Jemanden zu lieben ist eine Gnade. Jemanden zu heiraten ist ein Vertrag. Der Teil von mir, der Essie liebte, liebte sie von ganzem Herzen, verging in Qual und Entsetzen, wenn sie einen Rückfall erlitt, jauchzte in angstvoller Freude, wenn sie sich zu erholen schien. Ich hatte Anlässe genug für beides. Essie starb zweimal auf dem Operationstisch, bevor ich heimkam, und noch einmal zwölf Tage später, als man noch einmal operieren musste. Beim letzten Mal sorgte man bewusst für ihren klinischen Tod. Brachte Herz und Atmung zum Stillstand und hielt nur das Gehirn am Leben. Und jedes Mal, wenn man sie wieder belebte, fürchtete ich, sie würde am Leben bleiben – denn wenn sie das tat, hieß dies, dass sie noch einmal sterben mochte, und ich ertrug es nicht mehr. Aber langsam und mühevoll begann sie zuzunehmen, und Wilma erklärte mir, die Wende sei gekommen. Es war wie das Aufglühen der Spirale in einem Hitschi-Schiff bei der Wendemarke, wenn man weiß, dass man den Flug überleben wird. Ich verbrachte die ganze Zeit, Wochen und Wochen, im Haus, sodass ich immer da war, wenn Essie mich sehen konnte.

Das war eine gute Gelegenheit, Schuldgefühle zu entwickeln, und Schuld ist ein Gefühl, das mir leicht fällt – wie mein altes psychoanalytisches Programm mir früher dauernd zu erklären pflegte. Und als ich hineinging, um Essie zu sehen, die wie eine Mumie aussah, erfüllten Freude und Sorge mein Herz, und Schuld und Groll lähmten mir die Zunge. Ich hätte mein Leben dafür gegeben, sie gesund zu machen. Aber das schien kein praktikables Verfahren zu sein, jedenfalls sah ich keine Möglichkeit, das durchzusetzen, und der andere schuldbewusste und feindselige Teil von mir wollte frei sein, um an die verlorene Klara zu denken und mit dem Gedanken zu spielen, ob ich sie eines Tages wiederfinden mochte.

Aber Essie wurde gesund. Sie wurde rasch gesund. Die schlaffen Tränensäcke unter den Augen füllten sich und wurden lediglich zu Schatten. Die Schläuche aus ihrer Nase verschwanden. Sie aß wie ein Scheunendrescher. Vor meinen Augen ging sie auseinander, ihre Büste schwoll, die Hüften gewannen ihre Rundungen wieder.

»Herzlichen Glückwunsch an die Ärztin!«, sagte ich zu Wilma Liederman, als ich sie auf ihrem Weg zur Patientin entdeckte.

»Ja, sie hält sich gut«, sagte sie mürrisch.

»Es gefällt mir nicht, wie Sie das sagen«, erwiderte ich. »Was ist los?«

Sie erbarmte sich.

»Eigentlich gar nichts, Robin. Alle Untersuchungsergebnisse sind gut. Aber sie hat es so eilig.«

»Das ist doch gut, oder?«

»Bis zu einem gewissen Punkt. Und jetzt muss ich zu meiner Patientin«, fügte sie hinzu, »die in ein, zwei Wochen vielleicht schon völlig normal sein wird.«

Was für eine gute Nachricht das war! Und wie widerstrebend ich sie aufnahm.

Ich durchlebte alle diese Wochen mit einem Schatten. Manchmal wirkte er wie Unheil, wie der alte Peter Herter, der die Welt erpresste, während die Welt nichts tun konnte, um sich zu wehren. Und manchmal schien er in Zorn zu geraten wie die Hitschi, als wir in ihre komplexen und privaten Welten eindrangen. Man möchte meinen, ich hätte zwischen Hoffnungen und Sorgen unterscheiden können, ja? Falsch. Beide erschreckten mich zutiefst. Wie mir der gute alte Sigfrid zu erklären pflegte, habe ich ein großes Talent nicht nur für Schuldbewusstsein, sondern auch für dumpfe Grübelei.

Und wenn man es genau nahm, hatte ich ein paar sehr konkrete Dinge, die mir Sorgen machten. Nicht nur Essie. Wenn man ein gewisses Alter erreicht, hat man ein Recht zu erwarten, dass bestimmte Bereiche des Lebens stabil bleiben. Nämlich welche? Etwa das Geld. Ich war daran gewöhnt, viel zu haben, und da kam mein Anwaltsprogramm daher und teilte mir mit, ich müsse auf den Pfennig achten.

»Aber ich habe Hanson Bover eine Million in bar versprochen«, sagte ich, »und die bezahle ich. Verkauf Aktien.«

»Ich habe Aktien verkauft, Robin!« Er war nicht zornig. Er war nicht darauf programmiert, wirklich zornig zu werden, aber er konnte niederträchtig sein, und das war er.

»Dann verkauf mehr. Was können wir am besten abstoßen?«

»Derzeit nichts, Robin. Der Wert der Nahrungsgruben ist drastisch gesunken, des Brandes wegen. Die Fischfarmen haben sich vom Verlust der Jungfische noch nicht erholt. In ein, zwei Monaten …«

»Ich brauche das Geld nicht in ein, zwei Monaten. Verkauf!« Und als ich ihn wegschickte und Bover anrief, um in Erfahrung zu bringen, wohin ich seine Million schicken sollte, wirkte er tatsächlich überrascht.

»Angesichts des Eingreifens der Gateway-Gesellschaft dachte ich, Sie würden sich nicht mehr an die Abmachung gebunden fühlen«, sagte er.

»Abgemacht ist abgemacht«, sagte ich. »Das Juristische können wir abwarten. Es bedeutet nicht viel, solange Gateway mir das Vorkaufsrecht abgenommen hat.«

Er wurde sofort argwöhnisch. Was mache ich, dass die Leute mir gegenüber argwöhnisch werden, sobald ich mich besonders anstrenge, gerecht zu sein?

»Warum wollen Sie beim juristischen Teil abwarten?«, fragte er scharf und rieb sich heftig die Schädeldecke – schon wieder ein Sonnenbrand?

»Ich ›will‹ nicht«, sagte ich, »es spielt einfach keine Rolle. Sobald Sie Ihre Verfügung zurückziehen, bekomme ich die von Gateway auf den Tisch geknallt.«

Neben Bovers finsterem Gesicht erschien mein Sekretariatsprogramm. Sie sah aus wie eine Witzzeichnung des lieben Schutzengels, Bover ins Ohr flüsternd, aber was sie sagte, galt in Wirklichkeit mir: »Sechzig Sekunden bis zu Mr. Herters Denkzettel«, sagte sie.

Ich hatte vergessen, dass der alte Peter uns wieder eine seiner Vier-Stunden-Fristen gestellt hatte.

»Es ist Zeit, sich auf Peter Herters nächsten Nadelstich vorzubereiten«, sagte ich und legte auf – es war mir im Grund gleichgültig, ob er sich erinnerte, ich wollte nur das Gespräch beenden. Man brauchte nicht viel vorzubereiten. Es war rücksichtsvoll – nein, es war ordentlich – vom alten Peter, uns jedes Mal zu warnen und dann pünktlich anzutreten. Aber für Flugzeugpiloten und Autofahrer war es wichtiger als für Stubenhocker wie mich.

Dafür war aber Essie da. Ich schaute hinein, um mich zu vergewissern, dass sie nicht gerade eine Infusion erhielt, katheterisiert oder gefüttert wurde. Sie schlief – ganz normal, umgeben von ihrer Flut dunkelgoldener Haare und leise schnarchend. Auf dem Rückweg zu meinem bequemen Konsolensessel spürte ich schon Peter in meinem Gehirn.

Derartige Invasionen waren mir sehr vertraut geworden. Dazu gehörte keine besondere Geschicklichkeit. Die ganze Menschheit hatte im Lauf von mehr als zwölf Jahren große Kenntnisse darin erworben, seitdem dieser Schwachkopf Wan mit seinen Flügen zur Nahrungsfabrik begonnen hatte. Bei ihm war es am schlimmsten gewesen, weil es so lange gedauert hatte und er uns an seinen Träumen teilnehmen ließ. Träume besitzen Macht; Träume sind eine Art freigesetzten Wahnsinns. Im Gegensatz dazu war die eine leichte Berührung von Janine Herter ein Nichts gewesen, und Peter Herters exakte Zwei-Minuten-Portionen stellten nicht mehr dar als eine Verkehrsampel – man hält für eine Zeit an und wartet ungeduldig, bis es vorbei ist, dann fährt man weiter. Alles, was ich durch Peter je zu fühlen bekam, war, wie er sich fühlte – manchmal die kleinen Leiden des Lasters, manchmal Hunger oder Durst, einmal die nachlassende, zornige sexuelle Begierde eines alten Mannes, der ganz allein war. Als ich mich setzte, dachte ich – soviel ich mich entsinne – noch, dass diese Invasion einem kleinen Schwindelanfall glich, nach zu langem Kauern in einer bestimmten Haltung; wenn man aufsteht, muss man kurze Zeit warten, bis man ihn überwunden hat. Aber das hörte nicht auf. Ich spürte die Verschwommenheit, die Dinge mit zwei Augenpaaren zugleich zu sehen, und unartikuliert Zorn und Elend des alten Mannes – keine Worte, nur eine Art Ton, so, als flüstere jemand etwas, das ich nicht richtig verstehen konnte.

Doch es hörte nicht auf. Die Verschwommenheit nahm zu. Ich kam mir fast wie im Delirium vor. Das zweite Sehen, das nie scharf und deutlich ist, begann Dinge zu zeigen, die ich noch nie vorher gesehen hatte. Keine wirklichen Dinge. Phantasiegebilde. Frauen mit Schnäbeln wie Raubvögel. Riesige, glitzernde Metallungeheuer, die an der Innenseite meiner Lider dahinrollten. Hirngespinste. Träume.

Die auf zwei Minuten bemessene Dosis war überzogen. Der Saukerl war im Kokon eingeschlafen.


Ein Glück, dass es die Schlaflosigkeit der alten Männer gab! Es dauerte keine acht Stunden, sondern nicht viel länger als eine.

