Als Gelle-Klara Moynlin aufwachte, war sie nicht tot, wie sie zuversichtlich erwartet hatte. Sie befand sich in einem Hitschi-Erkundungsschiff. Allem Anschein nach handelte es sich um einen gepanzerten Fünfer. Es war aber nicht derselbe, auf dem sie gewesen war und an den sie sich zuletzt erinnerte.
Chaos, Furcht, schreckliche Schmerzen und nacktes Grauen waren in ihrem Gedächtnis haften geblieben, alles war ihr glasklar gegenwärtig. Aber dieser hagere, dunkle, finster blickende Mann, der nur einen Tanga und ein Halstuch trug, war nicht dabei gewesen. Auch nicht die fremde junge Blondine, die sich die Augen ausheulte. Klara entsann sich, dass auch damals zum Schluss die Leute geweint hatten, sicher! Geweint, geschrien, geflucht und sich in die Hosen gemacht, weil sie innerhalb der Schwarzschild-Barriere eines Schwarzen Lochs gefangen saßen.
Aber keiner der Leute war einer von denen hier gewesen.
Die junge Frau beugte sich besorgt über sie. »Alles in Ordnung, Schätzchen? Sie haben eine schreckliche Zeit hinter sich.« Diese Behauptung war nicht gerade neu für Klara. Sie wusste, wie schlimm es gewesen war. »Sie ist wach«, rief die junge Frau über die Schulter.
Der Mann trat näher und stieß die Frau beiseite. Er verschwendete keine Minute damit, sich nach Klaras Gesundheit zu erkundigen. »Dein Name? Dann Orbit- und Missionsnummer – schnell!« Als sie ihm diese genannt hatte, verschwand er wortlos, und die blonde junge Frau kam wieder.
»Ich bin Dolly«, stellte sie sich vor. »Tut mir Leid, dass ich so furchtbar aussehe. Aber, ehrlich, ich hab’ mich zu Tode gefürchtet. Alles in Ordnung? Sie waren in furchtbarer Verfassung, und wir haben hier kein besonderes medizinisches Programm.«
Klara setzte sich auf und musste zugeben, dass sie wirklich in grauenvoller Verfassung war. Jeder Teil ihres Körpers schmerzte, beim Kopf angefangen, der offensichtlich gegen irgendetwas gestoßen war. Sie sah sich um. Noch nie war sie in einem Schiff gewesen, das so voll gestopft mit Werkzeug und Spielsachen war oder das so angenehm nach Essen duftete. »Sagen Sie, wo bin ich?«, fragte sie.
»Sie befinden sich in seinem Schiff.« Sie deutete mit dem Finger. »Er heißt Wan. Er ist umhergezogen und hat in Schwarzen Löchern rumgestochert.« Dolly sah aus, als würde sie gleich wieder anfangen zu weinen. Aber sie wischte sich nur die Nase und fuhr fort: »Und noch was, Schätzchen: All die anderen Leute, die mit Ihnen zusammen waren, sind tot. Sie sind die Einzige, die überlebt hat.«
Klara hielt die Luft an. »Alle? Auch Robin?«
»Ich weiß nicht, wie sie heißen«, entschuldigte sich die Frau. Sie war auch nicht überrascht, als ihr unerwarteter Gast das geschundene Gesicht abwandte und zu schluchzen begann. Von der gegenüberliegenden Seite knurrte Wan die Frauen wütend an. Er war schwer mit eigenen Problemen beschäftigt. Er wusste nicht, welchen Schatz er geborgen hatte oder wie sehr dieser geborgene Schatz mein Leben durcheinander brachte.
Es ist fast wahr, dass ich meine liebe Frau Essie aus Enttäuschung über den Verlust von Klara Moynlin geheiratet habe. Zumindest unter dem Ansturm der Gefühle, die mich überfielen, als ich meine Schuldgefühle – jedenfalls die meisten – wegen Klara verloren hatte.
Als ich schließlich erfuhr, dass Klara lebte, war das ein Schock. Aber, mein Gott, nichts – nichts – im Vergleich zu Klaras Schock! Sogar jetzt und unter diesen Umständen kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, das ich gegen alle Logik nur als körperlichen Schmerz bezeichnen kann, wenn ich an meine weiland so geliebte Klara denke, als sie sich wieder unter den Lebenden fand. Nicht nur, weil sie es war oder wegen ihrer Beziehung zu mir. Sie verdiente das Mitleid von uns allen. Gefangen, verängstigt, verletzt, den Tod vor Augen – und einen Augenblick später wie durch ein Wunder gerettet. Gott sei der armen Frau gnädig! Gott weiß, dass sie mir Leid tat. Die Dinge entwickelten sich auch nicht so schnell besser für sie. Die Hälfte der Zeit war sie ohne Bewusstsein, weil ihr Körper so schrecklich zerschunden war. War sie wach, konnte sie sich nicht sicher sein, ob sie wirklich wach war. Aufgrund des Prickelns und des Wärmegefühls und des Summens in den Ohren wusste sie, dass man sie mit schmerzstillenden Mitteln voll gepumpt hatte. Trotzdem litt sie unter scheußlichen Schmerzen. Nicht nur im Körper. Vielleicht hatte sie im wachen Zustand auch nur halluziniert. Der Soziopath Wan und die am Boden zerstörte Dolly waren keine stabilen Persönlichkeiten, an die man sich halten konnte. Wenn sie Fragen stellte, bekam sie merkwürdige Antworten. Als sie Wan mit einer Maschine sprechen sah und Dolly danach fragte, ergab deren Antwort auch wenig Sinn. »Oh, das sind seine Toten Menschen. Er hat sie mit allen Daten über seine Expeditionen gefüttert, und jetzt will er Auskünfte über Sie einholen.« Was konnte jemand damit anfangen, der noch nie von Toten Menschen gehört hatte? Und was sollte sie davon halten, als eine dünne, zittrige Stimme aus dem Lautsprecher zu sprechen begann? »… nein, Wan. Bei dieser Mission gibt es niemanden mit dem Namen Schmitz. Es waren zwei Schiffe, die gemeinsam hinausgefahren sind und …«
Ich war Gelle-Klara Moynlin vor ihrem Missgeschick mit dem Schwarzen Loch nie begegnet. Damals konnte sich Robin kein so hoch entwickeltes Datenbeschaffungssystem wie mich leisten. Im Laufe der Jahre habe ich aber sehr viel von Robin über sie erfahren. Häufig hörte ich, wie schuldig er sich an ihrem Tod fühlte. Die beiden waren zusammen mit anderen zu einer wissenschaftlichen Mission für die Gateway AG hinausgeflogen, um ein Schwarzes Loch zu erkunden. Die meisten Schiffe waren stecken geblieben.
