Das Jenseitige Land, Östlich der Stadt Letefora, eine Meile vor der Schwarzen Schlucht, 6241. Sonnenzyklus, Frühherbst.
Die Geräusche von zwanzigtausend eilenden Befüns, dem Klirren von Waffen und Rüstungen genügten, um die Monstren tiefer in die Ruinen der besetzten Häuser kriechen zu lassen. Keines von ihnen wagte es, sich zu zeigen.
Der Acront Leteforas verließ sich nicht nur auf die Kraft der Ubariu und der Untergründigen. Er gab der Streitmacht Kriegsmaschinen mit, wie sie sich Furgas nicht besser hätte ausdenken können. Vier gepanzerte Gefährte, vierzig Schritte lang, zehn breit und zehn hoch, rollten am Kopf und am Ende des Trosses. Über den hölzernen Rahmen waren Eisenplatten gelegt worden, sodass sie an umgedrehte Schiffsrümpfe erinnerten. Im Bauch der Konstrukte warteten Speer- und Pfeilkatapulte hinter den Geschützluken, um aus ihrer erhöhten Position auf Angreifer schießen zu können. Sie besaßen einen Rundumfeuerbereich und erreichten somit jede Stelle eines Schlachtfeldes; die Geschosse flogen, so sagte Flagur Tungdil, gut dreihundert Schritte weit. Angetrieben wurden die Kolosse durch ein einfaches, doch wirkungsvolles System: Windräder. Auf ihrer Oberseite befanden sich große, drehbare Türme und Windräder, die Kraft der Luft wurde eingefangen und über Gestänge wie bei einer Mühle auf die Antriebsachse übertragen. Sie schoben sich rumpelnd auf ihren vielen kleinen Rollen mit der Geschwindigkeit eines wütenden Zwerges vorwärts. Und das war nicht langsam. »Beeindruckend, diese Gefährte«, sagte Rodario zu Tungdil. Auch er hatte auf ein Befün umsteigen müssen, weil sie einfach die schnellere Fortbewegungsart waren. »Hast du vorhin gesehen, wie wendig sie sind? Die Rollen lassen sich einzeln lenken, sodass diese Panzerwagen auf der Stelle drehen oder seitwärts fahren können.«
Rechts und links ihres Wegs entdeckte Tungdil erschlagene und von Pfeilen durchbohrte Kreaturen, die mit der ersten Eskorte zusammengestoßen waren. Die Bestien hatten gelernt, es nicht ein weiteres Mal zu versuchen. »Ein einziger solcher Wagen, und die Orks im Geborgenen Land wären viel früher vernichtet worden.« Rodario betrachtete die Panzerwagen, aber innerlich beschäftigte er sich mit dem, was ihnen der Acront gesagt hatte. »Es ist niemals Narmora. Wir haben beide gesehen, was von ihr übrig geblieben ist. Der Stern der Prüfung hat das Albische in ihren Adern verbrannt. Sie kann es unmöglich überlebt haben.«
»Magie und Liebe vermögen Mächtiges zu tun, auch wenn es nicht immer das Richtige sein muss«, sagte LotIonan, der neben Tungdil ritt. »Erinnere dich, dass Furgas die magische Quelle fand. In seinem Wahn kann er aus ihren Überresten eine ähnliche Maschine gebaut haben, wie es die Bestien der Unauslöschlichen waren.« Rodario schüttelte sich. »Die aufgetauchte Narmora - ein totes Ding mit einem Herzen aus Eisenfedern, Zahnrädern und Mechanik, das sich nur bewegte, weil die Magie in ihr pulsierte? Das hätte Furgas ihr niemals angetan. Dafür liebte er sie zu sehr.«
»Er liebte sie so sehr, dass er es tun konnte. Er wollte sie nicht vermissen«, widersprach Tungdil. »Ich hoffe, wir halten sie auf, bevor sie das Artefakt zerstören kann.«
»Es wäre eine furchtbare Rache am Geborgenen Land«, sagte Lot-Ionan. »Weswegen?«
»Aber es wäre genau die Rache, die Furgas damals in Porista geschworen hat«, erinnerte sich Tungdil an den Augenblick, als er dem Magister den Tod seiner Tochter und seiner Gefährtin hatte offenbaren müssen. Der Hass in seinen Augen übertraf selbst den der Dritten.
»Sie hat wegen des Sterns alles verloren. Ihre Kinder, ihr bisheriges Leben.« Rodario schaute nach vorn, wo sich der Boden absenkte und das Gras nicht mehr wuchs. Nur Sand und tote Erde gab es dort, als scheue das Leben, sich dem zu nähern, was in der Senke lag.
Die Panzerwagen an der Spitze hoben ihre Formation auf, fächerten auseinander und verringerten ihre Geschwindigkeit, damit die vier am Ende des Zuges zu ihnen stießen.
Sirka hatte der Unterhaltung schweigend zugehört. Sie hörte das Fanfarensignal, das von der Spitze des Zuges zu ihnen schallte. »Wir haben die Schwarze Schlucht bald erreicht«, gab sie bekannt. »Wir sollen mit dem Diamanten nach vorne kommen.«
Die Befüns wechselten von dem hoppelartigen, raschen Trab in geschwindes Springen. Erstaunlicherweise schaukelten sie am wenigsten, wenn sie mit höchster Geschwindigkeit rannten.
Vor ihnen erschien eine kahle Senke, in deren Mittelpunkt sich die Schwarze Schlucht befand: eine halbe Meile lang und einhundert Schritte breit. Sie erinnerte an einen Schnitt im Leib der Erde, ihre Ränder waren schwarz und glatt. Steile Wege führten rechts und links aus ihr heraus.
»Eine faulende Wunde«, sagte Ingrimmsch und spie angewidert aus. »Die Bestien sind der Eiter, der daraus hervordringt.«
Flagur zeigte nach Süden, wo sich ein seltsames Konstrukt unmittelbar vor dem Eingang erhob. »Das ist das Artefakt«, atmete er erleichtert auf. »Es ist heil. Ich hatte mit dem Schlimmsten gerechnet.« Tungdil zwang sich dazu, nichts zu sagen und die Zuversicht nicht zu töten. Narmora war eine mächtige Maga gewesen. Wer wusste schon, wozu eine Halbalbin im Stande war? »Lass die Ausgänge bewachen«, sagte er zu dem Ubari. »Nur sicherheitshalber. Ich möchte nicht von den Bestien überrascht werden, während wir den Stein einsetzen.« Er wandte sich an Lot-Ionan. »Bereit, ehrenwerter Magus?«
Er betrachtete die Senke. »Wir werden sehen, ob man sich darauf vorbereiten kann, was uns erwartet.« Ingrimmsch schaute sich um. »Wo ist die erste Eskorte abgeblieben? Wir haben keine Spuren mehr gefunden.« »Sie wird in die Schlucht gegangen sein«, sagte Sirka. »Nur aus welchem Grund, das wüsste ich zu gern. Eine erste Schlacht vielleicht. Oder ein Hinterhalt von Narmora, um die Ungeheuer der Schlucht zu wecken.« Das Heer teilte sich auf. Jeweils zehntausend Ubariu und Untergründige positionierten sich vor den Ausgängen der Schwarzen Schlucht und bildeten eine lebendige Mauer gegen das, was herausstürmen konnte. Sie hielten dabei einen Abstand von einhundert Schritten zu den klaffenden Einschnitten.
Die Panzerwagen stellten sich quer hinter ihnen auf. Im Inneren wurden neue Einstellungen vorgenommen, die Windräder drehten sich im Leerlauf. Noch.
