Essie und ich fuhren Wasserski auf dem Tappan-See, als mein Empfänger am Hals summte, um mir mitzuteilen, dass in der Nahrungsfabrik ein Fremder aufgetaucht war. Ich befahl dem Boot sofort, umzukehren und uns zu dem Uferstreifen zurückzubringen, der Eigentum der Robin Broadhead AG war, bevor ich Essie erzählte, worum es ging.

»Ein Junge, Robin?«, schrie sie, um Wasserstoffmotor und Wind zu übertönen. »Wie, zum Teufel, kommt ein Junge in die Nahrungsfabrik?«

»Das müssen wir eben feststellen«, brüllte ich zurück. Das Boot schlängelte sich mit uns geschickt durch das seichte Wasser und wartete, als wir hinaussprangen und über den Rasen liefen. Als es bemerkte, dass wir fort waren, surrte es am Ufer entlang, um irgendwo zu parken.

Nass, wie wir waren, liefen wir direkt in den Gehirnraum. Wir empfingen bereits optische Signale, und der Holotank zeigte einen mageren, zerzausten Jugendlichen, der eine Art geteilten Kilt und eine schmutzige Tunika trug. Er wirkte in keiner Weise bedrohlich, aber hier zu suchen hatte er ganz gewiss nichts.

»Ton«, befahl ich, und die sich bewegenden Lippen begannen zu sprechen – seltsam, schrill, hoch, aber in einem durchaus verständlichen Englisch.

»… von der Hauptstation, ja. Das sind ungefähr sieben Siebentage – Wochen, meine ich. Ich komme oft her.«

»Wie denn, Herrgott noch mal?« Ich konnte den Sprecher nicht sehen, aber es war eine männliche Stimme ohne Akzent: Paul Hall.

»In einem Schiff, versteht sich. Habt ihr kein Schiff? Die Toten Menschen sprechen nur davon, dass man mit Schiffen fliegt; ich kenne keinen anderen Weg.«

»Unglaublich«, sagte Essie über meine Schulter. Sie wich zurück, ohne den Blick vom Holotank abzuwenden, und kam mit einem Frotteemantel, um ihn mir über die Schultern zu werfen; dann zog sie ebenfalls einen an. »Was kann ›Hauptstation‹ sein?«

»Wenn ich das wüsste. Harriet?«

Die Stimmen im Tank wurden leiser, und die Stimme meiner Sekretärin sagte: »Ja, Mr. Broadhead?«

»Wann ist er angekommen?«

»Vor ungefähr siebzehn Komma vier Minuten, Mr. Broadhead. Zuzüglich Übertragungszeit von der Nahrungsfabrik, versteht sich. Entdeckt wurde er von Janine Herter. Sie schien keine Kamera bei sich zu haben, sodass wir nur den Ton empfingen, bis jemand von den anderen Angehörigen des Teams erschien.« Sofort, als sie verstummte, wurde die Stimme der Gestalt im Tank wieder laut; Harriet ist ein sehr gutes Programm, eines der besten von Essie.

»… mir Leid, wenn ich mich unanständig benommen habe«, sagte der Junge gerade.

Nach einer Pause war der alte Peter Herter zu vernehmen.

»Lass das doch, Mensch. Sind auf dieser Hauptstation noch andere Leute?«

Der Junge spitzte die Lippen.

»Das«, meinte er philosophisch, »würde davon abhängen, wie man ›Person‹ definiert, nicht? Im Sinne eines lebenden Organismus unserer Art, nein. Am nächsten kommen die Toten Menschen.«

Eine Frauenstimme … Dorema Herter-Hall.

»Hast du Hunger? Brauchst du irgendetwas?«

»Nein, wozu?«

»Harriet? Was war das mit dem unanständigen Benehmen?«, fragte ich.

Harriets Stimme klang zögernd.

»Er, äh, hat sich zum Orgasmus gebracht, Mr. Broadhead. Vor Janine Herters Augen.«

Ich konnte nicht anders – ich fing an zu lachen.

»Essie«, sagte ich zu meiner Frau, »ich glaube, du hast sie ein bisschen zu damenhaft gemacht.« Aber das war es nicht, worüber ich lachte. Es war die unübersehbare Ungereimtheit des Ganzen. Ich hatte … alles Mögliche erwartet. Alles, nur das nicht: einen Hitschi, einen Raumpiraten, Marsmenschen – weiß der Himmel was, aber nicht einen geilen Jüngling.


Hinter mir scharrten Stahlklauen, dann sprang etwas auf meine Schulter.

»Runter mit dir, Putzi«, zischte ich.

