KONTOAUSZUG

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Ich blicke lange Zeit hin, dann sage ich: »Schalt sie ab, Sigfrid.«

Im Erholungsraum schlafe ich für einen Augenblick fast ein. Ich bin noch nie so entspannt gewesen.

Ich wasche mir das Gesicht, rauche noch eine Zigarette, dann gehe ich hinaus in das helle, diffuse Tageslicht unter der Kuppel, und alles sieht so gut und freundlich aus. Ich denke in Liebe und mit Zärtlichkeit an Klara, und in meinem Herzen sage ich ihr Lebewohl. Dann denke ich an S. Ya., mit der ich am Abend verabredet bin – wenn ich mich nicht schon verspätet habe! Aber sie wird warten; sie ist ein feiner Kerl, fast so gut wie Klara.

Klara.

Ich bleibe mitten auf der Straße stehen, und die Leute prallen mit mir zusammen. Eine kleine, alte Dame in superkurzen Shorts trippelt heran und sagt: »Ist etwas nicht in Ordnung?«

Ich starre sie an und antworte nicht, dann drehe ich mich um und gehe zurück zu Sigfrids Sprechzimmer.


Es ist niemand da, nicht einmal ein Hologramm. Ich brülle: »Sigfrid! Wo, zum Teufel, bist du?«

Niemand. Keine Antwort. Ich bin zum ersten Mal im Zimmer, wenn es nicht eingerichtet ist. Ich kann jetzt sehen, was echt ist und was Hologramm war; nicht viel ist echt. Metallwände, Vorsprünge für Projektoren. Die Matte (echt); der Schrank mit dem Sherry (echt); ein paar andere Möbelstücke. Aber kein Sigfrid. Nicht einmal der Stuhl, auf dem er sonst sitzt.

»Sigfrid!«

Ich schreie unaufhörlich, während mir das Herz in die Kehle springt und mein Gehirn rotiert.

»Sigfrid!«, kreische ich, und endlich gibt es eine Art Leuchten und einen Blitz, und da ist er, in seinem Sigmund-Freud-Anzug, und sieht mich höflich an.

»Ja, Bob?«

»Sigfrid, ich habe sie doch ermordet! Sie ist fort!«

»Ich sehe, dass du erregt bist, Bob«, erklärt er. »Kannst du mir sagen, was dich beunruhigt?«

»Beunruhigt! Das ist mehr als Beunruhigung, Sigfrid. Ich habe neun Menschen getötet, um mein eigenes Leben zu retten! Vielleicht nicht ›in Wirklichkeit‹! Vielleicht nicht ›mit Absicht‹! Aber in ihren Augen habe ich sie ebenso umgebracht wie in den meinen!«

»Aber, Bob«, meint er vernünftig, »das haben wir doch alles besprochen. Sie lebt noch; sie leben alle noch. Die Zeit steht für sie still …«

»Ich weiß!«, heule ich auf. »Begreifst du denn nicht, Sigfrid? Das ist es ja! Ich habe sie nicht nur getötet, ich töte sie immer noch!«

»Glaubst du, dass wahr ist, was du eben gesagt hast, Bob?«

»Sie glaubt es! Jetzt und für immer, solange ich lebe. Für sie ist das nicht Jahre her, sondern erst ein paar Minuten, und es bleibt mein ganzes Leben so. Ich bin hier unten, werde älter, versuche zu vergessen, und Klara ist da oben in Sagittarius YY und treibt umher wie eine Fliege im Bernstein!« Ich lasse mich auf die nackte Plastikmatte fallen und schluchze. Sigfrid hat langsam das ganze Zimmer wieder eingerichtet. Über meinem Kopf hängen Piñatas, an der Wand ein Holobild vom Gardasee bei Sirmione, Schwebeboote, Segelboote und Schwimmer.

»Lass den Schmerz heraus«, sagt Sigfrid leise. »Lass ihn ganz heraus.«

»Was glaubst du, dass ich tue?« Ich drehe mich herum und starre an die Decke. »Ich könnte den Schmerz und die Schuld überwinden, wenn sie es könnte, Sigfrid. Aber für sie ist es nicht vorbei. Sie ist dort draußen und sitzt fest in der Zeit.«

»Weiter, Bob.«

»Jede Sekunde ist immer die neueste Sekunde in ihrem Denken – die Sekunde, in der ich ihr Leben weggeworfen habe, um das meine zu retten. Ich lebe und werde alt und sterbe, bevor sie diese Sekunde hinter sich gebracht hat, Sigfrid.«

»Weiter, Bob. Sprich alles aus.«

»Sie glaubt, ich hätte sie verraten, und sie denkt das jetzt. Damit kann ich nicht leben.«

Es bleibt sehr lange still, dann sagt Sigfrid endlich: »Du tust es, weißt du.«

»Was?« Meine Gedanken sind tausend Lichtjahre entfernt.

»Du lebst damit, Bob.«

»Das nennst du leben?«, sage ich verächtlich, setze mich auf und wische mir die Nase mit einem seiner Tücher ab.

»Du reagierst sehr schnell auf alles, was ich sage, Bob, und deshalb glaube ich manchmal, dass deine Reaktion ein Gegenschlag ist. Du parierst, was ich sage, mit Worten. Lass mich einmal ins Schwarze treffen, Bob. Lass das eindringen: Du lebst wirklich.«

»Na ja, mag sein.« Es ist wahr; nur sehr lohnend ist es nicht.

Wieder eine lange Pause, dann sagt Sigfrid: »Bob. Du weißt, dass ich eine Maschine bin. Du weißt auch, dass meine Funktion darin besteht, mit menschlichen Gefühlen umzugehen. Ich kann Gefühle nicht empfinden. Aber ich kann sie als Modelle nachgestalten, sie analysieren, sie bewerten. Ich kann es für dich, ich kann es sogar für mich tun. Schuld? Etwas sehr Schmerzhaftes, aber weil es schmerzhaft ist, wirkt es als Verhaltenssteuerung. Es kann dich beeinflussen, schulderregende Handlungen zu unterlassen, und das ist wertvoll für dich und die Gesellschaft. Aber du kannst sie nicht einsetzen, wenn du sie nicht spürst.«

»Ich spüre sie doch, Sigfrid, um Gottes willen!«

»Ich weiß, dass du das jetzt zulässt. Es ist alles offen zutage getreten, sodass du es für dich arbeiten lassen kannst, statt vergraben zu sein, wo es dir nur schadet. Dafür bin ich da, Bob. Deine Gefühle ans Tageslicht zu bringen, wo du sie gebrauchen kannst.«

»Selbst die schlimmen? Schuld, Angst, Schmerz, Neid?«

»Schuld. Angst. Schmerz. Neid. Die Motivatoren. Die Modifikatoren. Das, was ich nicht habe, außer im hypothetischen Sinn.«

Wieder eine Pause. Ich habe ein merkwürdiges Gefühl dabei. Ich glaube, Sigfrid denkt nach, aber nicht über mich. Und endlich sagt er: »Jetzt kann ich auch beantworten, was du mich gefragt hast, Bob.«

»Gefragt? Was war das?«

»Du hast mich gefragt: ›Das nennst du leben?‹ Und ich antworte: Ja. Genau das nenne ich leben. Und in meiner ganz hypothetischen Art beneide ich dich zutiefst darum.«

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