Flagur hatte Tungdil erzählt, dass die Räder nicht nur für den Antrieb sorgten, sondern bei Bedarf Kraft für zusätzliche Katapulte lieferten. Standen die Wagen still auf der Stelle, war es möglich, mechanische Schleudern einzuschalten. Diese feuerten dank der Windräder ohne Unterbrechung, die Mannschaft musste den Lauf lediglich auf das Ziel ausrichten und korrigieren. Die Munition konnte mitgeführt oder durch kleine Bodenluken von der Erde aufgesammelt werden.
Die Panzerwagen waren bereit.
In der Zwischenzeit erreichten Sirka, Tungdil und seine Freunde das Artefakt. Es bestand aus vier aufrecht stehenden, ineinander verschlungenen Eisenringen, die andeutungsweise eine Kugel formten, deren Durchmesser geschätzte zwanzig Schritt betrug. Zeichen, Runen, musterförmige Kerben und Punkte befanden sich auf den Eisenringen. Unzählige Querstreben führten in den Mittelpunkt, wo sich eine mit Symbolen verzierte Halterung befand.
»Da hinein soll der Diamant, nehme ich an«, sagte Lot-Ionan und stieg ab.
Ingrimmsch schirmte die Augen gegen die Sonne ab und blickte in die Höhe. »Wie kommt man da hinauf? Ich sehe keine Leiter.«
»Deswegen bedarf es eines Runenmeisters«, Flagur neigte sich zu Lot-Ionan, »oder eines Magus. Ihr werdet sicherlich einen Zauber beherrschen, der Euch fliegen lässt?«
Lot-Ionan schüttelte den Kopf. »Nein. Wozu sollte ich?«
»Dann werdet Ihr klettern müssen.«
»Wäre es nicht besser, wenn Ihr ihn auf dem Rücken tragt und ihn zum Mittelpunkt bringt?«, schlug Rodario vor. »Ihr seht wesentlich kräftiger aus.«
Flagur verneinte energisch. »Ich werde das Artefakt nicht anrühren. Nur einem Runenmeister oder einem Zauberkundigen, der seelenrein und voller Unschuld ist, ist es gestattet. Alle anderen müssen zu Staub zerfallen.«
In diesem Augenblick erklang das Hörn. Ein bleierner Ton, der aus den Tiefen der Schwarzen Schlucht erklang, ein düsteres, durchdringendes Kreischen, voller Hass und Freude. Es rief zusammen und versprach Freiheit, Morden und Vernichten.
Sie konnten nichts anderes tun, als gebannt zu lauschen, bis das letzte Echo verklungen war. »Es ist bemerkt worden«, raunte Sirka voller Furcht. »Wir...«
Lautes Geschrei aus Tausenden von wütenden Kehlen brandete aus der Schlucht heran.
»Sie kommen!« Flagur schwang sich auf sein Befün. »Ich reite zu meinen Kriegern. Sie müssen sehen, dass ich sie nicht allein lasse.« Er zog sein Schwert, nickte Lot-Ionan zu. »Ehrenwerter Magus, es war mir eine Ehre, Euch kennen gelernt zu haben.« Flagur preschte nach vorn und rief von weitem Befehle.
Die erste Reihe der Soldaten kniete ab und hob lange Speere aus Eisen, um die erste Welle, die gleich heranrollte, aufzuspießen; die Kämpfer dahinter machten ihre Bögen schussbereit, wieder andere richteten übergroße Schilde aus, um sie bei Bedarf als Schutz über die Köpfe zu halten. Die Geschützluken der hinter ihnen aufragenden Panzerwagen klappten drohend auf.
Lot-Ionan näherte sich dem Artefakt, von dem eine Spannung ausging, die einzelne Härchen seines weißen Bartes und seines Schopfes dazu brachte, sich aufzurichten.
Seine Schritte verlangsamten sich, je dichter er an das Eisen herankam. Er schaute hinter sich, wo Tungdil, Sirka, Rodario, Ingrimmsch und Goda warteten und jede seiner Bewegungen verfolgten.
»Ich...« Er wollte etwas sagen, da bekam er einen Schlag in die Brust. Er machte zwei taumelnde Schritte rückwärts und fiel in den Staub. Aus seinem Leib ragte ein schwarzer Albpfeil, der ihn mitten ins Herz getroffen hatte.
Ein Schatten fiel über ihn, ein Mann sprang über ihn hinweg und riss ihm das Täschchen mit dem Diamanten vom Gürtel.
Warm breitete sich das Blut auf seinem Körper aus, das verletzte Herz pumpte und gab auf. Ächzend schloss Lot-Ionan die Augen...
»Furgas?« Rodario hatte den Mann erkannt, der hinter einem der Eisenringe hervorgesprungen war. »Wir sind im Jenseitigen Land. Hier kehren die Toten wieder.« Der Magister entriss dem sterbenden Magus den Diamanten und ging langsam rückwärts. »Ich habe selbst dich getäuscht, den Unglaublichen Rodario«, lächelte er zufrieden. Als Tungdil einen Schritt nach vorne machte, zeigte er auf den Zwerg. »Bleib, wo du bist! Sonst wird dich der Pfeil treffen.« Er deutete zum anderen Ende des Artefakts, wo eine Frau stand, die einen gespannten Boden in der Hand hielt. »Wir werden zusehen, wie sich das Böse aus der Schwarzen Schlucht befreit und mit meiner Hilfe ins Geborgene Land marschiert.« Er nahm den Diamanten hervor, steckte ihn sich in den Mund und schluckte ihn hinab.
Ingrimmsch hob langsam seine Waffe. »Oh, das war eine dämliche Idee«, grollte er leise. »Jetzt werde ich ihm richtig wehtun.«
»Ihr werdet es nicht verhindern.« Furgas schaute hinüber zur Schlucht. »Das ist die Rache, die ich mir für das Geborgene Land gewünscht habe: Es wird im Strom der Bestien ersticken und untergehen. Zur Strafe für den Hochmut und dafür, dass es den Zwergen und ihren falschen Ansichten geglaubt hat.« Er starrte Tungdil an. »Die Eoil waren niemals die Gefahr. Die Einmischung von euch Missgeburten hat das alles angerichtet, was mir meine Familie nahm.«
»Das ist nicht Narmora«, murmelte Ingrimmsch. »Warum zaubert sie nicht?«
Rodario gab ihm stumm Recht. Es konnte die Frau sein, die er in Mifurdania auf dem Boot gesehen hatte. Er ärgerte sich, dass er sie vollkommen vergessen hatte. Jetzt, wo der Name Narmora gefallen war, wusste er endlich, wem sie ähnelte. Furgas hatte sie deswegen zur Verbündeten erwählt. Vielleicht hielt er sie in seinem wirren Verstand sogar für eine Wiedergeburt seiner geliebten Frau. »Das alles, der Untergang eines Landes, wegen deiner Rache? Denkst du, dass Narmora es gewollt hätte? Sie kämpfte mit uns gegen die Gefahr.« »Sie hat aber nicht sterben wollen!«, hielt Furgas schneidend dagegen. »Nein, ihr werdet alle büßen, indem ihr um eure Lieben trauern werdet wie ich es tue. Seit mehr als fünf Zyklen.« Er ballte die Faust und entfernte sich weiter von ihnen. »Es wird niemanden im Geborgenen Land geben, der meine Schmerzen nicht nachempfinden kann.«
»Und dann?«, führte Rodario den Gedanken fort. »Dann ist das Geborgene Land vernichtet.« »Soll es doch. Von mir aus kann ein jedes Land untergehen.« Er zuckte mit den Achseln. »Die Welten sind nichts mehr ohne sie, die mir Nachkommen schenkte und das Leben rettete.«
»Du hast mich hintergangen, Furgas.« Rodario ging auf ihn zu.
