Wohin Lurvy im Raumschiff auch flog, sie war sich des fleckigen grauen Musters auf dem Sichtschirm stets bewusst. Es zeigte nichts, was sie hätte erkennen können, aber es war ein Nichts, das sie vorher schon gesehen hatte, und zwar monatelang.

Solange sie auf dem Weg zum Hitschi-Himmel schneller flogen als das Licht, waren sie allein. Das Universum ringsum war leer, abgesehen von dem grobkörnigen, wabernden Grau. Das Universum waren sie selbst. Sogar während der langen Reise zur Nahrungsfabrik war es nicht so einsam gewesen. Im Tau-Raum – oder was auch immer für einen irren Raum die Hitschi-Schiffe durchquerten oder untertunnelten oder umgingen – gab es nichts. Das letzte Mal, als Lurvy so viel Leere um sich gehabt hatte, war während der Gateway-Flüge gewesen, und fröhliche Erinnerungen waren das ganz und gar nicht.

Dieses Raumschiff war das größte, das sie je gesehen hatte. Das größte Gateway-Raumschiff hatte fünf Personen aufnehmen können. Dieses hier wäre für zwanzig und mehr ausreichend gewesen. Es besaß acht verschiedene Abteile, drei davon für Fracht, automatisch gefüllt mit der Produktion der Nahrungsfabrik (wie Wan erklärte), solange das Raumschiff dort angedockt war. Zwei schienen Kabinen zu sein, aber nicht für menschliche Wesen. Wenn die »Kojen«, die man aus den Wänden herausziehen konnte, wirklich Kojen sein sollten, waren sie für menschliche Erwachsene zu klein. Einen der Räume bezeichnete Wan als seinen eigenen; er lud Janine ein, zu ihm zu ziehen. Als Lurvy Einspruch erhob, gab er verdrossen nach, und man richtete sich nach Geschlechtern getrennt ein. Der größte Raum im Zentrum des Schiffes hatte die Form eines Zylinders, der sich an beiden Enden verjüngte. Er besaß weder Boden noch Decke, abgesehen davon, dass drei Sitze an der Fläche vor der Steuerung montiert waren. Da sich die Fläche wölbte, neigten die Sitze sich einander zu. Sie waren einfach genug, dieselbe Konstruktion, die Lurvy von früher her kannte: zwei flache Metallplatten in V-Form.

»In Gateway-Schiffen haben wir Gurtbänder darüber gezogen«, erklärte Lurvy.

»Was sind ›Gurtbänder‹?«, fragte Wan, und als man es ihm erklärt hatte, sagte er: »Eine gute Idee. Das mache ich in Zukunft auch. Ich kann den Alten das stehlen, was ich dazu brauche.«

Wie in allen Hitschi-Schiffen war die Steuerung fast völlig automatisch. Es gab ein Dutzend gerändelter Drehräder in einer Reihe mit farbigen Lämpchen für jedes Rad. Wurden die Räder gedreht (nicht, dass jemand das während des Fluges getan hätte; das war nachgewiesenermaßen Selbstmord), änderten die Lampen Farbe und Helligkeit und zeigten Streifen von Licht und Dunkelheit wie Spektrallinien. Sie stellten Kurswerte dar. Nicht einmal Wan verstand sie, geschweige denn Lurvy oder die anderen. Seit Lurvys Zeit auf Gateway hatten die großen Elektronengehirne unter hohen Verlusten an Prospektorenleben viele Daten darüber gespeichert. Manche Farben bedeuten gute Aussicht auf Lohnendes. Andere bezogen sich auf die Länge des Fluges, auf die der Kurssetzer eingestellt war. Manche – viele – waren als unberührbar eingestuft, weil jedes Schiff, das mit dieser Einstellung in den ÜLG-Raum eintrat, dort verblieben war. Oder irgendwo. Jedenfalls ohne jemals wieder nach Gateway zurückzukehren. Aus Gewohnheit und den Anweisungen zufolge fotografierte Lurvy jede Veränderung von Steuerlämpchen und Sichtschirm, selbst wenn der Schirm nichts zeigte, was sie als festhaltenswert erkennen konnte. Eine Stunde nachdem die Gruppe die Nahrungsfabrik hinter sich gelassen hatte, begannen die Sternbilder zu einem flackernden hellen Punkt zusammenzuschrumpfen. Sie hatten Lichtgeschwindigkeit erreicht. Dann verschwand sogar der Punkt. Der Schirm nahm das Aussehen von grauem Schlamm an, der von Regentropfen bespritzt worden war, und blieb so.

Für Wan war das Raumschiff natürlich nur sein vertrauter Schulbus, zum Hin- und Herpendeln benutzt, seitdem er alt genug gewesen war, die Startwarze zu drücken. Paul war nie zuvor in einem echten Hitschi-Schiff gewesen und blieb tagelang sehr kleinlaut. Bei Janine war das nicht anders, aber ein Wunder mehr bedeutete in ihrem vierzehnjährigen Leben nichts Besonderes. Für Lurvy war dieses Schiff eine größere Ausgabe der Raumschiffe, mit denen sie sich ihre Flugspangen verdient hatte, also erschreckend.

Sie konnte es nicht ändern. Sie konnte sich nicht einreden, dass zumindest diese Reise nur ein normaler Fährflug war. Sie hatte als Gateway-Pilotin zu viel Angst beim Vordringen ins Ungewisse erlebt. Sie schwebte im riesigen – vergleichsweise riesigen – Inneren umher (beinahe hundertfünfzig Kubikmeter!) und machte sich Sorgen. Es war nicht nur der schlammige Sichtschirm, der ihre Aufmerksamkeit beanspruchte. Da war die goldschimmernde Raute, größer als ein Mensch, von der man annahm, dass sie die ÜLG-Antriebsmaschinerie enthielt, und die bekanntermaßen explodierte, wenn man sie öffnen wollte. Da war die kristallartige Glasspirale, die von Zeit zu Zeit heiß wurde (niemand wusste, warum) und zu Beginn und Ende des Fluges und bei einer anderen, sehr wichtigen Gelegenheit mit winzigen heißen Strahlungspünktchen zu leuchten begann.

Diese Gelegenheit war es, auf die Lurvy wartete. Und als nach genau vierundzwanzig Tagen, fünf Stunden und sechsundfünfzig Minuten seit dem Verlassen der Nahrungsfabrik die goldene Spule zu flackern und aufzuleuchten begann, vermochte sie einen tiefen Seufzer der Erleichterung nicht zu unterdrücken.

»Was ist denn?«, rief Wan mit seiner hohen Stimme argwöhnisch.

»Wir haben jetzt die Hälfte des Weges hinter uns«, sagte sie, während sie die Zeit in ihrem Logbuch notierte. »Das ist der Wendepunkt. Darauf achtet man in einem Gateway-Schiff. Wenn man diesen Punkt erreicht und erst ein Viertel der Lebenserhaltung verbraucht ist, weiß man, dass man auf dem Heimflug nicht verhungern wird.«

Wan schmollte.

»Vertraust du mir nicht, Lurvy? Wir werden nicht verhungern.«

»Es tut gut, es ganz genau zu wissen«, meinte sie grinsend und wurde plötzlich wieder ernst, als ihr einfiel, was am Ende der Reise lag.


So rieben sie sich aneinander, so gut sie konnten, und fielen einander am Tag tausendmal auf die Nerven. Paul brachte Wan das Schachspielen bei, damit er von Janine abgelenkt wurde. Wan übte geduldig – öfter aber ungeduldig. Wan erzählte geduldig – öfter aber ungeduldig – immer wieder alles, was er über den Hitschi-Himmel und seine Bewohner wusste.

Sie schliefen, so viel sie konnten. Im Gurtnetz neben Paul brodelten und strömten Wans jugendliche Säfte. Er wand und krümmte sich bei den unangemeldeten kleinen Kursänderungen des Schiffes und wünschte sich, dass er allein wäre, um jene Dinge zu tun, die verboten zu sein schienen, wenn man nicht allein war – oder wünschte sich, nicht allein zu sein, sondern mit Janine zusammen, damit er die noch schöneren Dinge tun konnte, die ihm Tiny Jim und Henrietta beschrieben hatten. Er hatte Henrietta unzählige Male gefragt, welches die weibliche Rolle bei diesem Zusammenspiel sei. Darauf hatte sie fast nie so geantwortet, dass es für Wan hilfreich gewesen wäre. Gleichgültig, wie ihre Sätze beginnen mochten, sie hörten fast immer damit auf, dass sie in Tränen darüber ausbrach, dass ihr Mann sie mit diesem Weibsbild Doris betrogen hatte.

Er wusste nicht einmal, in welcher Beziehung sich eine Frau körperlich vom Mann genau unterschied. Bilder und Worte reichten hier nicht. Gegen Ende des Fluges überwand die Neugier die kulturelle Anpassung, und er flehte Janine oder Lurvy (wer es war, spielte keine so große Rolle) an, ihm das zu zeigen. Auch ohne Berühren.

»Na, du kleines Ferkel«, sagte Janine kritisch. Sie war nicht zornig. Sie lächelte. »Lass dir Zeit, mein Junge, deine Zeit kommt noch.«

Aber Lurvy war nicht belustigt, und als Wan sich untröstlich entfernt hatte, führten sie und ihre Schwester ein für ihre Verhältnisse langes Gespräch.

»Lurvy, Liebling«, sagte Janine schließlich, »ich weiß. Ich weiß, dass ich erst fünfzehn bin – na ja, fast fünfzehn – und Wan nicht viel älter ist. Ich weiß, dass ich, vier Jahre von einem Arzt entfernt, nicht schwanger werden will, noch dazu, wenn alles Mögliche passieren kann, von dem wir noch nichts ahnen – das weiß ich alles. Du findest, ich bin nur deine rotznasige, kleine Schwester. Das bin ich auch. Aber ich bin deine schlaue rotznasige, kleine Schwester. Wenn du etwas sagst, bei dem das Zuhören sich lohnt, dann höre ich zu. Verpiss dich bloß, liebe Lurvy.« Sie lächelte behaglich, stieß sich ab, um Wan zu folgen, kam zurück und küsste Lurvy. »Du und Paps«, sagte sie, »ihr treibt einen die Wand hoch. Aber ich liebe euch beide sehr – und Paul auch.«

Es lag nicht allein an Wan, das wusste Lurvy. Sie rochen alle stark. In ihrem Schweiß und ihren ganzen Ausdünstungen waren Pheromone genug, um einen Mönch geil zu machen, geschweige denn einen leicht beeindruckbaren jungfräulichen Burschen. Und dafür konnte Wan überhaupt nichts, ganz im Gegenteil. Wenn er nicht darauf bestanden hätte, wäre nicht so viel Wasser an Bord geschleppt worden; hätten sie das nicht getan, wären sie noch schmutziger und verschwitzter gewesen als nach ihrer täglichen Toilette. Wenn man es genau nahm, hatten sie die Nahrungsfabrik viel zu übereilt verlassen. Peter war da im Recht gewesen.

