Als der Postruf des Bordcomputers schrillte, war Peter auf der Stelle hellwach. Es war ein Vorteil des Alters, dass man nur leicht schlief und sofort wach wurde. Viele Vorteile gab es nicht. Er stand auf, spülte sich den Mund, urinierte in die Toilettenanlage, wusch sich die Hände und nahm zwei Päckchen Nahrung mit zum Terminal.

»Zeig mir die Post jetzt«, befahl er und kaute etwas, das wie sauer gewordenes Roggenbrot schmeckte, in Wirklichkeit aber ein süßes Brötchen sein sollte.

Als er die Post sah, verschwand seine gute Laune. Das meiste bestand aus endlosen Anweisungen. Sechs Briefe für Janine, je einer für Paul und Dorema und für ihn nur eine Bittschrift, gerichtet »An den Schwarzen Peter«, unterschrieben von achtunddreißig Schulkindern aus Dortmund, in der er angefleht wurde, zurückzukommen und ihr Bürgermeister zu werden.

»Dumme Gans!«, schalt er den Computer. »Warum weckst du mich für diesen Mist?«

Vera antwortete nicht, weil er ihr keine Zeit gab, ihn zu identifizieren und in ihren trägen Magnetblasen nach seinem Namen zu suchen. Er beklagte sich heftig: »Und das Essen ist ein Schweinefraß! Befass dich sofort damit!«

Die arme Vera löschte den Versuch, seine erste Frage zu bewältigen, und befasste sich geduldig mit der zweiten.

»Das Verarbeitungssystem ist unterhalb optimaler Massenpegel tätig«, sagte sie, »… Mr. Herter. Außerdem sind meine Prozessoren seit geraumer Zeit überlastet. Viele Programme sind zurückgestellt worden.«

»Stell das mit der Nahrung nicht mehr zurück«, fauchte er, »sonst bringst du mich um, und die Sache hat ein Ende.« Er verlangte düster die Wiedergabe der Anweisungen, während er sich zwang, den Rest seines Frühstücks zu kauen. Zehn Minuten lang las er mit. Was für großartige Ideen man hatte, daheim auf der Erde! Er ließ den Rest ablaufen, ohne hinzublicken, während er sorgfältig sein altes, rosiges Gesicht rasierte und seine schütteren Haare kämmte. Und weshalb war das Verarbeitungssystem nicht aufgefüllt? Weil seine Töchter und ihre Begleiter sich selbst und damit ihre nützlichen Nebenprodukte entfernt hatten. Und dazu das ganze Wasser, das Wan aus dem System gestohlen hatte. Gestohlen! Ja, es gab kein anderes Wort dafür. Außerdem hatten sie das mobile Bioprüfgerät mitgenommen, sodass nur noch die Prüfanlage in der Toilette auf seine Gesundheit achten konnte, und was verstand die von Fieber oder Herzrhythmusstörungen, wenn er das eine oder andere bekommen sollte? Außerdem hatten sie alle Kameras bis auf eine mitgenommen, sodass er diese überall mitschleppen musste. Und dann hatten sie noch …

Sie hatten selbst das Weite gesucht, und der Schwarze Peter war zum ersten Mal in seinem ganzen Leben allein, ganz allein.

Er war nicht nur allein, er besaß auch keine Möglichkeit, daran etwas zu ändern. Wenn seine Familie zurückkam, dann erst, wenn sie es für angebracht hielt, und keinen Augenblick früher. Bis dahin war er ein Ersatzgerät, ein Wachsoldat, ein Hilfsprogramm.

In seinem langen Leben hatte Peter sich Geduld beigebracht, aber nie gelernt, das zu genießen. Es machte einen verrückt, warten zu müssen. Fünfzig Tage dauerte eine Antwort von der Erde auf seine völlig vernünftigen Vorschläge und Fragen. Beinahe ebenso lang musste er darauf warten, dass seine Familie und dieser Flegel dort ankamen, wo sie hinwollten (falls sie jemals hingelangten), und sich bei ihm meldeten (falls sie sich überhaupt dazu aufzuschwingen beliebten). Das Warten war nicht so schlimm, wenn man noch genug Lebensjahre vor sich hatte. Aber wie viele blieben ihm noch, wenn man es genau nahm? Angenommen, er erlitt einen Schlaganfall. Angenommen, er bekam Krebs. Angenommen, irgendetwas in dem komplizierten Zusammenspiel, das sein Herz am Schlagen und sein Blut am Fließen, seine Eingeweide in Bewegung und sein Gehirn am Denken hielt, fiel aus? Was dann?

Und eines Tages würde das gewiss der Fall sein, denn Peter war alt. Er hatte so oft ein falsches Alter angegeben, dass er selbst nicht mehr genau wusste, welches das richtige war. Nicht einmal seine Kinder wussten es; die Geschichten, die er über die Jugend seines Großvaters erzählt hatte, betrafen in Wirklichkeit seine eigene. Das Alter an sich spielte keine Rolle. Medizinischer Vollschutz bewältigte alles, Instandsetzung oder Ersatz, solange es nicht das Gehirn selbst war, das Schäden erlitt. Und Peters Gehirn war in bester Verfassung – hatte es nicht geplant und intrigiert, um ihn hierher zu bringen?

Aber »hier« gab es keinen medizinischen Vollschutz, und das Alter begann eine große Rolle zu spielen.