Die Schützin ließ die Sehne schnellen, der Pfeil bohrte sich in Rodarios rechten Oberschenkel, und er fiel neben Lot-Ionan zu Boden. Schon lag ein neues Geschoss auf der Sehne. Sie hantierte unglaublich schnell und präzise. »Ich sagte doch: Bleibt stehen und schaut zu.« Gleichgültig betrachtete Furgas seinen einstigen Freund. »Die Wunde hast du dir selbst zuzuschreiben.«
Aus der Schlucht dröhnte das Gebrüll noch lauter.
Ein widerlicher Hagel ging auf die Reihen der Ubariu und Untergründigen nieder. Es waren die zerteilten Gliedmaßen der ersten Eskorte, die von Furgas und seiner Helferin ins Verderben geführt worden waren. Abgetrennte Arme, Unterschenkel und Köpfe flogen in dichten Schauern auf die Krieger nieder. Die dumpfen Aufschlaggeräusche auf den Schilden und den Panzerwagen, das spritzende Blut und der Geruch waren schrecklich und verfehlten ihre Wirkung nicht.
Sirkas Gesichtsausdruck wurde entschlossen. Sie hatte Freunde und Bekannte verloren, deren Tod sie rächen wollte.
»Du hast große Fehler begangen«, ächzte Rodario und hielt sich die Stelle, an welcher der Pfeil saß. »Mache sie nicht noch schlimmer.«
»Niemand wird mir verzeihen, was ich bislang getan habe. Es gibt keine Steigerung mehr«, fiel er ihm ins Wort. »Ich habe die Maschinen gebaut und sie zu den Zwergen geschickt. Ich musste mich von Bandilor nicht lange dazu überreden lassen. Und auch mit dem Unauslöschlichen verbündete ich mich gern. Ich habe alles durchdacht und geplant. Nun stehe ich an meinem Ziel. Wieso sollte ich nun aufhören?«
»Wir haben den Stollen gefunden, den du gebohrt hast. Durch ihn wird nichts Böses mehr gelangen«, sagte Tungdil und gab Goda ein Zeichen, dass sie sich bereithalten sollte; Ingrimmsch verstand es ebenfalls. »Wie gelang es dir, diese Bastarde aus Maschinen und Monstren zu erschaffen?«
»Ein bisschen Zufall darf gerne in die Planung kommen, solange er sich einfügen lässt«, lächelte er. »Als wir auf dem Boden des Sees nach Eisenerz gruben, bemerkten wir, dass das Gestein vollkommen anders aussah. Ich erinnerte mich an die Quelle in Porista und hatte einen Verdacht. Und mir fiel das Metall ein, das Magie leitet.« Er schaute zu der Schlucht; der Regen aus Leichenteilen schien nicht enden zu wollen. »Ich stellte mir die Frage, ob es sich für die Maschinen wohl nutzen ließe. Narmoras wegen wusste ich um die schlummernde Magie in den Albae. Als mir der Unauslöschliche die Bälger überließ, habe ich es einfach versucht.« Seine Augen glänzten voller Stolz. »Die beiden Dritten schmolzen mir das besondere Metall, und damit schuf ich neue Maschinen. Niemand kam vor mir auf den Gedanken, Magie, Eisen und die Leiber von Kreaturen zu verbinden.« »Du hast sie zu beinahe unbesiegbaren Monstren gemacht.«
»Das war der Sinn der Sache, Tungdil.« Er faltete die Hände vor seinem Bauch und blieb völlig gelassen. »Ablenkung, darum ging es mir. Während ihr diese Dinger jagtet, achtete niemand auf mich. Mein Stollen wäre unbemerkt fertig geworden. Aber die Schwarze Schlucht dient meiner Rache weit besser.« Furgas drehte sich zu dem gewaltigen Einschnitt in der Erde und nickte. »Ist es zu fassen? Ich habe euch die ganze Zeit über eine Komödie vorgespielt, seit dem Umlauf, als Rodario durch einen Zufall auf die Insel kam.« Furgas richtete die Augen auf den Mimen. »Mein vorgetäuschter Selbstmord machte es vollkommen. Ihr habt mir geglaubt und mir freiwillig alles verraten. Dank euch wird meine Rache süßer, als ich es mir ausmalen konnte. Ja, wenn man manche Dinge vorher wüsste. Wie die Existenz der Schwarzen Schlucht.«
Das Rumpeln endete, dann erklang wieder das Hörn. Die Pforten der Schwarzen Schlucht ergossen ihren Schrecken über die Verteidiger.
Tungdil war zu weit weg, um Genaues zu erkennen, aber was an Ungeheuern aus dem Spalt quoll, übertraf die Bestien des Geborgenen Landes bei weitem. Manche waren so groß wie ein Ork und mit vier Armen und Klauen ausgestattet, andere besaßen zwei lange Hälse und Köpfe, die denen von Schlangen glichen.
Er entdeckte ein baumgroßes, fettes Wesen, dessen Leib rot und feucht wie rohes Fleisch glitzerte; ein halbes Dutzend Tentakeln zuckte um es herum und schnappte nach allem, was in seine Nähe geriet. Es presste seine Beute einfach gegen den feisten Leib. Dampfwolken stiegen empor, Säure löste das Fleisch der Opfer auf, der Schleim wurde von unzähligen Mündern in diesem Leib aufgesogen.
Solche und weitere Abscheulichkeiten kamen geritten und gerannt; große und kleine, unaussprechlich hässlich und grauenvoll anzuschauen.
Haushohe, schwingenbewehrte Ungeheuer krochen an den Hängen empor und warfen sich in die Tiefe, um den Schwung und den Wind zum Aufstieg zu nutzen. Sie segelten über die Köpfe der Ubariu hinweg und rissen mit ihren langen Klauen Löcher in die Linien der Verteidiger.
Die Katapulte der Panzerwagen hatten das Feuer eröffnet und sandten als Erwiderung unablässig Vernichtung in die Reihen der Angreifer.
Einige Flugbestien attackierten die Panzerwagen, warfen sich gegen sie oder setzen sich auf die Spitze, um die Windräder zu zerstören, die Eisenverkleidung herunterzuschälen und so ins Innere zu gelangen. Nun mussten die Bodentruppen der Ubariu und Untergründigen den Wagen beistehen und ihre Pfeile dorthin richten. Da erklang ein heiserer Schrei aus dem Spalt, der alles übertönte.
Die Stimme war so gewaltig, dass Teile des Felsens der Schlucht Risse erhielten und abbrachen. Freund und Feind schwiegen vor Entsetzen, der Angriff der Ungeheuer geriet ins Stocken. Sie fürchteten sich vor ihrer eigenen Art.
»Ubar, stehe uns bei«, flüsterte Sirka und wich unwillkürlich zurück. »Ein Kordrion! Nur sein Ruf vermag es, Stein zu sprengen, sagen die Schriften. Nichts wird ihn aufhalten, wenn er entkommt.«
Furgas schnalzte mit der Zunge. »Und es ist keiner da, der ihn aufhält, Sirka.« Er zeigte beiläufig auf Lot-Ionan. »Eure letzte Hoffnung liegt da am Boden. Der alte Mann hat versagt.«
Die Hand des tot geglaubten Magus ruckte in die Höhe und sandte einen tiefgrünen Strahl gegen Furgas. Der Magister hob vom Boden ab und flog hinauf bis zur Halterung. Genau darüber ließ Lot-Ionan den Strahl abreißen, und Furgas stürzte zwei Schritte tief hinab. Im letzten Augenblick bekam er eine Strebe zu fassen und hielt sich fest.