Aber es waren über sechzig unerfreuliche Minuten. Als ich fühlte, wie die unerwünschten Träume spurlos aus meinem Inneren glitten, und sicher war, sie würden auch fortbleiben, rannte ich in Essies Zimmer. Sie war hellwach und lehnte an den Kissen.

»Bin in Ordnung, Robin«, sagte sie sofort. »War ein interessanter Traum. Nette Abwechslung zu meinem.«

»Ich bringe den alten Halunken um«, sagte ich.

Essie schüttelte den Kopf und grinste mich an.

»Nicht praktisch«, meinte sie.

Nun, vielleicht nicht. Aber sofort, als ich mich vergewissert hatte, dass Essie nichts fehlte, rief ich Albert Einstein.

»Ich brauche Rat. Kann man irgendetwas tun, um Peter Herter auszuschalten?«

Er kratzte sich an der Nase.

»Sie meinen, durch direktes Eingreifen, vermute ich. Nein, Robin. Mit keinen Mitteln, die jetzt zur Verfügung stehen.«

»Das will ich nicht hören! Es muss irgendeine Möglichkeit geben!«

»Klare Sache, Robin«, sagte er langsam, »aber ich glaube, Sie fragen das falsche Programm. Indirekte Maßnahmen könnten wirksam sein. Soviel ich weiß, sind da ein paar juristische Dinge ungeklärt. Wenn Sie da eine Lösung finden könnten, wären Sie in der Lage, Herters Forderungen zu entsprechen und ihm auf diese Weise Einhalt zu gebieten.«

»Das habe ich versucht! Es ist genau umgekehrt, verdammt noch mal! Wenn ich Herter dazu bringen könnte aufzuhören, brächte ich die Gateway-Gesellschaft vielleicht dazu, mir wieder die Kontrolle zu überlassen. Inzwischen bringt er alle Leute durcheinander, und ich will, dass das aufhört. Gibt es denn nicht irgendeine Störung, die wir senden könnten?«

Albert zog an seiner Pfeife.

»Ich glaube nicht, Rob«, sagte er schließlich. »Ich habe nicht viel, worauf ich mich stützen kann.«

Das verwunderte mich.

»Du erinnerst dich nicht, wie sich das anfühlt?«

»Robin«, sagte er geduldig, »ich fühle überhaupt nichts. Es ist wichtig für Sie, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass ich nur ein Computerprogramm bin. Und eigentlich auch nicht das richtige, um die exakte Natur der Signale zu besprechen, die Mr. Herter aussendet – Ihr psychoanalytisches Programm könnte da dienlicher sein. Von der Analyse her weiß ich, was geschehen ist – ich verfüge über alle Strahlenmessergebnisse. Von der Erfahrung her – nichts. Maschinenintelligenz ist nicht betroffen. Jedes menschliche Wesen hat etwas empfunden, das weiß ich, weil alle Berichte das mitteilen. Es gibt Hinweise darauf, dass Säugetiere mit größerem Gehirn – Primaten, Delphine, Elefanten – ebenfalls gestört worden sind, und vielleicht auch noch andere Säugetiere, obwohl das nicht klar ist. Aber direkt habe ich nichts erlebt. Was die Sendung eines Störprogramms angeht, ja, das könnte vielleicht gemacht werden. Aber was wäre die Wirkung, Robin? Denken Sie daran, dass das Störsignal von einem Ort in der Nähe kommen würde, nicht von einem, der fünfundzwanzig Lichttage entfernt ist. Wenn Mr. Herter Desorientierung erzeugen kann, was würde ein Zufallssignal aus der Nähe bewirken?«

»Es wäre wohl schlimm.«

»Klare Sache, Robin. Vermutlich schlimmer, als Sie denken, aber ohne Versuche kann ich das nicht sagen. Die Versuchskandidaten müssten Menschen sein, und solche Versuche kann ich nicht durchführen.«

Über meine Schulter sagte Essie stolz: »Ja, genau das kannst du nicht, und wer weiß das besser als ich?« Sie war lautlos hinter mir hereingekommen, barfuß auf dem dicken Teppich. Sie trug einen bis zum Boden reichenden Mantel und hatte einen Turban um ihr Haar gewickelt.

»Essie, was, zum Teufel, machst du auf den Beinen?«, fragte ich scharf.

»Mein Bett ist allzu langweilig geworden«, sagte sie und knetete mit den Fingern mein Ohr, »vor allem, wenn man allein darin liegt. Hast du für heute Abend Pläne, Robin? Wenn ich eingeladen werde, möchte ich das deine mit dir teilen.«

»Aber …«, sagte ich, und: »Essie …« Und was ich noch sagen wollte, war entweder: Das sollst du doch noch nicht! Oder: Nicht vor dem Computer!

Sie gab mir keine Gelegenheit, mich zu entscheiden. Sie beugte sich vor, um ihre Wange an die meine zu drücken, vielleicht, damit ich fühlen konnte, wie rund und voll sie wieder geworden war.

»Robin«, sagte sie heiter, »es geht mir viel besser, als du glaubst. Du kannst die Ärztin fragen, wenn du willst. Sie wird dir sagen, wie schnell alles geheilt ist.« Sie drehte den Kopf, um mich rasch zu küssen, und fügte hinzu: »Ich habe in den nächsten Stunden eigene Dinge zu erledigen. Bitte, unterhalte dich bis dahin weiter mit deinem Programm. Ich bin sicher, dass Albert dir viele interessante Dinge zu erzählen hat, nicht wahr, Albert?«

»Klare Sache, Mrs. Broadhead«, bestätigte das Programm, fröhlich an der Pfeife saugend.

»Also, dann ist es entschieden.« Sie tätschelte meine Wange und wandte sich ab, und ich muss sagen, dass sie ganz und gar nicht krank wirkte, als sie zu ihrem Zimmer zurückging. Der Mantel war nicht eng, umschloss aber ihren Körper, und die Kontur war ein durchaus angenehmer Anblick. Ich konnte nicht glauben, dass die dicken Verbände an ihrer ganzen linken Körperseite fort waren, aber sehen konnte ich sie nicht mehr.

Hinter mir hustete mein Wissenschaftsprogramm. Ich drehte mich herum, und Albert paffte seine Pfeife und zwinkerte mir zu.

»Ihre Frau sieht sehr gut aus, Robin«, sagte er mit weisem Nicken.

»Manchmal weiß ich einfach nicht, wie anthropomorph du bist, Albert«, gab ich zurück. »Hm. Was für interessante Dinge hast du mir zu erzählen?«

»Was Sie hören wollen, Robin. Soll ich zum Thema Peter Herter weitersprechen? Es gibt noch andere Möglichkeiten, etwa die Sprengmethode. Das heißt – wenn wir für einen Augenblick die juristischen Komplikationen beiseite lassen –, dass es möglich wäre, dem Schiffscomputer, der als ›Vera‹ bekannt ist, den Befehl zu erteilen, die Treibstofftanks am Orbitalfahrzeug zu sprengen.«

»Du guter Gott! Wir würden den größten Schatz zerstören, den wir je gefunden haben!«

»Klare Sache, Robin, und es ist sogar noch schlimmer. Die Chance, dass eine Explosion die Anlage, die Mr. Herter benutzt, beschädigt, ist ziemlich gering. Er könnte nur wütend werden. Oder dort stranden und solange er lebt, tun, was er will.«

»Hör auf damit! Hast du mir nichts Gutes zu berichten?«

»Eigentlich schon, Robin«, meinte er grinsend. »Wir haben unseren Stein von Rosette gefunden.« Er schrumpfte zu einem winzigen Wirbel farbiger Pünktchen zusammen und verschwand. Als ihn eine leuchtende, spindelförmige Masse von lavendelblauer Farbe im Tank ersetzte, sagte er: »Das ist das Abbild vom Anfang eines Buches.«

»Es ist leer!«

»Ich habe noch nicht angefangen«, erklärte er. Der Umriss war größer als ich und etwa halb so dick wie hoch. Er begann sich vor meinen Augen zu verwandeln; die Farbe wurde dünner, bis ich durch das Gebilde blicken konnte, dann begannen im Inneren ein, zwei, drei Punkte aufzutauchen, Punkte von hellem, rotem Licht, die sich zu einer Spirale drehten. Es gab ein klagendes Schnattern, wie Telemetrie oder das verstärkte Schnüffeln von Krallenaffen. Dann erstarrte das Bild. Der Ton hörte auf. Alberts Stimme sagte: »Ich habe an dieser Stelle aufgehört, Robin. Es ist wahrscheinlich, dass es sich bei den Tönen um eine Sprache handelt, aber wir haben noch keine semantischen Einheiten herauslösen können. Der ›Text‹ dagegen ist klar. Es gibt von diesen Lichtpunkten hundertsiebenunddreißig Stück. Passen Sie auf, ich lasse von dem Buch noch ein paar Sekunden ablaufen.«

Die Spirale von 137 winzigen Sternen verdoppelte sich. Eine zweite Spule von Punkten hob sich von der ersten ab und schwebte zur Spitze der Spindel hinauf, wo sie lautlos hängenblieb. Das Schnattern begann von neuem, und die erste Spirale dehnte sich, während jeder einzelne Punkt eine eigene Spirale bildete. Am Ende gab es eine einzige große Spirale, bestehend aus 137 kleineren Spiralen, von denen jede aus 137 Punkten bestand. Dann wurde das ganze rote Muster orangerot und erstarrte.

»Wollen Sie das interpretieren, Robin?«, fragte Alberts Stimme.

»Na, so weit kann ich nicht zählen. Aber es sieht aus nach 137 mal 137, nicht?«

»Klare Sache, Robin. 137 im Quadrat ergibt 18 769 Punkte. Passen Sie auf.«

Kurze, grüne Linien zerschnitten die Spirale in zehn Abschnitte. Einer der Abschnitte hob sich ab, fiel zum Fuß der Spindel hinab und wurde wieder dunkelrot.