»Lass ihn ein bisschen am Hals schnüffeln. Er geht schon wieder«, sagte Essie.

»Er ist nicht sauber«, knurrte ich. »Können wir ihn nicht loswerden?«

»Na, na, galubka«, sagte sie beschwichtigend und tätschelte meinen Kopf, als sie aufstand. »Du willst doch medizinischen Vollschutz, nicht? Putzi gehört dazu.« Sie küsste mich und ging hinaus, während ich über das nachdachte, was alle möglichen kleinen, aber unangenehmen Regungen in mir hervorrief. Einen Hitschi zu sehen! Das hatten wir ja nun nicht erwartet – aber was, wenn doch?

Als die ersten Venus-Erforscher die Spuren entdeckten, die von den Hitschi hinterlassen worden waren – leuchtende, blauwandige, leere Tunnels, spindelförmige Höhlen –, war das ein Schock. Ein paar Gegenstände – ein weiterer Schock –, was war das alles? Da waren die Metallgebilde, die jemand »Gebetsfächer« nannte (aber beteten die Hitschi wirklich, und wenn, dann zu wem?). Da waren die glühenden kleinen Kügelchen, »Feuerperlen« genannt, doch sie waren keine Perlen und brannten auch nicht. Dann fand jemand den Gateway-Asteroiden, was den größten Schock hervorrief, weil er an die zweihundert funktionierende Raumschiffe enthielt. Nur konnte man sie nicht steuern. Man konnte einsteigen und losfliegen …

Ich kannte mich diesbezüglich aus. Ich hatte solche Schocks bei meinen drei armseligen Flügen erlebt – nein, zwei armselige. Und dann ein schrecklicher, unarmseliger. Er hatte mich reich gemacht und mir jemanden geraubt, den ich liebte, und was ist daran armselig?

Und seither hatten die Hitschi – seit einer halben Jahrmillion tot, nicht einmal ein geschriebenes Wort hinterlassend, um mitzuteilen, was sie trieben – unsere ganze Welt durchdrungen. Es gab nichts als Fragen und kaum Antworten. Wir wussten nicht einmal, wie sie sich selbst nannten – gewiss nicht »Hitschi«, weil das nur ein Name war, den die Entdecker für sie erfunden hatten. Wir besaßen keine Ahnung davon, wie diese fernen und gottähnlichen Wesen sich selbst genannt hatten. Aber wir wussten auch nicht, wie Gott selbst sich nannte. Jehova, Jupiter, Baal, Allah – das waren Namen, von Menschen erfunden. Wer wusste, unter welchem Namen ER bei SEINEN Freunden bekannt war?

Ich gab mir Mühe, zu empfinden, was ich empfunden hätte, wenn der Fremde in der Nahrungsfabrik wirklich ein Hitschi gewesen wäre, als die Toilette rauschte, Essie aus ihr herauskam und Putzi zur Schüssel jagte. Es gibt unliebsame Dinge, wenn man medizinisch voll versorgt ist, und ein mobiles Bioprüfgerät gehört dazu.

»Du vergeudest meine Programmzeit!«, maulte Essie, und ich bemerkte, dass Harriet geduldig im Tank saß und darauf wartete, dass weitere Informationen abgerufen wurden, nämlich über jene Dinge, die mich ebenfalls betrafen. Der Bericht von der Nahrungsfabrik wurde aufgezeichnet und gespeichert, das verstand sich von selbst. Während Essie in ihr Büro ging, um zu erledigen, was an Wichtigem bei ihr angefallen war, bat ich Harriet, beim Koch das Mittagessen zu bestellen, und ließ sie ihre Sekretärinnenpflichten erfüllen.

»Sie haben morgen früh einen Termin, um vor dem Steuerbewilligungsausschuss des Senats auszusagen, Mr. Broadhead.«

»Ich weiß. Ich werde dort sein.«

»Dieses Wochenende ist Ihre nächste Untersuchung fällig. Soll ich den Termin bestätigen?«

Das ist einer der Nachteile von medizinischem Vollschutz, und außerdem besteht Essie darauf – sie ist zwanzig Jahre jünger als ich und erinnerte mich immer wieder daran.

»Gut, bringen wir das hinter uns.«

»Sie werden von einem Hanson Bover verklagt, und Morton möchte mit Ihnen darüber sprechen. Ihre konsolidierte Vierteljahresbilanz ist eingetroffen und liegt in Ihrem Schreibtischarchiv – ausgenommen die Anteile an den Nahrungsgruben, die erst morgen genau berechnet sind. Und dann ist da noch eine Reihe nicht so wichtiger Nachrichten – die meisten habe ich schon erledigt –, die Sie zu einem geeigneten Zeitpunkt zur Kenntnis nehmen können.«

»Danke. Das wäre vorerst alles.« Der Tank wurde durchsichtig, und ich lehnte mich im Sessel zurück, um nachzudenken.

