Das Wichtigste war Essie. Ich saß jedes Mal, wenn sie aus dem Operationssaal kam – in sechs Wochen vierzehnmal – an ihrem Bett, und jedes Mal klang ihre Stimme ein wenig schwächer, sah sie ein wenig eingefallener aus. Die ganze Zeit waren alle hinter mir her, die Klage gegen mich in Brasilia stand schlecht, von der Nahrungsfabrik strömten beunruhigende Meldungen herein, der Brand in den Nahrungsgruben wütete weiter. Aber Essie hatte absoluten Vorrang. Harriet kannte ihre Anweisungen. Wo ich auch sein mochte, ob ich schlief oder wach war, wenn Essie nach mir verlangte, wurde sie sofort durchgestellt.

»O ja, Mrs. Broadhead, Robin wird sofort bei Ihnen sein. Nein, Sie stören ihn nicht. Er ist gerade von einem Nickerchen aufgewacht.« Oder er hat eine Pause zwischen Terminen oder kommt vom Tappan-See eben den Rasen herauf oder irgendetwas, das Essie nicht daran hinderte, auf der Stelle mit mir zu sprechen. Dann betrat ich den abgedunkelten Raum, braungebrannt und grinsend und erholt, und erklärte ihr, wie gut sie aussehe. Man hatte mein Billardzimmer in einen Operationssaal verwandelt und die Bibliothek daneben ausgeräumt, um ein Schlafzimmer für sie daraus zu machen. Dort hatte sie es sehr bequem. Sagte sie jedenfalls.

Und tatsächlich sah sie gar nicht schlecht aus. Man hatte die Knochenspäne eingesetzt, ganze Knochen eingepflanzt und zwei oder drei Kilogramm Ersatzteile und Gewebe eingebaut. Man hatte sogar die Haut wieder angebracht oder, wie ich vermutete, neue Haut von einer anderen Person eingepflanzt. Ihr Gesicht sah gut aus, abgesehen von einem leichten Verband an einer Seite, und darüber kämmte sie ihr blondes Haar.

»Na, Supermann«, pflegte sie mich zu begrüßen. »Wie fühlst du dich denn so?«

»Sehr gut, sehr gut. Ein bisschen lüstern«, pflegte ich zu erwidern, während ich meine Nase an ihrem Hals rieb. »Und du?«

»Sehr gut.« So beruhigten wir einander, und wir logen gar nicht, wohlgemerkt. Es ging ihr jeden Tag besser, erklärten mir die Ärzte. Und mir … ich wusste nicht, wie es mir ging. Aber ich erwartete jeden Morgen ganz begierig. Kam mit fünf Stunden Schlaf in der Nacht aus. Wurde nie müde. Hatte mich in meinem ganzen Leben nie besser gefühlt.

Aber trotzdem wurde sie jedes Mal hagerer. Die Ärzte erklärten mir, was ich zu tun hatte. Ich gab es an Harriet weiter, und Harriet programmierte den Koch neu. Wir hörten also auf mit Salaten und halbgar gegrillten Steaks. Kein Frühstück mehr mit Kaffee und Säften, sondern Tworosnjikji , Pfannkuchen mit saurer Sahne und große Tassen dampfender Schokolade. Zum Mittagessen kaukasischer Lammpilaw. Abends Wildgeflügel in Sahnesauce.

»Du verwöhnst mich, lieber Robin«, beklagte Essie sich, und ich sagte: »Ich mäste dich nur ein bisschen. Ich kann magere Frauen nicht ausstehen.«

»Ja, schon recht. Aber man kann auch zu einseitig sein. Gibt es nichts, was dick macht und nicht aus der russischen Küche stammt?«

»Warte auf die Nachspeise«, sagte ich grinsend. »Erdbeerkuchen.« Mit Schlagsahne, versteht sich. Die Krankenschwester hatte mir geraten, aus psychologischen Gründen mit kleinen Portionen auf großen Tellern anzufangen. Essie aß beharrlich alles auf, und als wir die Portionen mit der Zeit steigerten, aß sie jeden Tag mehr. Sie hörte jedoch nicht auf, Gewicht zu verlieren. Aber sie verlangsamte das beträchtlich, und nach sechs Wochen meinten die Ärzte vorsichtig, ihr Zustand könnte als stabil betrachtet werden. Beinahe.

Als ich ihr die gute Nachricht brachte, stand sie sogar – angeschlossen an die Apparaturen unter ihrem Bett, aber in der Lage, im Zimmer herumzugehen.

»Wird auch Zeit«, sagte sie und küsste mich. »Also. Du bist zu viel zu Hause gewesen.«

»Es ist ein Vergnügen«, erwiderte ich.

»Es ist Güte«, meinte sie nüchtern. »Es ist sehr schön für mich, dass du immer hier gewesen bist. Aber jetzt, da ich fast gesund bin, muss es Dinge geben, um die du dich zu kümmern hast.«

»Eigentlich nicht. Ich komme mit den Fernmeldeanlagen in der Zentrale gut zurecht. Es wäre natürlich schön, wenn wir beide irgendwo hinfahren könnten. Ich glaube nicht, dass du Brasilia jemals gesehen hast. Vielleicht können wir in ein paar Wochen …«

»Nein. Nicht in ein paar Wochen. Nicht mit mir. Wenn du hinfahren musst, bitte, tu es, Robin.«

Ich zögerte.

»Tja, Morton meint, es wäre nützlich.«

Sie nickte lebhaft und rief: »Harriet? Mr. Broadhead fliegt morgen früh nach Brasilia. Reservieren Sie Plätze und so weiter.«

»Gewiss, Mrs. Broadhead«, sagte Harriet aus der Konsole am Kopfteil von Essies Bett. Ihr Bild schrumpfte so schnell zusammen, wie es aufgetaucht war, und Essie legte die Arme um mich.

»Ich sorge dafür, dass du in Brasilia ständige Verbindung hast«, versprach sie, »und Harriet erhält Anweisung, dich fortwährend über meinen Zustand zu unterrichten. Ich schwöre dir, Robin, wenn ich dich brauche, erfährst du es sofort.«

Ich raunte ihr ins Ohr: »Na ja …«

Sie sagte an meiner Schulter: »Nichts ›na ja‹. Abgemacht, Robin? Ich liebe dich sehr.«


Albert erklärt mir, dass jede Funknachricht, die ich absende, in Wirklichkeit eine lange, dünne Kette von Photonen ist, wie ein in den Raum geschleuderter Speer. Eine Kaskaden-Übermittlung von dreißig Sekunden ist eine neun Millionen Kilometer lange Säule, in der jedes Photon mit Lichtgeschwindigkeit dahinsaust, den ganzen Weg genau im Gleichschritt. Aber selbst dieser lange, schnelle, dünne Speer braucht eine Ewigkeit, um 5 000 AE zurückzulegen. Das Fieber, das meine Frau so schwer verletzte, hatte fünfundzwanzig Tage gebraucht, um hier anzukommen. Der Befehl, mit der Liege nicht mehr herumzuspielen, war nur einen Bruchteil des Weges vorangekommen, bevor er an dem zweiten Fieber vorbeikam, an demjenigen, das die kleine Janine uns eingebrockt hatte. Ein leichtes, gewiss. Unsere Nachricht mit dem Glückwunsch zur Ankunft der Herter-Halls in der Nahrungsfabrik irgendwo hinter der Plutobahn war an der vorbeigekommen, die uns mitteilte, dass die meisten von ihnen einen Ausflug zum Hitschi-Himmel unternommen hatten. Inzwischen war der Glückwunsch dort, und unsere Anweisungen darüber, was sie zu tun hätten, befanden sich zur Weitergabe längst in der Nahrungsfabrik – zur Abwechslung lagen einmal zwei Ereignisse so nah beieinander, dass sie füreinander Sinn bekamen.

Aber bis wir wussten, welchen, lag das Ereignis wieder fünfundzwanzig Tage in der Vergangenheit. Widerlich! Ich hatte viele Interessen hinsichtlich der Nahrungsfabrik, aber was ich in diesem Augenblick am dringendsten wollte, war dieser Überlichtgeschwindigkeitsfunk. Erstaunlich, dass es so etwas geben konnte. Aber als ich Albert vorwarf, davon überrascht worden zu sein, setzte er sein sanftes, bescheidenes Lächeln auf, rieb mit dem Pfeifenstiel an seinem Ohr und sagte: »Klare Sache, Robin, wenn du die Art von Überraschung meinst, die man spürt, wenn sich eine unwahrscheinliche Möglichkeit als real erweist. Aber eine Möglichkeit war das immer. Überlegen Sie, die Hitschi-Schiffe vermochten fehlerlos zu in Bewegung befindlichen Zielen zu navigieren. Das deutet hin auf die Möglichkeit von Nachrichtenaustausch praktisch ohne Verzögerung über astronomische Entfernungen hinweg – ergo Funk mit Überlichtgeschwindigkeit.«

»Warum hast du mir dann nichts davon gesagt?«, setzte ich nach.