»Das ist nicht genau ein Zehntel der Zahl, Robin«, sagte Albert. »Wenn Sie nachzählen, befinden sich unten jetzt 1840 Punkte. Ich mache weiter.« Wieder veränderte das Hauptgebilde die Farbe, diesmal zu Gelb. »Achten Sie auf die oberste Figur.« Ich schaute genau hin und sah, dass der erste Punkt orangerot geworden war, der dritte gelb. Dann drehte sich das Gebilde um die Vertikalachse, eine dreidimensionale Säule von Spiralen wirbelte davon, und Albert sagte: »Wir haben jetzt im Hauptgebilde insgesamt 137 kubierte Punkte. Von nun an wird das Zusehen ein bisschen mühselig. Ich lasse das schnell ablaufen.« Das tat er. Muster von Punkten flogen umher und lösten sich voneinander, die Farben wechselten von Gelb zu Avocado, von Avocado zu Grün, von Grün zu Aquamarin, von Aquamarin zu Blau, und so weiter durch das ganze Spektrum, fast zweimal hintereinander. »Sehen Sie jetzt, was wir haben? Drei Nummern, Robin. In der Mitte 137. Unten am Fuß 1840. 137 hoch 18, was etwa so viel ist wie 10 hoch 38 ganz oben. Oder in der Reihenfolge drei dimensionslose Zahlen: die Feinstrukturkonstante, das Verhältnis von Proton zu Elektron und die Anzahl der Partikel im Universum. Robin, Sie haben eben einen Kurzlehrgang in Teilchentheorie von einem Hitschi-Lehrer erhalten.«

»Mein Gott«, sagte ich.

Albert tauchte wieder auf und strahlte.

»Genau, Robin«, sagte er.

»Aber, Albert, heißt das, dass du alle Gebetsfächer lesen kannst?«

Er machte ein langes Gesicht.

»Nur die einfachen«, erwiderte er bedauernd. »Das war eigentlich der leichteste. Aber von jetzt an geht es erheblich leichter. Wir spielen alle Gebetsfächer ab und zeichnen sie auf. Wir suchen nach Vergleichbarem. Wir stellen semantische Vermutungen an und prüfen sie in so vielen Zusammenhängen, wie wir finden können – das schaffen wir, Robin. Aber es kann einige Zeit dauern.«

»Ich will aber nicht warten«, fauchte ich.

»Klare Sache, Robin, aber zuerst muss jeder Fächer gefunden, gelesen, aufgezeichnet und für Vergleiche durch die Maschinen verschlüsselt werden, und dann …«

»Will ich nicht hören«, sagte ich. »Mach es … was ist denn?« Seine Miene hatte sich verändert.

»Das ist eine Frage der Finanzierung, Robin«, sagte er reumütig. »Es geht hier um sehr viel Computerzeit.«

»Tu es! Soweit du kannst. Ich lasse von Morton noch Aktien verkaufen. Was hast du sonst noch?«

»Etwas Hübsches, Robin«, sagte er lächelnd und schrumpfte, bis er in der Ecke des Tanks nur noch ein kleines Gesicht war. In der Mitte des Hologeräts waberten Farben und schmolzen zu einer Reihe von Hitschi-Steuerelementen zusammen, die auf fünf der zehn Tafeln ein Farbmuster zeigten. Die anderen waren leer.

»Wissen Sie, was das ist, Robin? Das ist eine Zusammenfassung aller bekannten Gateway-Flüge, die zum Hitschi-Himmel geführt haben. Sämtliche Muster, die Sie sehen, sind bei allen sieben bekannten Missionen identisch. Die anderen unterscheiden sich, aber man kann wohl davon ausgehen, dass sie für die Kurssetzung nicht direkt in Betracht kommen.«

»Was sagst du da, Albert?«, fragte ich scharf. Er hatte mich überrascht. Ich bemerkte, dass ich zu zittern begann. »Willst du damit sagen, wir könnten den Hitschi-Himmel erreichen, wenn wir die Steuerung nach diesem Muster einstellen?«

»Mit fünfundneunzig Prozent Sicherheit, ja, Robin.« Er nickte. »Und ich habe drei Schiffe gefunden, zwei auf Gateway, eines auf dem Mond, die diese Einstellung annehmen.«


Ich streifte einen Pullover über und ging zum Wasser hinunter. Ich wollte nichts mehr hören.

Ich zog die Schuhe aus, um das feuchte, weiche Gras zu spüren, und sah ein paar Jungen zu, die am Nyack-Ufer Flussbarsche fingen, und ich dachte: Das habe ich erkauft, als ich mein Leben auf Gateway riskierte. Wofür ich mit Klaras Leben bezahlt habe.

Und: Will ich all das und mein Leben noch einmal aufs Spiel setzen?

Aber es war in Wahrheit keine Frage des Wollens. Wenn eines der Raumschiffe zum Hitschi-Himmel fliegen würde und ich mir darin einen Platz erkaufen oder stehlen konnte, würde ich fliegen.

Dann rettete mich die Vernunft, und ich begriff, dass das doch nicht ging. Nicht in meinem Alter. Und nicht bei der Einstellung der Gateway-Gesellschaft zu mir. Und vor allem nicht rechtzeitig. Der Gateway-Asteroid fliegt in einer Bahn, die im rechten Winkel zur Ekliptik verläuft, oder doch beinahe. Von der Erde aus hinzugelangen, ist mühsame, langwierige Arbeit; mit Hohmann-Kurven zwanzig Monate oder mehr, bei verstärkter Beschleunigung immer noch länger als ein halbes Jahr.

Die Erkenntnis war beinahe ebensosehr ein Gefühl der Erleichterung wie ein krankmachendes, gieriges des Verlusts.

Sigfrid Seelenklempner hatte mir nie klar gemacht, wie ich von der Ambivalenz (oder vom Schuldbewusstsein) loskommen sollte. Er sagte mir aber, wie ich damit umgehen müsste. Das Rezept sieht in erster Linie vor, dass man einfach alles geschehen lassen soll. Früher oder später brennt sich das aus. (Behauptet er.) Jedenfalls muss das nicht lähmend sein. Während ich also diese Ambivalenz zu Asche verglimmen ließ, schlenderte ich am Wasser entlang, genoss die angenehme Luft unter der Kuppel und blickte stolz auf das Haus, in dem ich lebte und wo meine geliebte und seit geraumer Zeit gänzlich platonische Ehefrau im Begriff stand, völlig zu genesen, wie ich hoffte. Was immer sie tun mochte, sie tat es nicht allein. Zweimal hatte ein Kleintaxi jemanden von der U-Bahn-Haltestelle zu uns gebracht. Beide Male waren es Frauen gewesen, und nun hielt erneut ein Taxi und ließ einen Mann aussteigen, der sich ziemlich unsicher umschaute, während das automatische Taxi in der Einfahrt wendete und zum nächsten Einsatzort fuhr. Ich bezweifelte aus irgendeinem Grund, dass er zu Essie wollte, aber ich konnte keinen Grund erkennen, weshalb er nicht von Harriet abgefertigt werden sollte. Es war also eine Überraschung, dass der Richtlautsprecher unter dem Giebel sich in meine Richtung drehte und Harriets Stimme sagte: »Robin? Hier ist ein Mr. Haagenbusch. Ich glaube, Sie sollten mit ihm sprechen.«

Das sah Harriet gar nicht ähnlich, aber sie hatte in der Regel Recht, und deshalb schlenderte ich über den Rasen hinauf, wusch mir vor den Terrassentüren die nackten Füße und lud den Mann in mein Arbeitszimmer ein. Er war schon ziemlich alt, glatzköpfig, mit rosiger Haut, flotten, weißen Bartkoteletten und einem deutlichen amerikanischen Akzent – keinem, wie ihn Leute zu haben pflegen, die in den Vereinigten Staaten geboren sind.

»Vielen Dank für Ihre Bereitschaft, mich zu empfangen, Mr. Broadhead«, sagte er und gab mir eine Karte. Auf dieser stand:

Dr. jur. Wm. J. Haagenbusch

»Ich bin Peter Herters Rechtsanwalt«, fuhr er fort. »Ich komme direkt aus Frankfurt, weil ich zu einer Einigung gelangen will.«

Wie wunderlich von ihm, dachte ich; kommt persönlich, um Geschäfte zu besprechen! Aber wenn Harriet wünschte, dass ich mit dem alten Knaben sprach, musste sie das wohl mit meinem juristischen Programm besprochen haben, und aus diesem Grund sagte ich: »Was für eine Einigung?«

Er wartete darauf, dass ich ihm eine Sitzgelegenheit anbot. Das tat ich. Ich vermutete, dass er auch darauf wartete, ich würde noch Kaffee oder Kognak bestellen, aber das wollte ich nicht so gerne tun. Er zog schwarze Lederhandschuhe aus, betrachtete seine manikürten Fingernägel und sagte: »Mein Klient hat verlangt, dass ihm 250 Millionen Dollar auf ein Sonderkonto überwiesen werden und ihm absolute Straffreiheit zugesichert wird. Ich habe diese Mitteilung gestern verschlüsselt erhalten.«

Ich lachte laut heraus.

»Mensch, Haagenbusch, warum erzählen Sie mir das? So viel Geld habe ich nicht!«

»Nein, das haben Sie nicht«, gab er zu. »Abgesehen von Ihrer Beteiligung an der Herter-Hall-Expedition und Anteilen an Fischfarmen haben Sie nichts als zwei Wohnhäuser und ein paar persönliche Dinge. Ich glaube, Sie könnten sechs oder sieben Millionen aufbringen, die Investition in die Herter-Halls nicht mitgerechnet. Weiß der Himmel, was die derzeit wert sein mag, wenn man alles bedenkt.«

Ich lehnte mich zurück und sah ihn an.