Erstaunt stellte Lurvy fest, dass ihr der alte Mann fehlte. Im Schiff waren sie von allen Nachrichtenverbindungen völlig abgeschnitten. Was trieb er? War er noch gesund? Sie hatten das mobile Bioprüfgerät mitnehmen müssen – sie besaßen nur das eine, und vier Personen brauchten es dringender als eine einzelne. Aber das stimmte auch nicht ganz, denn ohne den Bordcomputer war es zu einer glänzenden, regungslosen Masse zusammengerollt und würde so bleiben, bis sie vom Hitschi-Himmel aus wieder Funkkontakt mit Vera aufnehmen konnten – und was wurde inzwischen aus ihrem Vater?

Das Seltsame war, dass Lurvy den alten Mann liebte und durchaus glaubte, er liebe sie auch. Er hatte das auf jede Weise, nur nicht mit Worten, zu erkennen gegeben. Es war sein Geld und sein Ehrgeiz gewesen, die sie überhaupt zu dem Flug in Richtung Nahrungsfabrik getrieben hatten. Es war sein Geld gewesen, das ihr den Weg nach Gateway ermöglicht hatte, und als dabei nichts herausgekommen war, hatte er ihr nichts vorgeworfen. Jedenfalls nicht direkt und nicht mit Nachdruck.

Nach sechs Wochen in Wans Schiff glaubte Lurvy sich eingelebt zu haben. Sie fühlte sich sogar einigermaßen behaglich, wenn man Gerüche und Ärger und Sorgen nicht rechnete; jedenfalls, solange sie nicht allzusehr über die Flüge nachdachte, die ihr die fünf Spangen auf Gateway eingetragen hatten. Es gab von keinem besonders schöne Erinnerungen.

Lurvys erster Flug war eine Pleite gewesen. Vierzehn Monate Hin- und Rückflug, um bei einem Planeten aufzutauchen, der durch einen Nova-Ausbruch versengt worden war. Vielleicht hatte es dort früher etwas gegeben. Als Lurvy ankam, völlig allein und in ihrem Ein-Personen-Schiff schon Selbstgespräche führend, gab es dort nichts mehr. Das hatte sie von Einzelflügen geheilt. Der nächste fand in einem Dreier statt. Auch nicht besser. Keiner war besser geworden. Sie wurde auf Gateway eine Berühmtheit, ein Objekt der Neugierde, die Anwärterin auf einen fragwürdigen Rekord: die meisten Flüge mit dem geringsten Gewinn durchgeführt zu haben. Das war eine Ehre, die ihr nicht gefiel, aber es war nie schlimmer gewesen als beim letzten Flug.

Er wurde zu einer Katastrophe.

Bevor sie auch nur ihr Ziel erreicht hatten, erwachte sie aus unruhigem, gequältem Schlaf und stand vor dem Grauen. Die Frau, mit der sie sich besonders angefreundet hatte, schwebte blutüberströmt neben ihr; die andere Frau, ebenfalls tot, war nicht weit entfernt, und die beiden Männer, aus denen der Rest der fünfköpfigen Besatzung bestand, kämpften schreiend und gnadenlos miteinander.

Die Regeln der Gateway-Gesellschaft sahen vor, dass jede Zahlung, die sich aus einer Reise ergab, unter den Überlebenden gleichmäßig aufgeteilt wurde. Ihr Schiffskamerad Stratos Kristianides hatte beschlossen, der einzige Überlebende zu sein.

Tatsächlich überlebte er nicht. Er verlor den Kampf gegen ihren anderen Schiffskameraden und Liebhaber Hector Possanbee. Der Sieger flog zusammen mit Lurvy weiter, um – erneut – nichts zu finden. Schwelender roter Gasriese. Armseliger kleiner Begleitstern der Klasse M. Und keine Möglichkeit, den einzigen wahrnehmbaren Planeten zu erreichen – ein riesiges, methanbedecktes Jupiter-Ding –, ohne beim Versuch umzukommen.

Lurvy war danach mit eingezogenem Schwanz auf die Erde zurückgekehrt. Weit und breit keine zweite Chance in Sicht. Peter hatte ihr schließlich doch eine verschafft, obwohl sie nicht daran glaubte, dass es noch eine geben würde. Die mehr als hunderttausend Dollar, die es ihn gekostet hatte, ihr nach Gateway zu verhelfen, rissen ein großes Loch in das Geld, das er in seinen sechzig oder siebzig Jahren – wie viele es genau waren, wusste sie nicht – angesammelt hatte. Sie hatte ihn enttäuscht. Nicht nur ihn. Und seiner Güte und dem Verzicht darauf, sie zu hassen, hatte sie entnommen, dass er seine Tochter wirklich liebte – und den braven, unpraktischen Paul und die alberne junge Janine dazu. In irgendeiner Weise liebte Peter sie alle.

Und hatte sehr wenig davon, schien es Lurvy.

Sie rieb missmutig ihre Flugspangen. Sie zu bekommen, war sehr kostspielig gewesen.

Mit Paul Liebe zu machen, half, die Zeit zu vertreiben – wenn sie sich einreden konnte, sie brauchten die beiden Jugendlichen eine viertel oder halbe Stunde einmal nicht zu beaufsichtigen. Für Lurvy war es nicht das Gleiche, wie mit Hector zu schlafen, dem Mann, der zusammen mit ihr den letzten Gateway-Flug überlebt hatte. Der Mann, der sie hatte heiraten wollen. Der Mann, der sie bat, wieder mit ihm auf ein Schiff zu gehen und gemeinsam ein Leben aufzubauen. Klein, breit gewachsen, stets aktiv, stets wach, im Bett unermüdlich, lieb und geduldig, wenn sie krank oder gereizt oder ängstlich war – es gab hundert Gründe, weshalb sie Hector hätte heiraten sollen. Und eigentlich nur einen einzigen, warum sie es nicht getan hatte. Als sie aus diesem grauenhaften Schlaf gerissen wurde, hatte sie Hector und Stratos kämpfen sehen. Während sie noch zusah, starb Stratos.

Hector hatte ihr erklärt, Stratos sei übergeschnappt und habe sie alle ermorden wollen, aber als der Kampf begann, hatte sie geschlafen. Einer der Männer hatte ohne Zweifel versucht, seine Schiffskameraden umzubringen.

Aber sie hatte nie ganz genau gewusst, welcher von beiden.

Er machte ihr einen Heiratsantrag, als die Dinge am trostlosesten und übelsten standen, einen Tag bevor sie auf dem bedrückenden Rückflug Gateway erreichten.

»Wir passen wirklich ganz prima zusammen, Dorema«, sagte er, tröstend die Arme um sie gelegt. »Nur wir zwei und sonst keiner. Ich glaube, mit den anderen zusammen hätte ich das nicht aushalten können. Beim nächsten Mal haben wir mehr Glück. Lass uns heiraten, ja?«

Sie bohrte ihr Kinn in seine warme, harte, kakaofarbene Schulter.

»Ich muss erst nachdenken, Liebling«, sagte sie und fühlte, wie die Hand, die Stratos getötet hatte, ihren Nacken massierte.

Lurvy war also nicht unglücklich gewesen, als die Reise zu Ende ging und Janine sie ganz aufgeregt aus ihrer Privatkabine rief; die riesige Glasspirale füllte sich mit heißen Pünktchen zuckenden, goldenen Lichts, das Schiff ruckte unentschlossen in die eine oder andere Richtung, der fleckige graue Schlamm war vom Sichtschirm verschwunden, und man sah Sterne. Mehr als Sterne. Da war ein Gebilde, das zwischen konturlosem Grau an einzelnen Stellen blau leuchtete. Es war zitronenförmig und rotierte langsam, und Lurvy konnte sich keine Vorstellung von seiner Größe machen, bis sie wahrnahm, dass die Oberfläche des Gebildes nicht konturlos war. Hier und dort ragten kleine Vorsprünge heraus, und sie erkannte die winzigsten davon als Schiffe vom Gateway-Typ, Einer und Dreier und dort ein Fünfer; die Zitrone musste über einen Kilometer lang sein! Wan ließ sich, vor Stolz grinsend, im mittleren Pilotensessel nieder (sie hatten ihn mit Kleidung ausgepolstert, etwas, auf das Wan nie gekommen war) und griff nach der Landesteuerung. Lurvy hatte die größte Mühe, nicht dazwischenzufahren. Aber Wan hatte dieses Manöver sein ganzes Leben lang ausgeführt. Mit grober Geschicklichkeit riss und boxte er das Schiff in eine abwärts führende Spirale, die der langsamen Drehung der blauäugigen grauen Zitrone entsprach. Er zielte auf einen der offenen Schächte, dockte an, ließ den Bug einrasten und hob den Kopf, um Beifall zu heischen. Sie waren im Hitschi-Himmel.

Die Nahrungsfabrik war von der Größe eines Wolkenkratzers gewesen, aber das hier war eine Welt. Vielleicht war das, wie Gateway, einmal ein Asteroid gewesen, aber wenn das zutraf, hatte man ihn so bearbeitet und umgestaltet, dass von der ursprünglichen Struktur keine Spur zurückgeblieben war. Es waren Kubikkilometer Masse. Es war ein rotierender Riesenberg. So viel zu erforschen! So viel zu lernen!

Und so viel zu fürchten. Sie schlichen oder stolzierten durch die alten Hallen, und Lurvy ertappte sich dabei, dass sie sich an die Hand ihres Mannes klammerte. Und Paul klammerte sich an ihre Hand. Sie zwang sich, zu beobachten und Kommentare zu geben. Die Wände waren durchzogen von scharlachrot leuchtenden Linien; die Decke zeigte das vertraute blaue Schimmern des Hitschi-Metalls. Am Boden – und es war wirklich ein Boden; sie hatten hier Schwerkraft, wenn auch nicht mehr als ein Zehntel der Erdnorm – enthielten rautenförmige Wölbungen etwas, das nach Humus aussah, und darin wuchsen Pflanzen.