Er kratzte sich mit einem Hausschuh am anderen sockenlosen Fuß.

»Es war nur eine Möglichkeit, Robin, nicht höher eingeschätzt als ein halbes Promille. Etwas, das sein konnte, aber nicht sein musste. Wir hatten bis jetzt einfach nicht genug Anhaltspunkte.«

Ich hätte mit Albert auf dem Weg nach Brasilia reden können, aber ich flog mit Linienmaschinen – die Flugzeuge meines Unternehmens sind für solche Entfernungen nicht schnell genug –, sodass ich meine Zeit rein mit Sprechverbindung in dienstlichen Angelegenheiten und mit Morton verbrachte. Und natürlich mit Harriet, die Anweisung hatte, sich jede Stunde mit einem Kurzbericht über Essie zu melden, es sei denn, ich schlief.

Selbst im Überschallflugzeug dauert eine Reise von zehntausend Kilometern einige Zeit, und ich konnte viele geschäftliche Dinge erledigen. Morton wollte mich mit Beschlag belegen, solange es ging, vor allem, um mir ein Treffen mit Bover auszureden.

»Sie müssen ihn ernst nehmen, Robin«, quengelte er in meinem Ohrhörer. »Bover wird vertreten von Anjelos, Carpenter und Guttmann, und das sind überaus tüchtige Leute mit hervorragenden Juraprogrammen.«

»Besser als du?«

Ein Zögern.

»Hm … ich hoffe nicht, Robin.«

»Sag mal, Morton. Wenn Bovers Sache von Anfang an auf schwachen Füßen stand, warum geben sich diese tüchtigen Leute überhaupt mit ihm ab?«

Obwohl ich ihn nicht sehen konnte, wusste ich, dass Morton seine Defensivmiene aufsetzen würde, halb bedauernd, halb »Ihr-Laien-versteht-das-nicht«.

»Ganz so schwach ist sie nicht, Robin. Und bis jetzt lief das für uns nicht gut. Es nimmt größere Dimensionen an, als wir ursprünglich vermuteten. Und ich gehe davon aus, dass sie dachten, ihre Beziehungen würden die Schwächen übertünchen. Ich unterstelle außerdem, dass sie für ein gigantisches Erfolgshonorar arbeiten. Sie wären besser beraten, einige von Ihren eigenen Schwachstellen zu beseitigen, statt es bei Bover zu riskieren, Robin. Ihr Freund, Senator Praggler, sitzt im Überwachungsausschuss für diesen Monat. Gehen Sie zuerst zu ihm.«

»Das mache ich, aber nicht zuerst«, erklärte ich Morton und schaltete ihn ab, als wir zur Landung ansetzten. Der hohe Turm der Gateway-Behörde überragte die alberne flache Untertasse auf dem Repräsentantenhaus. Oberhalb des Sees sah ich die helle Spiegelung der Blechdächer in der Freien Stadt. Ich hatte es ziemlich knapp gemacht. Meine Verabredung mit Trish Bovers Witwer (oder Ehemann, je nach Betrachtungsweise) sollte in nicht einmal einer Stunde stattfinden, und ich wollte ihn eigentlich nicht warten lassen.

Das brauchte ich auch nicht. Ich saß schon an einem Tisch unter freiem Himmel im Brasilia-Palace-Hotel, als er hereinkam. Mager. Stirnglatze. Er setzte sich nervös, als hätte er es furchtbar eilig oder wolle unbedingt anderswohin. Aber als ich ihn zum Mittagessen einlud, studierte er zehn Minuten lang die Speisekarte und bestellte am Ende alles. Salat aus frischen Palmenherzen, kleine Frischwasser-Garnelen aus dem See, bis hinunter zu den herrlichen frischen Ananas, die von Rio mit dem Flugzeug gebracht wurden.

»Das ist in Brasilia mein Lieblingshotel«, teilte ich ihm jovial mit, ganz Gastgeber, als er Dressing über die Palmenherzen schüttete. »Alt, aber gut. Sie haben sicher schon alle Sehenswürdigkeiten besichtigt?«

»Ich habe hier acht Jahre gelebt, Mr. Broadhead.«

»Ah, verstehe.« Ich hatte nicht gewusst, wo der Schweinehund lebte, er war nur ein Name und ein Ärgernis. So viel zu Reiseeindrücken. Ich versuchte es mit gemeinsamen Interessen. »Ich habe auf dem Weg hierher eine Blitz-Zusammenfassung von der Nahrungsfabrik erhalten. Die Herter-Hall-Gruppe hält sich gut und stößt auf großartige Dinge. Wussten Sie, dass wir vier der Toten Menschen als echte Gateway-Prospektoren identifiziert haben?«

»Ich habe darüber etwas im PV gesehen, ja, Mr. Broadhead. Sehr aufregend.«

»Viel mehr, Bover. Das kann die ganze Welt von Grund auf verändern – und uns alle stinkreich machen.« Er nickte, den Mund voll Salat. Er behielt den Mund auch weiterhin voll; ich erreichte nicht viel damit, ihn aushorchen zu wollen. »Also gut«, sagte ich, »warum kommen wir nicht zur Sache? Ich möchte, dass Sie diese Verfügung zurückziehen.«

Er kaute und schluckte. Die nächste Gabel Garnelen vor dem Mund, sagte er: »Ich weiß, Mr. Broadhead«, und füllte den Mund von neuem.

Ich trank langsam und lange einen Schluck Wein, vermischt mit Mineralwasser, und sagte, Stimme und Haltung völlig in der Gewalt: »Mr. Bover, ich glaube nicht, dass Sie begreifen, worum es geht. Ich will Sie nicht niedermachen. Ich kann einfach nicht glauben, dass Sie alle Fakten kennen. Wir werden beide verlieren, wenn Sie diese Verfügung aufrechterhalten.« Ich ging sorgfältig den ganzen Fall mit ihm durch, wie Morton mir das klargelegt hatte: das Eingreifen der Gateway-Gesellschaft, Enteignungsrecht des Staates, das Problem, einer gerichtlichen Verfügung nachzukommen, wenn deine Zustimmung die Leute, die sie betrifft, erst eineinhalb Monate, nachdem sie fort sind und getan haben, was sie tun wollten, erreicht, die Gelegenheit für ein Verhandlungsergebnis. »Was ich sagen möchte«, schloss ich, »ist, dass das wirklich eine sehr große Sache ist. Zu groß, als dass wir gegeneinander arbeiten sollten. Die geben sich mit uns nicht lange ab, Bover. Die gehen einfach her und enteignen uns.«

Er hörte nicht auf zu kauen, hörte nur zu, und als er nichts mehr zu kauen hatte, trank er einen Schluck von seinem Mokka und sagte: »Wir haben wirklich nichts zu besprechen, Mr. Broadhead.«

»Aber natürlich haben wir das!«

»Nicht, wenn wir das nicht alle beide unterstellen«, betonte er, »und ich tue es nicht. Sie täuschen sich bei manchen Dingen ein bisschen. Ich habe keine Verfügung mehr. Ich habe ein Urteil.«

»Das ich aufheben lassen kann, wenn es hart …«

»Ja, das mag sein. Aber nicht so rasch. Das Recht geht seinen Gang und braucht seine Zeit dazu. Ich lasse mich auf nichts ein. Trish hat für das bezahlt, was hier herauskommt. Da sie nicht hier ist, um für die Wahrung ihrer Rechte zu sorgen, muss ich das wohl tun.«

»Aber das bezahlen wir alle beide!«

»Mag sein. Mein Anwalt sagt das auch. Er hat mir von diesem Zusammentreffen abgeraten.«

»Weshalb sind Sie dann gekommen?«

Er blickte auf die Reste seiner Mahlzeit, dann schaute er auf den Springbrunnen im Garten. Drei zurückgekehrte Gateway-Prospektoren saßen am Rand eines Spiegelteiches mit einer leicht angetrunkenen Stewardess der Fluglinie Varig zusammen, sangen und warfen den Goldfischen Pastetenbröckchen zu. Sie waren reich geworden.

»Das ist eine schöne Abwechslung für mich, Mr. Broadhead«, sagte er.


Vom Fenster meiner Suite hoch oben im neuen Palace Tower aus konnte ich die Dornenkrone der Kathedrale in der Sonne glitzern sehen. Das war besser, als auf mein Anwaltsprogramm im Voll-Monitor zu blicken, denn er hielt mir eine Standpauke.