Robin war es gelungen, sich zu befreien. Es gab natürlich keinen logischen Grund, sich schuldig zu fühlen. Überdies war Gelle-Klara Moynlin zwar ein normal leistungsfähiges, weibliches menschliches Wesen, aber keineswegs unersetzbar. Robin ersetzte sie in der Tat sehr bald durch eine Reihe anderer Frauen, ehe er schließlich mit S. Ya. Laworowna eine Langzeitbindung einging. Sie war nicht nur eine sehr tüchtige Frau, sondern auch die, welche mich entwarf. Obwohl ich auf menschliche Triebe und Motivationen sehr gut programmiert bin, gibt es im menschlichen Verhalten Dinge, die ich nie verstehen werde.
»Es ist mir scheißegal, wie viele Schiffe hinausgefahren sind!«
Die Stimme machte eine Pause. Dann hörte man unsicher: »Wan?«
»Natürlich bin ich Wan! Wer sollte es denn sonst sein, wenn nicht Wan?«
»Oh … Nun, nein, da ist niemand, auf den die Beschreibung deines Vaters passt. Und wer war das, den du gerettet hast?«
»Sie behauptet, sie heiße Gelle-Klara Moynlin. Weiblich. Nicht besonders hübsch. Etwa vierzig«, gab Wan zur Antwort. Er schaute sie nicht einmal an, um seinen Irrtum zu erkennen. Klara erstarrte. Aber dann überlegte sie, dass die Strapazen sie zweifellos älter aussehen ließen, als sie war.
»Moynlin«, flüsterte die Stimme. »Moynlin … Gelle-Klara. Ja, sie war bei der Mission dabei. Aber das Alter ist falsch, glaube ich.« Klara nickte, worauf die Schmerzen in ihrem Kopf wieder anfingen. Dann fuhr die Stimme fort: »Lass mich sehen, ja, der Name stimmt. Aber sie wurde vor dreiundsechzig Jahren geboren.«
Das Pochen im Kopf verstärkte sich und wurde schneller. Klara musste gestöhnt haben, weil Dolly laut nach Wan schrie und sich wieder über sie beugte. »Es wird alles wieder gut«, beruhigte sie sie. »Ich werde Henrietta holen, damit Sie noch eine kleine Schlafspritze bekommen, ja? Wenn Sie dann aufwachen, fühlen Sie sich viel besser.«
Klara sah nur verständnislos zu ihr empor. Dann schloss sie wieder die Augen. Vor dreiundsechzig Jahren!
Wie viele seelische Erschütterungen kann ein menschliches Wesen ertragen, ohne zusammenzubrechen? Klara war ziemlich widerstandsfähig. Als Gateway-Prospektor hatte sie an vier harten Missionen teilgenommen, von denen jede schlimm genug war, um Albträume zu verursachen. Aber ihr Kopf pochte wild, als sie versuchte zu denken. Zeitdilatation? War das der Begriff, der beschrieb, was sich im Innern eines Schwarzen Lochs abspielte? War es möglich, dass in der realen Welt zwanzig oder dreißig Jahre vergangen waren, während sie in der tiefsten Schwerkraftsenke herumwirbelte, die es gab?
»Wie wär’s, wenn ich was zu essen bringe?«, erkundigte sich Dolly hoffnungsvoll.
Klara schüttelte den Kopf. Wan kaute missmutig an seiner Unterlippe, dann hob er den Kopf und brüllte: »Was für ein Blödsinn, ihr Essen anzubieten! Gib ihr lieber einen Drink!«
Er war nicht die Sorte Mensch, der man gern eine Gefälligkeit erwies, indem man ihr beistimmte; aber dieser Vorschlag klang zu gut, um ihn abzulehnen. Sie ließ sich von Dolly etwas bringen, das purer Whisky zu sein schien. Sie musste husten und spucken; aber es wärmte sie. »Schätzchen«, fragte Dolly zögernd, »war einer von denen, Sie wissen schon, von den Leuten, die umgekommen sind, Ihr besonderer Freund?«
Es gab keinen Grund für Klara, das zu verneinen. »Ein ziemlich guter Freund. Ich will damit sagen, dass wir uns geliebt haben, nehme ich jedenfalls an. Aber dann haben wir uns gestritten und getrennt. Später sind wir uns dann wieder näher gekommen, und dann war Robin in dem einen Schiff und ich in dem anderen …«
»Robbie?«
»Nein. Robin. Robin Broadhead. Eigentlich hieß er Robinette, aber er ist wegen des Namens etwas empfindlich – was ist los?«
»Robin Broadhead. O mein Gott, ja!«, sagte Dolly und schaute sie erstaunt und tief beeindruckt an. »Der Millionär!«
Wan blickte auf und kam zu ihr herüber. »Robin Broadhead, sicher, den kenn’ ich gut«, prahlte er.