»Beerenfrucht«, sagte Wan stolz über die Schulter und wies mit dem Kinn auf einen hüfthohen Strauch, zwischen dessen Smaragdblättern flaumige Gebilde hingen. »Wir können eine Pause machen und ein paar essen, wenn ihr wollt.«

»Jetzt nicht«, erklärte Lurvy. Ein Dutzend Schritte weiter durch den Korridor kam wieder eine bepflanzte Raute, diese mit schiefergrünen Ranken und weichen, zerquetscht aussehenden blumenkohlförmigen Blüten. »Was ist das?«

Wan blieb stehen und sah sie an. Es war deutlich, dass er das für eine dumme Frage hielt.

»Sie sind nicht gut verträglich«, sagte er schrill. »Versuch die Beerenfrüchte. Die schmecken.«

Die Gruppe blieb also dort stehen, wo zwei der rot ausgekleideten Korridore sich trafen und einer davon blau wurde. Sie schälten braungrüne, flaumige Schalen von den Beerenfrüchten und nagten – zuerst vorsichtig, dann mit Genuss – am saftigen Inhalt, während Wan die Geographie des Hitschi-Himmels erklärte. Das hier waren die roten Abschnitte, und sie seien die besten von allen. Hier gebe es Essen und gute Stellen zum Schlafen; hier sei das Schiff, und die Alten kämen nie hierher. Aber verließen sie nicht manchmal ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort, um Beerenfrüchte zu pflücken? Ja, natürlich taten sie das. Doch niemals (und seine Stimme kletterte eine halbe Oktave höher) hier. Das komme nie vor. Dort drüben die blauen Tunnels. Seine Stimme sank, in der Tonhöhe ebenso wie in der Lautstärke. Die Alten kämen oft dorthin. Aber dort sei alles tot. Wäre nicht der Raum der Toten Menschen im blauen Gebiet, dann würde er diesen Bereich nie betreten. Und Lurvy, die durch den Korridor starrte, auf den er wies, spürte einen eisigen Hauch unvorstellbaren Alters. Es war ein Gefühl wie bei Stonehenge oder Gizeh oder Angkor Wat. Selbst die Decken leuchteten schwächer, und die Bepflanzung dort war kärglich und verkümmert. Das Grünzeug, fuhr Wan fort, sei ja ganz schön, aber nichts funktioniere richtig. Die Wasserdüsen arbeiteten nicht. Die Pflanzen stürben. Und der goldene Bereich …

Seine Freude legte sich, als er von den goldenen Tunnels sprach. Dort lebten die Alten. Wenn er nicht Bücher und manchmal Kleidung gebraucht hätte, wäre er nie dorthin gegangen, obwohl die Toten Menschen ihn immerfort dazu drängten. Er wolle die Alten nicht sehen.

Paul räusperte sich.

»Aber ich glaube, das müssen wir tun, Wan«, sagte er.

»Warum?«, gab der Junge schrill zurück. »Sie sind nicht interessant!«

Lurvy legte die Hand auf seinen Arm.

»Was ist denn, Wan?«, fragte sie freundlich, während sie seine Miene beobachtete. Was Wan fühlte, zeigte sich stets auf seinem Gesicht. Er hatte es niemals nötig gehabt, die Geschicklichkeit der Verstellung zu erlernen.

»Er sieht ängstlich aus«, erklärte Paul.

»Ich bin nicht ängstlich!«, fuhr Wan auf. »Ihr versteht das nicht! Es ist nicht interessant, in diesen Bereich zu gehen!«

»Wan, mein Lieber«, sagte Lurvy, »die Sache ist einfach die: Es lohnt sich, Risiken einzugehen, um mehr über die Hitschi zu erfahren. Ich weiß nicht, ob ich erklären kann, was das für uns bedeutet, aber das Allermindeste dabei ist, dass wir Geld dafür bekommen würden. Sehr viel Geld.«

»Er weiß nicht, was Geld ist«, unterbrach Paul ungeduldig. »Wan, pass auf, wir machen Folgendes: Du erzählst uns, wie wir vier die goldenen Tunnels erforschen können, ohne gefährdet zu sein.«

»Wir vier können das nicht! Eine Person kann es. Ich kann es«, prahlte er. Er war zornig geworden und zeigte es. Dieser Paul! Wan betrachtete ihn mit eher gemischten Gefühlen, aber die meisten davon waren negativer Art. Wenn Paul zu Wan etwas sagte, formte er seine Worte so sorgfältig – so verächtlich. So, als glaube er nicht, dass Wan klug genug sei, um sie zu verstehen. Wenn Wan und Janine zusammen waren, hielt Paul sich stets in der Nähe auf. Sollte Paul ein Beispiel dafür sein, wie die menschlichen Männer waren, empfand Wan keinen Stolz darauf, zu ihnen zu gehören. »Ich bin oft im Gold gewesen«, rühmte er sich, »um Bücher oder Beerenfrüchte zu holen oder einfach zu beobachten, was sie für alberne Dinge treiben. Sie sind so komisch! Aber sie sind nicht völlig dumm, wisst ihr. Ich kann ungefährdet hingehen. Eine Person kann es. Vielleicht auch zwei Personen, aber wenn wir alle gehen, sehen sie uns ganz bestimmt.«

»Und dann?«, fragte Lurvy.

Wan zuckte abwehrend die Achseln. Er kannte die Antwort darauf nicht und wusste nur, dass sein Vater Angst davor gehabt hatte. »Sie sind nicht interessant«, sagte er, sich selbst widersprechend.

Janine leckte ihre Finger ab und warf die leeren Beerenfruchtschalen weg.

»Ihr seid doch wirklich die Letzten«, sagte sie seufzend. »Wan? Wo tauchen diese Alten auf?«

»Immer kommen sie dahin, wo das Gold aufhört. Manchmal betreten sie das Blaue oder Grüne.«

»Na, wenn sie diese Beerenfrüchte mögen und wenn du eine Stelle kennst, wo sie hinkommen, um sie zu pflücken, warum bauen wir da nicht einfach eine Kamera auf? Wir können sie sehen, aber sie uns nicht.«

»Natürlich!«, rief Wan triumphierend. »Siehst du, Lurvy, man braucht gar nicht hinzugehen! Janine hat Recht, nur …« Er zögerte. »Janine, was ist eine Kamera?«


Unterwegs musste Lurvy ihren ganzen Mut zusammennehmen, wenn es eine Kreuzung zu überqueren galt, und sie konnte nicht umhin, in jeden Korridor zu starren. Aber sie hörten und sahen nichts, was sich bewegt hätte. Es war so still wie in der Nahrungsfabrik, als sie diese zum ersten Mal betreten hatten, und ebenso unheimlich. Noch unheimlicher. Die Lichtadern an allen Wänden, die kleinen bepflanzten Flächen – vor allem der erschreckende Gedanke, dass irgendwo in der Nähe lebendige Hitschi sein mussten. Als sie an einem Beerenfrucht-Strauch an einer Stelle, wo Grün, Blau und Gold zusammentrafen, eine Kamera hinterlassen hatten, führte Wan sie direkt zu dem Raum, wo die Toten Menschen lebten. Das war das Wichtigste: zu dem Funk zu gelangen, der sie mit dem Rest der Welt wieder in Verbindung bringen würde. Selbst wenn der Rest der Welt nur der alte Peter war, der grollend in der Nahrungsfabrik herumwanderte. Wenn sie nicht so viel zustande brachten, sagte sich Lurvy, hatten sie hier überhaupt nichts zu suchen und sollten lieber zum Raumschiff zurückkehren und den Heimweg antreten; es hatte keinen Sinn zu erforschen, wenn sie nicht mitteilen konnten, was gefunden worden war.

Aus diesem Grund führte Wan, dessen Mut im direkten Verhältnis zur zunehmenden Entfernung von den Alten wuchs, sie durch einen grünen Tunnel, mehrere Etagen im blauen Bereich hinauf, zu einer breiten, blauen Tür.

»Mal sehen, ob das richtig funktioniert«, sagte er und trat auf ein Pedal vor der Tür. Die Tür zögerte, seufzte, öffnete sich dann knarrend, und Wan führte sie befriedigt hinein.

Dieser Raum wirkte menschlich, obschon fremdartig. Es roch sogar menschlich, ohne Zweifel deshalb, weil Wan in seinem kurzen Leben hier so viel Zeit verbracht hatte. Lurvy nahm eine von Pauls Minikameras und steckte sie auf ihre Schulter. Die kleine Maschine nahm eine achteckige Kammer mit drei der gegabelten Hitschi-Sitze – zwei davon defekt – und einer befleckten Wand mit Hitschi-Instrumenten auf. Reihen farbiger Lichter auf Vorsprüngen. Hinter der Wand hörte man kaum wahrnehmbares Klicken und Summen. Wan zeigte darauf.

»Dahinter leben die Toten Menschen«, sagte er. »Wenn ›leben‹ das richtige Wort dafür ist.« Er kicherte.

Lurvy richtete die Kamera auf die Sitze und die gerändelten Knöpfe davor, dann auf ein kuppelförmiges Klauengebilde unter der beschmierten Wand. Es war so hoch wie eine Truhe und mit weichen, etwas zusammengedrückten Zylindern versehen, also fahrbar.

»Was ist das, Wan?«

»Damit fangen mich die Toten Menschen manchmal«, murmelte er. »Sie benützen das Ding nicht sehr oft. Es ist uralt. Wenn es kaputtgeht, braucht es eine Ewigkeit, um sich wieder zu reparieren.«

Paul betrachtete die Maschine argwöhnisch und wich zurück. »Schalt deine Freunde ein, Wan!«, befahl er.

»Natürlich. Das ist nicht schwer«, prahlte Wan. »Passt genau auf, dann seht ihr, wie das gemacht wird.« Er setzte sich lässig auf den einen unbeschädigten Sessel und starrte die Steuerung stirnrunzelnd an. »Ich hole Tiny Jim«, entschied er und bediente die Anlage. Die Lämpchen an der fleckigen Wand flackerten und glühten, und Wan sagte: »Wach auf, Tiny Jim. Hier ist jemand für dich.«

Stille.

Wan machte ein finsteres Gesicht, blickte über die Schulter auf die anderen und sagte scharf: »Tiny Jim! Sprich sofort mit mir!« Er schob die Lippen vor und spuckte auf die Wand.

Lurvy begriff, woher die Flecken rührten, sagte aber nichts.

