Nicht zur schlimmsten Zeit – nicht einmal, als er sich älter fühlte als der Älteste und so tot wie der tote Peter – hatte Paul so schlimm ausgesehen wie das armselige Wesen, das ihn von der Luke seines eigenen Raumschiffs aus mit einer Pistole bedrohte. Unter dem zottigen, einen Monat alten Bart sah das Gesicht des Mannes wie das einer Mumie aus. Er stank.
»Sie sollten lieber baden!«, fauchte Paul. »Und legen Sie die alberne Waffe weg.«
Die Mumie sank gegen die Schiffsluke.
»Sie sind Paul Hall«, sagte sie und starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Um Himmels willen, haben Sie etwas zu essen?«
Pauls Blick ging an ihm vorbei.
»Ist nicht noch genug da?« Er zwängte sich in das Schiff und stellte fest, dass natürlich noch Stapel von CHON-Nahrungspäckchen unberührt waren. Die Mumie hatte sich auf die Wassersäcke gestürzt und mindestens drei davon aufgerissen; der Schiffsboden war mit Pfützen übersät und schlammig. Paul hielt ihm eine Ration hin.
»Schreien Sie nicht so!«, befahl er. »Wer sind Sie überhaupt?«
»Ich bin Robin Broadhead. Was macht man damit?«
»Hineinbeißen«, fauchte Paul, dem der Geduldsfaden riss – weniger wegen des Mannes selbst oder seines Geruchs, sondern weil er immer noch zitterte. Er hatte befürchtet, es könnte ein Alter sein, auf den er so unerwartet gestoßen war. Aber … Robin Broadhead! Was machte er hier?
Doch er konnte die Frage in diesem Augenblick noch nicht stellen. Broadhead war buchstäblich am Verhungern. Er drehte das flache Nahrungsplättchen mit den Händen, stirnrunzelnd und zitternd, und biss hinein. Sofort als er feststellte, dass man das kauen konnte, schlang er es so gierig hinunter, dass die Brocken aus seinen Mundwinkeln rieselten. Er starrte zu Paul hinauf, während er seinen Mund schneller vollstopfte, als seine Zähne mit der Nahrung fertig wurden.
»Nur langsam«, sagte Paul erschrocken. Aber es war zu spät. Die fremde Nahrung, nach so langer Entbehrungszeit, bewirkte, was zu erwarten gewesen war. Broadhead rang nach Luft, würgte und erbrach sich. »Verdammt!«, fuhr ihn Paul an. »Man wird Sie bis zur Spindel riechen!«
Broadhead lehnte sich keuchend an die Wand.
»Verzeihung«, lallte er. »Ich … dachte, ich muss sterben. Beinahe wäre es so weit gewesen. Können Sie mir Wasser geben?«
Paul tat es, schluckweise, dann gab er dem Mann eine Ecke der braunen und gelben Plättchen, von den geschmacklosesten, die es gab.
»Langsam!«, befahl er. »Sie bekommen später mehr.« Aber er begann zu erkennen, wie gut es war, ein anderes menschliches Wesen bei sich zu haben, nach … wie langer Zeit? … nach mindestens zwei Monaten einsamen Herumschleichens, Sichversteckens und Planens. »Ich weiß nicht, was Sie hier machen«, sagte er schließlich, »aber ich freue mich, Sie zu sehen.«
Broadhead leckte die letzten Krumen von seinen Lippen und brachte ein Grinsen zustande.
»Das ist ganz einfach«, sagte er, den Blick gierig auf den Rest der Nahrung in Pauls Händen gerichtet. »Ich bin hergekommen, um Sie zu retten.«
Broadhead war dehydriert und fast erstickt, aber nicht eigentlich verhungert. Er behielt die Brocken, die Paul ihm gab, und verlangte mehr; er behielt auch das und konnte Paul sogar helfen, sauber zu machen. Paul brachte ihm frische Kleidung aus Wans kärglichem Vorrat im Schiff – die Kleidungsstücke waren bei weitem zu lang und zu eng, aber der Bund des Kilts brauchte ja nicht zu schließen – und führte ihn zum größten Wassertrog, damit er sich säubern konnte. Nicht aus Zimperlichkeit. Aus Angst. Die Alten hörten nicht besser als menschliche Wesen und sahen nicht ganz so gut wie sie. Aber ihre Nasen waren erstaunlich empfindlich. Nach zwei Wochen knappsten Entkommens während seines anfänglichen panischen Herumtappens im Hitschi-Himmel, nachdem Wan und Lurvy gefangengenommen worden waren, hatte Paul es sich angewöhnt, dreimal an einem Tag zu baden.