Er war kein Junge mehr! Aber er war einer gewesen, und selbst damals hatte er schon gewusst, dass er auf irgendeine Weise, irgendwann, genau das besitzen würde, was er jetzt hatte: den Schlüssel zu den innigsten Wünschen. Bürgermeister von Dortmund? Das war gar nichts! Der magere, junge Peter, kleinster und jüngster Pimpf in der Hitlerjugend, aber trotzdem rasch ein Führer, hatte sich vorgenommen, dass er viel mehr bekommen würde. Er hatte sogar gewusst, dass es etwas in dieser Art sein würde, dass sich ein enormer Zukunftsplan auftun musste und dass er allein imstande sein würde, das in die Hand zu nehmen, es zu schwingen wie eine Axt, eine Sense, um zu bestrafen oder zu ernten oder die Welt umzugestalten. Nun, hier war es! Und was machte er damit? Er wartete. So war es nicht gewesen in den Jugendgeschichten von Gail und Dominik und Verne, dem Franzosen. Die Figuren in diesen Geschichten verausgabten sich nicht so rückgratlos.

Aber was sollte man schließlich tun?

Während er also darauf wartete, dass diese Frage sich von selbst beantwortete, machte er weiterhin seine täglichen Runden. Er aß am Tag vier leichte Mahlzeiten, jede zweite aus CHON-Nahrung bestehend, und diktierte Vera methodisch seine Eindrücke von Geschmack und Beschaffenheit. Er befahl Vera, aus einzelnen Komponenten von Sensorgeräten, die man entbehren konnte, ein neues mobiles Bioprüfgerät zu konstruieren, und arbeitete an seinem Zusammenbau, sobald sie Zeit gefunden hatten, Teilentwürfe fertig zu stellen. Er schwang jeden Morgen zehn Minuten lang die Hanteln, machte jeden Nachmittag eine halbe Stunde lang Turnübungen. Er wanderte methodisch durch jeden Tunnel in der Nahrungsfabrik und richtete seine Handkamera in jeden Winkel. Er verfasste lange Beschwerdebriefe an seine Vorgesetzten auf der Erde, besprach in Andeutungen die Vorteile eines Abbruchs der Mission und einer Rückkehr zur Erde, sobald er seine Familie zurückrufen konnte, wobei er einen oder zwei dieser Briefe sogar abschickte. Er schrieb erboste und herrische Anweisungen für seinen Rechtsanwalt in Stuttgart, natürlich verschlüsselte, verteidigte seine Position und verlangte eine Abänderung des Vertrages. Und vor allem plante er. Ganz besonders, was den Traumplatz anging.

Dieser Traumort mit seinem erstaunlichen Potenzial spielte in seinen Überlegungen eine große Rolle. Wenn er deprimiert und gereizt war, überlegte er sich, wie recht es der Erde geschähe, würde er die Liege instand setzen und Wan zurückrufen, damit er wieder für Fieberanfälle sorgte. Wenn er mit Kraft und Entschlossenheit geladen war, ging er hin und betrachtete sie. Der Deckel hing an einem Ziervorsprung einer Wand, Gelenke und Verschlüsse trug er in seiner Gürteltasche stets bei sich. Wie leicht es wäre, ein Schweißgerät zu holen, alles abzubauen, das Schiff damit vollzustopfen, das Nachrichtensystem der Toten Menschen beizupacken (und was es an Gütern und Schätzen sonst noch gab), um mit der Rakete Richtung Erde zu starten, in die lange, abwärts führende Spirale einzutreten, die ihm das bringen musste … Was würde sie ihm bringen? Gott im Himmel, was nicht! Ruhm! Macht! Reichtum! Alles, was ihm gebührte – ja, und sein rechtmäßiges Eigentum, wenn er nur rechtzeitig zurückkam, um alles zu genießen.

Es machte ihn krank, darüber nachzudenken. Und die ganze Zeit über tickte und tickte die Uhr. Jede Minute rückte er dem Ende seines Lebens eine Minute näher. Jede Sekunde des Wartens war eine Sekunde, von der glücklichen Zeit der Größe und des Luxus geraubt, die er sich verdient hatte. Er zwang sich zu essen, während er am Rand seines Privatabteils saß und sehnsüchtig auf die Schiffssteuerung blickte.

»Das Essen ist überhaupt nicht besser geworden, Vera!«, rief er anklagend.

Das vermaledeite Ding antwortete nicht.

»Vera! Du musst dich um das Essen kümmern!«

Sie rührte sich immer noch nicht, mehrere Sekunden lang.

Und dann sagte sie nur: »Augenblick, bitte … Mr. Herter.« Es konnte einem übel werden dabei. Er fühlte sich gar nicht gut, blickte feindselig auf die Nahrung, die er beharrlich hinuntergewürgt hatte, angeblich eine Art Schnitzel oder das, was Vera mit ihren begrenzten Fähigkeiten in dieser Richtung zustande brachte. Es schmeckte entweder nach Whisky oder nach Sauerkraut oder nach beidem gleichzeitig. Er stellte den Teller auf den Boden.

»Ich fühle mich nicht wohl«, erklärte er.

Pause.

