Nichts funktionierte. Wir versuchten alles. Essie zog Alberts Fächer aus dem Ständer, aber er hatte die Kontrollen so blockiert, dass wir ohne ihn nichts ändern konnten. Essie baute ein neues Steuerprogramm auf und versuchte, es hineinzuschieben. Es ging nicht hinein. Wir riefen seinen Namen und fluchten und bettelten ihn zu erscheinen. Er tat es nicht.

Tagelang, die uns wie Wochen vorkamen, flogen wir weiter unter der Führung nicht existierender Hände meines nicht funktionierenden Datenbeschaffungssystems Albert Einstein. Und unterdessen befanden sich der verrückte Wan und die dunkle Lady meiner Träume im Raumschiff des Kapitäns, und hinter uns brodelten und siedeten die Welten auf den Höhepunkt einer Untat zu, die viel zu groß war, als dass man mit ihr fertig werden könnte. Aber auch mit ihnen beschäftigten sich unsere Gedanken nicht. Unsere Sorgen betrafen viel näher Liegendes: Nahrung, Wasser, Luft. Wir hatten zwar an Bord der Wahren Liebe Vorräte für lange Reisen, ja für noch viel längere als unsere jetzige.

Aber nicht für fünf Personen.

Wir waren nicht etwa müßig. Wir taten alles, was uns einfiel. Walthers und Yee-xing bastelten eigene Steuerprogramme zusammen, probierten sie aus, konnten aber die Blockierungen nicht überwinden. Essie tat mehr als wir alle, weil Albert ihr Produkt war und sie sich nicht eingestehen wollte, nicht konnte, dass sie geschlagen war. Überprüfen und nochmals überprüfen. Testprogramme schreiben und zusehen, wie sie leer herauskommen. Sie schlief kaum. Sie kopierte Alberts gesamtes Programm auf einen Reservefächer und versuchte es damit – immer noch in der Hoffnung, dass der Fehler irgendwo in der Mechanik lag. Aber wenn es so war, dann übertrug er sich auch auf die neue Speicherung. Dolly Walthers machte uns ohne zu murren Essen und blieb uns aus dem Weg, wenn wir dachten, wir würden eine Lösung finden (obwohl wir das nie taten), und ließ uns unsere Ideen ausspinnen, wenn wir am Boden zerstört waren (was oft geschah). Und ich hatte die härteste Aufgabe von allen. Albert war laut Essie mein Programm. Wenn er irgendjemandem antworten würde, dann mir. So saß ich also da und redete auf ihn ein. Redete eigentlich in die Luft, da ich keinerlei Beweise hatte, dass er mir zuhörte, wenn ich mit ihm diskutierte, mit ihm plauderte, ihn beim Namen rief, ihn anbrüllte oder anflehte.

Er antwortete nicht. Nicht der kleinste Luftzug.

Als wir eine Pause zum Essen machten, stand Essie hinter mir und massierte mir die Schultern. Es war zwar mein Kehlkopf, der langsam schlappmachte; trotzdem wusste ich den liebevollen Gedanken zu schätzen. »Wenigstens«, sagte sie leise, wobei sie mehr in die Luft als zu mir sprach, »wird er schon wissen, was er tut, glaube ich. Er muss doch wissen, dass unsere Vorräte begrenzt sind. Muss dafür sorgen, dass wir zurück in die Zivilisation kommen. Albert könnte uns nicht mit Absicht umkommen lassen.« Den Worten nach eine Aussage, nicht aber dem Tonfall nach.

»Da bin ich ganz sicher«, pflichtete ich mit niedergeschlagener Stimme bei, als ich meinen Teller wegschob. Dolly fragte in einer mütterlichen Art:

»Schmeckt Ihnen nicht, was ich gekocht habe?«

Essies Finger hörten mit der Massage auf und bohrten sich hinein. »Robin! Du isst nicht!«

Alle schauten mich an. Eigentlich war es komisch. Wir waren in der Mitte vom Nichts, ohne eine echte Möglichkeit, nach Hause zu kommen, und vier Leute starrten mich an, weil ich mein Abendessen nicht aß. Zu Beginn des Flugs hatte Essie natürlich über mich wie eine Glucke gewacht. Das war, ehe Albert verstummte. Jetzt merkten plötzlich alle, dass es mir nicht gut ging.