Oder noch viel öfter.
Er bezog Stellung an einem Knotenpunkt von drei Korridoren und hielt Wache, während Broadhead den schlimmsten Schmutz seiner dreißig Tage in einem Hitschi-Schiff abwusch. Sie retten! Erstens stimmte das nicht – Broadheads Absichten waren viel subtiler und komplizierter. Zweitens waren Broadheads Pläne nicht die gleichen, die Paul seit zwei Monaten ausarbeitete. Er wollte den Toten Menschen Informationen abluchsen, wusste jedoch kaum, was er dann damit anfangen wollte. Und er erwartete von Paul, dass dieser ihm half, zwei, drei Tonnen Maschinenanlagen im Hitschi-Himmel herumzuschleppen, ohne Rücksicht auf das Risiko, ohne Rücksicht darauf, dass Paul eigene Ideen haben mochte. Der Haken beim Gerettetwerden war der, dass die Retter das Kommando führen wollten. Und auch noch erwarteten, dass Paul Dankbarkeit zeigte.
Nun, er wäre schon dankbar gewesen, räumte er vor sich selbst ein, während er sich langsam drehte, um alle Tunnels im Auge zu behalten – obwohl die Alten bei ihren Streifengängen nicht mehr so fleißig waren wie anfangs –, er wäre schon dankbar gewesen, wenn Broadhead gleich am Anfang aufgetaucht wäre, in jenen Tagen der Panik, als er, Paul, geflüchtet war und sich versteckt hatte und weder zu bleiben noch abzufliegen wagte; oder auch zwei Wochen später, als er begonnen hatte, einen Plan zu entwickeln, und es wagte, in den Raum der Toten Menschen zu gehen und Verbindung mit der Nahrungsfabrik aufzunehmen – um festzustellen, dass Peter Herter tot war. Der Bordcomputer nützte ihm nichts, er war zu dumm und zu überlastet, um auch nur seine Mitteilungen an die Erde weiterzugeben. Die Toten Menschen waren wahnsinnig aufreizend … waren wahnsinnig. Er war ganz auf sich selbst gestellt. Langsam kehrte sein Mut zurück, und er begann zu planen. Sogar zu handeln. Als er feststellte, dass er es wagen konnte, ziemlich nah an die Alten heranzukommen, vorausgesetzt, er badete so oft, dass er keinen Körpergeruch verströmte, entwickelte er seinen Plan. Spionieren. Entwerfen. Studieren. Aufzeichnen – das gehörte zu den schwersten Dingen. Es ist sehr schwierig festzuhalten, was dein Feind tut, welche Wege er bevorzugt und welche er meidet, wenn du nichts zum Schreiben hast. Oder ohne Uhr. Oder auch ohne den Wechsel von Tag und Nacht, den es in dem gleichmäßigen blauen Leuchten der Wände aus Hitschi-Metall nicht gab. Schließlich war Paul auf den Einfall gekommen, die Gewohnheiten der Alten selbst als seinen Chronometer für ihr Verhalten zu benutzen. Wenn er eine Gruppe sah, die sich auf den Weg machte, wusste er, dass ein neuer Tag begann. Sie schliefen alle oder fast alle auf einmal, aus irgendeinem Gebot heraus, das er sich nicht vorstellen konnte; und so gab es Zeiten, in denen er es wagte, immer näher an den Ort heranzugehen, wo Wan, Janine und Lurvy festgehalten wurden. Er hatte sie sogar schon ein- oder zweimal gesehen, wagte es, sich hinter einem Beerenfruchtbusch zu verstecken, wenn die Alten sich zu regen begannen. Er kannte sich aus. Es gab von den Alten nicht mehr als etwa hundert, und sie waren meistens in Gruppen von nicht mehr als zwei oder drei Personen unterwegs.
Blieb die Frage, wie man allein eine Gruppe von nur zwei oder drei Wesen überwältigte.