»Sie haben unserer Sache möglicherweise massiv geschadet, Robin. Ich glaube, Sie begreifen nicht, wie sehr sich das Ganze ausdehnt.«

»Das habe ich Bover auch erklärt.«

»Nein, im Ernst, Robin. Nicht nur die Robin Broadhead AG, auch nicht mehr nur die Gateway-Gesellschaft. Die Regierung mischt sich ein. Die Staaten treten an. Und auch nicht bloß die Unterzeichner des Gateway-Abkommens. Das könnte vor die UNO kommen.«

»Ach, hör aber auf, Morton! Können sie denn das?«

»Natürlich können sie, Robin. Enteignungsrecht des Staates. Ihr Freund Bover ist auch nicht gerade hilfreich. Er beantragt einen Vermögensverwalter für Ihren gesamten Besitz, damit die Ausbeutung ordnungsgemäß erfolgt.«

Der Saukerl. Er musste gewusst haben, dass das im Gange war, während er das von mir bezahlte Essen verschlungen hatte.

»Was heißt ›ordnungsgemäß‹? Was habe ich denn falsch gemacht?«

»Kurze Liste, Robin.« Er zählte an den Fingern ab. »Erstens: Sie haben Ihre Befugnisse überschritten, als Sie der Herter-Hall-Gruppe mehr Handlungsfreiheit ließen, als vorgesehen war, was, zweitens, zu deren Ausflug in den Hitschi-Himmel führte, samt allen möglichen Folgen, und damit, drittens, eine Situation ernsthafter nationaler Gefahr heraufbeschwor. Streichen Sie das. Ernsthafte Gefahr für die Menschheit

»Das ist doch Quatsch, Morton!«

»So hat er es im Antrag formuliert«, sagte er nickend, »und es kann sein, dass wir jemanden davon überzeugen können, es sei Quatsch. Früher oder später. Aber im Augenblick ist es Sache der Gateway-Gesellschaft, zu handeln oder nicht zu handeln.«

»Was bedeutet, dass ich wohl besser zum Senator gehe.« Ich schaltete Morton ab und rief Harriet, um mich nach meinen Terminen zu erkundigen.

»Ich kann Ihnen gleich das Sekretariatsprogramm des Senators geben«, sagte sie lächelnd und verschwand. An ihrer Stelle erschien eine eher skizzenhafte Darstellung eines hübschen, schwarzhäutigen Mädchens. Es war eine schwache Simulation, nicht zu vergleichen mit den Programmen, die Essie schrieb. Aber Praggler war ja auch nur U. S.-Senator.

»Guten Tag«, sagte sie. »Der Senator hat mich gebeten, Ihnen mitzuteilen, dass er sich heute Abend in Ausschuss-Angelegenheiten in Rio de Janeiro befindet, Ihnen aber morgen Vormittag gerne zur Verfügung steht, wenn Ihnen das recht ist. Sagen wir, um zehn Uhr?«

»Sagen wir um neun«, erwiderte ich etwas erleichtert. Ich hatte mir ein bisschen Sorgen wegen Pragglers Versäumnis gemacht, sich sofort bei mir zu melden, aber nun begriff ich, dass er einen guten Grund dafür hatte: das üppige Leben von Ipanema.

»Harriet?« Als sie wieder auftauchte, fragte ich: »Wie geht es Mrs. Broadhead?«

»Keine Veränderung, Robin«, sagte sie lächelnd. »Sie ist wach und verfügbar, wenn Sie mit ihr sprechen wollen.«

»Darauf kannst du dein kleines, elektronisches Hinterchen verwetten«, gab ich zurück. Sie nickte und löste sich auf. Harriet ist ein wirklich gutes Programm; sie versteht nicht immer alle Worte, aber sie kann nach dem Ton meiner Stimme eine Ja-Nein-Entscheidung treffen, und als Essie erschien, sagte ich: »S. Ya. Laworowna, du leistest großartige Arbeit.«

»Aber sicher, lieber Robin«, bestätigte sie stolz. Sie stand auf und drehte sich langsam. »Wie deine Ärzte, was du an mir sehen kannst.«

Es dauerte einen Augenblick, bis ich begriff. Es gab keine Lebenserhaltungsschläuche! Sie trug an der linken Körperseite Gewebeformungsgips, aber von den Maschinen war sie endlich befreit!

»Mein Gott, Mädchen, was ist geschehen?«

»Vielleicht eine Heilung«, erwiderte sie gelassen. »Aber das ist nur ein Versuch. Die Ärzte sind soeben gegangen, und ich soll das sechs Stunden lang ausprobieren, dann wollen sie mich wieder untersuchen.«

»Du siehst phantastisch aus.« Wir plauderten einige Minuten lang belangloses Zeug. Sie erzählte mir von den Ärzten, ich ihr von Brasilia, während ich sie mir so gründlich ansah, wie das in einem PV-Tank ging. Sie stand immer wieder auf, um sich zu recken und ihre Freiheit zu genießen, bis ich mir Sorgen machte.

»Bist du sicher, dass du das alles tun sollst?«

»Man hat mir erklärt, dass ich eine Weile nicht an Wasserskifahren oder Tanzen denken darf, aber vielleicht ist nicht alles verboten, was Spaß macht.«

»Essie, du unkeusches Mädchen, ist das ein lüsterner Blick, den ich entdecke? Fühlst du dich dafür wohl genug?«

»Ganz wohl, ja. Wohl. Nicht wohl«, erläuterte sie, »aber vielleicht so, als hätten wir beide vor ein, zwei Tagen eine Nacht lang durchgezecht. Ein bisschen zerbrechlich. Aber ich glaube nicht, dass ein sanfter Liebhaber mir zum Schaden gereichen würde.«

»Ich bin morgen früh wieder zu Hause.«

»Du wirst morgen früh nicht zu Hause sein«, erklärte sie entschieden. »Du wirst zurück sein, wenn du mit deinen Geschäften in Brasilia fertig bist, und keinen Augenblick früher, sonst wirst du hier keine willige Partnerin für deine verderbten Absichten finden, mein Junge.«


Ich verabschiedete mich, erfüllt von den rosigsten Hoffnungen.

Die ganze fünfundvierzig Minuten lang anhielten, bis ich dazu kam, mich bei der Ärztin zu erkundigen.

Das dauerte ein bisschen, weil sie, als ich anrief, gerade auf dem Rückweg zu ihrer Universität war.

»Tut mir Leid, dass ich in Eile bin, Mr. Broadhead«, entschuldigte sie sich, während sie ihre graue Tweedkostümjacke auszog. »In ungefähr zehn Minuten muss ich Studenten zeigen, wie man Nerven zusammennäht.«

»Sonst sagen Sie Robin zu mir, Doktor Liederman«, meinte ich, während meine Stimmung rapide sank.

»Ja, das stimmt … Robin. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe keine schlechten Nachrichten.« Während sie antwortete, zog sie sich weiter aus bis auf die Unterwäsche, bevor sie Hose, Rollkragenpullover und Operationskittel anzog. Wilma Liederman ist eine gut aussehende Frau, aber ich war nicht da, um ihre Reize zu beglotzen.

»Aber gute auch nicht?«

»Noch nicht. Sie haben mit Essie gesprochen, also wissen Sie, dass wir es bei ihr ohne Maschinen versuchen. Wir müssen wissen, wie weit sie es aus eigener Kraft schafft, und das erfahren wir erst in vierundzwanzig Stunden. Hoffe ich jedenfalls.«

»Essie sprach von sechs.«

»Sechs Stunden bis zu den Messungen, vierundzwanzig für den ganzen Versuch. Außer, sie lässt vorher stark nach und muss sofort wieder an die Maschinen.« Sie sprach über die Schulter mit mir, während sie sich an ihrem kleinen Waschbecken wusch. Sie hielt die tropfenden Hände in die Luft und trat näher an das Kom-Gerät heran. »Ich möchte nicht, dass Sie sich Sorgen machen, Robin«, sagte sie. »Das ist alles ganz normal. Sie hat an die hundert Transplantate in sich, und wir müssen feststellen, ob die angewachsen sind. Ich würde sie nicht so weit gehen lassen, wenn ich nicht der Meinung wäre, dass sie zumindest passable Aussichten hat, Robin.«

»›Passabel‹ hört sich aber gar nicht gut an, Wilma!«

»Mehr als passabel, aber nageln Sie mich nicht fest. Und zerbrechen Sie sich nicht den Kopf. Sie erhalten laufend Berichte und können mein Programm jederzeit anrufen, wenn Sie mehr wissen wollen – mich natürlich auch. Wollen Sie die Chancen hören? Zwei zu eins, dass alles gut geht. Hundert zu eins, dass, wenn etwas versagt, es etwas ist, das wir beheben können. Jetzt muss ich einen kompletten Geschlechtsapparat für eine junge Dame einpflanzen, die Gewissheit haben will, dass sie später noch Spaß hat.«

»Ich glaube, ich sollte heimfliegen«, meinte ich.