Die Frau feuerte ihren Pfeil auf den Magus, aber dieses Mal blieb das Geschoss vor Lot-Ionan in der Luft stehen und verharrte dort. Er war auf den Angriff vorbereitet gewesen.
»Hussa, der Stein wäre schon mal oben. Jetzt muss er nur noch in die Fassung.« Ingrimmsch rannte auf die Bogenschützin zu, und Goda folgte ihm. »Ich kümmere mich um sie, Gelehrter. Findet einen Weg, um Lot-Ionan zu dem Diamanten zu bringen.«
Tungdil und Sirka halfen dem Magus beim Aufstehen.
Lot-Ionan zog sich den Pfeil aus der Wunde und warf ihn weg. »So leicht ist es nicht, einen Magus zu töten«, sagte er mit einem merkwürdigen Lächeln. »Das Böse wird nicht gewinnen.« Er griff nach dem Eisen, um den Aufstieg zu beginnen.
Ein Blitz stieß aus dem Mittelpunkt des Artefaktes und schleuderte ihn viele Schritte weit durch die Luft. Qualmend und stöhnend blieb er liegen.
»Lot-Ionan!« Tungdil rannte zu ihm und kniete sich neben ihn. Die Hand des Magus war schwarz und verbrannt, die Haut blätterte ab und trudelte auf den Boden. Blut sickerte aus den Rissen hervor. Seine Augen rollten immer wieder nach oben weg, er schüttelte und verkrampfte sich.
Sirka starrte Lot-Ionan an. »Er ist nicht seelenrein«, verstand sie und schaute entsetzt dorthin, wo die Schlacht tobte. »Was wird jetzt?«
Die Ubariu und die Untergründigen hielten beinahe überall stand, aber vereinzelt gelang es den Kreaturen, durch die Linien zu brechen. Und diese Ausgeburten der Schwarzen Schlucht hielten auf das Artefakt zu. Sie wussten genau, was Schuld an ihrer langen Gefangenschaft trug, und wollten es einreißen.
»Ich weiß es nicht«, gab Tungdil leise zurück. Er hob Blutdurstes stieg auf den Befün und ritt den Scheusalen entgegen. »Ich halte sie auf, danach sehen wir weiter. Beschütze den Magus.«
Ingrimmsch hatte die Frau erreicht und zerschlug ihren Bogen in dem Augenblick, als sie ihn spannte und auf ihn richten wollte. Der Pfeil fiel auf die Erde, wütend sprang sie zurück und zog ihr Schwert. Seine Augen leuchteten. »So, du feige Mörderin. Lass sehen, was deine Kampfkunst hergibt, nachdem ich dein Spielzeug kaputt gemacht habe.« Er schlug mit dem Krähenschnabel nach ihr.
Sie wich behände aus und versetzte ihm einen Tritt, den er aber mit dem Stiel seiner Waffe abfing. Der gezackte Stumpf, wo sich einst der Dorn befunden hatte, fuhr ihr in die Seite und riss eine schwere Wunde. Aufkeuchend stürzte sie und rutschte rückwärts, weg von dem Zwerg.
»Das war nichts, heimtückisches Weib«, griente er und wirbelte den Krähenschnabel um die Achse, riss ihn aus der Bewegung hoch und wollte zuschlagen, um sie zu töten, da warf sie ihr Schwert. Es flog an ihm vorbei, er hörte Godas leisen Schrei. Bis vor kurzem hatte es nichts gegeben, was ihn aus seinem Kampffieber reißen konnte, aber die Sorge um Goda vermochte es. Er drehte den Kopf, um nach ihr zu schauen. Das Schwert der Frau steckte tief in ihrem linken Oberarm, der Einschlag hatte sie einen Schritt nach hinten machen lassen - genau gegen einen der Eisenringe des Artefaktes.
»Vraccas, nein!«, schrie Boindil, weil er sich an die Worte Flagurs erinnerte. Er sah Goda zu Asche zerfallen, von Blitzen zerrissen werden, in Flammenlohen vergehen... Doch es geschah nichts.
Bevor er sich weiter wundern konnte, bekam er einen Stich in die Seite, der höllisch brannte. Er drehte sich um und sah die Faust der Frau auf sein Gesicht zufliegen.
»Ho, so nicht!«, rief er und schlug die flache Seite des Krähenschnabels nach ihrer Hand. Es knackte laut, als der Zusammenstoß erfolgte, und die Fingerknochen brachen. Ohne abzuwarten, was sie tat, schlug er ihr den zackigen Stumpf von unten gegen das Kinn und zerschmetterte es.
Sie fiel wieder auf den Boden, stieß aber nochmals mit dem Dolch zu.
Ingrimmsch sprang zur Seite, die feucht glitzernde Spitze ver fehlte ihn. »Jetzt ich«, lachte er und hob den Krähenschnabel hoch über den Kopf, um ihn mit seiner gesamten Kraft nach unten zu schlagen. »Wie macht ein Schädel, wenn er birst?«
Die Frau konnte nicht mehr antworten, ihr Kopf gab unter der stumpfen Seite der Zwergenwaffe die passende Auflösung des Rätsels.
Furgas' lauter Schrei hallte von oben auf sie herab. Er hatte sich inzwischen auf die Strebe geschwungen und saß dort, dazu verdammt, zuzuschauen und abzuwarten. Wie er es von den anderen verlangt hatte. »Zu dir kommen wir auch gleich«, rief Ingrimmsch hinauf und eilte zu Goda. »Geht es dir gut?« »Ja«, sagte sie. »Ich war unvorsichtig, Meister.« Zerknirscht schaute sie auf das Schwert, das in ihrem Arm steckte.
»Aber du kannst etwas von der Frau lernen.« Er packte den Griff und zog die Klinge mit einem schnellen Ruck heraus; Goda stöhnte nur leise. Er hob das Schwert vor ihre Augen. »Wirf niemals deine Waffe, wenn du keine zweite dabei hast«, schärfte er ihr ein. »Sie hatte noch ihren kleinen Zahnstocher.«
Goda entdeckte das Blut, das aus seiner Seite sickerte. »Ich sehe es.«
»Das?« Er winkte ab. »Nicht schlimm. Die Spitze hat mich nur gepiekst.« Er betrachtete ihren Rücken, ob er eine versengte oder schwarze Stelle an der Rüstung erkennen konnte. Nichts. Ein leichter Schwindel brachte ihn dazu, sich fest gegen die Erde zu stemmen.
»Goda, Ingrimmsch«, rief Sirka. »Kommt her. Der Magus möchte etwas sagen.«
Erst jetzt sahen die beiden Zwerge, dass Lot-Ionan neben Rodario auf der Erde lag. »Oh, nein. Er ist abgestürzt«, sagte Boindil düster. »Jetzt brauchen wir ein Katapult, um ihn nach oben zu bekommen.«
Sie liefen zu dem Magus, der sehr schnell atmete und mit starken Schmerzen zu kämpfen hatte; Schweiß glänzte auf seiner Stirn. »Ich bin nicht gestürzt. Das Artefakt hat mich abgelehnt«, erklärte er ihnen. Ingrimmsch blickte zu Furgas hinauf. »Ein schönes Artefakt ist das. Wieso grillt es nicht ihn anstatt Euch?« Lot-Ionan richtete seine hellblauen Augen auf Goda. »Du musst gehen und es zu Ende bringen.« »Ich?« Die Zwergin hob wie zur Entschuldigung ihren Nachtstern. »Ich bin eine Kriegerin und...« »Der Runenmeister hat es erkannt, und ich habe es eben mit eigenen Augen gesehen«, unterbrach er sie heiser. »Goda, du trägst die Fähigkeit in dir, Magie zu wirken. Und im Gegensatz zu mir bist du hoffentlich seelenrein und voller Unschuld.«
»Voller Unschuld?«, brach es aus Rodario hervor. »Wie gut, dass das Artefakt keine Ohren hatte, um in Dreigipfelburg zu hören, was ich gehört habe.«
Goda errötete. Ingrimmsch schaute den Mimen an. »Wir haben das Ringen geübt, Schauspieler. Sie besitzt ihre Unschuld sehr wohl noch.«
Lot-Ionan sah Goda fest in die braunen Augen. »Ich weiß nicht, wie es vonstatten ging. Vielleicht geschah es, als du die magische Quelle berührt hast, vielleicht trägst du die Veranlagung auch seit deiner Geburt in dir.« »Darüber habt ihr am Lagerfeuer gesprochen?« Rodario entsann sich an den Abend, als er mit Flagur dieses seltsame Gewürz geteilt und den Magus in der Unterredung mit dem Runenmeister vertieft gesehen hatte.