Paul Hall, magerer und zorniger als je zuvor, glaubte zu wissen, wie er das anstellen musste. In den ersten von Panik erfüllten Tagen der Flucht und des Versteckens war er weit und immer weiter in die grünen und roten Korridore des Hitschi-Himmels vorgestoßen. In manchen von ihnen war sogar das Licht karg und trüb. In anderen roch die Luft säuerlich und ungesund, und wenn er dort schlief, erwachte er mit hämmerndem, dumpfem Schädel. In allen gab es Gegenstände, Maschinen, Apparaturen – Dinge; manche surrten oder tickten immer noch leise vor sich hin, andere flackerten in ewigem Lichtwechsel aller Regenbogenfarben.
An solchen Orten durfte er nicht bleiben, weil es weder Nahrung noch Wasser gab, und er konnte nicht finden, was er am nötigsten brauchte. Es gab keine echten Waffen. Vielleicht hatten die Hitschi keine gebraucht. Aber es gab eine Maschine mit einem Gatter von Metallstreifen an einer Seite, und als er diese wegriss, explodierte sie nicht oder tötete ihn nicht mit einem Stromstoß, wie er es halb erwartet hatte. Und er besaß einen Speer. Ein halbes Dutzend Mal stieß er auf Geräte, die nach kleineren und komplizierteren Ausgaben der Hitschi-Grabmaschinen aussahen.
Einige davon funktionierten noch. Wenn die Hitschi bauten, dann für die Ewigkeit.
Paul hatte drei angsterfüllte, durstige, verwirrende Tage damit zu tun, nur eine davon in Betrieb zu setzen; er hörte wieder auf, um zu den goldenen Tunnels zurückzukriechen oder im Schiff Wasser und Nahrung zu holen, immer überzeugt davon, dass der donnernde Lärm der Maschine die Alten herbeilocken werde, bevor er bereit war. Aber das blieb aus. Er lernte, die Warze zu drücken, die vom Steuerjoch ragte, damit die Lichter aufleuchteten, und das dicke Rad zu drehen und vor- oder zurückzuschieben, damit die Maschine vor- oder zurückfuhr. Er trat auf das ovale Pedal, das dafür sorgte, dass der blauviolette Strahl vor der Maschine hinauszuckte, um sogar das Hitschi-Metall zu schmelzen, das er berührte. Dabei gab es den Lärm. Paul fürchtete sehr, dass er etwas zerstören würde, das den ganzen Hitschi-Himmel demolieren konnte. Als er das Gerät zu dem Ort vorgeschoben hatte, den er sich vorstellte, glitt es fast lautlos dahin auf seinen vieleckigen Rollen. Und er legte eine Pause ein, um nachzudenken.
Er wusste, wohin die Alten gingen und wann sie das taten.
Er besaß einen Speer, der einen einzelnen Alten töten konnte und es ihm vielleicht ermöglichte, auch noch zwei oder drei von ihnen niederzumachen, wenn er sie zu überraschen vermochte.
Er besaß eine Maschine, die jede Anzahl von Alten zu vernichten in der Lage war, wenn er sie nur dazu veranlassen konnte, sich davor in großer Zahl zu versammeln.
Das Ganze lief auf eine Strategie hinaus, die vielleicht sogar Erfolg haben mochte. Es war riskant – o Gott, war das riskant! Es hing von mindestens einem halben Dutzend Kampfversuchen ab. Obwohl die Alten ihm nicht bewaffnet zu sein schienen, wer wollte behaupten, dass sie das nicht lernen konnten? Und welche Waffen mochten sie besitzen? Es bedeutete, dass er einige von ihnen der Reihe nach töten musste, so geschickt und vorsichtig, dass er nicht die Aufmerksamkeit des ganzen Stammes auf sich zog, ehe er vorbereitet war – und den Rest dann auf einmal herbeizulocken –, oder eine so große Mehrheit, dass er die übrigen mit seinem Speer erledigen konnte. (War das wirklich ein Glücksspiel mit Aussicht auf Erfolg?) Und vor allem bedeutete es, dass der Älteste, die Riesenmaschine, die Paul nur ein- oder zweimal gesehen hatte und von deren Kräften er nichts wusste, dass diese Maschine nicht eingreifen durfte. Aber wie groß war die Wahrscheinlichkeit dafür?