»Wozu? Sie können nichts tun, als im Weg stehen. Robin, ich verspreche Ihnen, ich lasse sie nicht sterben, bevor Sie zurück sind.« Im Hintergrund ertönte ein Gong aus der Lautsprecheranlage. »Da wird mein Lied gespielt, Robin. Wir sprechen später miteinander.«


Es gibt Zeiten, da sitze ich im Mittelpunkt der Welt und weiß, dass ich jedes der Programme ansprechen kann, die meine liebe Frau für mich geschrieben hat, um jedes Faktum in Erfahrung zu bringen. Ich weiß auch, dass ich jede Erklärung aufnehmen oder jedes Ereignis abspielen lassen kann.

Und es gibt Zeiten, da sitze ich vor einer vollen Konsole, den Kopf voll brennender Fragen, und erfahre nichts, weil ich nicht weiß, was ich fragen soll.

Dann gibt es Zeiten, in denen ich so voll von Lernen und Leben bin, dass die Augenblicke vorbeirasen und die Tage vollgestopft sind; und andere, zu denen ich in einem Brackwasser neben der Strömung treibe und die Welt rasch an mir vorbeizieht. Es gab genug zu tun. Ich hatte keine Lust dazu. Albert war mit Nachrichten vom Hitschi-Himmel und der Nahrungsfabrik bis zum Bersten geladen. Ich ließ ihn das loswerden. Aber die Zusammenfassung klatschte in mein Gemüt, ohne eine Frage oder auch nur eine Kräuselung auszulösen; als er über bauliche Schlussfolgerungen und Auslegungen des Gefasels der Toten Menschen zu Ende berichtet hatte, schaltete ich ihn ab. Es wäre zutiefst interessant gewesen, aber aus irgendeinem Grund interessierte es mich nicht. Ich befahl Harriet, meinem Holophantom alle Routinedinge zu überlassen und jeden, bei dem es nicht dringend war, zu bitten, er möge mich ein andermal anrufen. Ich streckte mich auf dem Wassersofa aus und blickte auf die sonderbare Skyline von Brasilia hinaus, während ich mir wünschte, das möchte die Liege in der Nahrungsfabrik sein, verbunden mit jemandem, den ich liebte.

Wäre das nicht großartig? Hinausgreifen können zu jemandem, der ganz weit entfernt war, so wie Wan zur ganzen Erde hinausgegriffen hatte, und mit ihnen zu fühlen, was sie fühlten, ihnen sein Inneres öffnen? Unvorstellbar schön für ein Liebespaar!

Und auf diesen Gedanken reagierte ich, indem ich an meiner Konsole Morton anrief und ihn aufforderte, die Möglichkeit zu erforschen, ob diese Anwendung der Liege patentierbar sei.

Es war keine sehr romantische Reaktion auf einen durchaus romantischen Gedanken. Das Problem war: Ich war mir nicht ganz sicher, mit wem ich mir eine solche Verbindung wünschte. Mit meiner lieben Frau, die jetzt so bedürftig war? Oder mit jemandem, der viel weiter entfernt und viel schwerer zu erreichen war?

So verbrachte ich den langen brasilianischen Nachmittag träge, lag im Badebecken, ließ mich von der untergehenden Sonne bescheinen, aß in meiner Suite elegant zu Abend und trank eine Flasche Wein dazu. Dann rief ich noch einmal Albert, um ihn zu fragen, was ich in Wahrheit wissen wollte.

»Albert? Wo genau ist Klara jetzt?«

Er stopfte Tabak in seine Pfeife und zog die Brauen zusammen.

»Gelle-Klara Moynlin«, sagte er schließlich, »ist in einem Schwarzen Loch.«

»Ja. Und was bedeutet das?«

»Das ist schwer zu sagen«, erwiderte er bedauernd. »Ich meine, es ist schwer, das einfach auszudrücken, und auch schwer zu sagen, weil ich es eigentlich nicht weiß. Nicht genug Daten.«

»Tu, was du kannst.«

»Klare Sache, Robin. Ich würde sagen, sie ist in dem Teil des Forschungsschiffes, der in der Umlaufbahn blieb, knapp unter dem Ereignishorizont der Singularität, der ihr begegnet seid – was«, er winkte beiläufig mit der Hand, und hinter ihm tauchte eine schwarze Tafel auf, »natürlich genau am Schwarzschild-Radius ist.«

Er stand auf, stieß die unangezündete Pfeife in die Hüfttasche seiner ausgebeulten Hose, griff nach einem Stück Kreide und schrieb:

»An dieser Grenze kann das Licht nicht weiter vordringen. Sie können das als eine stehende Wellenfront betrachten, wo das Licht so weit vorgedrungen ist, wie es kann. Daran vorbei kann man nicht in das Schwarze Loch blicken. Von dahinter kann nichts herauskommen. Die Symbole stehen natürlich für Gravitation und Masse, und einem alten ÜLG-Kenner wie Ihnen brauche ich wohl nicht zu erklären, was c2 ist, oder? Nach den Messungen, die Sie mitbrachten, hat es den Anschein, dass dieses bestimmte Loch einen Durchmesser von etwa sechzig Kilometern besitzt, was ihm eine Masse vom ungefähr Zehnfachen der Sonne verleihen würde. Sage ich Ihnen da mehr, als Sie wissen wollen?«

»Ein bisschen, Albert«, sagte ich und rutschte auf dem Wassersofa unbehaglich hin und her. Ich wusste selbst nicht genau, was ich wissen wollte.

»Vielleicht möchten Sie wissen, ob sie tot ist, Robby«, meinte er. »O nein. Das glaube ich nicht. Es gibt da sehr viel Strahlung und weiß Gott welche Gravitation. Aber sie hat noch nicht viel Zeit gehabt, um tot zu sein. Das hängt von ihrer Winkelgeschwindigkeit ab. Sie weiß vielleicht noch nicht einmal, dass Sie fort sind. Zeitdehnung, wissen Sie. Das ist die Folge von …«

»Was Zeitdehnung ist, weiß ich«, unterbrach ich. Und das traf auch zu, weil ich beinahe das Gefühl hatte, sie am eigenen Leib zu erleben. »Gibt es irgendeinen Weg, das festzustellen?«

»›Ein Schwarzes Loch hat keine Haare‹, Robby«, zitierte er ernsthaft. »Das nennen wir das Carter-Werner-Robinson-Hawking-Gesetz, und es bedeutet, dass man über ein Schwarzes Loch nichts in Erfahrung bringen kann als Masse, Ladung und Winkelgeschwindigkeit. Aus.«

»Es sei denn, man gelangt hinein, wie sie es getan hat.«

»Hm, ja. Robby«, räumte er ein, setzte sich und beschäftigte sich mit seiner Pfeife. Lange Pause. Paff, paff. Dann: »Robin?«

»Ja, Albert?«

Er wirkte verlegen, oder so verlegen, wie ein Hologramm wirken kann.

»Ich bin zu Ihnen nicht ganz fair gewesen«, sagte er. »Es gibt Information, die aus Schwarzen Löchern kommt. Aber das führt uns zur Quantenmechanik. Und außerdem nützt es Ihnen nichts. Nicht für Ihre Absichten.«

Es war mir nicht gerade angenehm, mir von einem Computerprogramm sagen lassen zu müssen, welche »Absichten« ich hegte. Zumal da ich mir selbst nicht ganz sicher war.

»Heraus damit!«, befahl ich.

»Tja … eigentlich wissen wir nicht sehr viel. Das geht zurück auf Stephen Hawkings erste Theorien. Er wies darauf hin, dass man einem Schwarzen Loch in einem bestimmten Sinn eine ›Temperatur‹ zuschreiben kann – was irgendeine Art von Strahlung unterstellt. Es entkommen also doch Teilchen. Aber nicht aus der Art von Schwarzen Löchern, die Sie interessieren, Robby.«

»Aus welcher Art können sie dringen?«

»Meistens aus den winzigen. Denen mit der Masse vom, sagen wir, Mount Everest. Submikroskopische. Nicht größer als ein Atomteilchen. Sie werden sehr heiß, hundert Milliarden Kelvin und mehr. Je kleiner sie sind, desto rascher verläuft die Quantentunnelung, desto heißer werden sie – sie fahren also fort, immer kleiner und heißer zu werden, bis sie einfach auseinander fliegen. Die großen tun das nicht. Da geht es anders herum. Je größer sie sind, desto mehr stürzt hinein, womit sie ihre Masse auffüllen können, und desto schwerer wird es für ein Teilchen zu entkommen. Ein Schwarzes Loch wie das von Klara hat eine Temperatur irgendwo im Bereich von einem hundertmillionstel Kelvin, was wirklich kalt ist, Robin. Und immer kälter wird.«

»Aus solchen kommt man also nicht heraus.«

»Auf keine Weise, die ich kenne, nein, Robin. Beantwortet das Ihre Fragen?«

»Vorerst«, sagte ich und entließ ihn. Die Fragen waren auch wirklich beantwortet, bis auf eine: Woher kam es, dass er mich, wenn er von Klara sprach, »Robby« nannte?