»Augenblick, bitte … Mr. Herter.«

Die arme, dumme Vera verfügte nur über eine begrenzte Kapazität. Sie bearbeitete einen Schwall Nachrichten von der Erde, versuchte ein Gespräch mit den Toten Menschen über ÜLG-Funk zu führen, ihre ganze Telemetrie zu kodieren und zu übertragen – alles auf einmal. Sie hatte einfach keine Zeit für seine Unpässlichkeit. Aber seine zunehmende Unruhe ließ sich nicht beschwichtigen; ein plötzliches Zusammenlaufen des Speichels unter der Zunge, ein Zucken des Zwerchfells. Er erreichte mit Müh und Not die Toilette und gab dort alles von sich, was er gegessen hatte. Zum letzten Mal, schwor er. Er wollte nicht so lange leben, dass er zusehen musste, wie diese gottverdammten organischen Verbindungen verarbeitet wurden, damit sie noch einmal durch sein Inneres gehen durften. Als er sicher war, sich nicht mehr übergeben zu müssen, marschierte er zur Konsole und drückte die Korrekturtasten.

»Alle Funktionen in Bereitschaft bis auf diese«, sagte er. »Sofort meine Bioprüfung.«

»Sehr wohl«, sagte sie sofort, »… Mr. Herter.« Einen Augenblick lang blieb es still, während das Gerät in der Toilette aus dem, was Peter eben abgegeben hatte, zu entnehmen versuchte, was mit ihm los war. »Sie leiden an Lebensmittelvergiftung«, teilte sie mit, »… Mr. Herter.«

»So! Das weiß ich bereits! Was soll dagegen geschehen?«

Pause, während ihr Minigehirn das Problem drehte und wendete.

»Wenn Sie dem System Wasser zuführen könnten, wären Gärung und Verarbeitung unter besserer Kontrolle«, sagte sie, »… Mr. Herter. Mindestens hundert Liter. Infolge der Verdunstung in dem viel größeren Raumvolumen, das jetzt zur Verfügung steht, hat es starke Verluste gegeben, und dazu kommt, dass die Vorräte fehlten, die für den Rest Ihrer Gruppe abgezweigt wurden. Ich empfehle, dass Sie das System so rasch wie möglich mit verfügbarem Wasser auffüllen.«

»Aber das können nicht einmal die Schweine trinken!«

»Die löslichen Stoffe stellen ein Problem dar«, bestätigte sie. »Ich empfehle deshalb, dass mindestens die Hälfte von zugeführtem Wasser vorher destilliert wird. Das System sollte den Rest der löslichen Stoffe bewältigen können … Mr. Herter.«

»Gott im Himmel! Soll ich aus dem Nichts einen Destillierapparat bauen und auch noch Wasserträger werden? Und was ist mit dem mobilen Bioprüfgerät, damit so etwas nicht wieder vorkommt?«

Vera ging kurz die Fragen durch.

»Ja, ich glaube, das wäre günstig«, meinte sie. »Wenn Sie wollen, lege ich Baupläne vor. Außerdem … Mr. Herter, sollten Sie erwägen, ob Sie sich bei Ihrem Speiseplan nicht stärker auf CHON-Nahrung verlassen wollen, da Sie dabei keine nachteiligen Wirkungen zu verspüren scheinen.«

»Abgesehen davon, dass sie schmeckt wie Hundekuchen«, erwiderte er verächtlich. »Nun gut, stell die Baupläne sofort fertig. Ausdrucke, wobei vorhandenes Material zu verwerten ist, verstehst du?«

»Ja … Mr. Herter.« Der Computer verstummte für einige Zeit, ging überschüssiges Material und Bauteile durch, suchte nach Anschlüssen, die den Bau übernehmen konnten. Es war für Veras begrenztes Gehirn eine schwere Aufgabe. Peter füllte einen Becher mit Wasser, spülte den Mund, wickelte grimmig eine der am wenigsten unappetitlichen CHON-Tafeln aus und biss versuchsweise eine Ecke ab. Während er abwartete, ob er sich noch einmal übergeben musste, befasste er sich mit der Gefahr, dass er hier wirklich sterben musste, und das völlig allein. Er besaß nicht einmal die Möglichkeit, die er sich offen halten zu können geglaubt hatte, alles hinter sich zu lassen und allein zur Erde zurückzukehren – zumindest so lange nicht, bis er, wie aufgefordert, Wasser nachgefüllt und alles getan hatte, um dafür zu sorgen, dass nichts sonst schief gehen konnte.

Und doch wurde diese Vorstellung mit jedem Tag verlockender …

Gewiss, das hieß, dass er seine Töchter und seinen Schwiegersohn als Gestrandete zurückließ.

Aber würden sie denn jemals zurückkommen? Angenommen, sie taten es nicht. Angenommen, der rüpelhafte Bursche drehte den falschen Schalter oder hatte keinen Treibstoff mehr. Angenommen also, sie starben. Musste er dann hier verwelken, bis er auch tot war? Und was sollte das der Menschheit nützen, wenn er hier zugrunde ging und man mit einer neuen Besatzung wieder von vorn anfangen musste … und er, der Schwarze Peter, um seine Belohnung betrogen, um Ruhm, um Macht, um das Leben selbst?

Oder gab es eine andere Wahl? Diese verdammte Nahrungsfabrik, die so unbeirrt ihrem Kurs folgte. Was, wenn er die Steuerung fand? Was, wenn er lernte, die Richtung zu verändern, damit sie ihn nicht in drei Jahren und länger, sondern sofort, innerhalb von Tagen, zur Erde brachte? Gewiss, dann war das Schicksal seiner Familie besiegelt, nicht wahr? Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht würden sie, wenn sie überhaupt zurückkehrten, zur Nahrungsfabrik zurückkommen, egal wo sie sein mochte. Selbst in einer engen Umlaufbahn um die Erde! Und wie herrlich dann jedermanns Probleme auf einen Schlag gelöst wären!