Ich brauchte die Vierteljahresbilanz nicht zu sehen – ich wusste schon ziemlich genau, was sie enthielt. Die Immobilieninvestitionen hielten sich gut; der kleine Rest, den ich in Meeresfarmen gesteckt hatte, ging einem Jahr der Rekordgewinne entgegen. Alles war stabil, bis auf die Ausbeute der Nahrungsgruben. Das letzte 130-Tage-Fieber hatte uns viel gekostet. Ich konnte den Leuten in Cody nicht die Schuld geben; sie waren so wenig verantwortlich wie ich, dass das Fieber auftrat. Aber sie hatten auf irgendeine Weise die Thermalbohrungen außer Kontrolle geraten lassen, sodass unter dem Boden 20 Quadratkilometer von unserem Schiefer langsam verbrannten. Es hatte drei Monate gedauert, die Grube wieder in Betrieb zu nehmen, und was das kosten würde, wussten wir immer noch nicht. Kein Wunder, dass die Vierteljahresbilanz dort sich verspätete.

Aber das war nur ein Ärgernis, keine Katastrophe. Ich hatte mein Kapital zu weit gestreut, um zu kippen, sobald irgendein einzelner Sektor in die roten Zahlen geriet. Ohne den Rat Mortons wäre ich an Nahrungsgruben gar nicht beteiligt gewesen; steuerlich machte sich der Nachlass sehr günstig bemerkbar. (Ich hatte allerdings fast meine ganzen Anteile an Meeresfarmen verkauft, um dort einzusteigen.) Morton hatte anschließend berechnet, dass ich meine Steuerlast noch weiter reduzieren könnte, und wir gründeten das Broadhead-Institut für außersolarische Forschung. Ich ging auch eine Partnerschaft mit der Gateway-Gesellschaft ein, die Sonden zu vier Hitschimetall-Quellen im oder beim Sonnensystem schickte, und eine davon war die Nahrungsfabrik gewesen. Sofort, nachdem der Kontakt hergestellt war, gründeten wir eine eigene Ausbeutungsfirma, um uns damit zu befassen – und das schien nun ernsthaft interessant zu werden.

»Harriet? Geben Sie mir noch einmal die Direktübertragung von der Nahrungsfabrik«, sagte ich.

Das Hologramm entstand, und der Junge redete immer noch mit seiner schrillen, quäkenden Stimme. Ich versuchte den Sinn des Gesagten zu erfassen – etwas von einem Toten Mann (nur war es kein Mann, weil der Name »Henrietta« lautete), der mit ihm gesprochen hatte (also nicht tot war?), von einem Gateway-Flug, an dem Henrietta teilgenommen hatte. (Wann? Weshalb hatte ich nichts von ihr gehört?) Es war alles sehr verwirrend, und mir fiel etwas Besseres ein. »Albert Einstein, bitte«, sagte ich, und das Hologramm geriet ins Kreiseln und zeigte das eindrucksvolle alte und faltige Gesicht, das mich anstarrte.

»Ja, Robin«, sagte mein Wissenschaftsprogramm und griff nach Pfeife und Tabak, wie er es fast immer tut, wenn wir miteinander reden.

»Ich brauche von dir ein paar kluge Schätzungen über die Nahrungsfabrik und den Jungen, der dort aufgetaucht ist.«

»Klare Sache, Robin«, sagte er und drückte den Tabak mit dem Daumen hinein. »Der Junge heißt Wan. Er scheint zwischen vierzehn und neunzehn Jahre alt zu sein, vermutlich eher jünger, und ich möchte annehmen, dass er genetisch eindeutig ein Mensch ist.«

»Woher kommt er?«

»Ah, da habe ich nur Vermutungen, Robin. Er spricht von einer ›Hauptstation‹, mutmaßlich einem anderen Hitschi-Gebilde, das in irgendeiner Form Gateway, Gateway Zwei oder der Nahrungsfabrik selbst ähnelt, aber ohne irgendeine offensichtliche Funktion. Dort scheinen keine anderen lebenden Menschen zu sein. Er spricht von ›Toten Menschen‹, die eine Art Computerprogramm wie ich zu sein scheinen, obwohl nicht klar ist, ob sie in Wirklichkeit nicht völlig anderen Ursprungs sein könnten. Er erwähnt ferner lebende Wesen, die er ›die Alten‹ oder ›Froschgesichter‹ nennt. Er hat wenig Kontakt mit ihnen, er meidet sie sogar, und es ist nicht klar, woher sie kommen.«

Ich atmete tief ein.