Essie schrieb gute Programme, aber ich gewann langsam den Eindruck, dass sie anfingen, sich zu überschneiden. Ich hatte einmal ein Programm gehabt, das mich von Zeit zu Zeit mit Namen aus meiner Kindheit ansprach. Aber es war ein psychiatrisches Programm gewesen. Ich nahm mir vor, Essie zu bitten, dass sie ihre Programmierung auf Vordermann brachte, weil ich ganz gewiss nicht das Gefühl hatte, ich bedürfte jetzt der Dienste von Sigfrid Seelenklempner.


Senator Pragglers Büro auf Zeit befand sich nicht im Gateway-Turm, sondern im 26. Stockwerk des Bürogebäudes der Gesetzgeber. Eine Freundlichkeit des brasilianischen Kongresses einem Kollegen gegenüber, und eine schmeichelhafte dazu, weil es nur zwei Etagen unter der höchsten lag. Trotz der Tatsache, dass ich beim Hellwerden aufgestanden war, kam ich ein paar Minuten zu spät. Ich hatte die Zeit damit verbracht, am frühen Morgen in der Stadt herumzulaufen. Ich befand mich immer noch in einer Art Zeitstillstand.

Aber Praggler riss mich heraus, strahlend und energiegeladen.

»Wunderbare Nachrichten, Robin!«, rief er, zog mich in sein Büro und bestellte Kaffee. »Mein Gott! Wie dumm wir alle gewesen sind!«

Einen Augenblick lang glaubte ich, er wolle damit sagen, Bover hätte seine Klage zurückgezogen. Das bewies nur, wie dumm ich immer noch war; was er meinte, war eine späte Blitzmeldung von der Relaisstation zur Nahrungsfabrik. Die vielgesuchten Hitschi-Bücher hatten sich als die Gebetsfächer herausgestellt, die wir alle schon seit Jahrzehnten kannten.

»Ich dachte, Sie wissen schon Bescheid«, entschuldigte er sich, als er mich eingeweiht hatte.

»Ich bin spazieren gegangen«, sagte ich. Es war für ihn ziemlich verwirrend, mir etwas derart Bedeutendes über mein eigenes Projekt mitzuteilen. Aber ich erholte mich rasch. »Das scheint mir ein großer Vorteil für unser Bestreben zu sein, diese Verfügung annullieren zu lassen, Senator«, meinte ich.

Er grinste. »Wissen Sie, ich hätte mir denken können, dass Sie es so sehen. Möchten Sie mir verraten, wie Sie darauf kommen?«

»Na ja, was ist der wichtigste Zweck der Expedition? Wissen über die Hitschi zu beschaffen. Und jetzt erfahren wir, dass eine Riesenmenge einfach herumliegt und nur darauf wartet, dass wir danach greifen.«

Er zog die Brauen zusammen. »Wir wissen aber nicht, wie die verdammten Dinger zu entschlüsseln sind.«

»Das wird sich ergeben. Jetzt, wo wir wissen, was sie sind, finden wir auch einen Weg, sie zu nutzen. Wir besitzen die Erkenntnis. Alles, was wir noch brauchen, ist die Technik. Wir sollten …« Ich verstummte mitten im Satz. Ich wollte sagen, es wäre eine gute Idee, alle Gebetsfächer aufzukaufen, die auf dem Markt waren, aber das war ein zu guter Einfall, um ihn selbst einem Freund anzuvertrauen. Ich schaltete um auf: »Wir sollten rasch zu Ergebnissen kommen. Die Sache ist einfach die: Die Herter-Hall-Expedition ist nicht mehr unser einziges Eisen im Feuer, sodass jeder Einwand, der sich auf nationale Interessen stützt, sehr stark an Gewicht verliert.«

Er ließ sich von seiner Sekretärin – der echten, lebendigen, die seinem Programm überhaupt nicht ähnlich sieht – eine Tasse Kaffee geben und zog die Schultern hoch.

»Das ist ein Argument. Ich trage es dem Ausschuss vor.«

»Ich hatte gehofft, Sie würden mehr tun, Senator.«

»Wenn Sie meinen, dass die ganze Sache fallen gelassen werden soll, Robin – diese Befugnis habe ich nicht. Ich bin nur hier, um den Ausschuss zu leiten. Einen Monat lang. Ich kann heimfliegen und im Senat Krach schlagen, und vielleicht mache ich das auch, aber das ist schon alles.«

»Und was wird der Ausschuss tun? Bovers Anspruch anerkennen?«

Er zögerte.

»Schlimmer, glaube ich. Die Neigung geht dahin, euch alle zu enteignen. Dann handelt es sich um eine Sache der Gateway-Gesellschaft, was bedeutet, dass sie da bleibt, bis die Unterzeichner des Vertrages beschließen, dem ein Ende zu machen. Auf lange Sicht werden Sie natürlich alle entschädigt …«

Ich knallte die Tasse auf den Unterteller zurück.

»Ich scheiße auf die Entschädigung! Glauben Sie etwa, ich mache das des Geldes wegen?«

Praggler ist ein ziemlich enger Freund. Ich weiß, dass er mich mag, und glaube sogar, dass er mir vertraut, aber seine Miene wirkte nicht freundlich, als er sagte: »Manchmal frage ich mich ehrlich, weshalb Sie es machen.« Er sah mich kurze Zeit ausdruckslos an. Ich wusste, dass er über mich und Klara informiert war. Und er war auch in unserem Haus am Tappan-See zu Gast gewesen. »Das mit der Krankheit Ihrer Frau tut mir Leid«, sagte er schließlich. »Ich hoffe, es geht ihr bald wieder besser.«


Ich machte in seinem Vorzimmer Pause, um verschlüsselt rasch bei Harriet anzurufen und sie anzuweisen, meine Leute auf den Kauf aller Gebetsfächer anzusetzen, die sie bekommen konnten. Sie hatte wohl tausend Mitteilungen für mich, aber ich nahm nur eine an – und diese besagte lediglich, dass Essie eine ruhige Nacht gehabt hatte und in ungefähr einer Stunde Besuch von den Ärzten erhalten würde. Ich hatte keine Zeit für die übrigen Dinge, weil ich etwas tun musste.

Es ist nicht leicht, vor dem brasilianischen Kongress ein Taxi zu bekommen; die Portiers haben ihre Anweisungen, und sie wissen, wer Vorrang genießt. Ich musste zur Straße hochklettern und einen Wagen heranwinken. Als ich dem Fahrer die Adresse nannte, musste ich sie zweimal wiederholen und sogar auf einen Zettel schreiben. Das lag nicht an meinem schlechten Portugiesisch. Er wollte eigentlich gar nicht nach Free Town.

Wir fuhren also hinaus, vorbei an der alten Kathedrale, unter dem riesigen Gateway-Turm auf dem verstopften Boulevard dahin und hinaus aufs offene Planalto. Zwei Kilometer lang. Das war der Grüngürtel, der Cordon sanitaire , um die Hauptstadt, den die Brasilianer verteidigten, aber gleich dahinter lag die Slumstadt. Sofort, als wir hineinfuhren, kurbelte ich das Fenster hoch. Ich bin in den Nahrungsgruben von Wyoming aufgewachsen und war Gestank den lieben, langen Tag gewöhnt. Aber das hier war ein ganz anderer. Nicht nur der Gestank nach Erdöl. Hier gab es Freiluft-Aborte und verfaulenden Müll – zwei Millionen Menschen ohne fließendes Wasser. Die Hütten waren ursprünglich entstanden, damit Bauarbeiter eine Unterkunft besaßen, während sie die wunderbare Traumstadt errichteten. Eigentlich hätten sie verschwinden sollen, als die Stadt fertig war. Slumstädte verschwinden aber nie. Sie werden zur festen Einrichtung.

Der Taxifahrer lenkte seinen Wagen durch fast einen Kilometer enge Gassen, vor sich hin murrend, nie schneller als im Schritttempo. Ziegen und Menschen machten zögernd Platz. Kleine Kinder schrien auf mich ein, während sie neben uns herliefen. An unserem Ziel ließ ich ihn aussteigen und nach Senhor Hanson Bover fragen, aber bevor er das in Erfahrung brachte, sah ich Bover selbst auf den Hohlziegelstufen vor einem alten, verrosteten Wohnwagen sitzen. Sofort, als ich bezahlt hatte, wendete der Fahrer und fuhr davon, viel schneller, als wir angekommen waren, und jetzt fluchte er lauthals.