Und das war eine Tatsache. Ich ermüdete sehr schnell. In meinen Armen prickelte es, als ob sie eingeschlafen wären. Ich hatte keinen Appetit – hatte seit Tagen nicht viel gegessen. Das war ihrer Aufmerksamkeit nur entgangen, weil wir schnell etwas in uns hineinstopften, wenn wir gerade Zeit hatten. »Das hilft, die Vorräte zu verlängern.« Ich lächelte, aber niemand lächelte zurück.

»Dummer Robin«, zischte Essie und zog ihre Finger von meinen Schultern ab, um auf meiner Stirn die Temperatur zu messen. Die war aber nicht sehr hoch, weil ich, wenn niemand hinschaute, Aspirin geschluckt hatte. Ich setzte eine geduldige Miene auf.

»Es geht mir gut, Essie«, versicherte ich. Das war nicht wirklich eine Lüge – vielleicht ein bisschen Wunschdenken; aber ich war nicht sicher, dass ich krank war. »Ich nehme an, ich sollte mal untersucht werden, aber ohne Albert …«

»Dafür? Albert? Wer braucht ihn?« Ich verrenkte mir erstaunt den Hals, um Essie anzuschauen. »Dafür brauche ich nur ein medizinisches Unterprogramm«, belehrte sie mich bestimmt.

»Unterprogramm?«

Sie zerstampfte ihr Essen. »Medizinisches Programm, Rechtsprogramm, Sekretariatsprogramm – alle sind in Alberts Programm eingebaut, können aber getrennt erreicht werden. Du rufst sofort das Medizinprogramm auf!« Ich starrte sie mit offenem Mund an. Einen Augenblick lang konnte ich nicht reden, weil mein Verstand auf Hochtouren lief. »Tu, was ich sage!«, schrie sie mich an.

Schließlich fand ich meine Stimme wieder.

»Nicht das Medizinprogramm!«, rief ich. »Da gibt es noch etwas Besseres!« Ich drehte mich um und brüllte in die dünne Luft:

»Sigfrid Seelenklempner! Hilfe! Ich brauche dich verzweifelt!«


Es gab eine Zeit während meiner Psychoanalyse, da saß ich auf Kohlen, während ich auf das Erscheinen von Sigfrid wartete. Manchmal musste ich lange warten, da Sigfrid damals ein aus Hitschi-Schaltkreisen und menschlicher Software zusammengeflicktes Programm war; und die Software stammte nicht von meiner Frau Essie. Essie war in ihrem Beruf ausgezeichnet. Die Millisekunden bis zur Antwort schrumpften auf Nano-, Pico- und Femtosekunden, sodass Albert ohne Zeitverzögerung wie ein Mensch antworten konnte – nein, zum Teufel! Schneller als irgendein Mensch!

Als Sigfrid nun nicht sofort auftauchte, hatte ich das Gefühl, das einen beschleicht, wenn man den Schalter anknipst, und das Licht geht nicht an, weil die Birne durchgebrannt ist. Man verschwendet auch keine Zeit mit dem An- und Ausschalten, wie Sie wissen, oder? »Verschwende deine Zeit nicht«, mahnte Essie über meine Schulter. Wenn eine Stimme blass klingen kann, dann jetzt die ihre.

Ich drehte mich um und lächelte erschüttert. »Ich schätze, die Dinge liegen schlimmer, als wir angenommen hatten«, sagte ich. Ihr Gesicht war totenblass. Ich legte meine Hand auf die ihre. »Das versetzt mich zurück in die Zeit«, fuhr ich fort, um Konversation zu machen, damit wir der Tatsache nicht ins Auge blicken mussten, wie schlimm die Dinge standen, »als ich bei Sigfrid in analytischer Behandlung war. Die Warterei war am schlimmsten. Ich verkrampfte mich immer völlig und …« Nun, ich schwätzte einfach drauflos. Ich hätte ewig weitergemacht, hätte ich nicht in Essies Augen gelesen, dass es nicht mehr nötig war.