Klaras Mund war plötzlich trocken. »Wirklich?«
»Aber sicher. Natürlich! Schon seit langer Zeit. Ach ja«, fuhr er fort und erinnerte sich. »Ich habe davon gehört, dass er vor vielen Jahren aus einem Schwarzen Loch entkommen ist. Merkwürdig, dass Sie auch da drin waren. Sie müssen wissen, wir sind Geschäftspartner. Ich beziehe von ihm und seinen Unternehmen beinahe zwei Siebtel meines gegenwärtigen Einkommens, wenn man die Dividende mitrechnet, die mir die Gesellschaften seiner Frau auszahlen.«
»Seiner Frau?«, flüsterte Klara.
»Haben Sie nicht zugehört? Ja, ich habe gesagt, von seiner Frau!«
Dolly fügte freundlich hinzu: »Ich hab’ sie ab und zu im PV gesehen, als sie unter die zehn bestangezogenen Frauen gewählt wurde oder als ihr der Nobelpreis verliehen wurde. Sie ist sehr schön. Schätzchen? Möchten Sie noch einen Drink?«
Klara nickte. Sofort fing das Pochen in ihrem Kopf wieder an. Sie riss sich zusammen und sagte: »Ja, bitte. Noch einen, mindestens.«
Wan hatte sich entschieden, fast zwei Tage lang die frühere Freundin seines Geschäftspartners wohlwollend zu behandeln. Dolly war zuvorkommend und versuchte zu helfen. In ihrer unvollständigen PV-Kartei gab es kein Foto von S. Ya. Aber Dolly zog ihre Puppen hervor und führte ihr zumindest als Karikatur vor, wie Essie aussah. Sie schaffte es sogar, Wan abzuweisen, als dieser aus Langeweile die Nightclub-Nummer sehen wollte. Klara hatte ausreichend Zeit, um nachzudenken. So benommen und zerschlagen sie auch war, sie konnte immer noch kopfrechnen.
Sie hatte über dreißig Jahre ihres Lebens verloren.
Nein, nicht ihres Lebens, auch der Leben aller anderen. Sie war kaum einen oder zwei Tage älter als damals, als sie in die Singularität hineingeriet. Ihre Handrücken waren zerkratzt und blutunterlaufen, aber es waren keine Altersflecken darauf zu sehen. Ihre Stimme war heiser wegen der Schmerzen und aus Erschöpfung, aber es war keine Altweiberstimme. Sie war keine alte Frau. Sie war Gelle-Klara Moynlin, etwas über dreißig, mit der etwas Furchtbares geschehen war.
Als sie am zweiten Tag aufwachte, verrieten ihr die stärkeren Beschwerden, dass sie keine schmerzstillenden Mittel mehr bekam. Der mürrisch aussehende Kapitän beugte sich über sie. »Mach die Augen auf!«, fuhr er sie an. »Du bist jetzt gesund genug, um die Passage abzuarbeiten, finde ich.«
Was für ein widerliches Geschöpf er war! Aber schließlich lebte sie und wurde offensichtlich auch wieder gesund. Da war Dankbarkeit durchaus angebracht. »Das klingt vernünftig«, sagte Klara und setzte sich auf.
»Vernünftig? Ha! Du entscheidest hier nicht, was vernünftig ist. Ich entscheide das«, erklärte Wan. »Du hast nur ein Recht auf meinem Schiff: das Recht, gerettet zu werden, und ich habe dich gerettet. Jetzt verfüge ich über alle Rechte. Vor allem, da wir deinetwegen nach Gateway zurückkehren müssen.«
»Aber Schatz«, versuchte Dolly zu vermitteln, »das ist nicht ganz richtig. Wir haben doch noch eine Menge zu essen …«
»Aber nicht das, was ich will. Halt’s Maul! Also, Klara, du musst mich für diese Mühe bezahlen.« Er streckte seine Hand nach hinten aus. Dolly verstand offensichtlich die Bedeutung dieser Geste. Sie schob ihm schnell einen Teller mit frisch gebackenen Schokoladenplätzchen zu. Er nahm eines und fing an zu essen.
Ekelhafter Kerl! Klara strich sich die Haare aus den Augen und betrachtete ihn eiskalt. »Wie soll ich zahlen? So wie sie?«
»Natürlich, so wie sie«, entgegnete Wan kauend. »Indem du ihr hilfst, das Schiff in Ordnung zu halten und … Oh! Ha-ha! Das ist zum Brüllen komisch!« Er riss den Mund auf, wobei er beim Lachen Kuchenkrümel auf Klara spuckte. »Du dachtest, ich meinte im Bett! Wie blöd du doch bist, Klara. Ich penne nicht mit hässlichen, alten Weibern.«
Klara wischte sich die Krümel vom Gesicht, während er nach einem neuen Plätzchen griff. »Nein«, fuhr er ernst fort. »Es gibt viel Wichtigeres. Ich will alles über Schwarze Löcher wissen.«
Sie versuchte ihn zu beschwichtigen und erklärte ausweichend: »Es ist alles so schnell gegangen. Ich kann Ihnen auch nicht viel sagen.«
»Sag, was du sagen kannst! Und hör zu – versuch ja nicht zu lügen!«
Mein Gott, dachte Klara, wie viel mehr muss ich mir davon noch gefallen lassen? Dies »Davon« bezog sich nicht nur auf den brutalen Wan. Es bezog sich auf ihr wieder aufgenommenes und völlig gestörtes Leben.