»Hitschi?«

»Ich weiß es nicht, Robin. Ich kann nicht einmal eine Vermutung anstellen. Nach Occams Verfahren könnte man davon ausgehen, dass lebende Nicht-Menschen, die ein Hitschi-Gebilde bewohnen, durchaus Hitschi sein müssten – aber es gibt keine direkten Hinweise. Wir haben keine Ahnung, wie Hitschi aussehen.«

Ich wusste es. Es war ein ernüchternder Gedanke, dass wir es vielleicht bald erfahren würden.

»Sonst noch etwas? Kannst du mir sagen, wie weit die Versuche gediehen sind, die Fabrik zurückzubringen?«

»Klare Sache, Robin«, sagte er und zündete die Pfeife mit einem Streichholz an. »Aber ich fürchte, die Nachrichten sind nicht gut. Das Objekt scheint kursprogrammiert zu sein und unter starrer Kontrolle zu stehen. Was wir auch tun mögen, es leistet Widerstand.«

Es war eine knappe Entscheidung gewesen, ob die Nahrungsfabrik draußen in der Oort’schen Wolke bleiben und man versuchen sollte, auf irgendeine Weise Nahrung zur Erde zurückzutransportieren, oder ob das ganze Gebilde hergeschafft werden sollte. Nun sah es ganz so aus, als würden wir keine Wahl haben.

»Glaubst du, dass es unter Hitschi-Kontrolle steht?«

»Es gibt noch keine Möglichkeit, das zu beurteilen. Ich neige eher zu der gegenteiligen Meinung. Aber es gibt auch etwas Ermutigendes«, fuhr er fort, an seiner Pfeife ziehend. »Darf ich Ihnen Aufnahmen von der Fabrik zeigen?«

»Bitte, ja«, sagte ich, aber er hatte gar nicht gewartet; Albert ist ein höfliches Programm, aber auch ein kluges. Er verschwand, und ich betrachtete eine Szene, in welcher Wan, der Jüngling, Peter Herter zeigte, wie man in der Wand eines Ganges das öffnete, was nach einer Luke aussah. Er zog schlaffe, weiche Päckchen unbestimmbaren Inhalts in grellroter Verpackung heraus.

»Unsere Annahme über die Art des Gebildes scheint sich zu bestätigen, Robin. Das sind essbare Stoffe, und laut Wan werden sie ständig erneuert. Er ernährt sich schon fast sein ganzes Leben davon und scheint, wie Sie sehen können, im Grunde sehr gesund zu sein – ich fürchte nur, dass er gerade im Begriff steht, sich eine Erkältung zuzuziehen.«

Ich blickte über seine Schulter auf die Uhr – er achtete wegen mir stets darauf, dass sie die genaue Zeit zeigte.

»Das wäre vorerst alles. Halte mich auf dem Laufenden, wenn sich irgendetwas ergibt, das deine Schlussfolgerungen beeinflusst.«

»Klare Sache, Robin«, sagte er, während er verblasste.

Ich stand auf. Die Unterhaltung über das Essen erinnerte mich daran, dass die Mittagsmahlzeit bald fertig sein musste, und ich war nicht nur hungrig, ich gedachte nach dem Essen auch eine Pause einzulegen. Ich knöpfte den Mantel zu – dann fiel mir die Mitteilung über die Klage ein. Im Leben reicher Menschen ist das nichts Besonderes, aber wenn Morton mit mir reden wollte, hörte ich wohl besser zu.

Er meldete sich sofort, an seinem Schreibtisch sitzend, und beugte sich vor.

»Wir werden verklagt, Robin«, sagte er. »Die Firma zur Ausbeutung der Nahrungsfabrik GmbH, die Gateway-GmbH, sowie Paul Hall, Dorema Herter-Hall und Peter Herter, beide in propria persona ebenso wie als Vormünder der Mitbeklagten Janine Herter. Zusätzlich die Stiftung und Sie persönlich.«

»Wenigstens scheine ich in guter Gesellschaft zu sein. Muss ich mir Sorgen machen?«

Pause.

»Ein bisschen schon, glaube ich«, sagte er nachdenklich. »Die Klage wird von Hanson Bover erhoben, Trishs Ehemann oder Witwer, je nach Betrachtungsweise.« Morton flimmerte ein bisschen. Das ist ein Fehler in seinem Programm, und Essie will das auch beheben – aber seine juristischen Fähigkeiten sind dadurch nicht beeinträchtigt, und mir gefällt es ganz gut. »Er hat sich zu Trishs Vermögensverwalter ernennen lassen, und auf der Grundlage ihrer ersten Landung auf der Nahrungsfabrik verlangt er einen Anteil von allem, was dabei herauskommt, so, als wäre die Mission vollständig abgeschlossen worden.«

Sehr komisch war das nicht. Selbst wenn wir das verdammte Ding nicht vom Fleck brachten, konnten die Prämien angesichts der neuen Entwicklung enorm hoch werden.