»Ja. Ich wollte es Goda erst sagen, nachdem wir unsere Mission zu Ende gebracht hatten. Du wärst meine Famula geworden.« Er schloss die Augen, seine Zähne klapperten laut und knirschten. »Klettere hinauf, Goda«, ächzte er kaum mehr verständlich. »Töte Furgas, lege den Diamanten in die Fassung und rette das Geborgene Land.«
»Und meine Heimat«, fügte Sirka leise hinzu. Sie schaute nach links.
Immer mehr Bestien durchbrachen die Reihen und strömten auf das Artefakt zu. Tungdil ritt hin und her, fällte eine Kreatur nach der anderen, doch es waren längst zu viele. Drei Dutzend hielten auf sie zu. Sirka bettete Lot-Ionans Kopf auf ihren Mantel, dann hob sie ihren kurzen Kampfstab und nickte Ingrimmsch zu. »Ich schätze, wir bekommen gleich etwas zu tun.«
Rodario brach den Schaft des Pfeils knapp über der Wunde ab und stand auf. »Da darf ich nicht fehlen. Ein drittes Mal zum Helden zu werden, kann nichts schaden.« Ingrimmsch küsste Goda innig. »Beeile dich. Aber nicht zu sehr. Lass noch ein paar für meinen Krähenschnabel und mich durch«, griente er und wandte sich den Feinden zu. Wieder verschwamm die Welt vor seinen Augen, verwischte und benötigte ein kräftiges Blinzeln, um mit der gewohnten Schärfe vor ihm aufzutauchen. »Unverbesserlich«, sagte Goda nur. Sie ging auf den nächsten Ring zu, suchte mit den Fingern in den Kerben Halt und begann mit dem Aufstieg.
»Versuch es«, rief Furgas ihr zu. »Ich werde dich töten.«
Sirka wirbelte ihre Waffe herum und schaute zu Ingrimmsch. »Darf ich dich um einen Gefallen bitten?« »Sicher.«
»Würdest du mir den Witz von dem Ork und dem Zwerg erzählen?«
»Jetzt?«
»Vielleicht ist es deine oder meine letzte Gelegenheit«, grinste Sirka und wandte sich nach vorn. Das erste Ungeheuer befand sich zehn Schritte von ihr entfernt und schwang ein großes Schwert. »Beeil dich.« »Also, eines Umlaufs begegnete ein Zwerg bei seinem Rundgang am Steinernen Torweg einem Ork.« Ingrimmsch hob den Krähenschnabel, um bereit zu sein. »Der Ork sah ihn und fragte: ›Kannst du kleiner Mann mir sagen, wie ich ...‹ « Sirkas Gegner war heran und erzwang sich mit einem gewaltigen Schlag ihre Aufmerksamkeit. »Später«, rief sie zu Ingrimmsch und setzte sich aus Leibeskräften zur Wehr.
Tungdil hetzte den Befün quer über das Schlachtfeld und schlug mit Blutdürster nach den Häuptern der Bestien. Jeder Hieb nahm ein Leben.
Die umgeschmiedete Albklinge wütete unter den Ungeheuern. Es kam ihm so vor, als unterstütze sie seine Angriffe, als dirigiere sie sich noch genauer, als er selbst in die Schwachstellen der Rüstungen gezielt hätte. Blutdürster war unheimlich und faszinierend zugleich.
Doch so sehr sich die Ubariu und die Untergründigen bemüh ten, es brachen mehr und mehr Kreaturen durch die sich lichtenden Reihen der Verteidiger. Die geflügelten Scheusale konnte niemand bekämpfen, sie schienen gegen die Pfeile und Bolzen, von denen sie getroffen wurden, immun zu sein. Zwei Panzerwagen hatten sie ausgeschaltet, indem sie einen mit Gewalt umstießen und über den anderen in einem Schwärm herfielen. In Windeseile rissen sie die schweren Bleche ab, glitten hinein, so weit sie mit den Hälsen kamen, und töteten die Besatzung.
Die verbliebenen beiden Panzerwagen gaben den Fußtruppen noch Deckung und versuchten ein Sperrfeuer aufrecht zu halten, aber auch sie wiesen schwere Beschädigungen auf.
»Verdammt!« Tungdil hielt den Befün an, um nach dem Artefakt zu schauen. Er sah, dass Furgas oben saß und sich eine kleine Gestalt auf dem äußeren Ring bewegte. »Goda?«
Der Befün duckte sich und stieß ein wütendes Brüllen aus. Schlagartig wurde es dunkel um Tungdil, und ein gewaltiger, stinkender Windstoß streifte ihn. Krallen stießen rechts und links an ihm vorbei und schlugen in das Fleisch seines Reittiers; schon im nächsten Augenblick ging es aufwärts.
Der Boden fiel unter ihm zurück, er schwebte über das Schlachtfeld und sah das Gemetzel auf beiden Seiten der Schlucht als kleines Abbild dessen, was er eben noch selbst erlebt hatte.
»Was...?« Tungdil drehte sich um und bemerkte den scheußlichen Kopf eines der fliegenden Wesen direkt vor sich. Das breite Maul öffnete sich und senkte sich nach vorn.
Eigentlich wollte er Blutdürster in die Zahnreihen der Bestie schlagen und sie töten - was seinen eigenen Tod bedeutet hätte. Bei einhundert Schritt über der Erde wäre ein Sturz das Ende.
Also stieß er sich vom Rücken des verlorenen Befün ab und sprang auf die linke Klaue.
Das Wesen stieß einen Schrei aus und ließ den Befün fallen. Zappelnd stürzte das Tier der Erde entgegen, fiel in die Reihen der Ubariu und erschlug vier von ihnen.
»Du wirst mich nicht los«, grollte Tungdil und stach dem Flugscheusal in den Unterbauch, schlitzte ihn einen halben Schritt weit auf und wurde von stinkenden Flüssigkeiten getroffen.
Aufschreiend trudelte es steil nach unten, schoss sterbend über die Linien der Untergründigen hinweg, streifte die Speere des Heeres der Schwarzen Schlucht, bevor es mit ausgebreiteten Schwingen durch sie hindurch pflügte und fünfzig von ihnen verletzte oder sogar tötete. Tungdil wurde von Vraccas behütet. Er hatte sich außer ein paar Kratzern und einem flachen Schnitt am rechten Unterschenkel, der von einer Speerspitze herrührte, nichts getan.
So grub er sich unter einer geborstenen Schwinge heraus und stand mitten im feindlichen Heer. Noch hatten sie ihn nicht bemerkt.
Die vorderste Reihe der Ubariu und Untergründigen befand sich einen Pfeilflug weit entfernt, der Eingang zur Schlucht etwa fünfzig Schritte.
