druck des Gegners Stand zu halten, auch einem wütenden Schweinchen, wenn es sein muss.« Er rieb sich über den Bauch. »Und die sind mindestens doppelt so schwer wie ich.« Er klopfte gegen ihren Schild. »Los. Das üben wir. Wenn es sein muss, die ganze Nacht.«
»Ho, halt«, rief Tungdil, der einige Dinge, die er in der Versammlung und in den letzten Umläufen vernommen hatte, in ein kleines Büchlein schrieb. Immer noch gab es einige Rätselhaftigkeiten. Die Unterredung mit Balba Metzhammer, die als einzige Überlebende aus Paland entkommen war, hatte nichts ergeben. Sie konnte sich an keine Elbenrune auf dem Scheusal mit den Rädern erinnern. Sogar Furgas entsann sich nicht, eines der verschnörkelten Zeichen gesehen zu haben. Tungdil aber wusste, dass die Rune da war. An jedem der Wesen befand sich eine. Jetzt ärgerte er sich darüber, dass er nicht ungestört an dem Rätsel tüfteln konnte. »Ich versuche zu arbeiten, und das kann ich nicht, wenn ihr euch benehmt wie kämpfende Vangas.«
»Was gibt es da zusammenzureimen? Es wird gefochten, Gelehrter!« Ingrimmschs Augen leuchteten. »Zwar haben wir noch keine Schweinchen gefunden, aber diese Maschinen sind auch nicht zu verachten.« Er wirbelte den Schild umher. »Hach, ich würde zu gern meine Kräfte mit einem dieser Untergründigen messen.« »Hast du das nicht schon?«, bemerkte Tungdil. »Du hast doch verloren, oder?«
»Das? Das war doch kein Kampf, bei Vraccas! Das war Aalfangen.« Er schüttelte sich. »Mit Kampf meine ich Klingen, Beile, schwere Waffen, es muss krachen und scheppern. Ich denke nicht, dass sie mit uns verwandt sind.«
So, wie er es sagte, klang es endgültig und eine Spur abweisend. Tungdil schaute auf. »Es sind Zwerge. Was gibt es daran zu rütteln?«
»Einiges. Sie sehen sich als Brüder der Orks«, antwortete Goda zu rasch. Anscheinend hatten sich die beiden bereits ausgiebig bei ihren Waffengängen unterhalten. »Ihr Gott hat sie gemeinsam erschaffen. Wie nannten sie ihn gleich?«
»Ubar«, half ihr Tungdil und legte einen Arm auf die Lehne des Stuhls, sein Blick wurde vorwurfsvoll. »Es freut mich, dass ihr beiden euch in etwas einig seid. Ihr wisst dennoch, dass ihr klingt wie die Elbenfürstin?« Ingrimmsch verzog den Mund. »Gelehrter, es kann keine Übereinstimmung zwischen den Untergründigen und uns geben. Sie sind größer als wir, sie kämpfen anders und gebrauchen nicht einmal Äxte. Nur diese«, seine Hände formten den Stab nach, »Zahnstocher oder was immer es sein soll. Nein, wir wurden niemals aus dem gleichen Gestein geschlagen.« Er nickte Goda zu, die erneut gegen ihn rannte. Wieder lärmte es gewaltig. »Du bist ungerecht«, sagte Tungdil Kopf schüttelnd.
»Und du bist fasziniert«, gab der Zwerg zurück. »Ich habe genau gesehen, dass du sie unterwegs immer wieder betrachtet hast. Man spürt, dass du dich gern mit ihnen unterhalten hättest, um mehr zu erfahren. Dadurch wird deine Urteilskraft getrübt. Das macht der Gelehrte in dir.«
»Meine Urteilskraft ist gewiss nicht getrübt. Ganz im Gegenteil!«, rebellierte Tungdil gegen den Vorwurf. »Ich bin vermutlich der Einzige aus den fünf Stämmen, der ihnen gegenüber sachlich bleibt. Man hört an dir, wie eingeschränkt deine Sichtweise von den Dingen ist. Und dabei gehörst du noch zu denjenigen, die Neuerungen gegenüber offener sind.«
»Und dir gebührt das Recht, andere deswegen zu verurteilen?« Er rannte gegen Goda, die seinem Ansturm dieses Mal standhafter begegnete, was er mit "einem lobenden Nicken bedachte. Und einem langen, vielleicht zu langen Blick in ihre Augen.
Sie hob den Schild und unterbrach die Sicht.
»Ich urteile über niemanden.« Tungdil schaute seufzend auf seine Notizen. Ihm wurde die Unterhaltung lästig, zumal er wusste, dass sie bei dem Dickschädel Ingrimmsch zu nichts führte und er jedes weitere Wort missverstehen würde. »Ich werde nachher mit Furgas reden, um weitere Schwachstellen an diesen Monstren in Erfahrung zu bringen. Denn ohne dieses Wissen werden wir nicht gut gegen diese Wesen aussehen. Auch du nicht.«
»Das werden wir sehen. Mein Krähenschnabel findet immer eine Lücke, in die er trifft.« Ingrimmsch war beleidigt. »Komm, Goda. Wir gehen in den Hof und üben dort.« Sie verdrehte die Augen und folgte ihm hinaus. Doch sobald die beiden die Unterkunft verlassen hatten, fand Tungdil nicht mehr in seine Überlegungen zurück, sondern sann über die Worte Boindils nach.