Er warf den Rest der Packung in die Toilette, um sie dem Speicher für organische Materie zuzuführen.

»Du bist verrückt, Peter«, hielt er sich vor. Der Makel dieser Vorstellung ließ sich nicht übersehen; er hatte alles abgesucht und die Steuerung der Nahrungsfabrik nicht gefunden.

Das Rattern des Druckers rettete ihn vor seinen Gedanken. Er zog die Blätter aus der Maschine und überflog sie stirnrunzelnd. So viel Arbeit! Mindestens zwanzig Stunden! Und nicht nur die Zeit, sondern auch noch so viel schwere körperliche Arbeit! Er würde in den Weltraum hinaus müssen, um Rohre von den Stützen hereinzuholen, mit denen die Hilfssender befestigt waren, sie abschneiden und ins Innere tragen; erst dann konnte er anfangen, sie zusammenzuschweißen und zu einer Spirale zu formen. Und das nur für den Kondensator des Destillierapparats! Er bemerkte, dass er zu zittern anfing.

Er kam gerade noch rechtzeitig auf die Toilette.

»Vera«, krächzte er. »Ich brauche Medikamente dafür.«

»Sofort … Mr. Herter. Im Sanitätskasten finden Sie Tabletten mit der Bezeichnung …«

»Idiotin! Der Sanitätskasten ist mit nach Wolkenkuckucksheim geflogen!«

»Ach ja … Mr. Herter. Augenblick. Ja. Ich habe für Sie geeignete Medikamente programmiert. Es wird etwa zwanzig Minuten dauern, bis sie hergestellt sind.«

»In zwanzig Minuten bin ich tot«, zischte er. Aber es war nichts zu ändern, und er saß zwanzig Minuten herum und kochte innerlich, während der Druck in ihm stieg und stieg. Krankheit, Hunger, Einsamkeit, Überarbeitung, Groll, Angst. Zorn! Darauf lief am Ende alles hinaus. Zorn! Viele Vektoren. Eine Vektorsumme. Bis Veras Spender die Pillen ausspuckte, hatte der Zorn alles andere überwältigt. Er schluckte sie gierig und zog sich in sein Privatabteil zurück, um zu sehen, was geschehen würde.

Tatsächlich schienen sie zu wirken. Er ließ sich zurücksinken, als das Feuer in seinem Bauch nachließ, und schlief ein.

Als er wach wurde, fühlte er sich wenigstens körperlich besser. Er wusch sich, putzte sich die Zähne, bürstete seine schütteren blonden Haare und bemerkte erst dann den Christbaum von blinkenden Lichtern an Veras Konsole, die seine Aufmerksamkeit zu erregen versuchten. Auf dem Bildschirm standen in großen, roten Lettern die Worte:

ERBITTE DRINGEND ERLAUBNIS


ZUR RÜCKKEHR IN NORMALZUSTAND

Er lachte leise in sich hinein. Er hatte vergessen, die Korrekturschaltung abzustellen. Als er den Computer anwies weiterzumachen, gab es einen irren Ausbruch von Alarmglocken und Signallampen, einen Schwall von Papier aus dem Drucker, und dazu ertönte eine Stimme. Die seiner älteren Tochter, aus dem Speicher Veras: »Hallo, Paps. Tut uns Leid, dass wir dich nicht erreichen konnten, um dir zu sagen, dass wir sicher gelandet sind. Wir sehen uns jetzt um. Unterhalten können wir uns später.«


Weil Peter Herter seine Familie liebte, überflutete die Freude über ihre sichere Ankunft sein Herz und hielt ihn aufrecht – mehrere Stunden lang. Fast zwei Tage. Aber in einer Atmosphäre von Ärgernissen und Sorgen gedeiht die Freude nicht. Er sprach mit Lurvy – zweimal; jedes Mal nicht länger als dreißig Sekunden. Mehr schaffte Vera einfach nicht. Vera war noch mehr überfordert als Peter, verschlankt und umgebaut, wie sie war, wenn sie die Kommunikation zwischen dem Hitschi-Himmel und der Erde bewältigen musste und dringende Befehle zurückzustellen hatte, sobald noch dringlichere Anweisungen eintrafen. Die eine Sprechverbindung mit dem Hitschi-Gebilde konnte das auferlegte Volumen nicht bewältigen, und bloßes Geplauder zwischen Vater und Tochter war nicht zulässig.

Das war nicht ungerecht, gab Peter zu. Was für wundersame Dinge sie fanden! Was ungerecht erschien, war allein, dass er weitab vom Schuss saß. Was ungerecht erschien, war, dass Vera bei der ganzen dringenden und sinnvollen Arbeit die Zeit fand, ihm haufenweise Befehle zu übermitteln, die ihm persönlich galten. Keiner davon war vernünftig. Manche konnten gar nicht ausgeführt werden. Die Triebwerke umbauen. CHON-Nahrung auflisten. Sofort vollständige Analyse von Päckchen mit den Maßen 2 x 3 x 12,5 cm in roten und lavendelblauen Verpackungen. Keine überflüssigen Analysen einreichen. Metallurgische Analyse »Traumliege« übermitteln. Keine Untersuchung von Hand an »Traumliege«. Tote Menschen über Hitschi-Antrieb befragen! Wie leicht das zu befehlen war! Wie schwer auszuführen, wenn sie salbaderten und schimpften und faselten und sich beklagten, sobald er sie überhaupt zum Sprechen bringen konnte. Manche Befehle von der Erde widersprachen anderen, und die meisten kamen ganz ungeordnet daher, mit überholten Dringlichkeitsstufen. Und manche trafen überhaupt nicht ein. Die Speicherschaltungen der armen Vera waren bald überlastet, und sie versuchte unnötige Daten loszuwerden, indem sie diese für ihn ausdruckte, damit er sich auf irgendeine Weise damit befasste. Doch das schuf neue Probleme, weil das Verarbeitungssystem, das die Druckrollen versorgte, dasselbe war, das ihn ernährte, und weil die organischen Stoffe schon zu knapp waren. Peter musste also die Toilette öffnen und CHON-Nahrung hineinschütten, um sich dann wieder an den Bau des Destillierapparates zu machen.