»Wie kann er das verlangen? Sie hat den üblichen Vertrag unterschrieben, nicht? Alles, was wir tun müssen, ist also nur, den Vertrag vorzulegen. Sie ist nicht zurückgekommen, also bekommt sie keinen Anteil.«

»So müssen wir uns verhalten, wenn es vor Gericht geht, ja, Robin. Aber es gibt da ein, zwei mehrdeutige Präzedenzfälle. Vielleicht nicht einmal mehrdeutig – ihr Anwalt hält sie für hieb- und stichfest, auch wenn sie schon etwas alt sind. Der wichtigste betrifft einen Mann, der einen Vertrag über fünfzigtausend Dollar abgeschlossen hatte, die Niagara-Fälle auf einem Drahtseil zu überqueren. Kein Auftritt, keine Bezahlung. Auf halbem Weg fiel er herunter. Die Gerichte waren der Meinung, er sei aufgetreten, also musste man bezahlen.«

»Das ist doch verrückt, Morton!«

»Das ist das Fallrecht, Robin. Aber ich habe nur gesagt, Sie müssten sich ein bisschen Sorgen machen. Ich nehme an, dass uns nichts passieren kann, ich bin nur nicht sicher. Wir müssen ein Erscheinen binnen zwei Tagen beantragen, dann sehen wir schon, wie es läuft.«

»Also gut. Schön weiterflimmern, Morton«, sagte ich und stand nun endgültig auf, weil jetzt ganz sicher Essenszeit war. Essie kam auch schon durch die Tür und war zu meiner Enttäuschung ganz angezogen.

Essie ist eine sehr schöne Frau, und eine der Freuden, mit ihr seit fünf Jahren verheiratet zu sein, ist die, dass sie mir jedes Jahr besser gefällt als das Jahr zuvor. Sie legte den Arm um meinen Hals, während wir zur Veranda gingen, und drehte den Kopf, um mich anzusehen.

»Was ist los, Robin?«, fragte sie.

»Nichts ist los, liebe S. Ya.«, sagte ich. »Nur hatte ich vor, dich nach dem Mittagessen zum gemeinsamen Duschen einzuladen.«

»Du bist ein geiler alter Bock, Alterchen«, sagte sie streng. »Warum nicht duschen, wenn es dunkel ist und wir ganz natürlich und unausweichlich zu Bett gehen?«

»Wenn es dunkel ist, muss ich in Washington sein. Und morgen musst du nach Tucson zu deiner Konferenz, und dieses Wochenende muss ich zu meiner medizinischen Untersuchung. Ist aber nicht wichtig.«

Sie setzte sich an den Tisch.

»Du bist auch ein schrecklich schlechter Lügner«, erklärte sie. »Iss schnell, Alterchen. Schließlich kann man gar nicht genug duschen.«

»Weißt du, dass du ein durch und durch sinnliches Wesen bist, Essie?«, sagte ich. »Das ist einer deiner schönsten Züge.«


Die Vierteljahresbilanz über meine Nahrungsgruben war vor dem Frühstück im Schreibtischarchiv meiner Suite in Washington. Sie sah noch schlimmer aus, als ich erwartet hatte; unter den Bergen von Wyoming waren mindestens zwei Millionen Dollar verbrannt, und jeden Tag verschwelten weitere fünfzigtausend, bis das Feuer ganz gelöscht war. Falls das je gelang. Das bedeutete nicht, dass ich in Schwierigkeiten war, aber es konnte bedeuten, dass ein bestimmter Teil eines mühelosen Kredits nicht mehr so mühelos zu erlangen sein würde. Und nicht nur ich wusste das, sondern bis ich zum Sitzungssaal der Senatsanhörung kam, schien es auch ganz Washington zu wissen. Ich machte rasch meine Aussage, im selben Raum wie zuvor, und als ich fertig war, vertagte Senator Praggler die Sitzung und begleitete mich hinaus.

»Ich kann Sie nicht verstehen, Robin«, sagte er. »Hat Ihr Feuer denn gar keinen Sinneswandel bewirkt?«

»Nein, warum? Ich denke langfristig.«

Er schüttelte den Kopf.