Die Antwort auf »wie viel« lautete elf Tage. Die Zeit reichte aus, um die schlimmsten blauen Flecken an ihren Armen und Beinen verschwinden zu lassen. Die Zeit reichte auch, Dolly Walthers näher kennen zu lernen und sie zu bedauern und Wan näher kennnen zu lernen und ihn zu verachten. Die Zeit reichte aber nicht aus, um sich darüber klar zu werden, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte.
Aber das Leben wartete nicht, bis sie damit fertig war. Fertig oder nicht, Wans Schiff dockte auf Gateway an. Und da war sie nun.
Die Gerüche auf Gateway waren anders als früher. Der Geräuschpegel war ganz anders – viel lauter. Die Leute waren vollkommen anders. Es schien kein einziges Wesen mehr zu geben, an das Klara sich von ihrem letzten Aufenthalt hier erinnern konnte – dreißig Jahre, oder nicht viel mehr als dreißig Tage, waren vergangen, je nachdem, auf wessen Uhr man schaute. Und so viele Leute waren in Uniform.
Das war ganz neu für Klara und gefiel ihr gar nicht. In der »guten alten Zeit« – wie lange diese auch subjektiv gesehen zurücklag – sah man vielleicht ein oder zwei Uniformen pro Tag. Das waren meist Leute, die auf den Beobachtungsschiffen der Vier Mächte Dienst taten. Mit Sicherheit sah man keinen, der eine Waffe trug. Das war jetzt nicht mehr so. Uniformierte waren überall, und sie waren bewaffnet.
Auch das Anmelden hatte sich wie alles andere verändert. Es war schon immer eine schwachsinnige Prozedur gewesen. Man kam dreckig und erschöpft auf Gateway an, die Angst steckte einem immer noch in den Knochen, weil man bis zur letzten Minute nicht sicher war, ob man es schaffen würde. Dann musste man sich auf Anordnung der Gateway AG mit den Auswertern und den Datensammlern und den Buchhaltern zusammensetzen. Was haben Sie gefunden? Was war daran neu? Was war es wert? Die Prospektoren mussten Fragen wie diese beantworten. Von der Beurteilung des Fluges durch die Abmeldekommission hing es ab, ob dieser eine totale Pleite oder – was nur selten vorkam – nie erträumten Reichtum bedeutete. Ein Gateway-Prospektor brauchte gewisse Fähigkeiten, um lediglich zu überleben, wenn er sich einmal in einem dieser unberechenbaren Schiffe eingeschlossen hatte und zu seiner Fahrt auf der Geisterbahn aufgebrochen war. Um reich zu werden, brauchte er mehr als diese Fähigkeiten. Er brauchte einen günstigen Bericht der Kommission.
Anmelden war schon immer übel gewesen, aber jetzt war es noch schlimmer. Es gab keine einzelnen Beamten von der Gateway AG, sondern vier Teams, eines von jeder der vier Schutzmächte. Die Befragung erfolgte jetzt dort, wo früher der beliebteste Nachtclub des Asteroiden und das Spielcasino gewesen waren, die »Blaue Hölle«. Jetzt gab es dort vier getrennte Zimmer mit den entsprechenden Fahnen auf der Tür. Die Brasilianer bekamen Dolly. Die Volksrepublik China griff sich Wan. Der amerikanische MP nahm Klara am Arm. Als der Leutnant vor der sowjetischen Tür die Stirn runzelte und den Kolben seiner Kalaschnikoff streichelte, warf ihm der Amerikaner ebenfalls einen finsteren Blick zu und legte die Hand an den Colt.
Eigentlich war die Reihenfolge egal, denn sobald Klara bei den Amerikanern durch war, übernahmen sie die Brasilianer. Und wenn man von einem jungen Soldaten mit einer Waffe eingeladen wird mitzukommen, spielt es keine Rolle, ob Colt oder Paz.
Auf dem Weg von den Brasilianern zu den Chinesen kreuzten sich Klaras und Wans Wege. Er schwitzte und war wütend von den Chinesen zu den Russen unterwegs. Es wurde ihr klar, dass sie wirklich dankbar sein sollte. Die Vernehmungsbeamten waren grob, angeberisch und gemein zu ihr. Aber bei Wan schienen sie noch schlimmer zu sein. Sie kannte die Gründe nicht, warum seine Vernehmungen immer doppelt so lange wie ihre dauerten. Und die dauerten schon lange. Jede Kommission wies sie darauf hin, dass sie eigentlich tot sein müsste, dass ihr Bankkonto schon vor langer Zeit von der Gateway AG eingezogen worden war, dass ihr keine Bezahlung für den Flug mit Juan Henriquette Santos-Schmitz zustand, da das keine autorisierte Gateway-Mission gewesen sei. Und was ihre Bezahlung für die Fahrt zum Schwarzen Loch betraf, auf die sie eigentlich ein Anrecht hatte, nun, sie war ja nicht mit dem Schiff zurückgekehrt, oder? Bei den Amerikanern hatte sie zumindest eine Wissenschaftsprämie beantragen können – wer außer ihr war schon jemals in einem Schwarzen Loch gewesen? Man teilte ihr mit, dass man sich die Angelegenheit überlegen wolle. Die Brasilianer beschieden ihr, dass dies ein Punkt sei, über welchen die Vier Mächte verhandeln müssten. Die Chinesen sagten, alles hänge von der Interpretation eines Preises ab, der Robinette Broadhead verliehen worden war, und die Russen waren an der Sache überhaupt nicht interessiert. Sie wollten nur wissen, ob sie bei Wan Anzeichen für terroristische Neigungen festgestellt habe.