Auch wenn Vera Zeit für ihn hatte, konnte er ihr keine widmen. Sich in den Raumanzug zwängen. Durch die Luftschleuse hinaus zur Außenhülle. Rohre abtrennen und zusammenbinden. Schwitzend ins Schiff zurückschleifen, immer gegen den störrischen Schub der Nahrungsfabrik, der einen rasend machte, während sie irgendwohin flog. Er konnte Zeit nur für einen gelegentlichen Blick auf die Bilder erübrigen, die vom Hitschi-Himmel eintrafen. Vera zeigte sie, wie sie kamen, ein Bild nach dem anderen; aber dann wurde jedes entfernt, um Platz für das nächste zu schaffen, und wenn Peter nicht davor stand und sie betrachtete, blieben sie ungesehen. Trotz alledem – was für ein Wunder! Die Toten Menschen. Die Korridore des Hitschi-Himmels. Die Alten – Peter blieb beinahe das Herz stehen, als er das große, breite Gesicht eines Alten auf dem Schirm betrachtete. Aber er hatte nur einen Augenblick Zeit, dann war der Apparat fertig, und er musste sich der nächsten Aufgabe widmen. Sich ein Joch für die Schultern bauen. Plastikbahnen zusammenheften (wieder eine Belastung für den Verarbeiter!), um Eimer herzustellen. Ungeduldig an der einen funktionierenden – gerade noch funktionierenden! – Wasserquelle sitzen, die biegsame Scheibe an den Hahn halten und das übel riechende Getröpfel in den Säcken auffangen. Das Wasser zurückschleppen, die Hälfte in den Destillierapparat, die andere in die Verarbeitungstanks. Schlafen, wann er konnte. Essen, wenn er sich dazu zu zwingen vermochte. Sich um seine eigenen Bedürfnisse kümmern, wenn sie sich meldeten. Noch eine Nachricht aus Dortmund, diesmal von dreihundert Angestellten der Stadt – wie dumm Vera war, dass sie solchen Mist annahm! Eine verschlüsselte Mitteilung seines Rechtsanwalts, die eine halbe Stunde lang dechiffriert werden musste. Und dann stand da nur: »Versuche günstigere Bedingungen auszuhandeln. Kann nichts versprechen. Empfehle inzwischen, dass Sie sich an alle Anweisungen halten.« Was für ein Trottel! Peter setzte sich fluchend an die Konsole, hieb mit der Hand auf die Korrekturtaste und diktierte seine Antwort: »Wenn ich mich an alle Befehle halte, ist das mein Tod, und was dann?« Und er schickte das im Klartext; mochten Broadhead und die Gateway-Gesellschaft davon halten, was sie wollten.

Vielleicht war das auch gar nicht gelogen. Bei all der Belastung und Geschäftigkeit hatte Peter keine Zeit für Schmerzen und Unwohlsein. Er aß die CHON-Nahrung und, als neue Normalrationen aus dem Verarbeiter kamen, auch diese. Selbst wenn sie scheußlich schmeckten – manchmal nach Terpentin, manchmal nach Schimmel –, wurde er nicht krank. Ideal war das nicht. Peter wusste, dass er von Stress und Adrenalin lebte, und einmal würde das alles bezahlt werden müssen. Aber er sah keine Möglichkeit, das zu vermeiden.

Und als der Nahrungsverarbeiter endlich wieder halbwegs normal arbeitete und es ihm gelungen war, die offenbar dringlichsten Anweisungen auszuführen, saß er halb im Schlaf vor Veras Konsole und sah auf einmal das größte aller Wunder. Er zog verständnislos die Brauen zusammen. Was machte dieser schwachsinnige Junge mit einem Gebetsfächer? Warum steckte er ihn auf dem nächsten Bild in eines von diesen blöden Dingern, die wie Blumenvasen aussahen? Und dann entstand auf dem Schirm das nächste Bild, und Peter stieß einen lauten Schrei aus. Plötzlich war da ein Buch zu sehen – dem Anschein nach ein japanisches oder chinesisches.

Er war aus dem Schiff hinaus und schon halb zum Traumplatz gelaufen, bevor sein Bewusstsein ganz verarbeitet hatte, was ein anderer Teil von ihm sofort begriff. Die Gebetsfächer! Sie enthielten Informationen! Er stellte sich nicht die Frage, weshalb die Information in einer Erdensprache abgefasst war oder jedenfalls in einer, die danach aussah. Er hatte das Wesentliche begriffen. Er war entschlossen, sich das selbst anzusehen. Keuchend stürzte er in den Raum und scharrte wild unter den »Fächern«. Wie machte man das? Warum, in Dreiteufelsnamen, hatte er nicht abgewartet und sich mehr Bilder angesehen, um genau zu wissen, was er tat? Aber da waren die Kerzenhalter oder Blumenvasen oder wofür er sie sonst gehalten haben mochte; er rammte den ersten Gebetsfächer in die erstbeste Öffnung. Nichts rührte sich.