Ich drehte mich um und vernahm gleichzeitig seine Stimme: »Tut mir Leid zu hören, dass es so schwierig für dich war, Robin«, schaltete sich Sigfrid Seelenklempner ein.

Selbst für eine holographische Projektion sah Sigfrid ziemlich mickrig aus. Er hatte die Hände im Schoß gefaltet und saß unbequem auf gar nichts. Das Programm hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihn mit einem Stuhl oder einer Unterlage auszustatten. Nichts. Nur Sigfrid, der, abgesehen von einer Gelegenheit, meiner Erinnerung nach nie so befangen ausgesehen hatte. Er schaute uns alle fünf an. Wir schauten ihn an. Dann seufzte er, ehe er sich wieder mir zuwandte. »Nun, Robin«, wandte er sich an mich, »willst du mir nicht sagen, was dich quält?«

Ich konnte hören, wie Audee Walthers tief Luft holte, um zu antworten. Aber Janie schnalzte mit der Zunge, um ihn zu stoppen, weil Essie den Kopf schüttelte. Ich schaute keinen von ihnen an und erklärte: »Sigfrid, alter Blechkamerad, ich habe ein Problem, das ganz in dein Ressort gehört.«

Unter seinen Brauen schaute er mich an. »Ja, Robin?«

»Es ist ein Fall von Fugue.«

»Ernst?«

»Desolat«, gestand ich.

Er nickte, als ob er diese Antwort erwartet hätte. »Es wäre mir lieber, wenn du nicht diese Fachausdrücke verwenden würdest, Robin.« Er seufzte und seine Finger verschränkten sich in seinem Schoß ineinander und lösten sich wieder. »Sag mir. Suchst du wirklich für dich Hilfe?«

»Nicht genau, Sigfrid«, gab ich zu. Das ganze Spiel hätte in diesem Augenblick platzen können. Ich glaube, dass es beinahe so weit kam. Er schwieg einen Augenblick lang, war aber nicht ganz still – seine Finger spielten weiter, und in der Luft, die seinen Körper umgab, funkelte es bläulich, wenn er sich bewegte. Ich präzisierte: »Es handelt sich um einen Freund von mir, Sigfrid, vielleicht den engsten Freund, den ich auf der Welt habe. Er steckt ganz tief in der Tinte.«

»Verstehe«, sagte er und nickte, als ob er es wirklich verstünde – was meiner Meinung nach auch der Fall war. »Ich nehme an«, fuhr er fort, »dass deinem Freund nicht geholfen werden kann, wenn er nicht anwesend ist.«

»Er ist anwesend, Sigfrid«, behauptete ich leise.

»Ja«, erwiderte er. »Das habe ich mir schon gedacht.« Die Finger lagen jetzt still, und er lehnte sich zurück, als wäre dort tatsächlich ein Sessel zum Anlehnen. »Wie wäre es, wenn du mir mal erzählen würdest, Robin … und« – mit einem Lächeln, das mir so willkommen war, wie sonst nichts im Leben – »diesmal, Robin, kannst du gern Fachausdrücke verwenden, wenn du willst.«

Ich hörte Essie hinter mir leise ausatmen und merkte, dass wir beide versucht hatten, den Atem anzuhalten. Ich langte nach hinten und ergriff ihre Hand.