Die Anmeldung dauerte ewig. Danach kam noch eine medizinische Untersuchung, die beinahe ebenso viel Zeit in Anspruch nahm. Die Diagnoseprogramme waren noch nie auf ein lebendes Wesen gestoßen, das den Drehkräften hinter einer Schwarzschild-Barriere ausgesetzt war. Sie ließen sie nicht eher gehen, als bis sie jeden Knochen und jede Sehne genau untersucht hatten. Sie bedienten sich auch großzügig mit Proben ihrer Körpersäfte. Erst danach entließen sie Klara in die Hände der Buchhaltungsabteilung, damit sie sich dort ihren Kontoauszug holen konnte. Auf dem Plastikkärtchen stand lediglich:
MOYNLIN, Gelle-Klara
Kontostand: 0
Fällige Prämien: noch nicht berechnet
Vor der Buchhaltung wartete Dolly Walthers. Sie sah bekümmert und gelangweilt aus. »Wie geht’s denn, Schätzchen?«, fragte sie. Klara verzog das Gesicht. »Ach, das tut mir Leid. Wan ist immer noch da drin«, erklärte sie, »weil sie ihn eine gottverdammte Ewigkeit bei der Anmeldung behalten haben. Ich sitze schon seit Stunden hier herum. Was haben Sie jetzt vor?«
»Ich weiß es nicht genau«, gab Klara zu und dachte an die sehr begrenzten Möglichkeiten auf Gateway, wenn man kein Geld hatte.
»Ja. Mir geht’s genauso.« Dolly seufzte. »Wissen Sie, bei Wan weiß man nie. Er kann nirgends lange bleiben, weil sie ihm sonst Fragen über das Zeug auf seinem Schiff stellen, und ich glaube nicht, dass er alles ganz legal bekommen hat.« Sie schluckte und fügte schnell hinzu: »Vorsicht! Er kommt.«
Zu Klaras Überraschung strahlte Wan sie an, nachdem er von den Auszügen aufsah, die er studiert hatte. »Ah«, sagte er, »meine liebe Gelle-Klara, ich habe mich mit Ihrer rechtlichen Position befasst. Sehr aussichtsreich, glaube ich.«
Aussichtsreich! Sie blickte ihn mit deutlicher Verachtung an. »Wenn Sie damit zum Ausdruck bringen wollen, dass man mich wahrscheinlich innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden wegen nichtbezahlter Rechnungen ins All jagt, finde ich das gar nicht so aussichtsreich.«
Er warf ihr einen prüfenden Blick zu, entschied sich dann anzunehmen, dass sie nur scherzte. »Haha! Das ist ein guter Witz! Da Sie nicht gewohnt sind, mit großen Summen umzugehen, erlaube ich mir, Ihnen einen Bankmenschen zu empfehlen, den ich recht brauchbar finde …«
»Hören Sie auf, Wan! Ich finde es ganz und gar nicht komisch.«
»Natürlich ist es nicht komisch!« Er brüllte, wie man es von ihm gewohnt war. Dann wechselte sein Gesichtsausdruck. Ungläubig fragte er: »Kann es sein … ist es möglich … haben die Ihnen nichts von Ihrem Anspruch erzählt?«
»Was für ein Anspruch?«
»Ihre Forderung gegen Robinette Broadhead. Mein Rechtsverdreher sagt, dass Sie fünfzig Prozent seines Vermögens bekommen müssten.«
»Reden Sie keinen Scheiß, Wan!«, fuhr sie ihn an.
»Das ist kein Scheiß! Ich habe ein ausgezeichnetes juristisches Programm. Es geht nach dem Prinzip des Kalbs, das der Kuh folgt. Verstehen Sie? Sie sollten den vollen Anteil der Überlebensprämie für seine letzte Mission bekommen. Dieser Anteil steht Ihnen zu, außerdem noch eine Beteiligung an allem, was er später hinzuerworben hat, weil er es ja mithilfe dieses Startkapitals erworben hat.«
»Aber … aber … ach, das ist ja albern!«, stieß sie hervor. »Ich werde ihn nicht verklagen.«
»Aber natürlich müssen Sie klagen! Was sonst? Wie kommen Sie sonst an das, was Ihnen gehört? Schauen Sie, ich verklage mindestens zweihundert Leute pro Jahr, Gelle-Klara. Und bei Ihnen steht eine Riesensumme auf dem Spiel. Wissen Sie, wie viel Broadheads Reingewinn beträgt? Eine Menge, sogar viel mehr als meiner.« Dann sagte er mit der betont herzlichen, kumpelhaften Art, die unter Geldleuten üblich ist: »Es könnten natürlich für Sie Schwierigkeiten auftreten, während über die Sache entschieden wird. Gestatten Sie mir, dass ich ein kleines Darlehen von meinem Konto auf Ihres überweise – einen Augenblick …« Er machte die notwendigen Eintragungen auf seiner Kontokarte. »So, das hätten wir. Viel Glück!«
Da stand nun meine verlorene Liebe, Gelle-Klara Moynlin, noch verlorener als vorher, ehe man sie gefunden hatte. Sie kannte Gateway gut. Aber das Gateway, das sie kannte, gab es nicht mehr. Ihr Leben hatte einen Herzschlag übersprungen, und alles, was sie kannte oder an dem ihr gelegen hatte, an dem sie interessiert gewesen war, hatte die Veränderungen eines Drittels eines Jahrhunderts mitgemacht, während sie wie eine verzauberte Prinzessin im Wald die Zeit verschlafen hatte. »Viel Glück!«, hatte Wan ihr gewünscht. Aber worin bestand das Glück für eine schlafende Schöne, deren Prinz eine andere geheiratet hatte? »Ein kleines Darlehen«, hatte Wan gesagt. Es stellte sich heraus, dass er es auch so gemeint hatte. Zehntausend Dollar. Genug, um ihre Rechnungen ein paar Tage lang zu bezahlen – und danach?