Eine müde Stimme sagte über ihren Köpfen: »Hallo, Wan.«

»Schon besser«, erklärte Wan schrill und grinste die anderen an. »Also, Tiny Jim, erzähl meinen Freunden etwas Interessantes, oder ich spuck’ dich wieder an.«

»Ich wäre froh, wenn du etwas respektvoller sein könntest«, sagte die Stimme seufzend, »aber meinetwegen. Mal sehen. Auf dem neunten Planeten des Sterns Saiph gibt es eine alte Zivilisation. Ihre Herrscher sind eine Klasse von Scheißdreckräumern, die Macht ausüben, indem sie die Exkremente nur aus den Häusern jener Bürger entfernen, die ehrlich, fleißig, klug und mit ihren Steuerzahlungen nicht im Verzug sind. An ihrem Hauptfeiertag, dem sie den Namen ›Fest des Hl. Gautama‹ gegeben haben, badet die jüngste Maid jeder Familie in Sonnenblumenöl, nimmt eine Haselnuss zwischen die Zähne und betreibt rituell …«

»Tiny Jim«, unterbrach ihn Wan, »ist das eine wahre Geschichte?«

Pause.

»In übertragenem Sinn«, erklärte Tiny Jim mürrisch.

»Du bist sehr albern«, rügte Wan den Toten Mann, »und du blamierst mich vor meinen Freunden. Pass auf. Hier sind Dorema Herter-Hall, die du Lurvy nennen wirst, und ihre Schwester Janine Herter. Und Paul. Sag guten Tag zu ihnen.«

Lange Pause.

»Sind hier andere lebende menschliche Wesen?«, fragte die Stimme endlich zweifelnd.

»Das habe ich dir doch eben gesagt.«

Wieder eine lange Pause, dann sagte die Stimme traurig: »Adieu, Wan«, und wollte nicht wieder sprechen, gleichgültig, wie laut Wan Befehle erteilte oder wie wütend er an die Wand spuckte.

»Mensch«, knurrte Paul, »ist er immer so?«

»Nein, nicht immer«, sagte Wan schrill. »Aber manchmal ist er noch schlimmer. Soll ich es bei einem anderen für euch versuchen?«

»Sind sie besser?«

»Hm, nein«, gab Wan zu. »Tiny Jim ist noch der Beste.«

Paul schloss vor Verzweiflung die Augen und öffnete sie wieder, um Lurvy anzufunkeln.

»Das ist ja großartig«, sagte er. »Weißt du, was ich langsam glaube? Ich fange an, deinem Vater Recht zu geben. Wir hätten in der Nahrungsfabrik bleiben sollen.«

Lurvy atmete tief ein.

»Das haben wir aber nicht getan«, gab sie zurück. »Wir sind hier. Sehen wir uns erst einmal achtundvierzig Stunden um, und dann … entscheiden wir.«


Lange bevor die achtundvierzig Stunden um waren, hatten sie beschlossen zu bleiben. Zumindest für einige Zeit. Es gab im Hitschi-Himmel einfach zu viele Dinge, als dass sie ihn hätten verlassen können.

Der wichtigste Faktor bei dieser Entscheidung war der Kontakt mit Peter über den ÜLG-Funk. Niemand war auf den Gedanken gekommen, Wan zu fragen, ob seine Fähigkeit, den Hitschi-Himmel von der Nahrungsfabrik aus zu erreichen, auch bedeutete, dass er in die andere Richtung rufen konnte. Es stellte sich heraus, dass er das nicht konnte. Er hatte nie Anlass gehabt, es zu versuchen, weil dort nie jemand gewesen war, der sich hätte melden können. Lurvy und Janine schleppten Nahrung und einige unentbehrliche Dinge aus dem Schiff, unaufhörlich gegen Bedrückung und Sorgen ankämpfend. Als sie zurückkamen, fanden sie Paul voller Stolz und Wan vor Freude außer sich vor. Sie hatten die Verbindung hergestellt.

»Wie geht es ihm?«, fragte Lurvy sofort.

»Deinem Vater, meinst du? Dem geht es gut«, erwiderte Paul. »Er war schlecht gelaunt – das Alleinsein, nehme ich an. Es hat ungefähr eine Million Mitteilungen gegeben. Er hat sie als Kaskadensendung übermittelt, und ich habe sie auf Band, aber wir brauchen eine Woche, um sie alle abzuspielen.« Er kramte in den Dingen, die Lurvy und Janine mitgebracht hatten, bis er gefunden hatte, was er brauchte. Er montierte einen Digital-Bildgeber mit Anschluss an die nur akustischen ÜLG-Schaltungen. »Wir können nur Einzelbilder übertragen«, sagte er, den Blick auf die Bildmaschine gerichtet. »Aber wenn wir sehr lange hier sind, kann ich vielleicht von hier aus ein Kaskadensystem einrichten. Inzwischen haben wir Ton und … ach ja, der Alte hat gesagt, ich soll euch einen Kuss von ihm geben.«

»Dann werden wir wohl eine Weile bleiben«, sagte Janine.

»Dann wollen wir mehr Sachen aus dem Schiff holen«, sagte ihre Schwester zustimmend. »Wan? Wo schlafen wir?«

Während Paul an der Nachrichtenverbindung arbeitete, schafften Wan und die beiden Frauen die notwendigen Dinge in eine Reihe von Kammern in den roten Korridoren. Wan war stolz darauf. Es gab Wandkojen, größer als jene im Schiff, sogar so groß, dass Paul darin schlafen konnte, wenn es ihn nicht störte, die Knie anzuziehen. Es gab einen Ort mit Toiletteneinrichtung von nicht ganz menschlichem Zuschnitt. Oder nicht von modernstem menschlichem Zuschnitt. Die Einrichtungen waren einfach glänzende Metallschlitze im Boden, wie die Hocktoiletten im Orient. Es gab sogar etwas zum Baden, ein Mittelding zwischen Tretbecken und Wanne, mit einem Mittelding zwischen Brausekopf und kleinem Wasserfall in der Wand dahinter. Wenn man hineinstieg, strömte lauwarmes Wasser heraus. Danach begannen sie alle besser zu riechen. Vor allem Wan badete auffällig oft und begann sich manchmal schon wieder zum Baden auszuziehen, bevor die letzten Tropfen unabgetrockneten Wassers vom Bad zuvor an seinem Nacken getrocknet waren. Tiny Jim hatte ihm erklärt, Baden sei der Brauch unter höflichen Leuten. Außerdem hatte Wan festgestellt, dass Janine es regelmäßig tat. Lurvy beobachtete die beiden und erinnerte sich daran, wie schwer es auf dem langen Flug von der Erde gewesen war, Janine zum Baden zu bringen. Sie sagte nichts.

Als Pilotin und damit Kapitän ernannte Lurvy sich zur Leiterin der Expedition. Sie erteilte Paul den Auftrag, die Verbindung mit ihrem Vater in der Nahrungsfabrik herzustellen und aufrechtzuerhalten, wobei Wan im Zusammenhang mit den Toten Menschen half. Sie übertrug Janine – wobei sie und Wan mitwirkten – Haushaltsarbeiten wie das Waschen ihrer Kleidung in der Wanne mit dem lauwarmen Wasser. Sie verpflichtete Wan, zusammen mit der jeweils entbehrlichen Person durch die sicheren Abschnitte des Hitschi-Himmels zu streifen und für die Übermittlung an Peter und die Erde Bild- und Tonaufnahmen zu machen. In der Regel war Janine Wans Begleiterin. Wenn jemand anderer Zeit hatte, wurden die beiden jungen Leute beaufsichtigt, aber das kam selten vor.

Janine schien weder das eine noch das andere etwas auszumachen. Sie hatte es nicht eilig, den nächsten Schritt zu tun – außer, sie berührten sich. Oder sie sah, wie er sie anstarrte. Oder sie bemerkte, wie sich sein zerfetzter Kilt vorne ausbeulte. Selbst dann waren ihre Tagträume und Hirngespinste beinahe so gut wie der nächste Schritt, zumindest vorerst. Sie spielte mit den Toten Menschen und kaute Beerenfrüchte mit ihrer braunen Schale und dem grünen Fruchtfleisch. Sie machte ihre Arbeit und wartete darauf, ein bisschen erwachsener zu werden.

Die Nachrichtenverbindung war keineswegs zufriedenstellend. Lurvy hatte Bord-Vera nicht zu schätzen gewusst, bis sie ohne den Computer auskommen musste. Sie konnte keine dringlichen Nachrichten vorziehen oder den Computer nach Themen auswählen lassen. Es gab keinen Computer, den sie benützen konnte, außer den überbeanspruchten in ihrem eigenen Kopf. Die Mitteilungen kamen wahllos durcheinander, und wenn sie antwortete oder Berichte für die Weitergabe zur Erde sandte, befürchtete sie, dass diese nicht dort landen würden, wo sie hingehörten.

Die Toten Menschen schienen im Grunde nur Ausgabe-Gehirne zu sein, die zwar zusammenwirkten, aber lediglich in begrenzter Form. Und ihre Schaltungen waren bei dem behelfsmäßigen Versuch, Verbindung mit der Nahrungsfabrik zu halten – eine Aufgabe, für die sie eigentlich nicht geschaffen waren –, noch mehr durcheinander gekommen. (Aber wofür waren sie dann geschaffen worden? Und von wem?) Wan bluffte und polterte in seiner Position als Experte und gestand dann geknickt ein, dass sie nicht mehr täten, was sie eigentlich tun sollten. Manchmal wählte er Tiny Jim an und erreichte Henrietta, ein andermal einen ehemaligen Professor für englische Literatur namens Willard, und einmal meldete sich eine Stimme, die er nie zuvor gehört hatte, fast unhörbar schwankend und flüsternd, offenbar dem Wahnsinn nahe.

»Geh zum Gold«, wimmerte Henrietta, verdrossen wie eh und je, und ohne jede Pause fuhr Tiny Jims heisere Tenorstimme dazwischen: »Sie bringen dich um! Sie wollen keine Schiffbrüchigen!«

Das war erschreckend. Zumal da Wan versicherte, Tiny Jim sei bisher der vernünftigste von allen Toten Menschen gewesen. Es verwunderte Lurvy, dass sie nicht noch mehr Angst hatte, aber es hatte so viele Schrecknisse und Ängste gegeben, dass sie schon daran gewöhnt war. Auch ihre Schaltungen waren durcheinander geraten.