»Sigfrid«, sagte ich und schöpfte Hoffnung. »Wenn ich es richtig verstanden habe, bezieht sich der Terminus ›Fugue‹ auf die Flucht aus der Realität. Wenn eine Person sich in einer Double-bind-Situation – Entschuldigung, ich meine, wenn sich jemand in der Situation befindet, in der ein sehr mächtiger Trieb durch einen anderen frustriert wird, sodass er mit diesem Konflikt nicht leben kann, wendet er sich ab. Er läuft weg. Er tut so, als gäbe es diesen Konflikt nicht. Ich weiß, dass ich mehrere psychotherapeutische Schulen durcheinander bringe, Sigfrid, aber habe ich so etwa die richtige Vorstellung?«

»Genau genug, Robin. Ich verstehe zumindest, was du sagen willst.«

»Ein Beispiel dafür wäre … vielleicht, wenn jemand seine Frau sehr liebt und herausfindet, dass sie eine Affäre mit seinem besten Freund hat.« Ich spürte, wie Essies Finger den Druck verstärkten. Ich hatte ihre Gefühle nicht verletzt. Sie wollte mir Mut machen.

»Du bringst jetzt Trieb und Gefühle durcheinander, Robin; aber das spielt keine Rolle. Worauf willst du hinaus?«

Ich ließ mich nicht hetzen. »Oder ein anderes Beispiel«, wich ich aus. »Der Anlass könnte religiöser Art sein. Ein tiefgläubiger Mensch entdeckt, dass es keinen Gott gibt. Kannst du mir folgen, Sigfrid? Für ihn war es ein Glaubensgrundsatz, obwohl er wusste, dass es viele intelligente Leute gab, die anderer Meinung waren – und nach und nach findet er mehr Beweise für die Überzeugung der anderen, die schließlich überwältigend werden …«

Er nickte höflich und hörte mir zu; aber seine Finger hatten wieder angefangen, sich zu verflechten.

»Und letzten Endes muss er die Quantenmechanik akzeptieren«, schloss ich.

Das war der zweite Punkt, an dem ich hätte baden gehen können. Und ich tat es auch beinahe. Das Hologramm flackerte einen Augenblick lang, und der Ausdruck in Sigfrids Gesicht veränderte sich. Ich kann nicht sagen, wie er sich veränderte. Es war kein Ausdruck, den ich definieren konnte. Es war, als ob er verschwommen und weicher geworden wäre.

Als er aber sprach, klang seine Stimme fest. »Wenn du über Triebe und Fugue redest, Robin«, führte er aus, »sprichst du von menschlichen Wesen. Angenommen, der Patient, an dem dir so viel liegt, ist nicht menschlich.« Er zauderte und fuhr dann fort: »Nicht ganz.« Ich gab einen aufmunternden Laut von mir, weil ich wirklich nicht wusste, wie es weitergehen sollte. »Angenommen, Triebe und Gefühle sind in ihn hineinprogrammiert worden«, fuhr er fort, »aber nur auf die Art, wie ein Mensch programmiert werden kann, etwas zu tun, wie etwa eine Fremdsprache zu sprechen, nachdem er erwachsen ist. Das Wissen ist vorhanden, aber es ist fehlerhaft aufgenommen worden. Es stellt sich ein Akzent ein.« Er machte eine Pause. »Wir sind nicht menschlich«, sagte er.

Essies Hand presste die meine. Eine Warnung. »Albert ist mit einer menschlichen Persönlichkeit programmiert worden«, warf ich ein.

»Ja. So weit wie möglich. Sehr weitgehend«, stimmte mir Sigfrid zu. Aber sein Gesicht war ernst. »Albert ist trotzdem kein Mensch. Kein Computerprogramm ist das. Ich erwähne nur, dass keiner von uns zum Beispiel einen TPSE spüren kann. Wenn die menschliche Rasse durch den Wahnsinn eines anderen irrsinnig wird, fühlen wir nichts.«

Jetzt befand ich mich auf äußerst unsicherem Boden, auf einer dünnen Eisschicht über einem trügerischen Sumpf. Was würde mit uns allen geschehen, wenn ich zu fest auftrat? Essie hielt meine Hand ganz fest. Die anderen atmeten kaum. Ich argumentierte: »Sigfrid, auch alle menschlichen Wesen sind verschieden. Aber du hast mich immer gelehrt, dass das keine große Rolle spiele. Du sagtest, dass die Probleme des Geistes im Geist selbst seien, und dass dort auch ihre Lösung zu finden sei. Deine Hilfe bestünde nur darin, dem Patienten zu helfen, sie an die Oberfläche zu bringen, wo er sie in Angriff nehmen kann, anstatt sie im Unbewussten zu belassen, wo sie nur Zwangsvorstellungen und Neurosen … und Fugue hervorrufen könnten.«