Es müsste aufregend sein, dachte Klara, mehr über die Tatsachen herauszufinden, wegen derer Leute wie sie ihr Leben gelassen hatten. Sobald sie ein Zimmer gefunden und etwas gegessen hatte, machte sie sich auf den Weg zur Bibliothek. Dort gab es nicht mehr die Spulen mit Magnetbändern. Alles war jetzt auf einer Art Hitschi-Gebetsfächer der zweiten Generation gespeichert. (Gebetsfächer! Also so sahen die Dinger aus!) Klara musste einen Angestellten mieten, der ihr beibrachte, wie man sie benutzte. (»Bibliotheksdienste à $ 125/Std., $ 62,50« stand auf ihrem Datenbon.) War es das wert?
Zu Klaras unangenehmer Überraschung – nicht wirklich. So viele Fragen beantwortet! Aber merkwürdigerweise so wenig Freude über die Antworten.
Als Klara noch ein Gateway-Prospektor wie alle anderen war, entschieden diese Fragen buchstäblich über Leben und Tod. Was bedeuteten die Symbole auf den Steuerinstrumenten der Hitschi-Schiffe? Welche Einstellung bedeutete Tod? Welche Belohnung? Jetzt gab es die Antworten, vielleicht nicht vollständig – es gab immer noch keinen brauchbaren Hinweis für die Beantwortung der großen, Schauder einflößenden Frage, wer die Hitschi eigentlich waren. Dafür gab es tausende und abertausende von Antworten, ja sogar Antworten auf Fragen, die man vor dreißig Jahren noch gar nicht hätte stellen können, weil man nicht genug wusste.
Aber die Antworten machten ihr nicht viel Spaß. Die Fragen verloren an Dringlichkeit, wenn man wusste, dass die Antworten hinten im Buch standen.
Nur bei einer Gruppe von Fragen waren die Antworten für Klara interessant. Und diese Gruppe betraf – ich weiß es genau – mich.
Robinette Broadhead? Aber sicher. Über ihn war viel gespeichert. Ja, er war verheiratet. Ja, er lebte und sogar sehr gut. Unverzeihlicherweise schien er auch rundum glücklich zu sein. Beinahe ebenso schlimm – er war alt. Er war natürlich nicht schrumpelig und hinfällig, sondern hatte noch volles Haar und ein faltenloses Gesicht, aber das verdankte er nur dem medizinischen Vollschutz, dem niemals versagenden Spender von Gesundheit und Jugend für die, welche es sich leisten konnten. Robinette Broadhead konnte sich offensichtlich alles leisten. Aber trotzdem war er älter geworden. Sein Hals war eindeutig dicker geworden, und das Selbstvertrauen beim Lächeln, das ihr auf dem PV-Schirm entgegenstrahlte, hatte dem verängstigten, verstörten Mann gefehlt, der ihr einen Zahn ausgeschlagen und ewige Liebe geschworen hatte. Jetzt hatte Klara eine quantitative Angabe für das Wort »ewig«. Es umfasste einen Zeitabschnitt, der deutlich unter dreißig Jahren lag.
Ich kannte Gelle-Klara Moynlin nicht, als Robin romantische Beziehungen zu ihr unterhielt. Ja, ich hatte damals auch Robinette Broadhead noch nicht kennen gelernt, da er zu arm war, um sich ein so hoch entwickeltes DateneinhoIsystem wie mich leisten zu können. Obwohl ich physischen Mut nicht empfinden kann (da ich auch physische Angst nicht kenne), schätze ich ihren sehr hoch ein. Ihre Dummheit beinahe so hoch. Sie hatten keine Ahnung, was die ÜLG-Schiffe antrieb, die sie flogen. Sie wussten nicht, wie die Navigation funktionierte oder wie man die Steuerung bediente. Sie konnten die Hitschi-Karten nicht lesen, weil sie erst ein Jahrzehnt später gefunden wurden, nachdem Klara in das Schwarze Loch gesogen worden war. Es erstaunt mich aber, wie viel fleischliche Intelligenzen mit so wenig Information fertig bringen.
Nachdem sie sich in der Bibliothek ausreichend Gründe verschafft hatte, sich deprimiert zu fühlen, schlenderte sie auf Gateway umher, um zu sehen, was sich alles verändert hatte. Der Asteroid war viel unpersönlicher und zivilisierter geworden. Es gab jetzt viele Geschäfte. Einen Supermarkt, eine Schnellimbisskette, ein Stereotheater, einen Gesundheitsclub, hübsche neue Pensionen für Touristen und glitzernde Souvenirläden. Man konnte jetzt auf Gateway viel unternehmen. Aber Klara nicht. Am meisten reizte sie das Spielcasino in der »Spindel«, dem Ersatz für die alte »Blaue Hölle«. Aber solchen Luxus konnte sie sich nicht leisten.