Er versuchte es mit sechs Fächern, schmales Ende zuerst, dickes Ende zuerst, alles, was ihm einfiel, bis er auf den Gedanken kam, dass vielleicht nicht alle Lesegeräte funktionierten. Und das zweite, bei dem er es versuchte, zog ihm den Fächer aus der Hand und erstrahlte auf der Stelle in hellem Licht. Er sah sechs Tänzer mit schwarzen Masken, in Trikots, und er hörte ein Lied, das er viele Jahre nicht gehört hatte.

Eine aufgezeichnete PV-Sendung! Nein. Nicht einmal das. Viel älter. Jahre älter, aus der Zeit kurz nach der Entdeckung des Gateway-Asteroiden; seine zweite Frau hatte noch gelebt, und Janine war noch nicht auf der Welt gewesen, als dieses Lied ein Hit war. Es handelte sich um schlichtes, altes Fernsehen, bevor man die piezoelektrischen Schaltungen der Hitschi in Kommunikationssystemen menschlicher Wesen verwendet hatte. Die Aufzeichnung gehörte vielleicht zur Bibliothek eines Gateway-Prospektors, ohne Zweifel eines der Toten Menschen, und war auf irgendeine Weise in dem Gebetsfächer gespeichert worden.

Was für ein Betrug!

Aber dann fiel ihm ein, dass es tausende von Gebetsfächern gab, auf der Erde, in den Tunnels der Venus, auch auf Gateway selbst. Wo die Hitschi auch gewesen waren, hatten sie die Fächer hinterlassen. Woher dieser auch stammen mochte, die meisten von den anderen mussten von den Hitschi selbst zurückgelassen worden sein. Und das war allein schon … du lieber Gott, das allein war sogar mehr wert als die Nahrungsfabrik, denn es war der Schlüssel zum ganzen Wissen der Hitschi. Was würde das für eine Prämie geben!

Peter versuchte es frohlockend mit einem anderen Fächer (alter Kinofilm), mit noch einem (dünner Band Lyrik, diesmal in Englisch, von einem gewissen Eliot) und noch einem: wie widerlich! Wenn Wan seine Vorstellungen von der Liebe daher hatte, von einem geilen Gateway-Prospektor, der Pornographie mitführte, um sich die Zeit zu vertreiben, brauchte man sich über sein grauenhaftes Benehmen nicht zu wundern. Aber lange konnte Peter nicht zornig bleiben, weil es zu viel gab, worüber er sich freuen konnte. Er riss den Fächer aus dem Lesegerät, dann hörte er in der Stille das ferne leise Signal von Veras Alarmglocke.

Es klang erschreckend, noch bevor er ins Schiff zurückkam, noch bevor er die Nachricht anforderte und die Stimme seines Schwiegersohnes, krächzend vor Angst, sagen hörte:

»Dringend, oberste Priorität! Für Peter Herter und sofortige Weitergabe an die Erde! Lurvy, Janine und Wan sind von den Hitschi überwältigt worden, und ich glaube, die sind jetzt hinter mir her!«


Der Vorteil dieser neuen Situation, und ihr einziger, war der, dass nun, weil keine Mitteilungen vom Hitschi-Himmel mehr kamen, Vera ihre Überbelastung besser verkraften konnte. Peter entlockte ihr geduldig alle Bilder, die vor Pauls Mitteilung übertragen worden waren, und sah den Knäuel Hitschi am Ende des Korridors, das undeutlich erkennbare Handgemenge, die Decke des Korridors, etwas, das Wans Hinterkopf sein mochte – und dann nichts mehr. Oder nichts, was Sinn gemacht hätte. Peter konnte nicht wissen, dass die Kamera in die Bluse eines der Alten gestopft worden war, aber er konnte sehen, dass nichts zu sehen war: verschwommene, schattenhafte Umrisse, vielleicht die Andeutung einer Stoffstruktur.

Peters Gehirn war klar. Aber auch leer. Er ließ das Gefühl nicht hochkommen, wie leer sein Leben schlagartig geworden war. Er programmierte Vera sorgfältig darauf, die gesprochenen Mitteilungen durchzugehen und die bedeutsamen auszuwählen, dann hörte er sie sich an. Nichts brachte Hoffnung. Nicht einmal dann, als endlich ein neues Bild auf dem Schirm erschien, dann noch eines und noch eines. Ein halbes Dutzend Einstellungen lang gab es nichts, was sinnvoll erschienen wäre, vielleicht eine Faust auf dem Objektiv, vielleicht die Aufnahme eines nackten Fußbodens. Dann, in einer Ecke des letzten Bildes, etwas, das aussah wie … was? Wie ein Sturmkampfwagen aus seiner frühesten Kindheit? Aber dann war es wieder verschwunden, und die Kamera war abermals dort hingestellt worden, wo sie gar nichts zeigte, und so blieb das fünfzig Aufnahmen lang.

Was sie auffällig nicht zeigte, war irgendeine Spur von einer seiner Töchter oder von Wan. Und was Paul anging: Seit seiner letzten, verzweifelten Nachricht war er verschwunden.