Und die Mitteilungen! In einer fünf Minuten dauernden Kaskade ungestörten Empfangs hatte Paul vierzehn Stunden davon aufgenommen. Befehle von der Erde: »Alle Steuereinstellungen Fährschiff melden. Versuchen, Gewebeproben Hitschi/Alte zu beschaffen. Beerenfruchtlaub, Früchte, Stengel einfrieren und aufheben. Äußerste Vorsicht walten lassen.« Ein halbes Dutzend verschiedener Mitteilungen von ihrem Vater; er war einsam; er fühlte sich nicht wohl; er erhielt nicht die richtige medizinische Betreuung, weil sie das mobile Bioprüfgerät mitgenommen hatten; er wurde von herrischen Anweisungen überschwemmt, die von der Erde kamen. Informationen von der Erde: Ihre ersten Berichte waren aufgefangen, analysiert und für sie verarbeitet worden, und nun kamen ungezählte Vorschläge dazu, wie sie sich weiterhin verhalten mussten. Sie sollten Henrietta wegen ihrer Hinweise auf kosmologische Erscheinungen befragen – Bord-Vera schuf ein Durcheinander, und Bodenstation-Vera konnte sich nicht in Echtzeit mitteilen, während der alte Peter nicht genug von Astrophysik verstand, um die richtigen Fragen zu stellen, sodass nur sie blieben. Sie sollten alle Toten Menschen nach ihren Erinnerungen über Gateway und ihre Flüge befragen – immer vorausgesetzt, die erinnerten sich überhaupt an etwas. Sie sollten versuchen herauszufinden, wie aus lebenden Prospektoren gespeicherte Computerprogramme werden konnten. Sie sollten … sie sollten alles tun. Alles auf einmal. Und fast nichts davon war möglich. Wenn gelegentlich eine Mitteilung klar und persönlich und anspruchslos war, freute sich Lurvy.

Und manches davon erwies sich als Überraschung. Abgesehen von den Ergüssen der Brieffreunde Janines und dem unaufhörlichen Flehen nach irgendwelchen Informationen über Trish Bover, kam eine persönliche Mitteilung für Lurvy, von Robinette Broadhead:

»Dorema, ich weiß, ihr seid überlastet. Eure ganze Mission war von Anfang an wichtig und gefährlich, und das hat sich um ein Vielfaches gesteigert. Alles, was ich von euch erwarte, ist, dass ihr tut, was ihr könnt. Ich besitze nicht die Autorität, Anweisungen der Gateway-Gesellschaft außer Kraft zu setzen. Ich kann eure vorgesehenen Ziele nicht ändern. Aber ihr sollt wissen, dass ich auf eurer Seite stehe. Stellt fest, was ihr könnt. Und ich werde alles tun, was ich kann, um dafür zu sorgen, dass ihr so vollständig und großzügig belohnt werdet, wie ihr euch das erhofft. Das ist mein Ernst, Lurvy. Ich gebe euch mein Wort darauf.«

Es war eine seltsame, sonderbar anrührende Mitteilung. Es war für Lurvy auch eine Überraschung, dass Broadhead ihren Kosenamen kannte. Sie waren keine engen Freunde gewesen. Als sie und ihre Familie für den Flug zur Nahrungsfabrik geprüft worden waren, hatte sie sich mehrmals mit Broadhead getroffen, aber ihre Beziehung war die von Bittsteller und Monarch gewesen, und viel an zwischenpersönlicher Freundschaft hatte da nicht entstehen können. Sie hatte ihn auch nicht besonders gemocht. Er war durchaus offen und freundlich – ein Multimillionär mit legerer Art, aber auf jeden Dollar achtend, den er ausgab, mit scharfem Blick auf jede Entwicklung in jedem Projekt, das er unternahm. Es gefiel ihr nicht, von einem launischen Finanzgiganten abhängig zu sein.

Und wenn sie ehrlich war, hatte sie sich zu ihren Begegnungen mit einem leichten Vorurteil eingefunden. Sie hatte von Robinette Broadhead längst gehört, bevor er in ihrem Leben eine Rolle zu spielen begann. Während ihrer Zeit auf Gateway war sie einmal mit einer älteren Frau in einem Dreier-Schiff hinausgeflogen, und diese Frau war einmal mit Gelle-Klara Moynlin unterwegs gewesen. Von ihr hatte Lurvy die Geschichte von Broadheads letztem Flug erfahren, von jenem, der ihn zum Multimillionär gemacht hatte. Es war etwas Fragwürdiges dabei. Neun Personen waren bei diesem Flug umgekommen. Broadhead war der einzige Überlebende gewesen. Und zu den Opfern hatte Gelle-Klara Moynlin gehört, die (so behauptete die alte Frau) Broadhead geliebt habe. Vielleicht war es Lurvys eigene Erfahrung mit einer Mission, die fast die ganze Besatzung das Leben gekostet hatte, die ihr Misstrauen hervorgerufen hatte. Aber vorhanden war es.

Das Sonderbare am Broadhead-Flug war, dass für die Opfer das Wort »sterben« vielleicht nicht das richtige sein mochte. Klara und die anderen waren in ein Schwarzes Loch geraten und befanden sich womöglich noch dort, waren vielleicht noch am Leben – Gefangene der verlangsamten Zeit, vielleicht nach all den Jahren nur wenige Stunden älter.

Was verbarg sich also hinter Broadheads Nachricht an Lurvy? Wollte er sie alle drängen, einen Weg zu finden, mit dem man in Gelle-Klara Moynlins Gefängnis eindringen konnte? Kannte er selbst einen? Lurvy vermochte das nicht zu beurteilen, aber zum ersten Mal sah sie ihren Arbeitgeber als menschliches Wesen. Der Gedanke war rührend. Die Angst Lurvys verringerte sich dadurch nicht, aber sie fühlte sich vielleicht nicht mehr ganz so allein. Als sie Paul im Raum der Toten Menschen einen Stapel Aufzeichnungsbänder brachte, damit er sie bei Gelegenheit im Schnellverfahren übermittelte, umarmte sie ihn und drückte ihn an sich, was ihn maßlos überraschte.


Als Janine von einem Ausflug mit Wan in den Raum der Toten Menschen zurückkam, veranlasste irgendetwas sie, leise zu sein. Sie schaute unbemerkt hinein und sah ihre Schwester und ihren Schwager bequem an einer Wand sitzen und halb dem irren Geplapper der Toten Menschen zuhören, halb auf träge Weise miteinander sprechend. Sie drehte sich um, legte den Finger an ihre Lippen und führte Wan fort.

»Ich glaube, sie wollen allein sein«, erklärte sie ihm. »Außerdem bin ich müde. Machen wir eine Pause.«

Wan zog die Schultern hoch. Sie fanden eine geeignete Stelle an einer Korridorkreuzung, dreißig, vierzig Meter entfernt, und er ließ sich nachdenklich neben dem Mädchen nieder.

»Vereinigen sie sich?«, fragte er.

»Mensch, Wan, du denkst auch immer nur an das eine.« Aber sie ärgerte sich nicht und ließ zu, dass er nah an sie heranrückte, bis eine Hand sich ihrer Brust näherte. »Hör auf damit«, sagte sie ruhig.

Er zog die Hand zurück.

»Du bist sehr verstört, Janine«, sagte er schmollend.

»Ach, lass mich in Ruhe.« Aber als er einige Millimeter wegrückte, schob sie sich wieder ein bisschen näher heran. Sie war ganz zufrieden damit, dass er sie begehrte. Beinahe zwei Monate Zusammensein mit ihm hatten dazu geführt, dass sie ihn mochte und ihm sogar vertraute, und alles andere hatte Zeit. Sie genoss seine Gegenwart.

Selbst wenn er mürrisch war.

»Du machst nicht richtig mit«, beklagte er sich.

»Wobei, Herrgott noch mal?«

»Du solltest mit Tiny Jim reden«, sagte er streng. »Er wird dir eine bessere Strategie im Fortpflanzungsrennen erklären. Er hat mir die männliche Rolle genau erklärt, sodass ich sicher bin, richtig mitmachen zu können. Die deine ist natürlich eine andere. Im Grunde wäre es für dich das Beste, wenn du mir erlaubst, dass ich mit dir kopuliere.«

»Ja, das hast du schon gesagt. Weißt du was, Wan? Du redest zu viel.«

Er schwieg einen Augenblick verwirrt. Gegen diese Anschuldigung konnte er sich nicht verteidigen. Er wusste nicht einmal, weshalb es eine Anschuldigung war. Er ging alles durch, was Tiny Jim ihm beigebracht hatte, dann hellte sich sein Gesicht auf.

»Ich verstehe. Du willst zuerst küssen«, sagte er.

»Nein! Ich will nicht ›zuerst‹ küssen, und nimm dein Knie von meiner Blase!«

Er ließ sie ungern los.

»Janine, enge Berührung ist für ›Liebe‹ unentbehrlich. Das gilt für die niedrigen Arten so gut wie für uns. Hunde schnüffeln. Primaten putzen sich. Reptilien ringeln sich umeinander. Sogar Rosenschößlinge drängen sich an die reife Pflanze. Tiny Jim sagt das. Allerdings hält er das nicht für eine sexuelle Regung. Aber du verlierst das Fortpflanzungsrennen, wenn du nicht aufpasst, Janine.«

Sie kicherte.

»Gegen wen? Gegen die alte, tote Henrietta?«

Aber er machte ein finsteres Gesicht, und sie hatte Mitgefühl für ihn.

Sie setzte sich auf und sagte sehr freundlich: »Du hast ein paar wirklich falsche Vorstellungen, weißt du das? Das Letzte, was ich will, falls wir je zu deiner gottverdammten Vereinigung kommen, ist, dass es an einer Stelle wie dieser passiert.«

»Passiert?«

»Dass ich schwanger werde«, erwiderte sie. »Das gottverdammte Fortpflanzungsrennen gewinnen. Ach, Wan«, sagte sie und wühlte in seinen Haaren, »du weißt überhaupt nicht, was gespielt wird. Ich wette, wir beide werden uns irgendwann ganz wild vereinigen, und vielleicht heiraten wir sogar und werden das alte Fortpflanzungsrennen haushoch gewinnen. Aber im Augenblick bist du eine Rotznase, und ich bin auch eine. Du willst dich gar nicht fortpflanzen. Du willst nur Liebe machen.«

»Hm, das stimmt, ja, aber Tiny Jim …«

»Hörst du jetzt mit Tiny Jim auf?« Sie stand auf, betrachtete ihn eine Weile und sagte zärtlich: »Weißt du was? Ich gehe zurück zu den Toten Menschen. Warum liest du nicht inzwischen ein Buch, damit du dich abkühlst?«

»Du bist albern«, schimpfte er. »Ich habe hier kein Buch und kein Lesegerät.«

»Ach, Mensch, dann geh irgendwohin und hol dir einen runter, damit dir wohler wird.«

Wan sah zu ihr auf und richtete den Blick auf seinen frischgewaschenen Kilt. Da war keine Wölbung sichtbar, aber ein heller, feuchter Fleck. Er grinste.