»Sie wissen, dass ich meine Tourismusaktien verkauft habe. Sie haben mich also überprüft. Nur die Nahrungsgruben vergessen Sie.«

»Nein, ich glaube nicht, Mr. Broadhead. Soviel ich weiß, sind diese Aktien heute Nachmittag verkauft worden.«

Es war nicht gerade erfreulich festzustellen, dass er über meine finanzielle Lage besser unterrichtet war als ich. Morton hatte also auch diese Anteile verkaufen müssen. Es blieb mir keine Zeit, darüber nachzudenken, was das bedeutete, weil Haagenbusch seinen Backenbart strich und fortfuhr: »Die Lage ist die, Mr. Broadhead: Ich habe meinem Klienten klar gemacht, dass ein unter Zwang zustande gekommener Vertrag nichtig ist. Er hat deshalb keine Aussicht, seine Zwecke durch eine Vereinbarung mit der Gateway-Gesellschaft oder auch mit Ihrem Syndikat zu erreichen. Deshalb habe ich neue Anweisungen erhalten: sofortige Zahlung der genannten Summe zu erreichen, sie in seinem Namen auf Nummernkonten anzulegen und ihm das Geld zu übergeben, sobald und falls er zurückkommt.«

»Gateway wird es nicht schätzen, erpresst zu werden«, meinte ich. »Aber vielleicht bleibt den Leuten keine andere Wahl.«

»Allerdings nicht«, bestätigte er. »Was an Mr. Herters Plan nicht stimmt, ist, dass er nichts einbringen wird. Ich bin sicher, dass man das Geld bezahlen wird. Ich bin auch davon überzeugt, dass man mich streng überwachen und Wanzen in meinem Büro anbringen wird, und dass die Justizministerien aller am Gateway-Vertrag beteiligten Länder Strafverfahren gegen Mr. Herter vorbereiten werden, sobald er zurückkommt. Ich will in diesen Verfahren nicht als Mittäter genannt werden, Mr. Broadhead. Ich weiß, was geschehen wird. Man wird das Geld finden und es ihm wieder wegnehmen. Man wird Mr. Herters früheren Vertrag für nichtig erklären, weil er sich selbst nicht daran gehalten hat. Und man wird ihn – zumindest ihn – ins Gefängnis stecken.«

»Sie sind in einer schwierigen Lage, Mr. Haagenbusch«, sagte ich.

Er lachte leise und trocken. Seine Augen wirkten nicht belustigt. Er strich sich kurz den Backenbart und platzte dann heraus: »Sie haben ja keine Ahnung! Jeden Tag lange verschlüsselte Instruktionen! Fordern Sie das, garantieren Sie das, ich ziehe Sie dafür persönlich zur Verantwortung! Dann schicke ich eine Antwort, die fünfundzwanzig Tage braucht, um anzukommen, und er hat mir inzwischen fünfzig neue Anweisungen geschickt, seine Gedanken sind weiß Gott wo, er macht mir Vorwürfe und droht mir. Er ist kein gesunder und ganz gewiss kein junger Mensch mehr. Ich glaube gar nicht, dass er es erleben wird, von dem erpressten Geld etwas zu sehen – aber möglich wäre es doch.«

»Warum geben Sie nicht auf?«

»Das würde ich tun, wenn ich könnte. Aber was ist, wenn ich aufhöre? Dann hat er niemanden mehr auf seiner Seite. Was würde er dann tun, Mr. Broadhead? Außerdem …« Er zuckte die Achseln, »ist er ein sehr alter Freund, Mr. Broadhead. Er ist mit meinem Vater zur Schule gegangen. Nein. Ich kann nicht aufhören. Ich kann jedoch auch nicht tun, was er verlangt. Aber vielleicht können Sie es. Nicht, indem Sie eine Viertelmilliarde Dollar bezahlen, nein – Sie hatten nie so viel Geld. Aber Sie können ihn zu Ihrem gleichberechtigten Teilhaber machen. Ich glaube, das würde er … nein. Ich glaube, er könnte das akzeptieren.«

»Aber ich habe doch schon …« Ich verstummte. Wenn Haagenbusch nicht wusste, dass ich die Hälfte meines Besitzes schon Bover übergeben hatte, wollte ich es ihm nicht verraten. »Weshalb würde ich diesen Vertrag nicht auch für nichtig erklären lassen?«, fragte ich.

Er zog die Schultern hoch.

»Das würden Sie vielleicht tun, aber ich glaube es nicht. Sie sind ein Symbol für ihn, Mr. Broadhead, und ich schätze, Ihnen würde er vertrauen. Sehen Sie, ich glaube zu wissen, was er sich von alledem erhofft. Er möchte für den Rest seines Daseins so leben wie Sie.« Er stand auf. »Ich erwarte nicht, dass Sie sofort zustimmen«, erklärte er. »Ich habe vielleicht vierundzwanzig Stunden, bevor ich Mr. Herter antworten muss. Bitte, denken Sie darüber nach, und ich melde mich morgen wieder.«

Ich gab ihm die Hand, ließ ihm von Harriet ein Taxi rufen und stand mit ihm in der Einfahrt, bis es heranrollte und ihn rasch in die frühe Dunkelheit davontrug.

Als ich in mein Zimmer zurückkam, stand Essie am Fenster und blickte auf die Lichter am Ufer des Tappan-Sees hinaus. Es war mir plötzlich klar, wer sie an diesem Tag besucht hatte. Eine Person war auf jeden Fall ihre Friseuse gewesen; der lohfarbene Wasserfall von Haaren hing wieder glänzend und dicht bis zu ihren Hüften herab, und als sie sich umdrehte und mich anlächelte, war sie wieder dieselbe Essie, die vor so vielen Wochen nach Arizona gefahren war.

»Du hast mit dem kleinen Mann so lange gesprochen«, meinte sie. »Du musst hungrig sein.« Sie sah mich einen Augenblick an und lachte. Die Fragen in meinem Inneren waren meinem Gesicht wohl abzulesen, denn sie antwortete darauf. »Erstens, das Abendessen steht bereit. Etwas Leichtes, das wir jederzeit essen können. Zweitens, es ist in unserem Zimmer serviert, und du kannst kommen, wann du möchtest. Und drittens, ja, Robin, ich habe Wilmas Versicherung, dass das alles völlig in Ordnung ist. Geht mir viel besser, als du glaubst, Robin, Schatz.«

»Du siehst auch so gesund aus, wie man nur sein kann«, sagte ich und muss wohl gelächelt haben, weil die hellen, vollkommenen Brauen sich zusammenzogen.

»Lachst du über den Zirkus, den eine lüsterne Ehefrau aufführt?«, fragte sie scharf.

»O nein! Nein, das ist es ganz und gar nicht«, sagte ich und legte den Arm um sie. »Ich habe mich vorhin nur gefragt, woher es kommt, dass irgendein Mensch so leben möchte, wie ich jetzt lebe. Aber nun weiß ich es.«


Tja. Wir liebten uns vorsichtig und langsam, und als ich sah, dass sie nicht zerbrechen würde, machten wir es noch einmal, grober und wilder. Dann aßen wir fast alles, was auf dem Sideboard für uns angerichtet worden war, lungerten herum und umarmten uns immer wieder, bis wir uns noch einmal liebten. Danach dösten wir einfach einige Zeit vor uns hin, wie die Löffel aneinander geschmiegt, bis Essie zu meinem Nacken sagte: »Für einen alten Bock eine sehr eindrucksvolle Leistung, Robin. Nicht einmal schlecht für einen Siebzehnjährigen.«

Ich reckte mich und gähnte im Liegen und rieb meinen Rücken an ihrem Bauch und den Brüsten.

»Du bist wirklich enorm schnell gesund geworden«, meinte ich.

Sie antwortete nicht und rieb nur die Nase an meinem Hals. Ich verfüge über eine Art Radar, unsichtbar und unhörbar, der mir die Wahrheit verrät. Ich blieb kurz liegen, dann machte ich mich los und setzte mich auf.

»Liebste Essie«, sagte ich, »warum erzählst du es mir nicht?«

Sie lag in meinem Arm, das Gesicht an meinen Rippen. »Was denn?«, fragte sie unschuldig.

»Komm schon, Essie.« Als sie nicht antwortete, sagte ich: »Muss ich Wilma aus dem Bett holen, damit sie es mir sagt?«

Sie gähnte und setzte sich auf. Es war ein unechtes Gähnen; als sie mich ansah, waren ihre Augen hellwach.

»Wilma ist sehr konservativ«, sagte sie achselzuckend. »Es gibt manche Medizin, die Heilung fördert, Kortikosteroide und dergleichen, die sie mir nicht geben wollte. Bei diesen Medikamenten besteht die Gefahr, dass sich viele Jahre später Folgeschäden einstellen – aber bis dahin wird der medizinische Vollschutz sicher damit zurechtkommen. Ich bestand also darauf. Ich habe sie sehr, sehr zornig gemacht.«

»Folgeschäden! Du meinst Leukämie!«

»Ja, vielleicht. Aber höchstwahrscheinlich nicht. Gewiss nicht bald.«

Ich stieg aus dem Bett und setzte mich nackt auf die Kante, damit ich sie besser ansehen konnte.

»Essie, warum?«

Sie legte die Daumen unter ihr langes Haar und schob es aus ihrem Gesicht zurück, während sie meinen scharfen Blick erwiderte.

»Weil ich es eilig hatte«, sagte sie. »Weil du schließlich Anspruch auf eine gesunde Frau hast. Weil es unbequem ist, durch einen Katheter zu pinkeln, um nicht zu sagen, unästhetisch. Weil es meine Entscheidung war und ich sie getroffen habe.« Sie warf die Bettdecke zurück und sank auf die Kissen. »Schau mich an, Robin«, sagte sie. »Nicht einmal Narben! Und innerlich, unter der Haut, alles völlig in Ordnung. Kann essen, verdauen, ausscheiden, lieben, dein Kind empfangen, wenn wir das wünschen sollten. Nicht nächsten Frühling oder vielleicht nächstes Jahr. Jetzt.«

Und alles stimmte. Ich konnte es selbst sehen. Ihr langer, hellhäutiger Körper war ohne Narben – nein, nicht ganz; an ihrer linken Körperseite sah man einen unregelmäßigen, helleren Streifen neuer Haut. Aber man musste genau hinsehen, um ihn zu erkennen, und es gab sonst nichts, was verriet, dass sie vor Wochen zerfetzt, verstümmelt und sogar tot gewesen war.

Mir wurde kalt. Ich stand auf, um Essie den Morgenmantel zu geben und meinen eigenen anzuziehen. Auf dem Sideboard stand noch Kaffee, und er war auch noch heiß.

»Für mich auch«, sagte Essie, als ich eingoss.

»Solltest du dich nicht ausruhen?«

»Wenn ich müde bin«, sagte sie sachlich, »wirst du das merken, weil ich mich herumdrehe und schlafe. Ist sehr lange her, seit wir beide das miteinander hatten. Ich genieße es.« Sie ließ sich von mir eine Tasse geben und sah mich über den Rand hinweg an, während sie schlürfte. »Aber du nicht«, meinte sie dann.

»Doch!« Und so war es auch, aber die Ehrlichkeit veranlasste mich hinzuzufügen: »Ich gebe mir manchmal selbst Rätsel auf, Essie. Woher kommt es, dass in meinem Kopf ein Schuldgefühl entsteht, wenn du mir Liebe zeigst?«

Sie stellte ihre Tasse hin und ließ sich zurücksinken.