Bover stand nicht auf, als ich näher kam. Er kaute an einer Art Gebäck und hörte auch damit nicht auf. Er beobachtete mich nur.

Nach den Maßstäben des Barrio lebte er in einer Villa. Die alten Wohnanhänger bestanden aus zwei oder drei Räumen, und neben der schmalen Treppe war sogar ein kleiner Flecken Grün zu sehen. Bovers Schädeldecke war unbedeckt und litt anscheinend an einem Sonnenbrand; er trug eine schmutzige, unter den Knien abgetrennte Leinenhose und ein T-shirt mit einer Aufschrift in portugiesischer Sprache, die ich nicht verstand, aber auch sie schien schmutzig zu sein. Er schluckte und sagte: »Ich würde Ihnen gern ein Mittagessen anbieten, Broadhead, aber ich esse es eben selbst.«

»Ich will kein Mittagessen. Ich will zu einer Vereinbarung kommen. Ich gebe Ihnen fünfzig Prozent meines Anteils an der Expedition und eine Million Dollar in bar, wenn Sie Ihre Klage zurückziehen.«

Er fuhr mit der Hand vorsichtig über seine Schädeldecke. Es kam mir seltsam vor, dass er so schnell einen Sonnenbrand bekam, weil mir das am Tag vorher noch nicht aufgefallen war – aber dann erinnerte ich mich, dass ich auch keine Glatze gesehen hatte. Er war mit einem Toupé erschienen. Ansonsten gab es jedoch keinen Unterschied zu seinem Auftreten tags zuvor. Mir gefielen seine Manieren nicht, und ebenso wenig, dass sich immer mehr Zuschauer um uns scharten. »Können wir das drinnen besprechen?«, fragte ich.

Er antwortete nicht. Er schob das letzte Stück Gebäck in den Mund und kaute, während er mich ansah.

Das reichte mir. Ich zwängte mich an ihm vorbei und stieg die Stufen hinauf.

Das Erste, was mir auffiel, war der Gestank – schlimmer als draußen, oh, hundertmal schlimmer. Drei Wände des Raumes wurden eingenommen von übereinander gestapelten Käfigen; in jedem befanden sich Kaninchen, in Vermehrung begriffen. Was ich roch, war Kaninchenkot, kiloweise. Und nicht nur von Kaninchen. Ein Säugling mit beschmutzter Windel wurde gerade von einer mageren jungen Frau gestillt. Nein, es war ein Mädchen; höchstens fünfzehn Jahre alt, wie es schien. Sie blickte sorgenvoll zu mir auf, unterbrach aber das Stillen nicht.

Das war also der hingebungsvolle Gläubige am Schrein seiner Ehefrau! Ich konnte mir nicht helfen. Ich lachte laut auf.

Ins Innere zu treten, war keine so gute Idee gewesen. Bover kam hinter mir herein und zog die Tür zu, worauf der Gestank sich verstärkte. Er war nicht mehr leidenschaftslos, sondern zornig.

»Ich sehe, Sie schätzen meine Umgebung nicht«, sagte er.

Ich zuckte die Achseln.

»Ich bin nicht hergekommen, um über Ihr Sexleben zu reden.«

»Nein! Dazu hätten Sie auch kein Recht! Sie könnten das nicht verstehen!«

Ich versuchte das Gespräch dorthin zu lenken, wo ich es haben wollte.

»Bover«, sagte ich, »ich habe Ihnen ein Angebot gemacht, das besser ist als jedes, das Sie von einem Gericht zugesprochen bekommen haben, und viel mehr, als Sie jemals erhoffen durften. Bitte, nehmen Sie es an, damit ich weitermachen kann.«

Er antwortete auch diesmal nicht direkt, sondern sagte zu dem Mädchen ein paar Worte auf Portugiesisch. Sie stand stumm auf, wickelte ein Tuch um den Po des Säuglings und trat auf die Stufen hinaus, wo sie die Tür hinter sich zuzog. Bover sagte, ganz so, als hätte er mich nicht gehört: »Trish ist seit über acht Jahren fort, Mr. Broadhead. Ich liebe sie immer noch. Aber ich habe nur ein Leben, und ich weiß, wie die Aussichten stehen, dass ich es noch einmal mit Trish teilen kann.«

»Wenn wir dahinter kommen, wie man die Hitschi-Schiffe richtig steuert, könnten wir hinausgehen und Trish zu finden versuchen«, sagte ich. Ich befasste mich nicht weiter damit; alles, was ich damit erreichte, war, dass er mich zutiefst feindselig anstarrte, so, als glaube er, ich wollte ihn überlisten. »Eine Million Dollar, Bover«, sagte ich. »Sie können heute hier raus. Für immer. Mit Ihrer Freundin und dem Kind und den Kaninchen. Medizinischer Vollschutz für alle. Eine Zukunft für das Kleine.«

»Ich sagte schon, Sie verstehen das nicht, Broadhead.«

Ich nahm mich zusammen und erwiderte nur: »Dann erklären Sie es mir. Erzählen Sie mir, was ich nicht weiß.«

Er griff nach einem schmutzigen Strampelanzug und nahm ein paar Stecknadeln von dem Stuhl, auf dem das Mädchen gesessen war. Einen Augenblick lang dachte ich schon, er wollte gastfreundlich werden, aber er setzte sich selbst und sagte: »Broadhead, ich lebe seit acht Jahren von der Wohlfahrt. Von der brasilianischen. Wenn wir keine Kaninchen züchten würden, hätten wir kein Fleisch. Wenn wir die Felle nicht verkaufen würden, hätte ich nicht das Geld für den Busfahrschein, um Sie zum Essen zu treffen oder meinen Anwalt aufzusuchen. Eine Million Dollar könnte mich dafür auch nicht entschädigen – oder dafür, was mit Trish passiert ist.«

Ich gab mir immer noch Mühe, mich zu beherrschen, aber der Gestank ging mir ebenso auf die Nerven wie sein Verhalten. Ich änderte die Strategie.

»Haben Sie Mitgefühl für Ihre Nachbarn, Bover? Wollen Sie, dass ihnen geholfen wird? Wir können diese Art von Armut für immer beseitigen, mit der Technologie der Hitschi. Genug Nahrung für alle! Anständige Unterkünfte!«

Er sagte geduldig: »Sie wissen so gut wie ich, dass die Wohltaten der Hitschi-Technologie – oder irgendeiner anderen – nicht den Leuten im Barrio zugute kommen. Sie dienen dazu, reiche Leute wie Sie noch reicher zu machen. O ja, früher oder später kann das alles geschehen, aber wann? So rechtzeitig, dass es für meine Nachbarn noch von Belang ist?«

»Ja! Wenn ich es beschleunigen kann, werde ich das tun!«

Er nickte gelassen.

»Sie sagen, Sie werden das tun. Von mir aber weiß ich, dass ich es bestimmt mache, wenn ich das Kommando übernehme. Weshalb sollte ich Ihnen vertrauen?«

»Weil ich Ihnen mein Wort gebe, Sie Scheißkerl! Warum, glauben Sie, versuche ich die Sache abzukürzen?«

Er lehnte sich zurück und sah zu mir auf.

»Was das betrifft«, sagte er, »tja, ich glaube, ich weiß, warum Sie es so eilig haben. Mit meinen Nachbarn oder mir hat das nicht viel zu tun. Meine Anwälte haben gründlich recherchiert, Broadhead, und über Ihr Mädchen auf Gateway weiß ich genau Bescheid.«

Ich konnte nicht anders, ich ging in die Luft.

»Wenn Sie schon so viel wissen«, brüllte ich, »dann ist Ihnen auch bekannt, dass ich sie da rausholen will, wo ich sie hineingebracht habe! Und das eine sage ich Ihnen, Bover: Ich lasse mich weder von Ihnen noch von Ihrer minderjährigen Hure daran hindern!«

Sein Gesicht war plötzlich so rot wie seine Glatze.

»Und was hält Ihre Frau davon?«, fragte er gehässig.

»Warum fragen Sie sie nicht selber? Wenn sie noch lange genug am Leben bleibt, damit Sie sie belästigen können. Lecken Sie mich am Arsch, Bover, ich gehe! Wie bekomme ich ein Taxi?«

Er grinste mich nur an. Boshaft. Ich zwängte mich an der Frau auf den Stufen vorbei und ging, ohne mich noch einmal umzublicken.