In irgendeinem unerwünschten Winkel seines Gehirns fand Peter die Erkenntnis, dass er nun der einzige Überlebende der Mission sein mochte, es vermutlich wirklich war, sodass das, was an Prämien allen zustand, nun ihm allein gehörte.

Er befasste sich mit diesem Gedanken. Aber Bedeutung hatte er keine. Er war jetzt hoffnungslos allein, einsamer denn je, so allein wie die tiefgefrorene Trish Bover auf ihrem ewigen Flug nach nirgendwo. Vielleicht konnte er zur Erde zurückgelangen, um seine Belohnung zu beanspruchen. Vielleicht konnte er verhindern, dass er starb. Aber wie sollte er verhindern, dass er den Verstand verlor?


Peter brauchte lange Zeit, um einzuschlafen. Er hatte keine Angst vor dem Schlaf. Was er fürchtete, war, danach wieder aufzuwachen, und als das geschah, war es so schlimm, wie er befürchtet hatte. Im ersten Augenblick war es ein Tag wie jeder andere, und erst nach einem friedlichen Augenblick des Reckens und Gähnens fiel ihm ein, was geschehen war.

»Peter Herter«, sagte er mit lauter Stimme zu sich selbst, »du bist an diesem tausendmal verfluchten Ort ganz allein und wirst hier ganz allein sterben.« Er registrierte, dass er Selbstgespräche führte. Jetzt schon.

Aus Gewohnheit wusch er sich, putzte sich die Zähne, bürstete seine Haare und nahm sich die Zeit, die Haarsträhnen an den Ohren und im Nacken abzuschneiden. Es spielte ohnehin keine Rolle, was er machte. Nachdem er sein Privatabteil verlassen hatte, öffnete er zwei Päckchen CHON-Nahrung und aß sie methodisch, bevor er Vera fragte, ob Nachrichten vom Hitschi-Himmel eingegangen seien.

»Nein«, sagte sie, »… Mr. Herter, aber es gibt eine Reihe von Anweisungen aus der anderen Richtung.«

»Später«, erklärte er. Sie fielen nicht ins Gewicht. Man würde ihn vielleicht auffordern, Dinge zu tun, die er längst getan hatte. Oder Leistungen von ihm verlangen, die er nicht im Traum zu erbringen gedachte, vielleicht, sich in den Weltraum hinauszuplagen, um die Triebwerke anders anzubringen, es noch einmal zu versuchen. Aber die Nahrungsfabrik würde natürlich jeden Schub mit einem gleichartigen und entgegengesetzten Schub beantworten und ihren langsamen Flug weiß Gott wohin zu weiß Gott welchem Zweck fortsetzen. Auf jeden Fall würde nichts, was in den nächsten fünfzig Tagen von der Erde heraufkam, für die neue Lage von Belang sein.

Und in weniger als fünfzig Tagen …

In weniger als fünfzig Tagen, was?

»Du tust so, als hättest du irgendeine Wahl, Peter Herter«, rügte er sich.

Nun, vielleicht habe ich die doch, dachte er, wenn ich nur zu erkennen vermag, worin sie besteht. Inzwischen war es das Beste, wenn er tat, was er immer getan hatte. Sich pedantisch sauber zu halten. Arbeiten auszuführen, die vernünftig waren. Seine alten Gewohnheiten beizubehalten. Er hatte in all den Jahrzehnten seines Lebens gelernt, dass es am günstigsten für ihn war, seine Eingeweide ungefähr fünfundvierzig Minuten nach dem Frühstück zu entleeren; es war jetzt ungefähr so weit; es war angemessen, das jetzt zu tun. Während er auf der Toilette hockte, spürte er wiederum einen winzigen, fast unmerklichen Ruck und zog die Brauen zusammen. Es war ärgerlich, dass sich etwas zutrug, wenn er die Ursache dafür nicht kannte, und es ihn bei einer Beschäftigung unterbrach, die er mit gewohnter Gründlichkeit betrieb. Man konnte natürlich nicht viel persönliches Verdienst für das Funktionieren von Ringmuskeln beanspruchen, die aus dem Leib eines unglückseligen (oder hungrigen) Spenders verpflanzt worden waren. Trotzdem freute es Peter, dass er so gut funktionierte.

Du hast ein krankhaftes Interesse an deiner Notdurft, sagte er sich.

In Gedanken verteidigte er sich. Das ist nicht ungerechtfertigt, dachte er. Es lag nur daran, dass er das Beispiel des Bioprüfgeräts in der Toilette stets vor sich hatte. Dreieinhalb Jahre lang hatte das Gerät jedes Ausscheidungsprodukt ihrer Körper untersucht. Gewiss, das musste es tun! Wie sollte ihre Gesundheit sonst überwacht werden? Und wenn es für eine Maschine angemessen war, Exkremente zu wiegen und zu analysieren, warum dann nicht auch für den Urheber der Exkremente?

Er grinste und sagte laut: »Du bist verrückt, Peter Herter.«

Er nickte im Einklang mit sich selbst, während er sich säuberte und seine Kombination überstreifte, weil er das Ganze knapp zusammengefasst hatte. Ja, er war verrückt.

Nach den Maßstäben gewöhnlicher Menschen.

Aber welcher gewöhnliche Mensch hatte sich schon einmal in der jetzigen Lage von Peter Herter befunden?