»Möchtest du mir davon erzählen, lieber Robin?«

»Das habe ich eben getan.« Dann sagte ich: »Wenn überhaupt jemanden, dann sollte ich wohl den alten Sigfrid Seelenklempner rufen und es ihm sagen.«

»Er ist immer verfügbar«, gab sie zurück.

»Hm. Wenn ich mit ihm anfange, weiß der Himmel, wann ich je fertig bin. Außerdem ist er nicht das Programm, mit dem ich reden will. Es ist so vieles im Gange, Essie. Und alles geschieht ohne mich. Ich komme mir vergessen vor.«

»Ja«, sagte sie, »mir ist klar, was in dir vorgeht. Gibt es etwas, das du tun möchtest, damit du dieses Gefühl verlierst ?«

»Tja … vielleicht«, erwiderte ich. »Was Peter Herter angeht, zum Beispiel. Ich habe mich mit einer Idee befasst, die ich gern mit Albert Einstein besprechen würde.«

Sie nickte.

»Also gut, warum nicht?« Sie setzte sich auf die Bettkante. »Gib mir bitte die Hausschuhe. Machen wir das gleich.«

»Jetzt? Aber es ist schon spät … du solltest nicht …«

»Robin«, sagte sie zärtlich, »ich habe auch mit Sigfrid Seelenklempner gesprochen. Ist ein gutes Programm, selbst wenn es nicht von mir geschrieben wurde. Es sagt, dass du ein guter Mann bist, Robin, gut angepasst, großzügig, und das kann ich alles nur bestätigen, um zu ergänzen: ausgezeichneter Liebhaber und sehr lustige Gesellschaft. Komm mit ins Arbeitszimmer.« Sie griff nach meiner Hand, als wir den großen Raum über dem Tappan-See betraten und uns vor meiner Konsole auf das kleine Sofa setzten. »Sigfrid meint aber, dass du großes Talent dazu hast, Gründe zu erfinden, um etwas nicht zu tun«, fuhr sie fort. »Deshalb will ich dir helfen, dass du dich aufraffst. Daite gorod Polymath.« Das sagte sie nicht zu mir, sondern zur Konsole, die sofort aufleuchtete. »Zeig Albert- und Sigfrid-Programm gleichzeitig!«, befahl sie. »Zugang zu beiden im interaktiven Modus. Also, Robin! Gehen wir den Fragen nach, die du aufgeworfen hast. Schließlich interessiert mich das auch alles sehr.«


Diese Frau, die ich geheiratet habe, überrascht mich am meisten, wenn ich es am wenigsten erwarte. Sie saß ganz behaglich neben mir und hielt meine Hand, während ich ganz offen davon sprach, jene Dinge zu tun, die ich am liebsten unterlassen hätte. Es ging nicht einfach darum, zum Hitschi-Himmel und zur Nahrungsfabrik zu fliegen und den alten Peter Herter daran zu hindern, dass er die ganze Welt aus dem Gleichgewicht brachte. Es ging darum, wohin ich anschließend fliegen wollte.

Aber am Anfang sah es nicht so aus, als käme ich überhaupt irgendwohin.

»Albert«, sagte ich, »du hast mir erzählt, du hättest eine Kurseinstellung zum Hitschi-Himmel nach den Gateway-Aufzeichnungen erarbeitet. Kannst du das für die Nahrungsfabrik auch?«

Die beiden saßen nebeneinander im PV-Tank, Albert an seiner Pfeife saugend, Sigfrid, die Hände ineinander verflochten und stumm, aufmerksam zuhörend. Er würde nichts sagen, bis ich ihn ansprach, und das gedachte ich nicht zu tun.

»Fürchte, nein«, sagte Albert bedauernd. »Wir haben nur eine bekannte Kurseinstellung für die Nahrungsfabrik, die von Trish Bover, und das genügt nicht, um sicherzugehen. Vielleicht sechzig Prozent Wahrscheinlichkeit, dass ein Schiff dort eintrifft. Aber was dann, Robin? Es könnte nicht zurückkommen. Oder jedenfalls kam Trish Bovers Schiff nicht wieder.« Er setzte sich bequemer zurecht und fuhr fort: »Es gibt natürlich bestimmte Alternativen.« Er warf einen Blick auf Sigfrid Seelenklempner. »Man könnte Herters Verstand durch Suggestionen so beeinflussen, dass er seine Pläne ändert.«

»Würde das gehen?« Ich sprach immer noch mit Albert Einstein. Er zuckte die Achseln, und Sigfrid bewegte sich, sagte aber nichts.

»Ach, sei nicht so kindisch«, rügte Essie. »Antworte, Sigfrid.«

»Gosposcha Laworowna«, sagte er, während er mir einen Blick zuwarf, »ich glaube nicht. Ich glaube, mein Kollege hat diese Möglichkeit nur zur Sprache gebracht, damit ich sie als unbrauchbar abtun kann. Ich habe die Aufzeichnungen von Peter Herters Sendungen studiert. Die Symbolik ist ganz deutlich. Die engelhaften Frauen mit den Raubvogelschnäbeln – was ist eine ›Hakennase‹, Gosposcha? Denken Sie an Peters Kindheit und an das, was er von der ›Säuberung‹ der Welt von den bösen Juden gehört hat. Dann die Gewalttätigkeit, der Wunsch zu strafen. Er ist ziemlich krank, hat schon einen Herzanfall hinter sich und ist nicht mehr bei Sinnen; vielmehr ist er in einen kindlichen Zustand zurückgefallen. Weder Suggestion noch Appelle an die Vernunft werden helfen, Gosposcha. Die einzige Möglichkeit wäre vielleicht eine langdauernde Analyse. Er würde kaum zustimmen, der Bordcomputer käme nicht gut zurecht damit, und außerdem haben wir keine Zeit. Ich kann Ihnen nicht helfen, Gosposcha, nicht mit einer echten Aussicht auf Erfolg.«

Vor sehr langer Zeit hatte ich zweihundert zumeist sehr unangenehme Stunden damit verbracht, auf Sigfrids vernünftige, aufreizende Stimme zu hören, und ich hatte sie nie mehr wieder hören wollen. Aber ganz so schlimm war es gar nicht.

Neben mir zuckte Essie die Schultern.

»Polymath«, rief sie, »lass frischen Kaffee machen.« Zu mir sagte sie: »Ich glaube, wir sitzen hier lange.«

»Ich weiß nicht, wozu«, wandte ich ein. »Ich scheine in einer aussichtslosen Lage zu sein.«

»Wenn das wirklich so ist, brauchen wir den Kaffee nicht zu trinken, sondern können wieder ins Bett gehen«, meinte sie tröstend. »Weißt du, inzwischen genieße ich das sehr, Robin.«

Nun, warum nicht? Ich war seltsamerweise nicht schläfriger, als Essie es zu sein schien. Tatsächlich war ich wach und entspannt zugleich, und meine Gedanken waren nie klarer gewesen.

»Albert«, sagte ich, »gibt es Fortschritte bei der Entzifferung der Hitschi-Bücher?«

»Keine großen, Robin«, entschuldigte er sich. »Es gibt noch andere mathematische Bände von der Art, wie Sie einen gesehen haben, aber noch keine Sprache … ja, Robin?«

Ich schnippte mit den Fingern. Ein verirrter Gedanke in einem Winkel meines Gehirns war aufgetaucht.

»Flotte Zahlen«, sagte ich. »Die Zahlen, die uns das Buch zeigte. Das sind dieselben wie jene, die von den Toten Menschen ›flotte Zahlen‹ genannt werden.«

»Klare Sache, Robin«, sagte er mit einem Nicken. »Sie sind dimensionslose Grundkonstanten des Universums oder zumindest dieses Universums. Es stellt sich aber die Frage von Machs Prinzip, die unterstellt …«

»Nicht jetzt, Albert! Wo, glaubst du, haben die Toten Menschen sie her?«

Er schwieg und zog die Brauen zusammen. Er klopfte seine Pfeife aus und warf einen Blick auf Sigfrid, bevor er sagte: »Ich möchte meinen, dass die Toten Menschen eine Berührung mit der Hitschi-Maschinenintelligenz hinter sich haben. Ohne Zweifel gab es Übertragung in beide Richtungen.«

»Genau meine Meinung! Was vermutest du noch, das die Toten Menschen wissen könnten?«

»Sehr schwer zu sagen. Sie sind sehr unvollständig gespeichert, wissen Sie. Die Verständigung war bestenfalls außerordentlich schwierig und ist jetzt ganz unterbrochen.«

Ich setzte mich kerzengerade auf.

»Und was ist, wenn wir sie einfach wieder aufnehmen? Wenn jemand zum Hitschi-Himmel flöge, um mit ihnen zu reden?«

Er hustete. Bemüht, nicht gönnerhaft zu wirken, sagte er: »Robin, mehrere Angehörige der Gruppe Herter-Hall und zusätzlich der junge Wan haben es nicht erreicht, zu diesen Fragen von ihnen klare Antworten zu erhalten. Selbst unsere Maschinenintelligenz hat nur geringen Erfolg verzeichnet – obschon das in erster Linie daran liegt«, ergänzte er durchaus höflich, »dass die Notwendigkeit bestand, sich des Bordcomputers Vera zu bedienen. Sie sind schlecht gespeichert, Robin. Sie sind besessen, irrational und oft unverständlich.«

Hinter mir stand Essie mit dem Tablett – Kaffee und Tassen. Ich hatte die Glocke in der Küche kaum wahrgenommen.

»Frag ihn, Robin«, sagte sie.

Ich gab nicht vor, sie misszuverstehen.

»Verdammt«, erklärte ich, »also gut, Sigfrid, das ist dein Gebiet. Wie bringen wir sie dazu, mit uns zu reden?«

Sigfrid lächelte und nahm die Hände auseinander.