»Was immer du dir dabei gedacht hast, Vraccas«, murmelte er, während er sich umschaute. »Ich bin gespannt, wie es endet.«
Da erklang wieder der Schrei des Kordrions. Knisternd zersprang Stein, eine Schuttlawine rauschte herab und begrub etliche Bestien. Sogleich machte sich Stille breit, und die Augen der Krieger richteten sich ängstlich auf den Ausgang der Schlucht.
Eine bleiche Klaue, so breit wie drei Burgtore, fuhr aus dem Dunkel der Schlucht und legte sich an die äußere Kante, als suche sie Halt, um sich herauszuziehen. Risse bildeten sich, der Fels zerbröckelte unter der Kraft und dem Gewicht des Wesens, das noch in der Finsternis der Schlucht steckte und sich zu befreien versuchte. Seine Klaue griff nach, es schlug die langen Nägel in den Fels.
Tungdils zwergischste Tugend wurde geweckt. Umgeben von Aussichtslosigkeit, brach sie durch: Starrköpfigkeit, Eigensinn, Trotz oder wie immer man es bei anderen Völkern nannte, wenn man von Zwergen sprach.
Er erklomm den Leichnam der Flugbestie, damit ihn Freund und Feind sahen, nahm sein Rufhorn vom Gürtel, setzte es an die Lippen und antwortete auf den Schrei des Kordrions in das entsetzte Schweigen mit dem Signal zum Angriff.
»Ich werde nicht zulassen, dass du dein Gefängnis verlässt«, schrie er in die Schlucht. Er hob den vom schwarzen Lebenssaft der erschlagenen Kreaturen getränkten Blutdürster. »Die Waffe, die ich dem Bösen entrissen habe, wird dich aufhalten, was immer du bist. Glut gegen Glut!«
Er stürmte los, geradewegs durch die Reihen der Bestien hindurch, und zerteilte jeden Feind, der sich ihm in den Weg stellte oder nicht schnell genug zur Seite wich, als bestünden die Rüstungen und Körper aus losem Stroh und Butter.
Hinter ihm hörte er die Stimme Flagurs etwas rufen, dann brüllten die Ubariu und die Untergründigen, und gleich darauf begannen sie mit ihrem Ausfall, um Tungdil beizustehen.
Zuversicht blühte auf.
Flagur sah, wie Tungdil plötzlich mitten zwischen den Feinden auf dem Kadaver eines Monstrums erschien und furchtlos sein Hörn schmetterte, als stünde er hinter den schützenden Mauern Leteforas. Seine Worte hallten klar und deutlich über das erstarrte Schlachtfeld, dann sprang er geradewegs vorwärts.
»Ubar, du hast uns einen Helden gesandt, dessen Mut selbst den eines Acronten übertrifft«, raunte er und hob sein Schwert. »Folgen wir ihm!«, schrie er nach rechts und links. »Wir werden die Ersten sein, die einen Kordrion besiegen. Ubar!« Er machte einen Schritt nach vorn, packte den Griff seiner Waffe mit beiden Händen und zerteilte das Scheusal vor sich vom Scheitel bis zum Schritt. Dunkles Blut bespritzte ihn, dessen süßer Geruch Flagur noch mehr anstachelte.
Seine Leute stimmten in den Ruf ein und unternahmen einen Ausfall. Sie klappten die übergroßen Schilde zur Seite und rannten zehn Schritt tief in die feindlichen Linien hinein. Dort blieben sie stehen; die ersten beiden Ubariu-Reihen bildeten einen Schildwall und trennten die Feinde hinter sich vom Heer der Ungeheuer ab. Die nachfolgenden Untergründigen droschen auf die Eingeschlossenen ein und stachen sie mit ihren Kampfstäben derart rasch nieder, dass die Scheusale nicht einmal eine vernünftige Gegenwehr zu Stande brachten.
Währenddessen baute sich am Schildwall neuer Druck auf, die Bestien der Schwarzen Schlucht drängten gegen die Ubariu.
»Jetzt!«, rief Flagur, ließ sich seinen Speer mit seinem Banner daran reichen, und das Manöver wiederholte sich. Schilde zur Seite, einen Teil der Gegner einströmen lassen, danach von der Streitmacht abtrennen und in Überzahl niedermetzeln.
»Gebt Acht«, schrie Flagur, der in der ersten Reihe stand und die Übersicht wahrte. Stolz wehte die Fahne an dem Speer und verkündete, wer den Tod brachte. Da spürte er einen sengenden Schmerz in seiner Seite. Ihm stak plötzlich ein Pfeil zwischen den Rippen und machte das Atmen zu einer einzigen Qual, doch Flagur widerstand dem Schmerz. Seine Finger klammerten sich um den Speer, der ihm als Stütze diente. Keine Schwäche. Erst musste die Schlacht gewonnen werden. »Wechsel... jetzt!«
Die Kämpfer in der ersten Reihe traten einen Schritt nach hinten, die ausgeruhten Soldaten hinter ihnen übernahmen ihre Position, sodass es nicht zu einem Erlahmen des Angriffs kam. Die Gegner kannten keine derart ausgefeilte Strategie. Sie rannten sich müde und schwächten sich selbst. Gut für die Ubariu und die Untergründigen.
Dennoch blieben Verluste nicht aus.
Mehr als einmal sah Flagur einen guten Freund durch einen Streich niedersinken, er hörte Schreie, und seine Seele stimmte mit ein.
Äußerlich ließ er sich nichts anmerken, auch wenn er seine Krieger gern unter den nachstürzenden Leichen der Scheusale hervorgezogen hätte. Sie verdienten ein besseres Grab. Etliche davon kannte er viele, viele Sternenzüge lang und hatte sie selbst ausgebildet. Sie sterben zu sehen, schmerzte ebenso wie der Pfeil in seiner Seite. Aber die Trauer musste bis nach dem Gefecht warten.
Flagur sah, dass einer der Panzerwagen mit seiner breiten Seite voraus nachfolgte und ihnen Deckung bei dem Vormarsch gab. Die Pfeile und Speere sirrten knapp über die Köpfe der eigenen Leute hinweg. Die Schützen wussten genau, was sie taten. Ganze fünf gegnerische Reihen vor Flagur wurden durch den Beschuss niedergemäht, eine zweite Salve fräste eine Schneise in das wimmelnde, kreischende Heer. »Voran und mitten hindurch!« Flagur hob seinen Speer, das Banner knatterte laut im Wind und gab das Zeichen zum Sturmangriff.
Goda kletterte vorwärts. Sie befand sich inzwischen auf einer Querstrebe und rutschte darauf wie auf einem Balken zu Furgas.
Unter ihr droschen Sirka und Ingrimmsch das Leben aus den Bestien; Rodario hatte einen Kurzbogen und einen Köcher Pfeile aufgehoben, die eine der Kreaturen mit sich geführt hatte, und schoss in den Pulk der Feinde. Man musste nicht zielen können, die Geschosse trafen immer.
Ingrimmsch erlaubte seiner Kampflust auszubrechen. Er benötigte den Irrsinn, der durch seine Adern rauschte und ihn zu einem kaum zu besiegenden Gegner machte. Der Krähenschnabel surrte ohne Unterlass, schlug Dellen in Helme, zerschmetterte Knochen durch Rüstungen hindurch und warf die Getroffenen mehr als zwei Schritte weit nach hinten.
Sirka dagegen kämpfte nach der Art des Wassers: Sie schlüpfte in die Lücken zwischen den Gegnern, stach mit dem Dorn ihrer schlanken Waffe zu oder nutzte den Widerhaken, um Schläge abzuleiten, Schwerter zu entreißen oder ihn in ungeschützte Haut zu schlagen. Dabei verharrte sie nie auf einer Stelle, sondern befand sich in fließender Bewegung.