»Ich glaube, ich muss gar nicht mehr«, sagte er.


Bis sie zurückkamen, kuschelten Paul und Lurvy sich nicht mehr zärtlich aneinander, aber Janine konnte erkennen, dass sie friedlicher gesinnt waren als sonst. Was Lurvy an Wan und Janine zu entdecken vermochte, war weniger greifbar. Sie betrachtete sie nachdenklich, überlegte, ob sie fragen sollte, was sie getrieben hatten, entschied sich aber dagegen. Paul war außerdem weit mehr an dem interessiert, was sie eben entdeckt hatten.

»He, ihr zwei, hört euch das an«, sagte er. Er wählte Henriettas Nummer, wartete, bis ihre weinerliche Stimme unsicher »Hallo« sagte, und fragte dann: »Wer bist du?«

Die Stimme wurde kräftiger.

»Ich bin eine Computeranalogie«, sagte sie entschieden. »Als ich noch lebte, war ich Mrs. Henrietta Meacham, die Frau von Arnold Meacham, Mission Orbit 74, Tag 19. Ich bin Bakkalaureus der Naturwissenschaft und Magister und Doktor rer. nat. der Universität Pennsylvania, und meine Spezialdisziplin ist Astrophysik. Nach zweiundzwanzig Tagen dockten wir an einem künstlichen Gebilde an und wurden von den Bewohnern gefangen genommen. Zum Zeitpunkt meines Todes war ich achtunddreißig Jahre alt, zwei Jahre jünger als …« Die Stimme stockte. »… Doris Filgren, unsere Pilotin, die …« Sie zögerte wieder. »… die mein Mann … offenbar … die eine Affäre mit … die …« Die Stimme begann zu schluchzen, und Paul schaltete sie ab.

»Na ja, es ist nicht von Dauer«, meinte er, »aber immerhin. Die dumme alte Vera hat für sie eine Art Verbindung mit der Wirklichkeit geschaffen. Und nicht nur für sie. Hast du den Namen deiner Mutter gekannt, Wan?«

Der Junge starrte ihn mit vorquellenden Augen an.

»Den Namen meiner Mutter?«, sagte er schrill.

»Oder irgendeinen der anderen. Tiny Jim, zum Beispiel. Er war in Wirklichkeit ein Flugzeugpilot von der Venus, der zuerst nach Gateway und dann hierher kam. Er heißt James Cornwell. Willard war Englischlehrer. Er unterschlug Geld seiner Studenten, um nach Gateway zu gelangen – natürlich hatte er nicht viel davon. Bei seinem ersten Flug landete er hier. Die Computer auf der Erde haben für Vera ein Befragungsprogramm geschrieben, und sie arbeitete die ganze Zeit daran, und … was ist los, Wan?«

Der Junge befeuchtete die Lippen.

»Den Namen meiner Mutter?«, wiederholte er.

»Oh, Verzeihung«, entschuldigte sich Paul. Es war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass Wans Gefühle betroffen sein könnten. »Sie hieß Elfega Tamorra. Aber zu den Toten Menschen scheint sie nicht zu gehören, Wan. Ich weiß nicht, woran das liegt. Und dein Vater – tja, das ist seltsam. Dein wirklicher Vater war tot, bevor sie hierher kam. Der Mann, von dem du sprichst, muss ein anderer sein, aber ich weiß nicht, wer. Hast du eine Ahnung?« Wan zuckte mit den Schultern. »Ich meine, warum deine Mutter oder dein … Stiefvater nicht gespeichert zu sein scheinen?«

Wan spreizte die Hände.

Lurvy trat zu ihm. Der arme Junge! Sie legte den Arm um ihn, weil er so elend aussah, und sagte: »Für dich muss das ein Schock sein, Wan. Ich bin sicher, wir erfahren noch viel mehr.« Sie wies auf das Durcheinander von Rekordern, Verschlüsslern und Prozessoren, das den früher leeren Raum ausfüllte. »Alles, was wir feststellen, geht zurück zur Erde«, sagte sie. Er blickte höflich zu ihr auf, aber nicht mit dem größten Verständnis, als sie versuchte, den riesigen Komplex von Anlagen zur Verarbeitung von Informationen auf der Erde zu erklären, wie dieser systematisch alle Daten analysierte und mit anderen verglich, die vom Hitschi-Himmel und aus der Nahrungsfabrik kamen – ganz zu schweigen von allen übrigen Daten, gleichgültig, woher sie stammten. Bis Janine sich einmischte.

»Ach, lasst ihn in Ruhe. Er versteht genug«, sagte sie. »Lass ihn das erst einmal verdauen.« Sie kramte im Nahrungsbehälter nach einem der schiefergrünen Päckchen und meinte beiläufig: »Warum tutet dieses Ding eigentlich?«

Paul horchte, dann sprang er zu seinen Geräten. Der an ihre Kamera angeschlossene Monitor gab ein schwaches Piepen von sich. Er drehte ihn herum, damit alle ihn sehen konnten, während er vor sich hin fluchte.

Es war die am Beerenfrucht-Strauch zurückgelassene Kamera, die geduldig den unveränderten Schauplatz ablichtete und ein Alarmzeichen gab, wenn sie eine Bewegung wahrnahm.

Das war jetzt der Fall. Ein Gesicht starrte sie vom Schirm her an.

Lurvy spürte, wie ein Schauer des Entsetzens über ihren Rücken kroch.

»Hitschi«, stieß sie hervor.

Aber wenn das zutraf, zeigte das Gesicht keine Spur davon, dass sich dahinter ein Geist verbarg, der eine ganze Galaxis zu kolonisieren vermochte. Das Wesen schien auf allen vieren zu stehen, starrte finster in die Kamera, und hinter ihm befanden sich vier oder fünf andere. Das Gesicht besaß kein Kinn. Die Stirn wölbte sich unter einer flaumigen Kopfbehaarung; im Gesicht waren mehr Haare als auf dem Kopf. Wenn der Schädel einen Hinterhauptswulst besessen hätte, wäre das Wesen einem Gorilla ähnlich gewesen. Alles in allem war es der Nachbildung des Schiffscomputers aufgrund von Wans Beschreibung nicht allzu unähnlich, aber von gröberem, tierischerem Aussehen. Trotzdem waren sie keine Tiere. Als das Gesicht sich auf die Seite drehte, sah Lurvy, dass die anderen, die sich um den Beerenfrucht-Strauch drängten, das trugen, was noch kein Tier freiwillig angelegt hatte: Sie waren bekleidet. Es gab sogar Andeutungen von Modischem in ihrer Kleidung, Farbflicken, auf ihre Röcke genäht, was wie Tätowierungen aussah; sogar eine Kette mit scharfkantigen Perlen trug eines der männlichen Wesen.

»Ich nehme an, dass sogar die Hitschi mit der Zeit degenerieren können«, sagte Lurvy mit schwankender Stimme. »Und Zeit genug hatten sie.«

Das Bild auf dem Schirm schwankte stark.

»Hol ihn der Teufel«, knurrte Paul. »So degeneriert ist er nicht, dass ihm die Kamera nicht auffiele. Er hat sie hochgehoben. Wan, glaubst du, sie wissen, dass wir hier sind?«

Der Junge zuckte uninteressiert die Achseln.

»Natürlich. Das haben sie immer getan, weißt du. Es kümmert sie aber nicht.«

Lurvys Herz setzte kurz aus.

»Was meinst du damit, Wan? Woher weißt du, dass sie uns nicht jagen?«

Das Bild wurde ruhiger; der Alte, der die Kamera ergriffen hatte, reichte sie einem zweiten Wesen. Wan blickte hinüber und meinte: »Ich hab’ es euch gesagt, sie kommen in diesen blauen Abschnitt fast nie. Ins Rote gar nicht, und es gibt keinen Grund, ins Grüne zu gehen. Da funktioniert nichts, nicht einmal die Nahrungsschächte oder die Lesegeräte. Sie bleiben fast immer im Gold. Außer, sie haben dort alle Beerenfrüchte gegessen und wollen noch mehr davon.«

Aus dem Lautsprecher des Monitors klang ein maunzender Schrei, und wieder schwankte das Bild. Es erstarrte kurz, als es eine der weiblichen Alten zeigte, die am Finger saugte; dann griff sie mit bösem Blick nach der Kamera. Das Bild verschwand.

»Paul, was haben sie gemacht?«, fragte Lurvy scharf.

»Das Ding demoliert, nehme ich an«, sagte er, während er vergeblich an den Knöpfen drehte. »Die Frage ist, was machen wir jetzt? Haben wir hier nicht genug getan? Sollten wir uns nicht überlegen, ob wir zurückfliegen?«


Lurvy dachte darüber nach, wie alle anderen. Aber so gründlich sie Wan auch befragten, der Junge blieb störrisch dabei, dass es nichts zu fürchten gebe. Die Alten hätten ihm in den Korridoren mit den roten Lichtadern niemals etwas getan. In den grünen hätte er sie nie gesehen – allerdings sei er dort auch kaum hingegangen. Selten im Blauen. Und ja, natürlich wüssten sie, dass hier Leute seien – die Toten Menschen versicherten ihm, dass die Alten Maschinen besäßen, die überall lauschten und manchmal auch Ausschau hielten – wenn sie nicht defekt waren. Das sei ihnen einfach nicht wichtig.

»Wenn wir nicht ins Gold gehen, stören sie uns nicht«, erklärte er entschieden. »Außer, natürlich, sie kommen heraus.«

»Wan«, fauchte Paul, »ich kann dir gar nicht sagen, wie zuversichtlich mich das macht.«

Aber es stellte sich heraus, dass das nur die Art und Weise des Jungen war auszudrücken, dass die Aussichten sehr günstig seien.

»Ich gehe oft in den goldenen Bereich, damit es spannend wird«, prahlte er. »Und wegen der Bücher. Ich bin nie erwischt worden, versteht ihr?«

»Und was ist, wenn die Hitschi herkommen, damit es spannend wird oder weil sie Bücher wollen?«, fragte Paul erbost.