Er hatte keine klaren Antworten, aber er hatte Hoffnungen. Der Älteste war zu groß, um mühelos durch andere Korridore als die mit den Goldgeflechten gelangen zu können. Außerdem schien er nicht regelmäßig unterwegs zu sein. Und vielleicht gelang es Paul auch, ihn vor den vernichtenden Strahl der Grabmaschine zu locken – die hier nicht wirklich eine Grabmaschine sein konnte, aber ungefähr auf dieselbe Art zu funktionieren schien. Bei jedem Schritt sprachen alle Aussichten gegen ihn, gewiss.
Aber bei jedem Schritt bestand auch eine kleine Chance auf Erfolg. Und es war nicht das Risiko, das ihn am Ende stoppte.
Der Paul Hall, der in den Tunnels des Hitschi-Himmels umherschlich und Ränke schmiedete, halb irr vor Wut und Angst und Sorge um seine Frau und die anderen, war nicht völlig verrückt. Er war derselbe Paul Hall, dessen Sanftheit und Geduld Dorema Herter veranlasst hatten, ihn zu heiraten, der ihre freche, manchmal unverschämte kleine Schwester und ihren reizbaren Vater mit in Kauf genommen hatte. Er wollte sie unbedingt retten und ihnen die Freiheit wieder verschaffen. Selbst bei einem hohen Risiko für sich selbst. Für ihn gab es immer einen Fluchtweg aus dem Risiko, selbst wenn er nur in Wans Schiff kroch und zur Nahrungsfabrik zurückflog, um von dort aus – langsam, allein und trauernd, aber in Sicherheit – zur Erde und zum Reichtum zurückzukehren.
Aber wie hoch war, abgesehen vom Risiko, der Preis?
Der Preis bestand darin, vielleicht eine ganze Bevölkerung von lebenden und intelligenten Wesen auszulöschen. Sie hatten ihm seine Frau weggenommen, gewiss, aber ihr im Grunde nichts getan. Und sosehr er sich auch darum bemühte, Paul vermochte sich nicht einzureden, dass er das Recht hatte, sie auszurotten.
Und hier war nun dieser »Retter«, dieser halb tote Schiffbrüchige namens Robin Broadhead, der sich Pauls Plan beiläufig anhörte, überlegen lächelte und ganz höflich sagte: »Sie arbeiten immer noch für mich, Hall. Wir machen es nach meinen Vorstellungen.«
»Ich denke nicht daran!«
Broadhead blieb höflich und sogar vernünftig – es war erstaunlich, was ein Bad und ein bisschen Essen bei ihm bewirkt hatten.
»Es kommt darauf an herauszufinden, womit wir es zu tun haben«, erklärte er. »Helfen Sie mir, den Informationsprozessor dahin zu schaffen, wo die Toten Menschen sind, und wir klären das. Das ist das Erste.«
»Das Erste ist, meine Frau zu retten!«
»Aber warum denn, Hall? Wo sie ist, geschieht ihr nichts – das haben Sie selbst gesagt. Ich rede nicht von der Ewigkeit. Von einem Tag, vielleicht. Wir bringen von den Toten Menschen alles in Erfahrung, was wir erwischen können. Wir zeichnen alles auf, quetschen sie aus, wenn das geht. Dann nehmen wir die Bänder, bringen sie in mein Schiff, und dann …«
»Nein!«
»Doch!«
»Nein, und schreien Sie nicht so!« Sie gingen in Boxerstellung wie Jungen im Schulhof, beide erhitzt und wütend, durchbohrten einander mit den Augen. Bis Robin Broadhead eine Grimasse schnitt, den Kopf schüttelte und sagte: »Ach, verdammt, Paul, denken Sie das Gleiche wie ich?«
Paul zwang sich zur Ruhe. Nach einer Pause erwiderte er: »Eigentlich denke ich, wir sollten uns besser überlegen, wie wir es am klügsten anstellen, statt darüber zu streiten, wer die Entscheidungen trifft.«
Broadhead grinste.