»Da ist jemand, der große Anteile an Nahrungsgruben hält – Sie – und sich für eine höhere Besteuerung der Gruben einsetzt. Ergibt keinen Sinn.«

Ich erklärte ihm alles noch einmal. Insgesamt gesehen, konnten die Nahrungsgruben es sich mühelos leisten, sagen wir zehn Prozent vom Umsatz dafür aufzuwenden, die Rocky Mountains wiederherzustellen, sobald der Schiefer herausgeholt worden war. Aber keine Firma konnte es sich leisten, das allein zu machen. Wenn wir das taten, würden wir aus dem Wettbewerb einfach ausscheiden und von allen anderen Unternehmen unterboten werden.

»Wenn Sie den Verfassungszusatz durchbringen, Tim«, sagte ich, »werden wir alle dazu gezwungen. Die Nahrungsmittelpreise steigen, ja, aber nicht stark. Meine Finanzleute sagen, pro Person im Jahr nicht mehr als acht oder neun Dollar. Und wir werden eine fast unverdorbene Landschaft haben.«

Er lachte.

»Sie sind ein seltsamer Mensch. Mit Ihrer ganzen Weltverbesserei … und mit Ihrem Geld, ganz zu schweigen davon.« Er wies mit dem Kinn auf die Flugspangen, die ich immer noch am Ärmel trug. Sie waren Abzeichen meiner drei Flüge als Prospektor, von denen jeder mich zu Tode erschreckt hatte. »Warum kandidieren Sie nicht für den Senat?«

»Mag nicht, Tim. Außerdem würde ich, wenn ich mich in New York aufstellen ließe, gegen Sie oder Sheila antreten, und das möchte ich schon gar nicht. Ich halte mich nicht lange genug in Hawaii auf, um es dort tun zu können. Und nach Wyoming ziehe ich nicht mehr.«

Er klopfte mir auf die Schulter.

»Nur dieses eine Mal«, sagte er, »werde ich auf altmodische Weise politisch die Muskeln spielen lassen. Ich werde versuchen, Ihren Verfassungszusatz für Sie durchzubekommen, obwohl der Himmel weiß, was Ihre Konkurrenten alles tun werden, um Sie aufzuhalten.«

Nachdem wir uns verabschiedet hatten, schlenderte ich zum Hotel zurück. Es bestand kein besonderer Grund, nach New York zurückzukehren, während Essie in Tucson war. Ich beschloss deshalb, den Rest des Tages in meiner Hotelsuite in Washington zu verbringen – eine schlechte Entscheidung, wie sich herausstellte, aber das wusste ich da noch nicht. Ich dachte darüber nach, ob es mich störte, als Weltverbesserer zu gelten, oder nicht. Mein alter Psychoanalytiker hatte mir dazu verholfen, Lob für Dinge annehmen zu können, die es meiner Ansicht nach verdienten, aber das meiste, was ich tat, unternahm ich für mich selbst. Der Verfassungszusatz über die Wiederbepflanzung würde mich keinen Cent kosten, wir würden das durch Preiserhöhung ausgleichen, wie ich schon erklärt hatte. Das Geld, das ich in den Weltraum steckte, mochte sich in Dollargewinnen bezahlt machen – ich ging sogar davon aus, dass vieles dafür sprach –, aber es ging auf jeden Fall dorthin, weil es auch von dort gekommen war. Und außerdem war ich da draußen noch nicht fertig. Irgendwo. Ich saß an meinem Fenster in der Penthouse-Etage des Hotels, fünfundvierzig Stockwerke hoch, blickte zum Capitol und zum Washington-Denkmal hinüber und fragte mich, ob das, womit ich nicht fertig war, noch lebte. Ich hoffte es. Selbst wenn sie mich immer noch hassen sollte.

Über meine unerledigte Sache nachzudenken, veranlasste mich, an Essie zu denken, die inzwischen in Tucson eingetroffen sein würde, und das versetzte mir einen sorgenvollen Stich. Wir standen unmittelbar vor einem neuen Auftreten des 130-Tage-Fiebers. Ich hatte nicht früh genug darüber nachgedacht. Der Gedanke, dass sie dreitausend Kilometer entfernt war, gefiel mir nicht – für den Fall, dass es schlimm werden würde. Und obwohl ich kein eifersüchtiger Mensch bin, wenn auch ein wollüstiger und sinnenfroher, zog ich es eigentlich vor, dass Essie wollüstig und sinnenfroh mit mir zusammen war.