Sie konnte sich eigentlich gar nichts leisten, das deprimierte sie. Als Klara noch ein junges Mädchen war, waren die Frauenzeitschriften voll mit lustigen kleinen Tricks, wie man eine Depression bekämpfte. Mach den Spülstein sauber! Ruf jemand am PV an! Wasch dir die Haare! Aber Klara hatte keinen Spülstein, und wen sollte sie auf Gateway anrufen? Nachdem sie sich zum dritten Mal die Haare gewaschen hatte, musste sie wieder an die »Blaue Hölle« denken. Ein paar kleinere Einsätze würden ihren Etat nicht zu sehr belasten, selbst wenn sie verlor, entschied sie; es würde nur bedeuten, eine Zeit lang ohne größeren Luxus zu leben …
Elfmal rollte die Kugel aus, dann war Klara pleite. Eine Gruppe von Touristen aus Gabonia verließ gerade lachend und stolpernd das Casino, als Klara hinter ihnen an der kleinen, engen Bar Dolly sitzen sah. Klara ging geradewegs auf sie zu und fragte: »Würden Sie mir ’nen Drink spendieren?«
»Na sicher«, antwortete Dolly ohne große Begeisterung und gab dem Barmann ein Zeichen.
»Und könnten Sie mir auch etwas Geld leihen?«
Dolly lachte überrascht auf. »Alles verspielt, was? Junge, Junge, da sind Sie aber an die falsche Adresse geraten! Ich könnte mir keinen Tropfen kaufen, wenn mir nicht einige der Touristen ein paar Chips zugeworfen hätten, damit sie Glück haben.« Als der Highball eintraf, teilte Dolly ihre restlichen Münzen auf und schob Klara eine Hälfte zu. »Sie könnten es bei Wan noch mal versuchen!«, schlug sie vor. »Aber er ist nicht besonders in Stimmung.«
»Das ist nicht neu«, stellte Klara fest und hoffte, dass der Whisky ihre Stimmung heben würde. Tat er aber nicht.
»Ach, noch schlimmer als sonst. Ich glaube, er sitzt bald ganz tief in der Scheiße.« Dolly hatte Schluckauf und machte große Augen.
»Was ist denn los?«, fragte Klara zögernd. Sie wusste ganz genau, dass Dolly ihr alles erzählen würde, nachdem sie sie gefragt hatte. Aber dadurch konnte sie sich für das Kleingeld revanchieren.
»Früher oder später werden sie ihn erwischen«, prophezeite Dolly und nuckelte an ihrem Drink. »Er ist so ein übler Schieber. Kommt hierher, wo er Sie doch woanders hätte absetzen können, bloß damit er seine verdammten Süßigkeiten und Kuchen kaufen kann.«
»Also, ich bin lieber hier als irgendwo anders«, sagte Klara und überlegte, ob das auch stimmte.
»Seien Sie nicht albern! Er hat es nicht Ihretwegen getan. Er hat es getan, weil er glaubt, dass er überall mit allem durchkommt. Weil er ein Schieber ist.« Trübsinnig starrte sie in ihr Glas. »Er ist sogar im Bett ein Schieber, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er vögelt wie ein Schieber. Er sieht mich dabei an, als ob er versuchte, sich an die Zahlenkombination eines Safes zu erinnern. Dann zieht er mich aus und drückt hier, bohrt da und schiebt sein Ding hin und her. Ich glaube, ich sollte eine Betriebsanleitung für ihn schreiben. So ’n Schieber!«
Wie viele Drinks Dollys kleiner Gewinn vorhielt, konnte Klara nicht sagen – auf alle Fälle mehrere. Irgendwann später erinnerte sich Dolly daran, dass sie noch Mischgebäck und Likörpralinen kaufen musste. Noch später bekam Klara, die wieder allein herumschlenderte, plötzlich Hunger. Das lag am Geruch, der von nicht weither zu kommen schien. Sie hatte immer noch etwas von Dollys Kleingeld in der Tasche. Es reichte zwar nicht für ein anständiges Essen, und eigentlich wäre es vernünftiger gewesen, zurück zu ihrer Pension zu gehen und dort die bereits bezahlte Mahlzeit einzunehmen. Aber warum sollte sie noch vernünftig sein? Außerdem kam der Duft ganz aus der Nähe. Sie ging durch eine Art Arkade aus Hitschi-Metall, bestellte irgendetwas und setzte sich so nah an die Wand, wie es möglich war. Dann pflückte sie das Sandwich mit den Fingern auseinander, um zu sehen, was sie aß. Wahrscheinlich synthetisch. Es schmeckte aber nicht so wie die Produkte aus den Nahrungsgruben oder den Meeresfarmen, die sie kannte. Gar nicht schlecht. Nicht sehr schlecht, wenigstens. Eigentlich fiel ihr zu diesem Zeitpunkt kein Gericht ein, das ihr wirklich gut geschmeckt hätte. Sie aß langsam und analysierte jeden Bissen, nicht so sehr, weil das Essen dies verdiente, sondern weil sie dadurch den nächsten Schritt aufschieben konnte, nämlich zu überlegen, was sie mit dem Rest ihres Lebens nun anfangen sollte.
Sie bemerkte eine Bewegung. Die Kellnerin fegte den Boden doppelt so sorgfältig und schaute bei jeder Bewegung über die Schulter. Die Leute hinter der Theke standen aufrechter und sprachen deutlicher. Jemand war hereingekommen.