»Das denke ich auch. Wissen Sie, woran es bei mir fehlt? Ich bin so erstaunt, noch am Leben zu sein, dass ich nicht weiß, wie ich das verdauen soll.«
Sie brauchten nur sechs Stunden, um den PMAL-2-Prozessor dorthin zu schaffen und aufzubauen, wo sie ihn haben wollten, aber es waren sechs Stunden harter Arbeit. Sie waren beide der Erschöpfung nahe, und es wäre vernünftig gewesen zu schlafen, aber die Ungeduld ließ sie nicht ruhen. Sobald sie die Programmbänke an die Stromleitung angeschlossen hatten, wies Alberts aufgezeichnete Stimme sie Schritt für Schritt an, wie es weitergehen musste – der Prozessor selbst stand im Korridor, die Sprechterminals befanden sich in der Kammer der Toten Menschen, neben der Funkanlage. Robin sah Paul an, Paul zog die Schultern hoch, Robin ließ das Programm anlaufen. Unmittelbar vor der Tür konnten sie die tonlose, nörgelnde Stimme aus dem Terminal hören: »Henrietta? Henrietta, Liebste, kannst du antworten?«
Pause. Keine Antwort. Das Programm, das Albert mithilfe von Sigfrid Seelenklempner geschrieben hatte, versuchte es noch einmal: »Henrietta, hier ist Tom. Bitte, sprich mit mir.«
Es wäre schneller gegangen, Henriettas Code einzugeben, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, aber schwerer mit dem Bluff zu vereinbaren gewesen, dass ihr lang vermisster Ehemann sie von irgendeinem fernen Vorposten aus über Funk erreicht hatte.
Die Stimme versuchte es noch einmal und noch einmal. Paul zog die Brauen zusammen und flüsterte: »Es klappt nicht.«
»Nur abwarten«, meinte Robin, aber ohne Zuversicht.
Sie blieben nervös stehen, während die tote Computerstimme weiterflehte. Dann flüsterte endlich eine zögernde Stimme: »Tom? Tomasino, bist du das?«
Paul Hall war ein normales menschliches Wesen, durch vier Jahre Eingesperrtsein und hundert Tage Flug und Schrecknisse vielleicht ein wenig aus der Form geraten. Aber doch normal genug, um die normale Lüsternheit zu teilen; doch was er hörte, war mehr, als er hören wollte. Er grinste Robin Broadhead verlegen an, und der andere zog unbehaglich die Schultern hoch. Die verletzte Zärtlichkeit und gehässige Eifersucht anderer Menschen zu hören, ist demütigend und kann nur durch Gelächter gemildert werden; der Scheidungsdetektiv spielt an einem langweiligen Tag im Büro sein heimlich aufgenommenes Bettgeflüster ab, damit seine Kollegen sich amüsieren können. Aber das hier war nicht komisch! Henrietta, jede Henrietta – selbst der Henrietta genannte Maschinengeist – war nicht komisch in dem Augenblick, in dem sie hereingelegt und betrogen wurde. Das Programm, das Henrietta umgarnte, war überaus geschickt gemacht. Es bat um Verzeihung und flehte und schluchzte sogar mit raschelnden Schluchzern, als Henriettas eigene tonlose Bandstimme zu Schluchzern erschöpfter Traurigkeit und hoffnungsloser Freude zerbrach. Und dann machte es sich, wie programmiert, ans Eigentliche. Würdest du … liebste Henrietta, könntest du …, ist es möglich für dich, mir zu sagen, wie man ein Hitschi-Schiff bedient?
Pause. Zögern. Dann erklärte die Stimme der toten Frau: »Hm … ja, Tomasino.« Wieder eine Pause. Sie dehnte sich, bis der programmierte Betrüger ihr ein Ende machte und sagte: »Denn wenn du das könntest, Liebste, glaube ich, dass ich vielleicht zu dir kommen könnte. Ich bin in einer Art Schiff. Es gibt einen Kontrollraum. Wenn ich wüsste, wie ich es anstellen muss …«
Es war für Paul unfassbar, dass selbst eine schlecht gespeicherte Maschinenintelligenz auf so durchsichtige Schmeicheleien hereinfiel. Henrietta tat es. Es war abstoßend für ihn, an dem Schwindel mitzuwirken, aber er beteiligte sich, und als Henrietta erst einmal angefangen hatte, gab es für sie kein Halten mehr. Das Geheimnis, die Hitschi-Schiffe zu steuern? Natürlich, liebster Tomasino! Und die tote Frau sagte ihrem falschen Geliebten, er möge sich auf eine Kaskadensendung vorbereiten, und schleuderte ein pfeifendes, aus Maschinensprache bestehendes Prasseln hinaus, bei dem Paul keinen Laut verstand und in dem er kein einziges Wort entziffern konnte; aber Robin Broadhead, der mit dem Kopfhörer empfing, was der Computer über den jeweiligen Stand der Dinge nur ihm mitteilte, grinste und nickte und hob Daumen und Zeigefinger, zu einem Kreis geformt. Paul hob abwehrend die Hand und zog ihn den Korridor hinunter.