»Es ist schön, wieder mit Ihnen zu sprechen, Robin«, sagte er. »Ich möchte Ihnen zu den beträchtlichen Fortschritten gratulieren, seit wir uns zuletzt …«

»Mach schon!«

»Gewiss, Robin. Es gibt eine Möglichkeit. Die Speicherung der Prospektorin Henrietta scheint ziemlich vollständig zu sein, mit Ausnahme ihrer einen Besessenheit, nämlich hinsichtlich der Untreue ihres Ehemannes. Ich glaube, wenn wir nach dem, was wir von der Persönlichkeit ihres Mannes wissen, ein Maschinenprogramm schreiben und es an eine Schnittstelle mit ihrem …«

»Für sie einen falschen Ehemann herstellen?«

»Im Grunde ja, Robin«, sagte er mit einem Nicken. »Es müsste nicht genau stimmen. Da die Toten Menschen im Allgemeinen schlecht gespeichert sind, könnten alle unpassenden Reaktionen übergangen werden. Natürlich würde das Programm ziemlich …«

»Spar dir das, Sigfrid. Kannst du so ein Programm schreiben?«

»Ja. Mit Unterstützung Ihrer Frau, ja.«

»Und wie setzen wir uns dann mit Henrietta in Verbindung?«

Er sah Albert von der Seite an.

»Ich glaube, da kann mein Kollege helfen.«

»Klare Sache, Sigfrid«, sagte Albert heiter, während er sich mit einer Zehe am anderen Fuß kratzte. »Erstens: das Programm schreiben, samt Zusätzen. Zweitens: es in einen PMAL-2-Flip-Prozessor mit Gigabit-Schnellzugriffspeicher und den erforderlichen Empfangsgeräten eingeben. Drittens: das Ganze in einen Fünfer stecken und damit zum Hitschi-Himmel fliegen. Dann zur Schnittstelle mit Henrietta und die Befragung beginnen. Ich würde da eine Wahrscheinlichkeit von, ach, sagen wir neunzig Prozent für ein Gelingen unterstellen.«

»Warum die Maschinen in der Gegend herumfliegen?«, fragte ich stirnrunzelnd.

»Wegen c, Robin«, erwiderte er geduldig. »Die Lichtgeschwindigkeit. Ohne ÜLG-Funk müssen wir die Maschine dahin befördern, wo die Aufgabe wartet.«

»Der Herter-Hall-Computer hat ÜLG-Funk.«

»Zu dumm, Robin. Zu langsam. Und das Schlimmste habe ich Ihnen noch gar nicht gesagt. Die ganze Maschinenausrüstung ist ziemlich groß, wissen Sie. Sie würden einen Fünfer praktisch ausfüllen. Das heißt, es kommt am Hitschi-Himmel nackt und waffenlos an. Und wir wissen nicht, wer es beim Andocken empfängt.«

Essie saß wieder neben mir, wunderschön und sorgenvoll, eine Tasse Kaffee in der Hand. Ich griff automatisch danach und trank einen Schluck.

»Du hast gesagt ›praktisch‹«, meinte ich. »Heißt das, dass ein Pilot mitfliegen könnte?«

»Fürchte, nein, Robin. Es ist nur noch Platz für etwa hundertfünfzig Kilo.«

»Ich wiege nur die Hälfte!« Ich spürte, wie Essie sich neben mir verkrampfte. Jetzt kamen wir zum Kern der Sache. Ich fühlte mich klarer und selbstsicherer als seit vielen Wochen. Die Lähmung des Nichthandelns ließ mit jeder Minute nach. Ich war mir der Dinge bewusst, die ich sagte, und wusste sehr genau, was sie für Essie bedeuteten – aber aufhören wollte ich nicht.

»Das ist wahr, Robin«, gab Albert zu, »aber wollen Sie dort tot ankommen? Nahrung, Wasser, Luft. Ihr Bedarf für Hin- und Rückweg bei allen Vorkehrungen für Regeneration beläuft sich auf über dreihundert Kilogramm, und es gibt einfach nicht …«

»Hör auf, Albert«, sagte ich, »du weißt so gut wie ich, dass wir von keinem Hin- und Rückflug reden. Wir sprechen von – wie viel war das? Zweiundzwanzig Tage. Das war die Flugzeit für Henrietta. Das ist alles, was ich brauche. Genug für zweiundzwanzig Tage. Dann bin ich im Hitschi-Himmel, und es spielt keine Rolle mehr.«

Sigfrid wirkte sehr interessiert, blieb aber stumm. Albert machte einen besorgten Eindruck.

»Das ist wahr, Robin«, räumte er ein, »aber das Risiko ist hoch. Es gibt überhaupt keinen Spielraum für Fehler.«

Ich schüttelte den Kopf. Ich war ihm weit voraus.

»Du hast gesagt, auf dem Mond steht ein Fünfer, der dieses Ziel akzeptiert. Gibt es dort auch – wie nennst du das? – PMAL?«

»Nein, Robin«, erwiderte er, fügte jedoch traurig hinzu: »Es gibt aber einen in Kourou, der für die Lieferung zur Venus bereitsteht.«

»Danke, Albert«, sagte ich, halb fauchend, weil es wie Zähneziehen war, das aus ihm hervorzulocken. Dann lehnte ich mich zurück und überdachte, was eben gesprochen worden war.

Ich war nicht der Einzige, der aufmerksam zugehört hatte. Essie stellte ihre Kaffeetasse ab.

»Polymath«, befahl sie, »Morton-Programm, Zugriff und Ausgabe, im interaktiven Modus. Weiter, Robin. Tu, was du tun musst.«

Man hörte im Tank eine Tür aufgehen, und Morton kam herein und gab Sigfrid und Albert die Hand, während er mich über die Schulter ansah. Er bezog in der Zwischenzeit Informationen, und ich konnte an seiner Miene erkennen, dass ihm nicht gefiel, was er erfuhr. Es war mir aber egal.

»Morton!«, sagte ich. »Auf dem Startplatz in Guayana steht ein PMAL-2-Informationsprozessor. Kauf ihn für mich!«

Er drehte sich um und sah mich an.

»Robin«, meinte er störrisch, »ich glaube, Sie erfassen nicht, wie sehr Sie Ihr Kapital angreifen. Dieses Programm allein kostet Sie in der Minute über tausend Dollar. Ich muss Aktien verkaufen …«

»Verkauf sie!«

»Nicht nur das. Wenn Sie vorhaben, sich und den Computer zum Hitschi-Himmel zu befördern – tun Sie es nicht! Denken Sie nicht einmal daran! Erstens steht immer noch Bovers Verfügung dagegen. Zweitens könnten Sie sich, wenn es Ihnen gelingen sollte, sich darüber hinwegzusetzen, einer Strafe wegen Missachtung des Gerichts aussetzen und zu einem Schadenersatz …«

»Danach habe ich nicht gefragt, Morton. Was ist, wenn ich Bover dazu bringe, die Verfügung zurückzuziehen? Könnte man mich dann aufhalten?«

»Ja! Aber selbst wenn sie es könnten, besteht eine Möglichkeit, dass sie darauf verzichten«, gab er zu. »Oder nicht rechtzeitig zupacken. Trotzdem muss ich als Ihr juristischer Berater sagen …«

»Du brauchst gar nichts zu sagen. Kauf den Computer. Albert und Sigfrid, programmiert ihn so, wie wir es besprochen haben. Ihr drei verschwindet aus dem Tank, ich brauche Harriet. Harriet? Buchen Sie für mich einen Flug von Kourou zum Mond, im selben Schiff wie der Computer, den Morton für mich kauft, sobald es geht. Und während Sie das machen, stellen Sie fest, ob Sie Hanson Bover für mich finden können. Ich muss mit ihm reden.« Als sie nickte und erlosch, drehte ich mich zu Essie herum. Ihre Augen waren feucht, aber sie lächelte.

»Weißt du was?«, sagte ich. »Sigfrid hat kein einziges Mal ›Rob‹ oder ›Bobby‹ zu mir gesagt.«

Sie legte die Arme um mich und drückte mich an sich.

»Vielleicht glaubt er, dass du jetzt nicht mehr wie ein kleines Kind behandelt werden musst«, sagte sie. »Und ich glaube das auch. Denkst du, ich wollte nur gesund werden, damit wir rasch miteinander ins Bett gehen können? Nein. Es war auch deswegen, damit du hier nicht von einer Ehefrau gefangen gehalten wirst, die zu verlassen du für gemein gehalten hättest. Und damit ich damit fertig werde, wenn du fortgehst«, fügte sie hinzu.


Wir landeten in tiefer Dunkelheit und bei strömendem Regen in Cayenne. Bover erwartete mich, als ich durch den Zoll kam, in einem Schaumsessel am Gepäckterminal halb eingeschlafen. Ich dankte ihm mehrmals für sein Kommen, aber er zuckte nur die Achseln.

»Wir haben nur zwei Stunden«, sagte er. »Machen wir weiter.«

Harriet hatte einen Hubschrauber für uns gechartert. Wir schwebten über den Palmen davon, als die Sonne über dem Atlantik aufstieg. Bis wir Kourou erreichten, war es taghell, und die Mondrakete stand aufrecht an ihrem Montageturm. Sie war winzig im Vergleich zu den Riesen, die von Cape Kennedy oder in Kalifornien aufsteigen, aber das Centre Spatial Guyanais erzielt mit seinen Raketen um ein Sechstel mehr Leistung, weil es fast am Äquator liegt, sodass sie nicht so groß zu sein brauchen. Der Computer war schon verladen und verstaut, und Bover und ich stiegen sofort zu. Wamm. Rumms. In meiner Kehle quoll das Frühstück hoch, das ich im Flugzeug nicht hätte essen sollen, dann waren wir unterwegs.

Der Mondflug dauert drei Tage. Ich schlief so viel ich konnte, und unterhielt mich im Übrigen mit Bover. Es war die längste Zeit seit mindestens einem Dutzend Jahren, die ich außer Reichweite meiner Kommunikationsanlagen verbrachte, und ich hatte geglaubt, sie werde lang werden. Sie verging wie der Blitz. Ich wurde wach, als die Warntafel für die Beschleunigung erlosch, sah den kupferfarbenen Mond heraufsteigen, und dann waren wir da.