Bis ich zum Hotel zurückkam, wusste ich, weshalb er gegrinst hatte. Es war mir klar geworden während des zweistündigen Wartens auf einen Omnibus, auf einem Platz neben einer offenen Latrine. Ich will nicht einmal darüber sprechen, wie die Fahrt mit dem Omnibus verlief. Ich war schon auf schlechtere Weise unterwegs, aber nicht seit meiner Rückkehr von Gateway. In der Hotelhalle standen Trauben von Menschen herum, und sie sahen mich seltsam an, als ich hindurchging. Natürlich wussten sie alle, wer ich war. Jedermann wusste Bescheid über die Herter-Halls, und mein Bild war zusammen mit dem ihren im PV gesendet worden. Ich zweifelte nicht daran, dass ich seltsam aussah, verschwitzt und immer noch wutentbrannt.

Meine Konsole präsentierte ein Feuerwerk von Alarmsignalen, als ich die Tür zu meiner Suite hinter mir zuwarf. Das Erste, was ich tun musste, war, auf die Toilette zu gehen, aber über meine Schulter rief ich durch die offene Tür: »Harriet! Halten Sie alle Anrufe kurz zurück, und geben Sie mir Morton! Einweg. Ich will keine Antwort, ich möchte nur Anweisungen geben.« Mortons Gesicht erschien in einer Ecke des Holotanks; es wirkte nervös, aber erwartungsvoll. »Morton, ich komme eben von Bover. Ich habe ihm alles gesagt, was mir einfiel, aber es nützte nichts. Ich wünsche, dass Sie Privatdetektive einsetzen. Seine Vergangenheit soll durchforscht werden wie nie zuvor. Der Schweinehund muss irgendetwas getan haben, was faul war. Ich will ihn erpressen. Und wenn es ein zehn Jahre alter Strafzettel wegen Falschparkens ist, will ich ihn dafür hängen sehen. Strengen Sie sich an.« Er nickte stumm, verschwand aber nicht, was hieß, dass er zwar tun würde, was ich verlangt hatte, aber selbst etwas sagen wollte, wenn ich das nur zuließ. Über ihm stand das größere Gesicht von Harriet; sie zählte die Minute ab, um die ich sie gebeten hatte. Ich ging ins Zimmer zurück. »Also, Harriet«, sagte ich. »Das Wichtigste zuerst, alles der Reihe nach.«

»Ja, Robin, aber …« Sie zögerte und nahm rasch Bewertungen vor. »Es gibt zwei dringende Punkte, Robin. Erstens möchte Albert Einstein die Gefangennahme der Herter-Hall-Gruppe – sicherlich durch die Hitschi – mit Ihnen besprechen.«

»Gefangennahme! Warum, zum Teufel, hast du …« Ich verstummte; offenkundig konnte sie mir nichts davon gesagt haben, weil ich fast den ganzen Nachmittag nicht erreichbar gewesen war. Sie wartete nicht ab, bis ich zu dem Schluss gekommen war, sondern fuhr fort: »Ich glaube aber, Sie möchten lieber zuerst Doktor Liedermans Bericht hören, Robin. Ich habe eine Verbindung hergestellt, und sie ist jetzt bereit, live mit Ihnen zu sprechen.«

Das machte mich stutzig.

»Tun Sie das«, sagte ich, aber ich wusste, dass es nichts Gutes sein konnte, wenn Wilma Liederman live und persönlich Bericht erstattete. »Was ist los?«, fragte ich sofort, als sie erschien.

Sie trug ein Abendkleid, mit einer Orchidee an der Schulter, das erste Mal, dass ich sie so sah, seitdem sie auf unserer Hochzeit war.

»Keine Panik, Robin«, gab sie zurück, »aber Essie hat einen leichten Rückschlag erlitten. Sie ist wieder an die Maschinen zur Lebenserhaltung angeschlossen.«

»Was?«

»Es ist nicht so schlimm, wie es klingt. Sie ist wach und kann sich verständigen. Sie hat keine Schmerzen, und ihr Zustand ist stabil. Wir können das ewig so durchhalten …«

»Kommen Sie zum ›Aber‹!«

»Aber sie stößt die Niere ab, und das Gewebe ringsum wächst nicht an. Sie braucht eine ganze Reihe neuer Transplantate. Vor ungefähr zwei Stunden bekam sie eine Urämie und braucht jetzt Volldialyse. Das ist nicht das Schlimmste. Es sind ihr aus so vielen Quellen so viele Stückchen und Teile eingesetzt worden, dass ihr Autoimmunsystem völlig durcheinander geraten ist. Wir müssen suchen, um passendes Gewebe zu finden, und können selbst dann nicht vermeiden, ihr lange Zeit Antiimmunpräparate zu injizieren.«

»Mensch! Das ist doch wie im Mittelalter!«

Sie nickte. »In der Regel finden wir etwas genau Passendes, aber nicht bei Essie. Nicht diesmal. Sie hat eine seltene Blutgruppe, so geht es schon an. Sie ist Russin, und ihr Typus ist in diesem Teil der Welt nicht häufig, sodass …«

»Dann besorgen Sie etwas aus Leningrad, Herrgott noch mal!«

»Sodass, wollte ich sagen, die Gewebebanken auf der ganzen Welt überprüft worden sind. Wir können nah herankommen. Ganz nah, aber in ihrem jetzigen Zustand besteht immer noch Gefahr.«

Ich sah sie prüfend an und versuchte dahinter zu kommen, was ihr Tonfall bedeutete.

»Gefahr, alles noch einmal machen zu müssen, meinen Sie?« Sie schüttelte ein wenig den Kopf. »Dass sie … dass sie stirbt? Das glaube ich Ihnen nicht! Wozu gibt es medizinischen Vollschutz, verdammt?«

»Robin … sie ist schon einmal gestorben, wissen Sie. Wir mussten sie wieder beleben. Es gibt eine Grenze für den Schock, den sie überstehen kann.«

»Dann zum Teufel mit der Operation! Sie haben gesagt, so sei der Zustand stabil!«

Wilma blickte kurz auf ihre im Schoß gefalteten Hände, dann sah sie mich an.

»Sie ist die Patientin, nicht Sie.«

»Was soll das heißen?«

»Es ist ihre Entscheidung. Sie hat schon entschieden, dass sie nicht ewig an ein Lebenserhaltungsgerät angeschlossen sein will. Wir fangen morgen früh wieder an.«

Ich saß da und starrte in den Tank, lange, nachdem Wilma Liederman verschwunden und mein geduldiges Sekretariatsprogramm wieder aufgetaucht war und stumm auf Anweisungen wartete.

»Äh, Harriet«, sagte ich schließlich, »ich möchte heute Abend zurückfliegen.«

»Ja, Robin«, erwiderte sie. »Ich habe schon reservieren lassen. Es gibt heute Abend keinen Direktflug, aber Sie können in Caracas umsteigen und sind gegen fünf Uhr früh in New York. Die Operation beginnt nicht vor acht Uhr.«

»Danke.« Sie verstummte wieder und wartete. Mortons albernes Gesicht befand sich auch immer noch im Tank, winzig und vorwurfsvoll unten in der rechten Ecke. Er sagte nichts, aber ab und zu räusperte er sich oder schluckte, um mir zu zeigen, dass er wartete. »Morton«, sagte ich, »habe ich dich nicht gebeten zu verschwinden?«

»Das kann ich nicht, Robin. Nicht, solange ich vor einem unlösbaren Dilemma stehe. Sie haben Anweisungen bezüglich Mr. Bover gegeben …«

»Und ob! Wenn ich so nicht mit ihm fertig werde, lasse ich ihn vielleicht einfach umbringen.«

»Sie brauchen sich keine Mühe zu geben«, sagte Morton rasch. »Seine Anwälte haben sich gemeldet. Er hat beschlossen, Ihr Angebot anzunehmen.«

Ich glotzte ihn an, die Augen groß, den Mund weit aufgerissen.

»Ich verstehe es auch nicht, Robin, so wenig wie seine Anwälte«, sagte er schnell. »Sie sind ganz durcheinander. Aber es ist eine persönliche Mitteilung für Sie dabei, falls die etwas erklärt.«

»Nämlich?«

»Zitat: ›Vielleicht versteht er doch‹, Zitat Ende.«


In einem etwas verwirrenden Leben hatte ich viele verwirrende Tage erlebt, aber dieser war ein ganz besonderer. Ich ließ heißes Wasser in die Wanne laufen und legte mich eine halbe Stunde hinein, bemüht, alle Gedanken zu verbannen. Der Versuch brachte aber keine innere Ruhe.