Goda hatte Furgas fast erreicht.
Er belauerte sie. »Was hast du vor?«, fragte er. »Ich bin neugierig, was du...«
Goda zog den Nachtstern, die drei schweren Kugeln stießen gegeneinander. Sie würde aufpassen müssen, um bei einem Fehlhieb nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Vorsichtig stand sie auf, balancierte auf dem fußbreiten Träger und machte einen Schritt vorwärts, während sie mit ihrer Waffe ausholte.
Furgas schob sich rückwärts außerhalb ihrer Reichweite. »So wirst du mich nicht bekommen.« Er schielte nach unten und suchte den nächsten Träger, den er mit einem Sprung erreichen konnte. »Die Zeit ist auf meiner Seite, Zwergin. Sie ist eine verlässliche Verbündete.« Als Goda noch näher kam, drückte er sich ab und ließ sich zur Seite fallen. Seine Finger streckten sich nach der nächsten Strebe.
Auch wenn sie nur eine Waffe mit sich führte, beschloss Goda gegen das höchste Gebot zu verstoßen: Sie warf den Nachtstern nach Furgas.
Die drei Kugeln trafen seine Hände und brachen ihm acht seiner Finger; aufschreiend stürzte er und landete mit dem Bauch voraus geradeswegs in der dornenumkränzten Halterung für den Diamanten.
»Nein!« Er schrie voller Qual, zappelte und riss sich damit das Fleisch noch tiefer auf. Sein Blut floss über die Halterung und fiel in wahren Sturzbächen zu Boden. Seine Bewegungen wurden schwächer, bis er schließlich aufhörte zu schreien. Goda dankte Vraccas, dann kletterte sie mit großer Umsicht hinab zur Halterung und Furgas' Leichnam. Damit stand sie vor einer neuen Schwierigkeit. »Wie soll ich den Diamanten finden?«, rief sie zu Ingrimmsch hinab. Der Zwerg schlug den Krähenschnabel auf den Fuß eines Scheusals und rammte ihm den spitzenbewehrten Helm in den Magen; schwarzes Blut ergoss sich auf ihn. »Schlitz ihn auf«, schrie er zurück. »Den oberen Bereich seines Bauchs. Er hat ihn vorhin erst geschluckt.« Er hüpfte nach hinten, um einem Speerstoß zu entgehen, und schlug dem Angreifer den Kopf ab.
Goda zog ihren Dolch und stemmte den Oberkörper des Magisters in die Höhe, um ihn von der Halterung zu lösen. Das Loch in seiner Brust reichte nicht aus, sie setzte die Spitze unterhalb des Rippenbogens an, als er die Augen öffnete.
»Ich gebe ihn nicht her«, ächzte er, Blut troff aus seinem Mund, sickerte über die Zähne, die Lippen und das Kinn. »Ich bekomme meine Rache.« Er stieß sie mit dem Arm an, und Goda verlor das Gleichgewicht. Sie stürzte.
Tungdil stürmte in das Dunkel der Schlucht, vor dem sich das Licht fürchtete.
Vor ihm ragte eine Gestalt in die Höhe, die nicht einmal Tion hätte ersinnen können. Dazu bedurfte es der Götter, wie es sie im Geborgenen Land nicht gab.
Der Kordrion war riesige, turmhohe und Fleisch gewordene Furcht. Die Schwingen trug er eng am breiten, muskulösen Leib, weil er sie in der Schlucht nicht entfalten konnte. Vier hundeähnliche Läufe trugen das enorme Gewicht, wobei die vorderen beiden mehr an Arme erinnerten. Der restliche nackte Körper lag noch zu weit im Schatten.
Der Hals war vergleichsweise kurz, der Kopf ähnelte dem eines Drachen und war mit Dornen und Hörnen gespickt. Vier graue Augen saßen hinter der langen, knochigen Schnauze und zwei blaue darunter. Er hatte sich halb aufgerichtet und versuchte wieder, seine Klauen in den Fels zu schlagen und sich vorwärts zu ziehen. Eine Bestie mit drei Armen sprang brüllend auf Tungdil zu und öffnete ihr langes Maul. Eine dunkelrote Zunge zischte daraus hervor, die mit vielen kleinen Widerhaken besetzt war.
Der Zwerg hielt der Zunge einfach Blutdürster entgegen, die scharfe Schneide erledigte den Rest. Singend durchtrennte sie das Fleisch und brachte die Kreatur dazu, winselnd zurückzuspringen. Die blutenden Zungenstücke schnellten zurück in die Schnauze.
Aber Tungdil setzte nach und zerteilte das Ungeheuer der Länge nach, dann hob er Blutdürster gegen den Kordrion. »Kehre zurück in den Abgrund, aus dem du gekrochen bist«, befahl er. »Ich glaube nicht mehr an Unbesiegbarkeit, mögen meine Gegner aussehen wie du oder noch schlimmer.«
Die blauen Augen des Wesens richteten sich auf ihn, dann senkte es sich auf die Vorderbeine herab. Noch immer schwebte der Kopf zehn Schritte über dem Zwerg. Es öffnete sein gewaltiges Maul und brüllte Tungdil an. Jeder einzelne Zahn war so lang und breit wie zwei Ubariu übereinander.
Hinter ihm erklangen viele Schritte und Rasseln von Waffen und Rüstungen, dann stand Flagur mit seinen Ubariu und Untergründigen in seinem Rücken. Sie hatten die Bestien mit dem Beistand der Panzerwagen vernichtet und den Eingang abgeschottet. Dabei machte es ihnen der Kordrion einfach, da sich die übrigen Ungeheuer, die zweifellos noch in der Schlucht ausharrten, nicht an ihm vorbeiwagten.
»Ubar, hilf uns«, sprach Flagur ein Stoßgebet. »Was richten wir gegen ihn aus?«
»Ich verstehe nun, dass man für solche Wesen die Acronta benötigt.« Tungdil fühlte keine Furcht mehr. Der Griff von Blutdürster in seinen Händen gab ihm Sicherheit und Zuversicht, was den Trotz verstärkte. »Aber wenn wir nicht anfangen, werden wir niemals herausfinden, ob es auch ohne sie geht.« Er rannte nach vorn, zielte mit seiner Waffe auf die Klauen, die sich nun auf dem felsigen Untergrund befanden. »Solange er in der Spalte klemmt, haben wir den Vorteil. Schneidet ihm die Sehnen durch, hackt auf alles ein, was ihr erreichen könnt. Irgendwann bricht er ein!«
Flagur schaute dem Zwerg hinterher. »Er kennt überhaupt keine Angst«, murmelte er anerkennend und hob den langen Speer. Schaft und Stoff waren mittlerweile getränkt mit dem Blut der Scheusale, die er getötet hatte. »Vorwärts!«, rief er und verfiel in schnellen Trab. Sein Atem ging schnell und flach, die Pfeilwunde machte ihm schwer zu schaffen.
Seine Männer folgten ihm und eilten dem Kordrion mit gereckten Waffen entgegen - als sie den bekannten Schrei hörten. Es war jedoch nicht das titanische Wesen vor ihnen, das ihn ausgestoßen hatte. Flagurs Schritte wurden langsamer, das Blut gerann in seinen Adern. Die Ekstase des Kampfes verflog, wich der Furcht. »Tungdil! Komm zurück! Es sind zwei!«
Aber der Zwerg hörte nicht auf ihn.
Dann öffnete der Kordrion die Schnauze und überschüttete Flagurs Krieger mit einer Woge aus weißem Feuer. Goda gelang es geistesgegenwärtig, das linke Bein anzuwinkeln.