Sie trugen Wahrheit in sich. Er fand die Untergründigen faszinierend, von denen er außer ihrem unterschiedlichen Äußeren und einigen wenigen Einzelheiten nichts wusste. Weder über ihre Gemeinschaft noch über ihre Vorstellungen, ihre Werte, ihr Leben im Jenseitigen Land.
Er stand auf und ging zum Fenster, von dem aus er über einen Teil Poristas schaute. Der Anblick der Dächer und rauchenden Kamine, der flatternden Wäsche auf den Leinen vermittelte Beständigkeit, Dauerhaftigkeit. Menschen hatten ihre Bleibe gefunden, sich eingerichtet, Familien gegründet.
Dies stand im Gegensatz zu seinen Empfindungen. Er fühlte sich weder bei den Stämmen noch bei den Ausgestoßenen, noch bei den Menschen zu Hause. Selbst Balyndis konnte ihm, dem Einzelgänger, dem kämpfenden Gelehrten, nicht mehr die Geborgenheit geben, die er spüren wollte.
Oder suchte er gar keine Geborgenheit?
»Ist es mir bestimmt, ein ewiger Wanderer zu sein? Und mit den Untergründigen ins Jenseitige Land zu ziehen und ihnen zu helfen, den Diamanten an seinen alten Platz zu setzen?«, sagte er leise. »Finde ich dort mein Glück, Vraccas?«
Er sah zu der Kanne Bier. Der Alkohol lockte ihn mit seinem würzigen Duft und weckte Erinnerungen an Nächte im Vollrausch, ohne Grübeleien und Haderei.
Tungdil versuchte, der Versuchung zu widerstehen, und bewegte sich dennoch auf den Tisch zu. Als sich seine Hand um den Henkel der Kanne schloss, klopfte es.
Sofort ließ er ihn los und ging zur Tür, öffnete sie.
Vor ihm stand eine Untergründige.
Sie war ihm bereits auf der Reise aufgefallen, weil ihre Haut so dunkelbraun wie die eines Nomaden war und sie sich stets in seiner Nähe aufgehalten hatte. Sie trug einen beigefarbenen, mit Dor nenranken bestickten Waffenrock, der über der Vordernaht lose geschnürt war und einen Blick auf ihre Brüste gewährte. Er sah sie zum ersten Mal ohne den beeindruckenden Helm und starrte ungebührlich auf den kahl rasierten Schädel. Damit hatte er nicht gerechnet: eine Frau ohne Haarpracht!
»Darf ich eintreten?«, fragte sie ihn lächelnd und mit einem hinreißenden Tonfall, der sie als Fremde verriet. »Gewiss«, sagte er rasch und trat zur Seite, um sie einzulassen. Sie überragte ihn um eine Handbreit. »Was möchte Sündalon mir ausrichten?«
Sie schaute sich in dem Zimmer um, schlenderte neugierig umher und blieb vor dem Büchlein mit den Aufzeichnungen stehen. Ihre hellblauen Augen richteten sich auf die Zeichnung des Helms, die er gemacht hatte. »Du hast meinen gemalt«, grinste sie.
»Ja. Sollte ich das nicht?«
»Es macht mir nichts aus.« Sie reichte ihm die Hand, die von einer breiten Narbe gezeichnet war. »Ich bin Sirka.«
Er schüttelte sie. »Freut mich sehr. Meinen Namen kennst du, nehme ich an.« Vergebens wartete er darauf, dass sie Sündalons Botschaft ausrichtete.
»Es wäre merkwürdig, wenn ich ihn nicht wüsste«, gab sie lächelnd zurück.
Er räusperte sich. »Verzeih mir, wenn ich dich vorhin angestarrt habe. Mir war der Anblick fremd. Die Zwerginnen des Geborgenen Landes haben eine andere Hautfarbe als du und tragen ihre Haare lang, anstatt sie abzurasieren.« Er wurde verlegen.
»Wir haben wohl nicht sehr viele Gemeinsamkeiten«, sagte Sirka. »Sündalon sagte, du bist ein Gelehrter.« Sie hob das Büchlein auf und blätterte darin. »Du interessiert dich für alles Neue?«
»Das tue ich.« Tungdil wunderte sich über das Verhalten der Zwergin, die unvermutet einen Schritt an ihn heran trat und das Büchlein auf den Tisch warf.
Sie hob die Arme und umfasste seinen Kopf, dann drückte sie ihm einen langen Kuss auf die Lippen. Er wehrte sich nicht. »Du gefällst mir sehr, Tungdil«, gestand sie ihm und berührte seine Brust. »Ich würde dir gerne Neues zeigen, wenn du es zulässt.« Ihre Offerte war eindeutig.