Bis zum Start der Maschine nach Caracas hatte ich drei Stunden Zeit. Ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte. Es war nicht so, dass ich nichts zu tun gehabt hätte. Harriet versuchte immer wieder, meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Morton wollte den Vertrag mit Bover fixieren, Albert die Bioanalyse der Hitschi-Ausscheidungen besprechen, die irgendjemand eingesammelt hatte. Jeder wollte mit mir sprechen, und zwar über alles. Ich wollte nichts von alledem wissen. Ich blieb in meiner Zeitdehnung stecken und sah die Welt vorüberkriechen. Ich wusste nicht, was ich dagegen tun sollte. Es war schön, dass Bover glaubte, ich verstünde vielleicht. Ich fragte mich, wie er es anstellen würde, mir zu erklären, was ich verstand.

Nach einiger Zeit gelang es mir, so viel Energie aufzubringen, dass ich Harriet einige der entscheidungsreifen Anrufe durchstellen ließ, und ich traf an Entscheidungen, was notwendig erschien; danach hörte ich mir, während ich mit einer Schale Cracker mit Milch herumlöffelte, eine zusammenfassende Nachrichtensendung an. Es war viel die Rede von der Gefangennahme der Herter-Halls, und das konnte ich von Albert alles viel genauer erfahren als von den PV-Sprechern.

Dabei fiel mir ein, dass Albert mit mir hatte sprechen wollen, sodass ich mich vorübergehend wohler fühlte. Das gab meinem Dasein Sinn und Zweck. Ich hatte jemanden, den ich anfahren konnte.

»Schwachkopf«, fauchte ich, als er auftauchte. »Magnetbänder sind ein Jahrhundert alt. Wieso kannst du sie nicht lesen?«

Er blickte mich unter seinen buschigen weißen Brauen hervor ruhig an.

»Sie beziehen sich auf die so genannten ›Gebetsfächer‹, Robin, nicht? Natürlich haben wir das versucht, sehr oft sogar. Wir vermuteten sogar, es könnte eine Synergie vorliegen; aus diesem Grund versuchten wir es mit verschiedenen Arten von Magnetfeldern zugleich, stetig und oszillierend, mit unterschiedlicher Geschwindigkeit oszillierend. Wir versuchten es sogar mit simultaner Mikrowellenstrahlung, obschon, wie sich herausstellte, mit der falschen Art …«

Ich war immer noch in Gedanken versunken, aber nicht so stark, dass ich die Folgerung nicht erkannt hätte.

»Soll das heißen, es gibt eine richtige?«

»Klare Sache, Robin.« Er grinste. »Als wir von den Instrumentenmessungen der Herter-Halls eine genaue Aufzeichnung hatten, kopierten wir sie einfach. Dieselbe Mikrowellenstrahlung, die in der Nahrungsfabrik vorhanden ist, ein Strom von wenigen Mikrowatt einer elliptisch polarisierten Mikrowelle mit einer Million Å. Und dann erhalten wir das Signal.«

»Enorm, Albert! Und was habt ihr dann?«

»Hm, tja«, sagte er, während er nach seiner Pfeife griff, »eigentlich noch nicht viel. Es ist hologrammgespeichert und zeitabhängig, sodass wir eine Art zuckender Wolke von Symbolen erhalten. Und natürlich können wir keines der Symbole lesen. Es ist Hitschi-Sprache, wissen Sie. Aber jetzt handelt es sich nur noch um Kryptographie schlechthin, könnte man sagen. Alles, was wir brauchen, ist ein Stein von Rosette.«

»Wie lange?«

Er zog die Schultern hoch, breitete die Hände aus und zwinkerte.

Ich dachte kurz nach.

»Gut, bleib dran. Noch etwas. Ich möchte, dass du das Ganze in mein Anwaltsprogramm kopierst, die Mikrowellen, Frequenzen, technische Pläne, alles. Irgendwo sollte da ein Patent herausschauen, und das möchte ich haben.«

»Klare Sache, Robin. Hemm. Möchten Sie etwas von den Toten Menschen hören?«

»Was ist mit ihnen?«

»Tja«, sagte er, »nicht alle davon sind menschlich. In diesen Speicherschaltungen finden sich ein paar recht sonderbare Gemüter, Robin. Ich glaube, sie könnten das sein, was Sie die Alten nennen.«

In meinem Nacken prickelte es.

»Hitschi?«

»Nein, nein, Robin! Fast menschlich. Aber nicht ganz. Sie können mit der Sprache nicht gut umgehen, vor allem jene, die zu den frühesten zu gehören scheinen, und ich wette, Sie können nicht einmal erraten, was für eine Computerzeit-Rechnung Sie bekommen werden, für Analyse und den Versuch, Sinn in dem Gesagten zu entdecken.«

»Mein Gott! Essie wird staunen, wenn …« Ich verstummte. Einen Augenblick lang hatte ich Essie vergessen. »Na«, sagte ich, »das ist … interessant. Was gibt es noch?« Aber in Wahrheit war mir das gleichgültig. Ich hatte meinen letzten Schuss Adrenalin verbraucht, und mehr gab es einfach nicht.

Ich ließ mir von ihm den Rest seiner Informationen geben, aber das meiste erreichte mich nicht. Nach unseren Kenntnissen waren drei Angehörige der Herter-Halls gefangen genommen worden. Die Hitschi hatten sie an einen spindelförmigen Ort gebracht, wo alte Maschinen herumstanden. Die Kameras übermittelten weiterhin Einzelbilder von nicht sehr aufregendem Inhalt. Die Toten Menschen waren übergeschnappt und gaben überhaupt nichts Vernünftiges mehr von sich. Wo sich Paul Hall befand, wusste niemand. Vielleicht war er noch in Freiheit. Vielleicht lebte er noch. Die unverständliche Verbindung über Funk zwischen den Toten Menschen und der Nahrungsfabrik bestand noch, aber es war nicht klar, wie lange sie halten würde – oder ob sie uns irgendetwas mitteilen konnte. Es war überraschend, dass die Biochemie der Hitschi der menschlichen weniger unähnlich war, als man vermutet hätte. Ich ließ Albert reden, bis er nichts mehr wusste, dann beschäftigte ich mich wieder mit dem PV-Programm. Es brachte zwei Schnellsprech-Komiker, die einander Witze erzählten. Leider auf Portugiesisch. Egal. Ich hatte immer noch eine Stunde hinter mich zu bringen und ließ sie verrinnen. Wenn schon nichts anderes, konnte ich die hübsche Carioca bewundern, Fruchtsalat im Haar, deren knappes Kostüm die Komiker abrissen, wenn sie kichernd vor ihnen auf und ab ging.

Harriets Alarmsignal leuchtete grellrot auf.

Bevor ich mich zu einer Reaktion aufraffen konnte, verschwand diese Szene vom Bildschirm, und eine Männerstimme sagte in strengem Ton etwas auf Portugiesisch. Ich verstand kein Wort davon, doch das Bild, das fast augenblicklich auftauchte, erkannte ich sofort.

Es war die Nahrungsfabrik, eine Aufnahme aus dem Archiv, festgehalten von den Herter-Halls beim Anflug. Und in dem kurzen Satz des Sprechers waren zwei Worte vorgekommen, die »Peter Herter« gelautet haben mochten.

Haben mochten.

Hatten.

Das Bild blieb, aber eine Stimme begann zu sprechen; es war die vom alten Herter, zornig und fest.

»Diese Mitteilung ist sofort über alle Kanäle zu verbreiten«, sagte sie. »Es handelt sich um eine Warnung mit einer Frist von zwei Stunden. In zwei Stunden werde ich einen einminütigen Fieberanfall hervorrufen, indem ich in die Liege klettere und die notwendigen, äh, Projektionen erzeuge. Ich fordere Sie alle auf, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Wenn Sie das nicht tun, liegt die Verantwortung bei Ihnen und nicht bei mir.« Die Stimme schwieg kurze Zeit, dann fuhr sie fort: »Vergessen Sie nicht, Sie haben zwei Stunden. Nicht mehr. Kurz danach werde ich wieder zu Ihnen sprechen, um Ihnen den Grund dafür zu nennen und das, was ich als ein mir zustehendes Recht fordere, wenn Sie nicht wollen, dass das noch oft vorkommt. Zwei Stunden. Ab … jetzt.«

Und die Stimme verstummte.

Der Sprecher tauchte auf, plapperte weiter und wirkte angstvoll. Es spielte keine Rolle, dass ich nicht verstehen konnte, was er sagte.

Ich hatte Peter Herter sehr gut verstanden. Er hatte die Traumliege repariert und würde sie benutzen. Nicht aus Unwissenheit, wie Wan. Nicht als kurzes Experiment, wie Janine. Er würde sie als Waffe benutzen. Er richtete eine Schusswaffe auf die Köpfe der gesamten Menschheit.

Und mein erster Gedanke war: So viel zur Vereinbarung mit Bover. Die Gateway-Gesellschaft würde nun ganz gewiss das Kommando übernehmen, und ich konnte es ihr nicht einmal verdenken.

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