Warum nicht? Ich rief Harriet an und ließ einen Platz in einer Nachmittagsmaschine nach Tucson reservieren. Ich konnte meine Geschäfte von dort aus ebenso gut führen wie anderswo, wenn auch vielleicht nicht ganz so bequem. Und dann widmete ich mich den akuten Problemen. Zuerst Albert. Es gäbe nichts wesentlich Neues, erklärte er, außer dass der junge Mann eine schwere Erkältung zu haben schien.

»Wir haben die Herter-Hall-Leute aufgefordert, die üblichen Antibiotika und Symptomhemmer zu geben«, sagte er zu mir, »aber sie werden die Nachricht natürlich erst in einigen Wochen erhalten.«

»Ernst?«

Er zog die Brauen zusammen und sog an seiner Pfeife.

»Wan ist den meisten Viren und Bakterien nie ausgesetzt gewesen«, meinte er, »sodass ich nichts Eindeutiges sagen kann. Aber nein, ich hoffe nicht. Außerdem verfügt die Expedition über Heilmittelvorräte und Ausrüstung medizinischer Art, die mit den meisten Erkrankungen fertig werden kann.«

»Weißt du schon mehr über ihn?«

»Sehr viel, aber nichts, was meine vorherige Einschätzung ändern würde, Robin.« Paff, paff. »Seine Mutter war spanischer Abstammung, sein Vater Angloamerikaner, und sie sind beide Gateway-Prospektoren gewesen. So sieht es jedenfalls aus. Offenbar waren auch die Persönlichkeiten Prospektoren, die er als die ›Toten Menschen‹ bezeichnet, obwohl noch immer unklar ist, was diese eigentlich sind.«

»Albert«, sagte ich, »nimm dir ein paar alte Gateway-Flüge vor, die mindestens zehn Jahre zurückliegen. Stell fest, ob du eine Mission finden kannst, an der ein Amerikaner und eine Spanierin teilgenommen haben – ohne zurückzukehren.«

»Klare Sache, Bob.« Eines Tages musste ich ihn auffordern, eine flottere Sprache zu gebrauchen, aber er arbeitet eigentlich sehr gut, so wie er ist. Er sagte fast sofort: »Es gibt keine solche Mission. Allerdings fand ein Start statt, an dem eine schwangere Spanierin beteiligt war. Darüber liegt noch kein Bericht vor. Soll ich dir die Einzelheiten zeigen?«

»Klare Sache, Albert«, sagte ich, aber er ist nicht darauf programmiert, solche Nuancen zu verstehen. Die Einzelheiten verrieten nicht viel. Ich hatte die Frau nicht gekannt; sie war vor meiner Zeit auf Gateway gewesen. Aber sie war mit einem Einer hinausgeflogen, nachdem sie einen Fünfer-Flug überlebt hatte, bei dem ihr Ehemann und die anderen drei Besatzungsmitglieder getötet worden waren. Und man hatte nie wieder etwas von ihr gehört. Die Mission war eine von der Art gewesen: ›Flieg hinaus und sieh zu, was du bekommst.‹ Was sie bekommen hatte, war ein Kind gewesen, an irgendeinem fernen Ort.

»Das erklärt aber Wans ›Vater‹ nicht, oder?«

»Nein, Robin, aber er nahm vielleicht an einem anderen Flug teil. Wenn wir davon ausgehen, dass die Toten Menschen auf irgendeine Weise mit Flügen zu tun haben, die nicht zurückgekommen sind, muss es mehrere davon gegeben haben.«

»Und du bist sicher, dass die Toten Menschen alle Prospektoren waren?«

»Klare Sache, Robin.«

»Aber wie? Meinst du, dass ihre Gehirne irgendwo aufbewahrt worden sind?«

»Bezweifle ich, Robin«, sagte er und zündete nachdenklich noch einmal seine Pfeife an. »Die Daten sind unzureichend, aber ich würde meinen, dass Ganzhirn-Erhaltung keine größere Wahrscheinlichkeit als ein Zehntel Prozent besitzt.«

»Und die anderen Möglichkeiten?«

»Eine Aufzeichnung der chemischen Gedächtnisspeicherung: keine hohe Wahrscheinlichkeit, vielleicht drei Prozent. Das ist aber immer noch der höchste Wert. Freiwillige Übertragung durch die Personen selbst – beispielsweise, indem sie alle ihre Erinnerungen auf Band gesprochen haben: ganz geringe Wahrscheinlichkeit. Höchstens ein Promille. Direkter Mentalanschluss – was man eine Art Telepathie nennen könnte: etwa der gleiche Wert. Unbekannte Methoden: über fünf Prozent. Selbstverständlich ist Ihnen klar, dass alle diese Schätzungen auf unzureichenden Daten und unzureichenden Hypothesen beruhen, Robin«, fügte er hastig hinzu.