Sie schwang sich einmal um die Strebe herum, bekam die nächste zu fassen und zog sich schnaufend in die Höhe. Sie hätte sich niemals vorstellen können, dass sie zu solchen akrobatischen Leistungen fähig war. Die Übungsstunden, das Schleppen, Hieven und Heben hatten sich gelohnt. Sie würde sich nie wieder über die Schinderei beschweren.
Seile mit Fanghaken daran flogen an ihr vorbei, legten sich um die Querstreben. Einige der Scheusale versuchten, das Artefakt einzureißen, während ihnen ihre Artgenossen Deckung vor den Hieben Ingrimmschs und Sirkas gaben, selbst wenn es sie das Leben kostete.
»Schneller!«, schrie Boindil zu ihr hinauf. Er ahnte, woher sein Schwindel rührte: Die Frau hatte ihren Dolch mit Gift bestrichen, und es fing an zu wirken.
Goda kroch auf Furgas zu. »Du bist mich nicht losgeworden.«
Er schöpfte rasselnd nach Luft, zog seinen Dolch. »Und du hast mich nicht getötet.«
»Das hole ich nach.« Sie wich seinem Stich aus, packte den kraftlosen Arm und entwand ihm den Dolch. Für sie war es nun ein Leichtes, den tödlich verletzten Furgas zu überwinden und ihm seinen eigenen Dolch in den Leib zu rammen. Der Mann ächzte ein letztes Mal auf und starb.
Jetzt kam der Teil ihrer Aufgabe, den sie überhaupt nicht mochte.
Sie wühlte sich durch die warmen, stinkenden Innereien des Magisters, tastete und fühlte, bis sie einen harten Gegenstand in all der weichen Substanz fand.
»Ich habe ihn«, schrie sie nach unten, um den Durchhaltewillen der Verteidiger noch einmal anzupeitschen, und schnitt den Stein heraus. Dann gab sie Furgas' Leichnam einen Stoß, um ihn von der Halterung zu befördern; dumpf schlug er auf dem Boden auf.
Goda machte sich nicht die Mühe, den Diamanten zu säubern, sondern presste ihn beschmutzt wie er war in die Mulde. Dann klappte sie die vier Bügel nach unten, welche den Stein festhielten, und starrte auf den Diamanten. »Los, tu endlich was«, flüsterte sie und berührte ihn, als könnte sie damit etwas ausrichten. Aus der Schlucht erklang ein neuerlicher Schrei, eine weiße Feuerlohe schoss aus dem Spalt und fegte über den Boden. Brennende Ubariu und Untergründige wirbelten durch die Luft und flogen weit, ehe sie wie erlöschende Funken auf den Fels prallten. Der vordere Panzerwagen wurde von den Flammen eingeschlossen, Eisenplatten rissen ab, Holzstreben vergingen auf der Stelle zu Asche.
Der Kordrion schob sich ins Licht. Mit einem noch lauteren Schrei, der weitere Brocken aus dem Fels sprengte, befreite er sich und kam auf allen vieren herausgekrochen. Triumphierend brüllte er ein weiteres Mal und verließ die Schlucht. Goda konnte seine Ausmaße schlecht schätzen. Zwanzig Schritt Höhe und sechzig Schritt Länge? Das Heer rannte fort von der Schlucht, das Grauen war zu viel für sie.
Der Kordrion richtete sich auf und entfaltete seine bleichen Schwingen. Sofort wurde es dunkler, als habe sich eine Wolke vor die Sonne geschoben.
»Goda!«, schrie Ingrimmsch und fällte seinen letzten Gegner, indem er ihm gegen den Brustkorb schlug. Die Rippen durchbohrten das Herz und die Gedärme. Er, Sirka und Rodario hatten verhindert, dass das Artefakt fiel. »Wir warten!« Seine Beine gaben nach, er plumpste ungelenk neben seinen getöteten Widersacher. Seine Sicht schwand, die Farben verliefen zu einem bunten Wirrwarr.
Sirka starrte auf den bleichen, riesigen Leib des Kordrion. »Tungdil«, flüsterte sie entsetzt und begriff, dass es für ihren Ge fährten kein Entkommen gegeben haben konnte. Das weiße Feuer schmolz Stein und Stahl. »Er wird es überlebt haben«, sagte Ingrimmsch und stemmte sich erfolgreich gegen die Wirkung des Giftes. »Der Gelehrte überlebt immer. Er ist ein Freund der Götter.« Aber auch sein Gesicht verdüsterte sich. Ein solches Monstrum hatte er noch niemals gesehen. Es zertrampelte die Ubariu und Untergründigen vor sich, sandte einen nächsten Strahl seines weißen Feuers und vernichtete auf einen Schlag fünfhundert weitere Soldaten. Der letzte Panzerwagen wurde von den Flammen umgestoßen und verbrannt. Nichts als eine brodelnde, glühende Masse blieb von ihm übrig. Der Kordrion sammelte mit jedem Augenblick, den er sich außerhalb der Schlucht befand, mehr Kraft.
Goda fühlte Verzweiflung und Wut, die sich in einem harten Hieb Bahn brach. Sie schlug mit aller Kraft auf den Diamanten, da erklang ein leises Klicken, und er rutschte tiefer in die Halterung.
Ein grelles, silbernes Flirren schoss die Querstreben entlang und jagte in die gewaltigen Ringe; die Symbole leuchteten schwach auf und entflammten dann mit einer solch opalisierenden Helligkeit, dass Goda dachte, sie verlöre das Augenlicht.
Als sie wieder etwas erkennen konnte, sah sie, dass sich eine schillernde Kugel aus purem Glanz um die Ringe gelegt hatte. Eine zweite Sphäre umspannte die Schwarze Schlucht.
Von dem ersten Kordrion sah sie nichts mehr, nur eine abgetrennte Klaue und ein Stück seiner Schwinge bewiesen, dass er das Gefängnis überhaupt verlassen hatte. Ein zweites Exemplar tobte hinter der dünnen, aber für ihn undurchdringlichen Hülle und rannte wie besessen dagegen an, ohne etwas auszurichten. »Ich habe es geschafft«, raunte sie ungläubig und schaute auf den Diamanten, der matt schimmerte. Dann lachte sie laut. »Ich habe es geschafft!«
»Ja, du hast es geschafft!«, rief Ingrimmsch freudig zurück und versuchte aufzustehen. Er fühlte sich sehr unsicher. »Komm vorsichtig runter, damit ich dich drücken kann.«
Rodario legte Sirka die Hand auf die Schulter. »Und auch Tungdil hat es geschafft«, gab er ihr Hoffnung. Sie schaute über die Senke, die mit den Kadavern von Bestien und ihren eigenen Leuten angefüllt war. Ein paar Scheusale, die den Klingen und Geschossen der Verteidiger entkommen waren, flüchteten über die Kuppen, und die fliegenden Monstren drehten ab und verschwanden in der Ferne.
»Der Kordrion ist entkommen«, stammelte sie ungläubig. »Das Artefakt hat zu spät gewirkt. Was wird nun?« Sie schaute Rodario an. »Es gibt keine Hoffnung. Die Schriften sagen über ihn, dass...«
»Verzweifle nicht, sondern warte, was geschieht. Die Schriften haben nicht immer Recht, glaub mir«, hielt er dagegen und stützte sich auf ihre Schulter. »Komm, wir gehen zur Schlucht und begrüßen Tungdil.« Sie lächelte ihn dankbar an. Gemeinsam mit Goda und einem ungewohnt bleichen Ingrimmsch suchten sie sich einen Weg durch die Leichenhügel.
Aber weder Flagur noch Tungdil kehrten aus dieser Schlacht zurück.