»Wenn Sie’s haben«, flüsterte er, »dann nichts wie weg von hier!«
»Oh, ich hab’s!«, sagte Robin leise lachend. »Sie hat alles! Sie war mit der Maschine verbunden, die das hier alles betreibt, sie bedienten sich gegenseitig aus ihren Speichern, und sie teilt alles mit.«
»Fein. Und jetzt suchen wir Lurvy!«
Broadhead sah ihn an, nicht zornig, nur flehend.
»Nur noch ein paar Minuten. Wer weiß, was sie noch alles hat?«
»Nein!«
»Doch!«
Dann sahen sie einander an und schüttelten die Köpfe.
»Kompromiss«, sagte Broadhead. »Fünfzehn Minuten, ja? Dann retten wir Ihre Frau.«
Sie schlichen zurück durch den Korridor, ein Lächeln wehmütiger Befriedigung auf den Gesichtern; aber die Befriedigung verrann. Die Stimmen waren jetzt nicht mehr von peinlicher Intimität. Sie stritten beinahe. In der tonlosen metallischen Stimme war Fauchen und Schärfe, als sie sagte: »Du bist ein gemeiner Kerl, Tom.«
Das Programm gab sich widerlich vernünftig.
»Aber, Henrietta, Liebling, ich will doch nur in Erfahrung bringen …«
»Was du in Erfahrung bringen willst, hängt davon ab, welche Lernfähigkeit du hast«, zischte die Stimme. »Ich versuche, dir etwas Wichtigeres zu sagen. Ich habe es vorher schon sagen wollen. Ich habe es die ganze Zeit über versucht, als wir hierher flogen, aber nein, du wolltest nichts hören, alles, was du wolltest, war, mit dem fetten Weibsbild in der Landekapsel zu verschwinden …«
Das Programm wusste, wenn es beschwichtigen musste.
»Es tut mir Leid, Henrietta, Liebes. Wenn du möchtest, dass ich was Astrophysikalisches lerne, gut.«
»Es ist furchtbar wichtig, Tom!« Pause. Und dann: »Wir gehen zum Urknall zurück. Hörst du, Tom?«
»Natürlich, Liebling«, sagte das Programm auf demütigste und einschmeichelndste Weise.
»Gut! Es hängt damit zusammen, wie das Universum angefangen hat, und das wissen wir ziemlich genau – mit einem kleinen, unklaren Übergangspunkt, der ein wenig verschwommen ist. Nennen wir ihn Punkt X.«
»Wirst du mir sagen, was ›Punkt X‹ ist, Liebes?«
»Halt den Mund, Tom! Hör zu! Vor Punkt X war das Universum praktisch zu einer winzigen Kugel zusammengepresst, mit einem Durchmesser von nicht mehr als ein paar Kilometern, superdicht, superheiß, so zusammengequetscht, dass es keine Struktur besaß. Dann explodierte es. Es begann sich auszudehnen – bis hin zum Punkt X, und dieser Teil ist ziemlich klar. Kannst du mir so weit folgen, Tom?«
»Ja, Liebste. Das ist im Grunde einfache Kosmologie, nicht?«
Pause.
»Pass nur auf«, sagte Henriettas Stimme schließlich. »Nach Punkt X begann es sich weiter auszudehnen. Während der Ausdehnung begannen kleine Stücke ›Materie‹ zu kondensieren. Zuerst kamen Atomteilchen, Hadronen und Pionen, Elektronen und Protonen, Neutronen und Quarks. Dann ›echte‹ Materie. Echte Wasserstoffatome, dann sogar Heliumatome. Das explodierende Gas wurde langsamer. Turbulenzen zerrissen es in riesige Wolken. Schwerkraft zog die Wolken zu Haufen zusammen. Während sie schrumpften, löste die Hitze der Zusammenziehung Kernreaktionen aus. Sie glühten. Die ersten Sterne entstanden. Der Rest«, sagte sie abschließend, »ist das, was wir jetzt ablaufen sehen.«
Das Programm reagierte auf sein Stichwort.