»Bücher! Was würden sie mit Büchern anfangen? Vielleicht wegen der Beerenfrüchte. Manchmal gehen sie mit den Maschinen – Tiny Jim sagt, sie sollen das reparieren, was defekt ist. Aber nicht immer. Und die Maschinen arbeiten nicht sehr gut. Außerdem kann man sie von weitem hören.«

Sie saßen alle eine Weile stumm da und sahen einander an. Schließlich sagte Lurvy: »Ich sehe das so. Wir bleiben noch eine Woche. Das ist wohl nicht zu gefährlich. Wir haben – wie viele sind es, Paul? – noch fünf Kameras. Wir stellen sie an verschiedenen Orten auf, schließen sie an den Monitor hier an und lassen sie in Ruhe. Wenn wir aufpassen, können wir sie vielleicht so verstecken, dass die Hitschi sie nicht finden. Wir erkunden alle roten Tunnels, weil die ungefährlich sind, und von den blauen und grünen so viele, wie wir können. Nehmen Proben. Machen Aufnahmen. Ich will mir diese Reparaturmaschinen ansehen. Und wenn wir so viel bewältigt haben, wie wir können, werden wir … werden wir sehen, wie viel Zeit uns bleibt. Dann entscheiden wir, ob wir in den goldenen Bereich gehen.«

»Aber nicht länger als eine Woche. Von jetzt an«, sagte Paul. Er beharrte nicht darauf. Er wollte nur sichergehen, dass er richtig verstanden hatte.

»Nicht länger«, bestätigte Lurvy, und Janine und Wan nickten.


Aber achtundvierzig Stunden später waren sie trotzdem im goldenen Bereich.

Sie hatten beschlossen, die beschädigte Kamera auszuwechseln, und gingen zu viert zu der Dreifachkreuzung, wo der Beerenfrucht-Strauch stand, bar aller reifen Früchte. Wan war der Erste, Hand in Hand mit Janine. Sie machte sich los, um auf die zerstörte Kamera zuzueilen.

»Sie haben sie völlig zertrümmert«, sagte sie staunend. »Du hast uns nicht erzählt, dass sie so stark sind, Wan. Schau mal, ist das Blut?«

Paul riss ihr das Gerät aus der Hand, drehte es um und starrte die schwarze Kruste an einer Kante stirnrunzelnd an.

»Sieht so aus, als hätten sie versucht, die Kamera zu öffnen«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass ich das mit bloßen Händen könnte. Er muss irgendwie abgerutscht sein und sich verletzt haben.«

»O ja«, sagte Wan mit schriller Stimme zerstreut, »sie sind sehr stark.« Seine Aufmerksamkeit galt nicht der Kamera. Er starrte in den langen goldenen Korridor, schnupperte und horchte auf ferne Geräusche.

»Du machst mich nervös«, sagte Lurvy. »Hörst du etwas?«

Er hob gereizt die Schultern.

»Man riecht sie, bevor man sie hört, aber nein, ich rieche nichts. Sie sind nicht sehr nah. Und ich habe keine Angst. Ich komme oft hierher, um Bücher zu holen oder zu beobachten, was sie Komisches treiben.«

»Glaub’ ich«, sagte Janine und nahm Paul die alte Kamera ab, während er nach einem Versteck für die neue suchte. Viele Stellen gab es nicht. Die Hitschi waren kärglich eingerichtet.

Wan brauste auf.

»Ich bin den Korridor hinuntergegangen, so weit ich sehen kann«, prahlte er. »Sogar dahin, wo die Bücher sind, ganz weit unten – seht ihr? Manche sind im Korridor.«

Lurvy blickte hinunter, wusste aber nicht genau, was Wan meinte. An die fünfzig Meter entfernt gab es einen Haufen von glitzerndem Zeug, aber keine Bücher. Paul, der das Schutzband von einem Klebehaken abzog, um ihn an der Wand so hoch wie möglich anzubringen, sagte: »Wie du immer mit deinen Büchern angibst. Ich habe sie gesehen, weißt du. ›Moby Dick‹ und ›Don Quichotte‹. Was sollten die Hitschi damit anfangen?«

»Du bist dumm, Paul«, erklärte Wan würdevoll. »Das sind nur die, die mir die Toten Menschen gegeben haben, nicht die richtigen Bücher. Das sind die richtigen Bücher.«

Janine sah ihn verwundert an, dann ging sie ein paar Schritte in den Tunnel hinein.

»Das sind keine Bücher!«, rief sie über die Schulter.

»Aber natürlich! Ich sag’ dir, es sind Bücher!«

»Nein, es sind keine! Komm selber her!« Lurvy öffnete den Mund, um sie zurückzurufen, zögerte und folgte ihr. Der Korridor war leer, und Wan wirkte nicht aufgeregter als sonst. Schon auf halbem Weg zu dem glitzernden Haufen erkannte Lurvy, was sie vor sich hatte, und eilte zu Janine, um einen der Gegenstände aufzuheben.

»Wan«, sagte sie, »das kenne ich. Das sind Hitschi-Gebetsfächer. Auf der Erde gibt es hunderte davon.«

»Nein, nein!« Er wurde zornig. »Warum sagt ihr, dass ich lüge?«

»Ich sage nicht, dass du lügst, Wan.« Sie entrollte das Ding in ihren Händen. Es glich einer spitz zulaufenden Schriftrolle aus Kunststoff; in ihren Händen öffnete sie sich mühelos, schnurrte aber, losgelassen, sofort wieder zusammen. Es war der häufigste Gegenstand der Hitschi-Kultur, zu Dutzenden in den verlassenen Tunnels auf der Venus gefunden, von Gateway-Prospektoren bei jedem erfolgreichen Flug mitgebracht. Niemand war je dahinter gekommen, was die Hitschi damit machten; und ob der Name, den sie ihnen gegeben hatten, passte, wussten nur die Hitschi. »Man nennt sie ›Gebetsfächer‹, Wan.«

»Nein, nein«, sagte er gereizt, nahm ihn ihr weg und marschierte in die Kammer. »Man betet nicht damit. Man liest sie. So.« Er begann die Rolle in eines der tulpenförmigen Gebilde in der Wand zu stecken, warf einen Blick darauf und ließ sie fallen. »Das ist kein gutes«, sagte er und kramte in dem Haufen von Fächern am Boden. »Warte. Ja. Das ist auch nicht gut, aber wenigstens etwas, das man erkennen kann.« Er schob die Rolle in die Tulpe hinein. Es gab ein kaum hörbares elektronisches Flüstern, dann verschwanden Tulpe und Rolle. Eine zitronenförmige Farbwolke hüllte sie ein und formte sich zu einem gebundenen Buch, aufgeschlagen auf einer Seite mit vertikalen Schriftzeichen. Eine blecherne Stimme – eine menschliche Stimme! – begann in einer ratternden, vokalreichen Sprache etwas vorzutragen.

Lurvy konnte die Worte nicht verstehen, aber zwei Jahre auf Gateway hatten sie zu einer Weltbürgerin gemacht. Sie ächzte: »Ich … ich glaube, das ist Japanisch. Und das sieht aus wie ein Haiku. Wan, was machen die Hitschi mit Büchern in Japanisch?«

Er sagte überlegen: »Das sind nicht wirklich die alten, Lurvy, das sind nur Kopien anderer Bücher. Die guten sind alle so. Tiny Jim sagt, alle Bänder und Bücher der Toten Menschen – aller Toten Menschen, selbst derjenigen, die nicht mehr hier sind – wurden darin gespeichert. Ich lese sie die ganze Zeit.«

»Mein Gott«, sagte Lurvy. »Und wie oft habe ich so etwas in der Hand gehabt und nicht gewusst, wozu es gut sein soll!«

Paul schüttelte staunend den Kopf. Er griff in das leuchtende Bild und zog den Fächer aus der Tulpe. Das ging mühelos; das Bild verschwand, die Stimme hörte mitten im Wort auf, und er drehte die Rolle mit den Händen immer wieder, um sie genau zu betrachten.

»Das begreife ich nicht«, sagte er. »Jeder Wissenschaftler auf der Welt hat sich mit diesen Dingern befasst. Wie kommt es, dass nie jemand erkannt hat, was das ist?«

Wan zog die Schultern hoch. Er war nicht mehr wütend; er genoss den Triumph, diesen Leuten zu zeigen, wie viel mehr er wusste als sie.

»Vielleicht sind sie auch dumm«, erklärte er mit schriller Stimme, dann fügte er nachsichtiger hinzu: »Oder vielleicht hatten sie nur solche, die niemand verstehen kann – außer möglicherweise die Alten, wenn die sich überhaupt die Mühe machen, sie zu lesen.«

»Hast du davon eines zur Hand, Wan?«, fragte Lurvy.

Er bewegte gereizt die Schultern.

»Damit gebe ich mich nie ab«, erwiderte er. »Aber wenn ihr mir nicht glaubt …« Er kramte in dem Haufen, und seine Miene verriet, dass sie Zeit mit Dingen vergeudeten, die er schon erkundet und für unwichtig befunden hatte. »Ja, ich glaube, das ist eine von den wertlosen.«

Als er sie in die Tulpe schob, war das Hologramm, das erschien, sehr hell – und verwirrend. Es war so schwer zu begreifen wie das Farbenspiel an der Steuerung eines Hitschi-Raumschiffes. Noch schwerer. Sonderbare, oszillierende Linien, die einander umschlangen, mit aufsprühenden Farben auseinander zuckten und sich wieder vereinigten. Wenn das eine geschriebene Sprache war, hatte sie mit jedem westlichen Alphabet so viel Ähnlichkeit wie die Keilschrift. Noch weniger Ähnlichkeit. Alle Erdensprachen besaßen Gemeinsames, und sei es nur das eine, dass sie fast alle durch Symbole auf einer ebenen Fläche dargestellt wurden. Dies hier sollte offenbar in drei Dimensionen wahrgenommen werden. Begleitet war es von einer Art unregelmäßigem, moskitoartigem Summen, wie Telemetrie, die aus Versehen von einem Taschenradio aufgefangen wurde. Alles in allem wirkte es ziemlich entnervend.

»Ich hatte nicht angenommen, dass es euch gefällt«, meinte Wan hämisch.