Wenn man bedachte, wie weit ich schon herumgekommen war, war es erstaunlich, dass ich den Mond noch nie besucht hatte. Ich wusste nicht, was mich erwartete. Alles war für mich erstaunlich: das tänzelnde, hopsende Gefühl, nicht mehr zu wiegen als eine aufgeblasene Gummipuppe, der Klang der dünnen Tenorstimme, die in der Atmosphäre mit zwanzig Prozent Helium aus meiner Kehle kam. Man atmete kein Hitschi-Gemisch mehr, nicht auf dem Mond. Hitschi-Grabmaschinen fegten wie eine Bombe in das Mondgestein, und da es Sonnenlicht in jeder Menge gab, um sie zu betreiben, kostete es nichts, sie in Betrieb zu halten. Das einzige Problem bestand darin, sie mit Luft zu füllen, und deshalb wurde diese mit Helium ergänzt – es war billiger und leichter zu beschaffen als N2.

Die Lunarspindel der Hitschi befindet sich in der Nähe des Raketenstützpunkts – oder, um es richtig auszudrücken, die Raketenbasis war in ihrer Nähe angelegt worden, beim Fra Mauro, weil das der Ort war, wo die Hitschi vor fast einer Jahrmillion gegraben hatten. Alles befand sich unter dem Boden, sogar die Docks waren in Mondfurchen versteckt. Zwei amerikanische Astronauten namens Shepard und Mitchell waren einmal im Umkreis von zweihundert Kilometern dort ein Wochenende lang herumgelaufen und hatten nichts davon bemerkt. Nun lebte in der Spindel eine Gemeinschaft von über tausend Menschen, und die Höhlen und die neuen Tunnels verzweigten sich in alle Richtungen. Die Mondoberfläche war ein Gewirr aus Mikrowellen-Schüsseln und Solarkollektoren und Rohrleitungen.

»He, Sie«, sagte ich zu dem ersten kräftig aussehenden Mann, der unbeschäftigt zu sein schien. »Wie heißen Sie?«

Er hüpfte lässig auf mich zu, an einer nicht brennenden Zigarre kauend.

»Was interessiert Sie das?«, fragte er.

»Aus der Fährrakete kommt Fracht. Ich möchte sie in das Fünfer-Schiff verladen haben, das im Dock steht. Sie werden ein halbes Dutzend Gehilfen und vermutlich Staugerät brauchen, und die Sache ist sehr eilig.«

»Hm«, sagte er. »Haben Sie eine Genehmigung dafür?«

»Die zeige ich Ihnen, wenn ich bezahle«, erwiderte ich. »Und die Bezahlung macht tausend Dollar pro Mann und zehntausend Dollar extra für Sie, wenn Sie es in drei Stunden schaffen.«

»Hm. Zeigen Sie mal die Fracht.« Sie kam gerade aus der Rakete. Er sah sich alles genau an, kratzte sich eine Weile, dachte geraume Zeit nach. Er war nicht völlig stumm. Es stellte sich heraus, dass er A. T. Walthers Jr. hieß und in den Tunnels auf der Venus geboren worden war. An seiner Flugspange konnte ich erkennen, dass er sein Glück auf Gateway versucht hatte, und daran, dass er auf dem Mond Gelegenheitsarbeiten übernahm, war zu erkennen, dass er keines gehabt hatte. Nun, mir war es bei den ersten Versuchen nicht anders ergangen, und dann hatte sich das geändert. Ob das wirklich mein Glück war, ist schwer zu sagen.

»Gemacht, Broadhead«, sagte er schließlich, »aber wir haben keine drei Stunden Zeit. Dieser Witzbold Herter fängt in ungefähr neunzig Minuten wieder an. Wir müssen vorher fertig sein.«

»Um so besser«, meinte ich. »Also, wo finde ich das Büro der Gateway-Gesellschaft?«

»Nordseite der Spindel«, sagte er. »In einer halben Stunde machen die zu.«

Um so besser, dachte ich noch einmal, sprach es aber nicht aus. Ich zerrte Bover hinter mir her und tänzelte durch den Tunnel zu der großen spindelförmigen Höhle, die als Zentrale diente, und wir kämpften uns durch ins Zimmer der Startleiterin.

»Sie werden eine offene Leitung zur Erde brauchen, damit ich mich ausweisen kann«, sagte ich zu ihr. »Ich bin Robin Broadhead, und hier ist mein Daumenabdruck. Das ist Hanson Bover – wenn Sie so gut sein wollen, Bover …« Er presste seinen Daumen neben mir auf die Tafel. »Jetzt sind Sie dran«, sagte ich dann.

»Ich, Allen Bover«, leierte er herunter, »ziehe hiermit meinen Einspruch gegen Robin Broadhead, die Gateway-Gesellschaft und andere zurück.«

»Danke«, sagte ich. »Also, Chefin, während Sie sich das bestätigen lassen, lege ich hier für Ihre Unterlagen eine schriftliche Fassung dessen vor, was Bover eben gesagt hat, und einen Flugplan dazu. Nach meinem Vertrag mit der Gateway-Gesellschaft, der in Ihrem Computer gespeichert ist, habe ich das Recht, in Verbindung mit der Herter-Hall-Expedition die Gateway-Anlagen zu benutzen. Das werde ich tun, und zu diesem Zweck brauche ich das Schiff der Klasse Fünf, das derzeit bei Ihnen steht. Sie werden aus dem Flugplan ersehen, dass ich vorhabe, zum Hitschi-Himmel zu fliegen und von dort aus zur Nahrungsfabrik, wo ich Peter Herter daran hindern werde, der Erde weiteren Schaden zuzufügen. Außerdem rette ich die Herter-Hall-Gruppe und bringe wertvolle Gateway-Informationen für Verarbeitung und Gebrauch mit. Und ich möchte im Lauf der nächsten Stunde starten«, schloss ich mit Nachdruck.

Nun, eine Minute lang sah es ganz so aus, als sollte es klappen. Die Startleiterin betrachtete die Daumenabdrücke auf der Registriertafel, griff nach der Spule mit dem Flugplan und wog ihn in der Hand, dann starrte sie mich einen Augenblick lang mit offenem Mund an. Ich konnte das Pfeifen des flüchtigen Gases hören, das sie in den Heizmotoren benutzten; der Carnot-Kreislauf leitete es unter den Fresnel-Linsen hindurch zu den abgedeckten artischockenförmigen Reflektoren direkt über uns. Ich hörte sonst gar nichts. Dann seufzte sie und sagte: »Senator Praggler, haben Sie das alles mitbekommen?«

Und hinter ihrem Schreibtisch ertönte plötzlich Pragglers Bass.

»Darauf können Sie sich verlassen, Milly. Sagen Sie Broadhead, daraus wird nichts. Er bekommt das Schiff nicht.«


Es waren die drei Tage Transitflug, die mich geschafft hatten. Automatisch wurde die Identität aller Passagiere über Funk im Voraus gemeldet, und die Offiziellen hatten gewusst, dass ich kam, bevor die Fährrakete Französisch-Guayana überhaupt verlassen hatte. Es war nur dem Zufall zu verdanken, dass es Praggler war, der mich in Empfang nahm; selbst wenn er nicht zur Stelle gewesen wäre, hätten sie Zeit genug gehabt, sich von der Zentrale in Brasilia Anweisungen geben zu lassen. Ich glaubte eine Weile, Praggler überreden zu können. Das ging nicht. Ich brüllte ihn dreißig Minuten an und flehte die nächste halbe Stunde. Nutzlos.

»An Ihrem Flugplan ist nichts auszusetzen«, gab er zu. »Was nicht in Ordnung ist, sind Sie. Sie haben kein Recht, Gateway-Anlagen zu benützen, weil die Gateway-Gesellschaft Sie gestern, während Sie in einer Umlaufbahn waren, enteignet hat. Selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, würde ich Sie nicht fliegen lassen, Robin. Sie sind persönlich zu stark beteiligt. Ganz zu schweigen davon, dass Sie für solche Dinge zu alt sind.«

»Ich bin ein erfahrener Gateway-Pilot!«

»Sie sind ein erfahrenes Brechmittel, Robin. Und vielleicht auch ein bisschen verrückt. Was, glauben Sie, könnte ein Einzelner im Hitschi-Himmel ausrichten? Nein. Wir benutzen Ihren Plan. Wir bezahlen Ihnen sogar Tantiemen dafür – wenn er erfolgreich ist. Aber wir machen es richtig, von Gateway aus, mit mindestens drei Schiffen, zwei voll junger, gesunder, bis an die Zähne bewaffneter Draufgänger.«

»Senator«, flehte ich, »lassen Sie mich fliegen! Wenn Sie den Computer nach Gateway bringen, dauert es Monate … Jahre!«

»Nicht, wenn wir ihn mit dem Fünfer-Schiff hinaufschicken«, sagte er. »Sechs Tage. Dann kann es sofort wieder starten, im Konvoi. Aber nicht mit Ihnen. Allerdings«, fügte er vernünftig hinzu, »bezahlen wir Sie auf jeden Fall für den Computer und das Programm. Geben Sie sich damit zufrieden, Robin. Lassen Sie andere die Risiken übernehmen. Ich sage das als Ihr Freund.«

Nun, er war mein Freund, und wir wussten es beide, aber vielleicht doch kein solcher Freund mehr wie vorher, nachdem ich ihm erklärt hatte, was er mit seiner Freundschaft tun könne. Schließlich zog Bover mich weg. Ich sah den Senator zuletzt an der Schreibtischkante sitzen und mir nachstarren, das Gesicht immer noch puterrot vor Zorn, ein Ausdruck in den Augen, als wollte er weinen.

»Das ist Pech, Mr. Broadhead«, sagte Bover mitfühlend.

Ich holte tief Luft, um auch ihm Bescheid zu sagen, dann beherrschte ich mich gerade noch. Es war sinnlos.

»Ich besorge Ihnen einen Flugschein zurück nach Kourou«, sagte ich.

Er lächelte und zeigte vollkommen geformte Zähne – er hatte von dem Geld etwas für sich ausgegeben.

»Sie haben mich reich gemacht, Mr. Broadhead. Ich kann meinen Flug selbst bezahlen. Außerdem bin ich noch nie hier gewesen und werde kaum noch einmal herkommen, deshalb möchte ich noch bleiben.«

»Wie Sie wollen.«

»Und Sie, Mr. Broadhead? Was haben Sie für Pläne?«

»Gar keine.« Mir fielen auch keine ein. Meine Programmierung war abgelaufen. Ich kann keinem Menschen erklären, wie leer man sich da fühlt. Ich hatte mich aufgerafft zu einem weiteren Flug mit einem Hitschi-Rätselschiff – nun, es war wohl kein solches Rätsel mehr wie damals, als ich von Gateway aus auf Erkundungsfahrt gegangen war. Aber trotzdem eine recht erschreckende Aussicht. Ich hatte bei Essie einen Schritt getan, vor dem ich mich lange gefürchtet hatte. Und alles für nichts.