»Das sehe ich, Henrietta, ja. Über welche Zeiträume sprechen wir da?«
»Ah, gute Frage«, sagte sie mit einer keineswegs lobenden Stimme. »Vom Beginn des Urknalls bis zu Punkt X drei Sekunden. Von Punkt X bis jetzt ungefähr achtzehn Milliarden Jahre. Und da haben wir’s.«
Das Programm war nicht auf Sarkasmus eingestellt, aber die tonlose, metallische Stimme klang jetzt fast sarkastisch. Es tat sein Bestes.
»Danke, meine Liebe«, sagte es, »und willst du mir jetzt klarmachen, was an Punkt X so besonders ist?«
»Ich würde es dir sagen, mein Liebling Tomasino«, antwortete sie liebevoll, »nur bist du nicht mein Liebling Tomasino. Dieser Arsch hätte kein Wort von dem verstanden, was ich eben gesagt habe, und ich lasse mich ungern anlügen.«
Und gleichgültig, was das Programm versuchte, nicht einmal, als Robin Broadhead die Täuschung fallen ließ und sie direkt ansprach, war Henrietta noch einmal dazu zu bewegen, sich zu äußern.
»Zum Teufel damit!«, meinte Broadhead schließlich. »Wir haben genug Material, um uns ein paar Stunden lang den Kopf zu zerbrechen. Wir brauchen nicht achtzehn Milliarden Jahre zurückzugehen.« Er drückte auf die Auswurftaste am Prozessor und nahm entgegen, was herauskam: das dicke, weiche Lumpenband, das alles aufgefangen hatte, was von Henrietta gekommen war. Er schwenkte es.
»Dafür bin ich hergekommen«, sagte er grinsend. »Und jetzt, Paul, kümmern wir uns um Ihr kleines Problem, dann fliegen wir heim und geben unsere Millionen aus.«
Im tiefen, ruhelosen Schlaf des Ältesten gab es keine Träume, aber Irritationen.
Die Irritationen kamen schneller und schneller, immer drängender. Von dem Zeitpunkt an, als die ersten Gateway-Prospektoren aufgetaucht waren, bis dahin, als er den letzten von ihnen abgeschrieben hatte (wie er glaubte), nur ein Lidschlag – eigentlich nicht mehr als einige Jahre. Und bis die Fremden und der Junge gefangen genommen wurden, kaum ein Herzschlag; und bis er wieder geweckt wurde, um zu hören, dass die Frau entflohen war, gar keine Zeit – überhaupt keine! Sogar kaum Zeit für ihn, Sensoren und Nervenendorgane abzuschalten und sich auszuruhen, und nun gab es immer noch keinen Frieden. Die Kinder waren in Panik und streitsüchtig. Es war nicht ihr Lärm allein, der ihn störte. Lärm konnte den Ältesten nicht wecken, nur physischer Angriff oder direktes Ansprechen. Das Aufreizendste an diesem Tumult war, dass er nicht wirklich an ihn gerichtet zu werden schien, sondern nur zum Teil. Es war eine Debatte – ein Streit; einige angstvolle Stimmen verlangten, dass man ihm sofort etwas mitteile, ein paar noch ängstlichere sprachen sich dagegen aus.
Und das war nicht korrekt. Eine halbe Million Jahre lang hatte der Älteste seinen Kindern Manieren beigebracht. Wenn er gebraucht wurde, musste man ihn ansprechen. Er durfte nicht aus unwichtigen Gründen geweckt werden und ganz gewiss nicht durch Zufall. Vor allem jetzt nicht. Vor allem dann nicht, wenn jedes anstrengende Erwachen sein Gefüge immer stärker strapazierte und der Zeitpunkt absehbar war, an dem er überhaupt nicht mehr aufwachen würde.
Der ärgerliche Tumult hörte nicht auf.
Der Älteste aktivierte seine Außensensoren und betrachtete seine Kinder. Warum waren es so wenige? Warum lag fast die Hälfte von ihnen ausgestreckt am Boden, offenkundig im Schlaf?
Unter Qualen nahm er sein Verständigungssystem in Betrieb und sprach: »Was geht vor?«
Als sie angstvoll zu antworten versuchten und der Älteste verstand, was sie sagten, zuckten und verschwammen die Farbstreifen auf seinem Panzer. Die Frau nicht wieder eingefangen. Die jüngere Frau und der Junge ebenfalls fort. Weitere zwanzig von den Kindern hoffnungslos im Tiefschlaf aufgefunden, und Dutzende von ihnen – unterwegs, um das Gebilde zu durchsuchen – gaben keine Nachricht.