»Ihr Untergründigen habt wirklich nicht viele Gemeinsamkeiten mit unseren Zwerginnen«, stellte Tungdil fest und spürte noch immer ihre Lippen auf seinen. Es hatte ihm gefallen. Sehr gefallen.
So sehr, dass er sich dieses Mal vorbeugte und Sirka küsste; seine Hände legten sich auf ihre schmale Hüfte und er zog sie dicht an sich heran. Er roch das schwere, würzige Duftwasser an ihrem Hals, fühlte ihre Körperwärme durch den dünnen Waffenrock. Seine Hände wanderten nach oben zu den Schnüren ihres Gewandes... Dann flammte das schlechte Gewissen auf.
»Nein«, sagte er heiser und machte rasch einen Schritt von ihr weg. »Ich bin vergeben.«
Aber Sirka folgte ihm und umfing ihn. »Was bedeutet vergeben?«
Er wich ihr aus und stellte einen Stuhl zwischen sie beide. »Sirka, dein Werben schmeichelt mir sehr«, sagte er und gab sich Mühe, seine eigenen Empfindungen zu beherrschen und ihrem Drängen nicht nachzugeben. »Aber solange ich an Balyndis gebunden bin, werde ich mich auf ein solches Abenteuer nicht einlassen.« Sie lächelte. »Oh, ich verstehe. Ihr habt feste Lebensgemeinschaften.«
»Ihr nicht?«
»Nein. Wir lieben uns, solange es uns gefällt. Wenn sich die Gefühle ändern, trennen wir uns. Mal für eine Weile, mal für immer. Das erleichtert das Leben, Tungdil. Denn es ist kurz genug.« Sirka betrachtete ihn. »Du suchst Neues? Wie wäre es damit: Begleite uns nach Letefora. Ich bringe dir auf dem Weg dorthin alles über uns bei, was du wissen musst.«
»Letefora ist...?«
»Eine Stadt. Eine von vielen, die in meiner Heimat liegen. Und sie sieht so ganz anders aus als das, was ihr im Geborgenen Land habt.«
»Ja«, sagte er, ohne nachzudenken. »Ja, das wäre reizvoll«, setzte er bedächtiger nach.
Sirka lächelte und küsste ihn erneut, fuhr ihm durch das Haar und streichelte seinen Bart. »Das wäre reizvoll«, wiederholte sie und ging zur Tür. »Wir werden uns öfter sehen, Tungdil. Ich werde dir eine gute Lehrerin sein. Die Lektion, welche dir heute entgangen ist, holen wir schon bald nach.« Sie öffnete und trat hinaus. Tungdil setzte sich. Er stand in Flammen, trug ihren Geruch in der Nase und ihren Geschmack auf den Lippen. Sirka nahm ihn mit ihrer unbekümmerten, offenen Art gefangen, und das bezog er nicht nur auf ihre körperlichen Reize. Er freute sich auf die Lektion, die sie ihm versprochen hatte.
Doch zuerst würde er einen Brief an Gla'imbar senden und mit Balyndis sprechen. Oder noch besser, er würde ihr einen langen Brief schreiben.
Er nahm ein Blatt, schrieb zuerst seine Zeilen an Gla'imbar nieder, siegelte die Nachricht und legte sie vor sich auf den Tisch.
Danach machte er sich an das Schreiben an Balyndis, das seine Gemahlin von ihm löste. Keine leichte Aufgabe, auch nicht für einen Gelehrten wie ihn.
Die Feder stockte immer wieder, er rang mit den Worten, beschrieb, warum er sie niemals glücklich machen könnte. Nicht auf Dauer. Nicht so, wie sie es sich erhoffte. Und Dauer war bei seinem Volk sehr, sehr lange. Das wollte er ihr nicht antun.
Die Begegnung mit der Untergründigen war nur der Stein des Anstoßes für diesen Schritt, für die Trennung. Im Inneren hatte er ihn längst vollzogen, ohne sich zuvor darüber im Klaren gewesen zu sein. Er hatte seine Unzufriedenheit stets falsch gedeutet. Niemals war er sich klarer darüber gewesen, dass er Balyndis nicht verdient hatte.
Dabei achtete er in seiner Wortwahl sorgsam darauf, alle Schuld auf sich zu nehmen und ihr nicht den Eindruck zu vermitteln, sie trüge die Verantwortung für das Scheitern ihrer Gemeinschaft. Seine Zeilen würden sie hart genug treffen.
Auch diesen Brief siegelte er und legte ihn auf den von Gla'imbar.
Es gab kein Zurück mehr. Die Begegnung mit Sirka führte ihm endgültig vor Augen, was ihm fehlte: Leidenschaft. Neues. Das Gelehrtendasein und die Gier nach Unbekanntem waren sein Fluch. Er wollte keine Geborgenheit.
»Vraccas, aus welchem unbeständigen Gestein hast du mich geschlagen?«, seufzte er. Die Lust an dem Besuch des Theaterspiels war ihm gründlich vergangen.