Ich starrte reumütig durch den langen, leeren Tunnel, der zu den Docks führte.

»Vielleicht schieße ich mir den Weg frei«, sagte ich.

»Mr. Broadhead! Das ist … das ist …«

»Ach, keine Sorge. Das mache ich nicht, vor allem deshalb nicht, weil alle Waffen, von denen ich weiß, schon im Fünfer-Schiff verladen sind. Und ich bezweifle, dass man mich hineinlässt, damit ich mir eine hole.«

Er starrte mir ins Gesicht.

»Hm«, meinte er zweifelnd, »vielleicht möchten Sie auch ein paar Tage hier …«

Dann veränderte sich seine Miene.

Ich sah es kaum; ich fühlte, was er fühlte, und das genügte, um meine ganze Aufmerksamkeit zu beanspruchen. Der alte Peter lag wieder im Kokon. Schlimmer als je zuvor. Es waren nicht nur seine Träume und Hirngespinste, die ich erlebte – die jeder spürte, der lebendig war. Es war Qual. Verzweiflung. Wahnsinn. Ein grauenhaftes Druckgefühl an den Schläfen, ein flammender Schmerz, der von Armen und Brust hochloderte. Meine Kehle war trocken, dann wund von säuerlichen Klumpen, als ich mich erbrach.

Noch nie war etwas in dieser Art von der Nahrungsfabrik gekommen.

Aber im Kokon war vorher auch noch niemand gestorben. Es hörte nicht nach einer Minute auf, auch nach zehn nicht. Ich saugte verzweifelt und gierig Luft in die Lungen. Wie Bover auch. Wie alle anderen. Die Qual hielt an, und jedes Mal, wenn sie eine bestimmte Stärke erreicht zu haben schien, gab es eine neue Explosion von Schmerzen, und die ganze Zeit über das Entsetzen, die Wut, das furchtbare Elend eines Mannes, der wusste, dass er starb, und es hasste.

Aber ich wusste, was es war.

Ich wusste, was es war, und ich wusste, was ich tun konnte – jedenfalls, was mein Körper tun konnte, wenn ich nur meinen Verstand fest genug zusammenzuhalten vermochte, um es zu schaffen. Ich zwang mich, einen Schritt zu tun, und noch einen. Ich trieb mich durch den weiten, langen Korridor, während Bover sich hinter mir am Boden wand und die Wachen vor mir völlig hilflos umhertaumelten. Ich wankte an ihnen vorbei und bezweifelte, dass sie mich überhaupt sahen, hinein in die schmale Lukenöffnung der Landekapsel, ich stürzte zerschlagen und durchgerüttelt hindurch, zwang mich, den Deckel über mir zu verriegeln.

Und da war ich, in dem vertrauten, katastrophal kleinen Loch, umgeben von Umrissen aus gewölbtem hellbraunem Kunststoff. Walthers hatte seine Arbeit wenigstens getan. Ich konnte ihn nicht dafür entlohnen, aber wenn er seine Hand in die Luke gesteckt hätte, kurz bevor ich sie schloss, hätte ich ihm eine Million gegeben.

Irgendwann starb der alte Peter Herter. Mit seinem Tod hörte die Qual nicht auf. Sie ging nur langsam zurück. Ich hätte nicht erraten können, wie es sein würde, sich im Gehirn eines Mannes zu befinden, während er spürt, wie sein Herz stillsteht und die Gewissheit des Todes in sein Hirn sticht. Es dauert viel länger, als ich für möglich gehalten hätte. Es dauerte die ganze Zeit an, während ich das Schiff startete und mit den kleinen Wasserstoffdüsen dorthinauf jagte, wo der Hitschi-Antrieb wirksam wurde. Ich riss und stemmte die Räder für die Kurseinstellung herum, bis sie das wohl einstudierte Muster zeigten, das Albert mich gelehrt hatte. Dann drückte ich die Startwarze und war unterwegs. Das ruckartige, unbehagliche Stoßen der Beschleunigung begann. Die Sternbilder, die ich gerade noch sehen konnte, wenn ich mir den Hals an einem Speichergerät verrenkte, begannen zu verschwimmen. Niemand konnte mich jetzt mehr aufhalten. Nicht einmal ich selbst.


Nach allen Daten, die Albert hatte sammeln können, würde der Flug genau zweiundzwanzig Tage dauern. Nicht sehr lange – es sei denn, man ist in ein Raumschiff gezwängt, das bereits vollgestopft war. Es gab Platz für mich – mehr oder weniger. Ich konnte mich ausstrecken. Ich konnte aufstehen. Ich konnte mich sogar hinlegen, wenn die wechselnde Schiffsbewegung mir zeigte, wo »unten« war, und es mir nichts ausmachte, zwischen Metallklötzen zusammengefaltet zu sein. Was ich die ganzen zweiundzwanzig Tage lang nicht tun konnte, war, in irgendeiner Richtung mich mehr als einen halben Meter weit zu bewegen – nicht zum Essen, nicht zum Schlafen, nicht zum Baden oder Kacken; zu gar nichts.

Ich hatte Zeit genug, um daran zu denken, wie erschreckend der Hitschi-Flug war, und alles von neuem zu erleben.

Es gab auch Zeit genug zum Lernen. Albert hatte darauf geachtet, alle Daten für mich aufzuzeichnen, nach denen ihn zu fragen ich nicht klug genug gewesen war, und diese Bänder lagen zum Abspielen für mich bereit. Sie waren nicht sehr interessant oder von guter Wiedergabequalität. Der PMAL-2 war nur ein Speicher: viel Gehirn, minimales Display. Es gab keinen dreidimensionalen Tank, nur ein Flachstereo-Brillensystem – wenn meine Augen es ertrugen – oder einen Bildschirm von der Größe meiner Handfläche, wenn das nicht möglich war.

Zunächst benützte ich das alles nicht. Ich lag einfach da und schlief, so viel ich konnte. Zum Teil erholte ich mich von dem Trauma von Peters Tod, der auf so grauenhafte Weise meinem eigenen geglichen hatte. Zum Teil experimentierte ich mit dem Inneren meines Schädels – ich erlaubte mir, Angst zu fühlen (wozu ich jeden Anlass hatte!), ermutigte mich, Schuldbewusstsein zu empfinden. Es gibt Arten von Schuldbewusstsein, von denen ich weiß, dass ich sie pflege: die Betrachtung unerfüllter Verpflichtungen und zurückgezogener Versprechungen. Da hatte ich Stoff zum Nachdenken genug, beginnend mit Peter (der fast mit Gewissheit noch am Leben gewesen wäre, wenn ich ihn nicht für diese Expedition genommen hätte) und schließend, oder nicht schließend, mit Klara in ihrem erstarrten Schwarzen Loch – nicht schließend, weil ich immer noch andere wusste. Diese Belustigung wurde bald schal. Zu meiner Überraschung kam ich dahinter, dass das Schuldbewusstsein gar nicht so überwältigend war, wenn ich es erst einmal herausließ; und damit war der erste Tag überstanden.

Dann beschäftigte ich mich mit den Bändern. Ich ließ mich von dem halben Albert, dem starren, nur halb belebten Zerrbild des Programms, das ich kannte und liebte, über Machs Prinzip belehren, über flotte Zahlen und seltsamere Formen astrophysikalischer Überlegungen, als ich sie mir je hätte träumen lassen. Ich hörte nicht richtig zu, ließ die Stimme aber über mich hinwegtönen, und das war der zweite Tag.

Dann schlürfte ich aus derselben Quelle, was über die Toten Menschen gespeichert war. Ich hatte schon vorher fast alles davon gehört. Ich hörte alles noch einmal. Ich hatte nichts Besseres zu tun, und das war der dritte Tag.

Dann gab es verschiedene Vorträge über den Hitschi-Himmel und die Herkunft der Alten und mögliche Strategien für den Umgang mit Henrietta und mögliche Gefahren von den Alten, gegen die man sich schützen musste, und das war der vierte Tag und der fünfte und sechste.

Ich begann mich zu fragen, wie ich davon zweiundzwanzig Stück ausfüllen sollte, also ließ ich mir alle Bänder noch einmal vorspielen, und das war der siebte Tag und der zehnte, und am elften …

Am elften schaltete ich den Computer ganz ab und grinste in freudiger Erwartung.

Der Tag des Wendepunkts. Ich hing in meinen Gurten und wartete auf die Befriedigung des einen Ereignisses, das dieser enge und vermaledeite Flug mir bringen konnte: den flirrenden Ausbruch goldener Lichtfunken in der Kristallspirale, die den Wendepunkt anzeigte. Ich wusste nicht genau, wann das eintreten würde. Vermutlich nicht in der ersten Stunde des Tages (so war es auch). Vermutlich auch nicht in der zweiten oder dritten … und so kam es. Nicht in diesen Stunden, auch nicht in der vierten, fünften oder denen danach. Es passierte am elften Tag überhaupt nicht.

Oder am zwölften.

Oder am dreizehnten.

Oder am vierzehnten; und als ich endlich die Daten eingab, um die Arithmetik zu überprüfen, die ich nicht im Kopf ausführen wollte, erklärte mir der Computer, was ich nicht zu wissen begehrte.

Es war zu spät.

Selbst wenn die Wende noch irgendwann eintrat – sogar in der nächsten Minute –, würde es nicht genug Wasser, Nahrung und Luft geben, um mich bis zum Ende durchhalten zu lassen.

Man kann sich einschränken. Das tat ich. Ich befeuchtete meine Lippen, statt zu trinken, schlief, so viel ich konnte, atmete so flach, wie es ging. Und endlich kam die Wendemarke – am neunzehnten Tag. Acht Tage zu spät.

Als ich die Zahlen in den Computer einspielte, kamen sie kalt und klar wieder.

Der Wendepunkt war zu spät gekommen. In neunzehn Tagen mochte das Schiff zwar im Hitschi-Himmel ankommen, aber nicht mit einem lebenden Piloten an Bord. Bis dahin würde ich mindestens schon sechs Tage tot sein.

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