Auf ganz schreckliche Weise war alles aus den Fugen.
Selbst am Ende seines nutzvollen Lebens war der Älteste eine prachtvolle Maschine. Es gab selten gebrauchte Hilfsmittel, Energien, die seit hunderttausenden von Jahren nicht beansprucht worden waren. Er erhob sich auf seinen vieleckigen Rollen, überragte die sich duckenden Kinder und griff hinein in seine tiefsten und am seltensten benutzten Gedächtnisspeicher, um Rat und Wissen zu finden. An seiner Stirnplatte, zwischen den äußeren Sichtrezeptoren, begannen zwei glänzende blaue Vorsprünge zu summen, und auf seinem Panzer glühte eine flache Schale in schwachem violettem Licht. Es war Jahrtausende her, seit der Älteste eines seiner besonders strafstarken Nervenendorgane benutzt hatte, aber als die Informationen aus den großen Gedächtnisspeichern sich zusammenfügten, begann er zu glauben, dass es Zeit wurde, sie wieder zu gebrauchen. Er griff sogar in die gespeicherten Persönlichkeiten, und Henrietta stand ihm offen; er wusste, was sie gesagt und was die neuen Eindringlinge gefragt hatten. Er begriff (im Gegensatz zu Henrietta) die Bedeutung der Handfeuerwaffen, die Robin Broadhead geschwenkt hatte; in den tiefsten aller Gedächtnisspeicher, in jenen, die sogar vor seine Zeit als Fleisch und Blut zurückgingen, gab es eine Lanze, die seine eigenen Vorfahren in Schlaf versetzt hatte, und dies hier war ganz offensichtlich etwas Ähnliches.
Er hatte es mit Schwierigkeiten in einem Ausmaß zu tun, wie er sie nie vorher gekannt hatte, von einer Art, die er nicht mühelos zu beherrschen vermochte. Seine große Masse konnte nicht durch die Korridore des Gebildes gelangen, außer durch die goldenen; die Waffen, die zur Vernichtung bereitstanden, hatten keine Ziele. Die Kinder? Ja, vielleicht. Vielleicht konnten sie die Eindringlinge aufspüren und überwältigen; gewiss lohnte die Bemühung, den wenigen Überlebenden den Befehl zu geben, und er tat es. Aber im rationalen, mechanischen Verstand des Ältesten war die Rechenfähigkeit unbehindert. Er konnte die Aussichten gut einschätzen. Sie versprachen nicht viel.
Die Frage war: Schwebte sein großer Plan in Gefahr?
Die Antwort war ein Ja. Aber zumindest hier gab es etwas, das er tun konnte. Der Kern des Planes war der Ort, wo das Gebilde gesteuert wurde. Es war das Nervenzentrum der gesamten Konstruktion; dort hatte er es gewagt, die letzten Schritte seines Planes zu beginnen.
Bevor er noch ganz damit fertig war, die Entscheidung zu formulieren, führte er sie schon aus. Das Metallungetüm bewegte und drehte sich, dann rollte es hinaus durch die Spindel, in den breiten Tunnel, der zur Steuerung führte. Einmal dort, war er in Sicherheit. Mochten sie kommen, wenn sie wollten! Das Arsenal stand bereit. Die starke Belastung seiner nachlassenden Kräfte zwang ihn, nur langsam und unsicher voranzukommen, aber im Grunde gab es Energie genug.
Er blieb stehen. Vor ihm war eine der Wandausgleichsmaschinen nicht an ihrem Platz. Sie stand mitten im Korridor, und dahinter …
Wenn er nur eine Spur weniger verbraucht gewesen wäre, um den Bruchteil einer Sekunde schneller … Aber er war es nicht. Der Strahl der Grabmaschine überflutete ihn. Er war blind. Er war taub. Er spürte, wie die Ausbuchtungen an seiner Hülle verbrannten, fühlte, wie die riesigen, weichen Zylinder, auf denen er rollte, schmolzen.
Der Älteste wusste nicht, wie man Schmerz empfand. Er wusste nichts von Seelenqual. Er war gescheitert.
Die Wesen aus Fleisch und Blut hatten die Herrschaft an sich gerissen, und seine Pläne waren für immer zunichte gemacht.