Es war eine Frau. Groß, nicht jung, gut aussehend. Schwere lohfarbene Zöpfe hingen ihr auf den Rücken. Sie unterhielt sich freundlich, aber gebieterisch mit Angestellten und Kunden, während sie mit dem Finger unter den Regalen nach Fett suchte, die Krusten probierte, ob sie auch knusprig waren, sich vergewisserte, dass die Serviettenhalter auch gefüllt waren, und dem Lehrling die Schürze anders band.
Klara sah ihr zu. Da dämmerte ihr eine Erkenntnis, die fast in Furcht überging. Sie! Die Frau, deren Bilder sie in so vielen Berichten gesehen hatte, die in der Bibliothek über Robinette Broadhead veröffentlicht waren. S. Ya. Laworowna-Broadhead eröffnet vierundfünfzig neue CHON-Filialen am Persischen Golf. S. Ya. Laworowna-Broadhead bei der Taufe des umgebauten interstellaren Frachters. S. Ya. Laworowna-Broadhead leitet die Programmierung eines ausgebauten Datenspeichernetzes.
Obwohl das Sandwich das letzte war, das sich Klara kaufen konnte, brachte sie es nicht über sich aufzuessen. Sie schob sich mit abgewandtem Gesicht zur Tür, stopfte den Plastikteller in den Abfallbehälter und lief weg.
Jetzt blieb ihr nur noch ein einziger Platz, wohin sie gehen konnte. Als sie sah, dass Wan allein war, nahm sie das als direkte Botschaft des Schicksals, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. »Wo ist Dolly?«, fragte sie.
Er lag in einer Hängematte und kaute missmutig an einer frischen Papaya – die er für eine unglaubliche Summe gekauft haben musste, die sich Klara gar nicht vorstellen konnte. Er antwortete: »Ja, wo wohl! Das würde ich auch gern wissen! Na, die kann was erleben, wenn sie zurückkommt. Allerdings!«
»Ich habe mein Geld verloren«, log sie.
Er zuckte verächtlich mit den Schultern.
»Und«, fuhr sie fort, wobei sie die Lügen beim Reden erfand, »ich wollte Ihnen nur sagen, dass Sie auch verloren sind. Man will Ihr Schiff beschlagnahmen.«
»Beschlagnahmen!«, schrie er. »Diese Tiere! Diese Schweinehunde! O Dolly, wenn ich dich in die Finger kriege – sie muss ihnen von meinen Spezialgeräten erzählt haben!«
»Oder Sie selbst«, hielt Klara ihm brutal entgegen. »Sie haben ja den Mund so weit aufgerissen. Jetzt bleibt Ihnen nur noch eine Chance.«
»Eine Chance?«
»Vielleicht eine Chance, wenn Sie genug Verstand und Mut besitzen.«
»Verstand! Mut! Sie vergessen sich, Klara! Sie übersehen, dass ich den ersten Teil meines Lebens ganz allein …«
»Nein, ich übersehe gar nichts«, unterbrach sie ihn müde, »weil Sie das sicher gar nicht zulassen. Wichtig ist, was Sie als Nächstes machen. Ist alles gepackt? Vorräte an Bord?«
»Vorräte? Nein, natürlich nicht. Ich habe zwar Eis und Schokoladenriegel, aber kein Mischgebäck und keine Pralinen …«
»Zum Teufel mit den Pralinen«, warf Klara ein. »Und da sie nicht da ist, wenn man sie braucht, zum Teufel auch mit Dolly. Wenn Sie Ihr Schiff behalten wollen, müssen Sie jetzt weg.«
»Jetzt? Allein? Ohne Dolly?«
»Mit einer Vertretung«, erklärte Klara kurz und bündig. »Köchin, Bettgefährtin, jemand zum Anbrüllen – hier bin ich. Und erfahren. Vielleicht kann ich nicht so gut kochen wie Dolly, aber im Bett bin ich besser, jedenfalls mach’ ich’s öfter. Außerdem haben Sie keine Zeit zum Überlegen.«
Er starrte sie mit offenem Mund einen langen Augenblick an. Dann grinste er. »Nimm die Kisten da auf dem Boden!«, befahl er. »Dann das Paket unter der Hängematte und …«
»Moment mal«, protestierte Klara. »Alles hat seine Grenzen! So viel kann ich nicht schleppen.«
»Was deine Grenzen betrifft«, entgegnete er, »werden wir schon im Laufe der Zeit herausfinden, wo sie liegen. Da kannst du sicher sein. Keine Widerrede! Nimm einfach das Netz, pack es voll, und dann gehen wir. Während du das machst, erzähl’ ich dir eine Geschichte, die ich von den Toten Menschen vor vielen Jahren gehört habe. Es waren einmal zwei Prospektoren, die fanden einen Schatz im Innern eines Schwarzen Lochs. Sie wussten nicht, wie sie ihn herausholen konnten. Da sagte der eine: ›Ich weiß, wie. Ich habe mein Lieblingskätzchen mitgebracht. Wir binden ihm den Schatz an den Schwanz, dann zieht es ihn heraus. ‹ Da sagte der andere Prospektor: ›Du bist ein rechter Dummkopf! Wie kann ein kleines Kätzchen einen Schatz aus einem Schwarzen Loch herausziehen?‹ Da meinte der erste Prospektor: ›Du bist der Dummkopf. Es wird ganz leicht gehen, denn, sieh her, ich habe eine Peitsche.‹«