»Wenn du mit den Toten Menschen unmittelbar sprechen könntest, wäre es vermutlich leichter für dich.«

»Klare Sache, Bob. Und ich stehe im Begriff, einen solchen Zugang über den Herter-Hall-Bordcomputer zu erbitten, aber das erfordert eine sorgfältige Vorarbeit. Der Bordcomputer ist nicht besonders gut, Robin.« Er zögerte. »Ähm, Robin? Da ist noch ein interessanter Punkt.«

»Nämlich?«

»Wie Sie wissen, waren an der Nahrungsfabrik mehrere große Schiffe angedockt, als man sie entdeckte. Die Fabrik steht seither unter ständiger Beobachtung, und die Zahl der Schiffe ist gleich geblieben – nicht gerechnet das Herter-Hall-Schiff und dasjenige, mit dem Wan vor zwei Tagen eintraf, versteht sich. Aber es ist nicht gewiss, dass es immer noch dieselben Schiffe sind.«

»Was?«

»Es ist nicht gewiss, Robin«, betonte er. »Ein Hitschi-Schiff sieht wie das andere aus. Aber die genaue Überprüfung der Anflugaufnahmen scheint zumindest bei einem der großen eine andere Ausrichtung zu zeigen. Möglicherweise bei allen dreien. So, als wären die vorher anwesenden Schiffe abgeflogen und hätten anderen Platz gemacht.«

An meinem Rückgrat glitt ein kalter Finger auf und ab.

»Albert«, sagte ich nervös, »weißt du, was das bei mir an Überlegungen auslöst?«

»Klare Sache, Robin«, erwiderte er ernsthaft. »Es löst die Überlegung aus, dass die Nahrungsfabrik noch immer arbeitet. Dass sie die Kometengase in CHON-Nahrung verwandelt. Und sie irgendwo hinschickt.«

Ich schluckte mühsam, aber Albert sprach weiter.

»Außerdem findet sich in der Umgebung sehr viel ionisierende Strahlung«, sagte er. »Ich muss einräumen, dass ich nicht weiß, woher sie kommt.«

»Ist das für die Herter-Halls gefährlich?«

»Nein, Robin, das nehme ich nicht an. Nicht mehr als Piezovision-Sendungen für Sie etwa. Es ist nicht das Risiko, was mir Kopfzerbrechen macht, sondern die Quelle.«

»Kannst du nicht die Herter-Halls bitten nachzuforschen?«

»Klare Sache, Robin. Das habe ich schon getan. Aber es wird fünfzig Tage dauern, bis die Antwort eintrifft.«

Ich ließ ihn verschwinden und lehnte mich in meinem Sessel zurück, um über die Hitschi und ihre seltsame Art nachzudenken …

Und dann kam es.

Meine Schreibtischsessel bieten normalerweise maximale Bequemlichkeit und Sicherheit, aber diesmal kippte ich beinahe um damit. In Sekundenbruchteilen bekam ich Schmerzen. Nicht nur Schmerzen, mir war schwindlig, ich wusste kaum, wo ich mich befand, ich halluzinierte sogar. Mein Kopf fühlte sich an, als wolle er platzen, und meine Lunge schien von Flammen versengt zu werden. Ich war geistig und körperlich noch nie so krank gewesen, und gleichzeitig ertappte ich mich dabei, dass ich unglaubliche Kunststücke auf dem Gebiet der Sexualakrobatik zusammenphantasierte.

Ich versuchte aufzustehen und konnte nicht. Ich sank völlig hilflos in den Sessel zurück.

»Harriet!«, krächzte ich. »Einen Arzt!«

Sie brauchte volle drei Sekunden, um zu reagieren, dann waberte ihr Bild stärker als das von Morton.

»Mr. Broadhead«, sagte sie mit einem merkwürdigen Ausdruck der Sorge, »ich kann das nicht erklären, aber die Schaltungen sind alle besetzt. Ich … ich … ich …« Es war nicht nur ihre Stimme, die sich unaufhörlich wiederholte. Ihr Kopf und der Körper wirkten wie ein kurzes Video-Endlosband, immer wieder begann dasselbe Wort, immer wieder schaltete das Bild mitsamt dem Ton zurück und fing von neuem an.

Ich fiel vom Sessel auf den Boden, und mein letzter klarer Gedanke war:

Das Fieber.

Es war wieder da. Schlimmer, als ich es je zuvor verspürt hatte. Schlimmer vielleicht, als ich es durchstehen konnte, so schmerzhaft, so Furcht erregend, psychotisch fremdartig, dass ich nicht sicher war, ob ich es überhaupt durchstehen wollte.

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