Wenn man also sagte, er sei verrückt, hatte man schließlich nichts gesagt, was von Belang gewesen wäre. Was bedeuteten die Maßstäbe gewöhnlicher Menschen für den Schwarzen Peter? Er konnte beurteilt werden nur im Vergleich mit ungewöhnlichen Menschen – und was war das für ein bunt zusammengewürfelter Haufen! Rauschgiftsüchtige und Trunkenbolde. Ehebrecher und Verräter. Tycho Brahe hatte eine Guttapercha-Nase, und niemand hatte ihn deshalb geringer geschätzt. Der Reichsführer war Vegetarier gewesen. Friedrich der Große hatte viele Stunden, die der Lenkung eines Reiches hätten gewidmet werden können, mit dem Komponieren von Musik für Kammermusikgruppen verbracht. Peter schlenderte zum Computer und rief: »Vera, was war das eben für ein kleiner Stoß?«

Der Computer verglich die Beschreibung mit seiner Telemetrie.

»Ich kann es nicht genau sagen … Mr. Herter. Aber das Trägheitsmoment stimmt entweder mit dem Start oder dem Andocken eines der beobachteten Frachtschiffe überein.«

Er umklammerte die Lehne des Konsolensessels.

»Dummes Stück!«, schrie er. »Warum ist mir nicht mitgeteilt worden, dass das möglich ist?«

»Verzeihung … Mr. Herter«, entschuldigte sich Vera, »die Analyse, in der diese Möglichkeit angesprochen wird, liegt Ihnen ausgedruckt vor. Vielleicht haben Sie das übersehen.«

»Dummes Stück«, sagte er noch einmal, aber diesmal wusste er nicht recht, wen er damit meinte. Die Schiffe, natürlich! Es war von Anfang an klar gewesen, dass die Produktion der Nahrungsfabrik irgendwohin gelangen musste. Und ebenso, dass die Schiffe leer zurückkommen mussten, um neu beladen zu werden. Wozu? Wohin?

Darauf kam es nicht an. Worauf es ankam, war die Erkenntnis, dass sie vielleicht nicht immer leer eintrafen.

Und daran anschließend die Erkenntnis, dass mindestens ein Raumschiff, von dem bekannt war, dass es die Nahrungsfabrik erreicht hatte, sich jetzt im Hitschi-Himmel befand. Wenn es zurückkehrte, wer oder was mochte sich darin befinden?

Peter rieb sich den Arm, der angefangen hatte zu schmerzen. Schmerzen hin, Schmerzen her, hier konnte er vielleicht etwas unternehmen. Es blieben ihm einige Wochen, bevor dieses Schiff zurückkehren konnte. Er konnte – was tun? Ja! Er konnte den Korridor verbarrikadieren. Er konnte auf irgendeine Weise Maschinen, Vorratsgüter – alles, das Masse besaß – als Hindernisse aufbauen, damit, wenn das Schiff zurückkam – falls es zurückkam –, die Insassen gestoppt oder wenigstens aufgehalten wurden. Und der Zeitpunkt, um damit anzufangen, war jetzt.

Er zögerte nicht länger, sondern machte sich auf, um Material für eine Barrikade zu finden.

Es fiel nicht schwer, selbst sehr massive Gegenstände zu bewegen, denn der Schub der Nahrungsfabrik war gering. Aber es ermüdete. Und seine Arme schmerzten weiter. Nach geraumer Zeit, während er ein Gebilde aus blauem Metall von der Form eines kurzen, breiten Kanus zum Dock schob, wurde er sich einer seltsamen Empfindung bewusst, die von seinen Zahnwurzeln auszugehen schien, beinahe wie der Beginn von Zahnschmerzen. Unter seiner Zunge begann der Speichel zu fließen.

Peter blieb stehen, atmete tief ein und aus und zwang sich zur Ruhe.

Es nützte nichts. Er hatte gewusst, dass es nichts nützen würde. Nach wenigen Augenblicken begann der Schmerz im Brustkorb, zunächst tastend, so, als presse ihm jemand eine Schlittenkufe auf das Brustbein, dann qualvoll, ein harter, peinigender Stoß, so, als läge die Kufe auf ihm und ein Mann von hundert Kilogramm wäre darauf gesprungen.

Er war von Vera zu weit entfernt, um sich Medizin holen zu können. Er würde das durchstehen müssen. Wenn es nur eine Angina pectoris war, würde er den Anfall überleben. Wenn es sich um einen Herzinfarkt handelte, dann nicht. Er blieb geduldig und still sitzen, um abzuwarten, was es war, während der Zorn sich in ihm anstaute. Wie ungerecht das war!

Wie ungerecht alles war! Fünftausend astronomische Einheiten entfernt gingen die Menschen der Erde behaglich und ohne Sorgen ihren eigenen Angelegenheiten nach, ohne zu wissen oder sich darum zu scheren, dass die Person, die ihnen so vieles bringen konnte, sterben mochte, allein und unter Qualen.

Konnten sie dankbar sein? Konnten sie Achtung, Anerkennung oder auch nur gewöhnlichen Anstand bezeugen?

Vielleicht würde er ihnen die Gelegenheit dazu geben. Wenn sie so reagierten, ja, dann würde er ihnen Gaben bringen, die alles übertrafen, was man sich vorstellen konnte. Aber wenn sie gemein und ungehorsam waren …

Dann würde der Schwarze Peter ihnen so schreckliche Dinge bringen, dass die ganze Welt vor Angst schlottern musste. So oder so würden sie ihn nie vergessen … wenn er nur das überlebte, was jetzt mit ihm geschah.

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