»Stell das ab, Wan«, sagte Lurvy und fügte danach energischer hinzu: »Wir müssen mitnehmen, was wir tragen können. Paul, zieh dein Hemd aus. Nehmt, was ihr schleppen könnt, und schafft es in den Raum der Toten Menschen. Und nehmt die alte Kamera auch mit. Gebt sie dem Bioprüfgerät, damit wir sehen, was es mit dem Hitschi-Blut anfangen kann.«

»Und was wollt ihr tun?«, fragte Paul, aber er hatte seine Bluse schon ausgezogen und füllte sie mit den glitzernden »Büchern«.

»Wir kommen gleich nach. Geh du, Paul. Wan, kannst du unterscheiden, was das jeweils ist – ich meine, welche diejenigen sind, mit denen du dich nicht abgibst?«

»Natürlich kann ich das, Lurvy. Sie sind viel älter, manchmal ein bisschen abgesplittert – wie du sehen kannst.«

»Gut. Ihr zwei zieht eure Überkleidung auch aus – so viel ihr braucht, um einen Tragesack daraus zu machen. Los. Züchtig sind wir ein andermal«, sagte sie und zog ihre Kombination aus. Sie trug BH und Höschen und machte Knoten in Ärmel und Beine des Kleidungsstücks. Sie konnte mindestens fünfzig oder sechzig Fächer darin transportieren. Mit Wans Tunika und Janines Gewand vermochten sie mindestens die Hälfte der Gegenstände mitzunehmen. Und das sollte genug sein. Lurvy wollte nicht gierig werden. Außerdem gab es in der Nahrungsfabrik noch viele davon – obwohl es vermutlich diejenigen waren, welche Wan hingebracht hatte, also nur solche, die er hatte verstehen können.

»Gibt es in der Nahrungsfabrik Lesegeräte, Wan?«

»Natürlich«, sagte er. »Weshalb sollte ich sonst Bücher mit dorthin nehmen?« Er kramte gereizt in den Fächern und murmelte vor sich hin, während er Janine und Lurvy die ältesten, »nutzlosesten« hinwarf. »Mir ist kalt«, klagte er.

»Uns allen. Du hättest ruhig einen Büstenhalter anziehen können, Janine«, sagte Lurvy und sah ihre Schwester strafend an.

»Ich hatte ja nicht vor, mich auszuziehen«, erwiderte Janine empört. »Wan hat Recht. Mich friert auch.«

»Es dauert ja nicht lange. Beeil dich, Wan. Du auch, Janine. Mal sehen, wie schnell wir die Hitschi-Exemplare herausfinden.«

Sie hatten ihre Kombination fast schon gefüllt, und Wan begann, mit finsterer Miene und würdevoll nur mit seinem Kilt bekleidet, die Fächer in seine Tunika zu stopfen. In den Kilt könnte man auch noch ein paar Dutzend hineinlegen, dachte Lurvy. Schließlich trug er ja einen Lendenschurz darunter. Aber sie konnten zufrieden sein. Paul hatte mindestens schon dreißig oder vierzig Stück mitgenommen. Ihre Kombination schien fast fünfundsiebzig Stück fassen zu können. Außerdem blieb immer noch die Möglichkeit, den Rest bei einer anderen Gelegenheit abzuholen, wenn sie wollten.

Lurvy war jedoch nicht der Meinung, dass sie sich dazu entschließen würde. Was genug war, war genug. Gleichgültig, was sie im Hitschi-Himmel noch tun mochten, eine unbezahlbare Tatsache stand schon fest: Die Gebetsfächer waren Bücher! Zu wissen, dass dem so war, bedeutete die halbe Arbeit; mit dieser Gewissheit würden die Wissenschaftler ohne Zweifel in der Lage sein, das Geheimnis zu enträtseln, wie man sie las. Außerdem gab es die Lesegeräte in der Nahrungsfabrik; schlimmstenfalls konnten sie jeden Fächer in Ton und Bild aufzeichnen und von Vera zur Erde übermitteln lassen. Vielleicht konnten sie auch eine Lesemaschine ausbauen und mitnehmen. Und zurückfliegen würden sie, das stand für Lurvy plötzlich fest. Wenn sie keinen Weg fanden, die Nahrungsfabrik zu steuern, würden sie das Gebilde verlassen. Niemand konnte ihnen das verdenken. Sie hatten genug geleistet. Wenn mehr nötig sein sollte, konnten andere nachkommen, aber in der Zwischenzeit … in der Zwischenzeit würden sie wertvollere Geschenke mitbringen als irgendein anderes menschliches Wesen seit der Entdeckung des Gateway-Asteroiden. Sie würden entsprechend belohnt werden, daran gab es keinen Zweifel – sie hatte sogar Robinette Broadheads Wort dafür. Zum ersten Mal, seitdem sie auf der sengenden Flamme ihrer Startraketen den Mond verlassen hatte, wagte Lurvy, sich als eine Person zu sehen, die nicht nach dem großen Preis strebte, sondern ihn gewonnen hatte. Wie glücklich würde ihr Vater sein …

»Das genügt«, sagte sie und half Janine, den von Fächern überquellenden Sack hochzuheben. »Wir bringen sie sofort ins Schiff.«

Janine presste das große Bündel an ihre kleinen Brüste und packte noch ein paar Fächer mit der freien Hand.

»Das klingt so, als wollten wir heimfliegen«, meinte sie.

»Kann schon sein.« Lurvy grinste. »Wir werden uns natürlich zusammensetzen und entscheiden müssen … Wan? Was ist denn?«

Er stand am Eingang, die Tunika voller Fächer unter dem Arm. Und wirkte niedergeschlagen.

»Wir haben zu lange gewartet«, flüsterte er. »An den Beerenfrüchten sind Alte.«

»O nein

Aber so war es. Lurvy schaute vorsichtig in den Tunnel hinaus, und da waren sie und starrten in die Kamera, die Paul an der Wand befestigt hatte. Eines der Wesen griff hinauf und riss sie mühelos heraus, während sie zusah. »Wan, gibt es noch einen anderen Weg?«

»Ja, durch das Gold, aber …« Er schnupperte. »Ich glaube, da sind auch welche. Ich kann sie riechen und, ja, hören!«

Auch das traf zu; Lurvy hörte in der Ferne sanftes, hohes Grunzen von dort, wo der Korridor eine Biegung machte.

»Es bleibt uns keine Wahl«, erklärte sie. »Auf dem Weg, auf dem wir hergekommen sind, gibt es nur zwei. Wir überraschen sie und boxen uns einfach durch. Los!« Sie schleppte die Fächer mit und trieb die beiden anderen vor sich her. Die Hitschi mochten stark sein, aber Wan hatte erklärt, dass sie langsam waren. Mit ein bisschen Glück …

Sie hatten keines. Als sie die Öffnung erreichten, sahen sie, dass es mehr waren als zwei, ein halbes Dutzend mehr, die herumstanden und sie von den Zugängen der anderen Korridore aus anstarrten.

»Paul!«, schrie sie in die Kamera. »Wir sitzen in der Falle! Steig ins Schiff, und wenn wir nicht entkommen …« Mehr konnte sie nicht sagen, weil die Hitschi sich auf sie stürzten – und, ja, sie waren wirklich stark!


Sie wurden durch ein halbes Dutzend Etagen hinaufgetrieben, an jedem Arm einen Gegner. Die Wesen zirpten miteinander und achteten weder auf ihre Worte noch auf ihre Gegenwehr. Wan sagte nichts. Er ließ sich einfach mitziehen bis hin zu einem großen, offenen, spindelförmigen Raum, wo noch ein Dutzend Alte wartete, hinter ihnen eine riesige, blau leuchtende Maschine.

Glaubten die Hitschi an den Sinn von Opferungen? Oder führten sie mit Gefangenen Experimente durch? Würden sie als Tote Menschen enden, plappernd und besessen, bereit, die nächste Gruppe von Besuchern zu empfangen? Lurvy hielt alle diese Fragen für interessant und wusste auf keine eine Antwort. Noch fürchtete sie sich nicht. Ihre Gefühle hatten die Fakten noch nicht eingeholt; es lag zu kurz zurück, dass sie sich gestattet hatte, Triumph zu empfinden. Die Erkenntnis der Niederlage brauchte Zeit.

Die Alten zirpten miteinander, wiesen auf die Gefangenen, auf die Korridore und die große stumme Maschine, die einem Kampfpanzer ohne Geschütz glich. Ein Albtraum. Lurvy konnte nichts davon begreifen, obwohl die Situation als solche klar genug war. Nach minutenlangem Geschnatter wurden sie in einen kleinen Raum geschoben und fanden darin – wie erstaunlich! – ganz vertraute Objekte. Hinter der geschlossenen Tür ging Lurvy sie durch – Kleidung, ein Schachspiel, längst ausgetrocknete Rationen. In einer Schuhspitze steckte ein dickes Bündel brasilianischer Geldscheine, über eine Viertelmillion Dollar, schätzte sie. Sie waren hier nicht die ersten Gefangenen! Aber im ganzen Durcheinander war von einer Waffe nichts zu sehen. Sie wandte sich an Wan, der blass war und zitterte.

»Was wird geschehen?«, fuhr sie ihn an.

Er wackelte mit dem Kopf wie ein Alter. Das war die einzige Antwort, die er geben konnte.

»Mein Vater …«, begann er und musste schlucken, bevor er weitersprechen konnte. »Sie haben meinen Vater einmal gefasst und, ja, sie haben ihn wirklich wieder gehen lassen. Aber ich glaube nicht, dass das die Regel ist, weil mein Vater zu mir sagte, ich dürfte mich nie erwischen lassen.«

»Wenigstens ist Paul entkommen«, sagte Janine. »Vielleicht … vielleicht kann er Hilfe bringen …« Aber sie verstummte und erwartete keine Antwort. Jede hoffnungsvolle Antwort wäre ein Hirngespinst gewesen. Wenn Hilfe kam, dann nicht bald. Sie begann die alte Kleidung durchzusehen. »Wenigstens können wir etwas anziehen«, meinte sie. »Komm, Wan, zieh dir was über.«

Lurvy folgte ihrem Beispiel und erstarrte, als ihre Schwester einen seltsamen Laut von sich gab. Es war beinahe ein Lachen.

»Was ist denn so komisch?«, fauchte sie.

Janine zog einen Pullover über ihren Kopf, bevor sie antwortete. Er war zu groß, wärmte aber.

»Ich habe eben an die Anweisungen gedacht, die man uns geschickt hat«, meinte sie. »Hitschi-Gewebeproben beschaffen, ja? Na, so, wie es jetzt aussieht, haben sie stattdessen die unsrigen, und zwar alle.«

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