»Es ist richtig, dass ich das gesagt habe, Robin. Ja.«

»Hast der alten Maschine nur mal ’n Tritt gegeben, was Sigfrid? Damit sie wieder flott ist?«

Er grinste – wenn auch etwas mühsam. »Das ist nahe liegend genug, nehme ich an.«

»Richtig. Dann lass mich mal eine Theorie an dir ausprobieren. Nehmen wir mal an, dass dieser Freund von mir« – ich wagte es nicht, seinen Namen zu nennen zu diesem Zeitpunkt –, »dass dieser Freund einen Konflikt hat, mit dem er nicht fertig wird. Er ist intelligent und außerordentlich gut informiert. Er hat Zugang zu den besten und neuesten Erkenntnissen auf wissenschaftlichem Gebiet – zu allen Wissenschaften, Physik, Astrophysik, Kosmologie und allem anderen. Da Quantenmechanik die Grundlage davon ist, akzeptiert er Quantenmechanik als richtig – er könnte die Aufgaben, für die er programmiert wurde, ohne sie gar nicht erfüllen. Das ist die Basis seiner … Programmierung.« Beinahe hätte ich »Persönlichkeit« gesagt.

Das Lächeln war jetzt eher schmerzlich als amüsiert; aber er hörte immer noch zu.

»Und zur gleichen Zeit, Sigfrid, hatte er noch eine zweite Programmschicht. Es war ihm beigebracht worden, zu denken und sich zu benehmen wie … eine hochintelligente und weise Person, die seit verdammt langer Zeit tot ist und zufällig sehr stark davon überzeugt war, dass die Quantenmechanik völlig falsch sei. Ich weiß nicht, ob das genug Konflikt wäre, um ein menschliches Wesen zu schädigen«, sagte ich. »Aber es könnte sehr viel Schaden bedeuten für … nun … ein Computerprogramm.«

Auf Sigfrids Gesicht standen jetzt echte Schweißperlen. Er nickte schweigend. Ich hatte eine grelle, schmerzhafte Rückblende – so wie Sigfrid mich jetzt ansah: Hatte ich ihn während meiner Therapie in längst vergangenen Tagen auch so angeschaut? »Ist es möglich?«, bedrängte ich ihn.

»Es handelt sich um eine schwere Dichotomie, ja«, flüsterte er.

Und da brach ich ein. Bis zu den Knöcheln stand ich im Sumpf. Noch versank ich nicht, aber ich saß fest. Ich wusste nicht, welchen Schritt ich als nächsten tun sollte.

Meine Konzentration ließ mich im Stich. Hilflos schaute ich Essie und die anderen an und fühlte mich uralt und schrecklich müde – und nicht ganz gesund. Ich hatte mich so in das technische Problem, meinen Therapeuten zu therapieren, vertieft, dass ich die Schmerzen in meinem Bauch und das taube Gefühl in meinen Armen ganz vergessen hatte. Jetzt kam alles wieder. Es klappte nicht. Ich wusste nicht genug. Ich war ganz sicher, dass ich das grundsätzliche Problem aufgedeckt hatte, das Albert zu seiner Flucht getrieben hatte – aber es hatte nichts genützt!

Ich weiß nicht, wie lange ich wie ein kleiner Idiot dagesessen hätte, wäre man mir nicht zu Hilfe gekommen. Sie kam von zwei Seiten auf einmal. »Der Auslöser«, flüsterte mir Essie eindringlich ins Ohr. Im selben Augenblick rührte sich Janie Yee-xing und äußerte zögernd: »Es muss doch einen die Ereignisse beschleunigenden Vorfall gegeben haben. Ist das nicht richtig?«

Sigfrids Gesicht wurde ausdruckslos. Ein Treffer. Ein augenscheinlicher Treffer. »Was war das, Sigfrid?«, fragte ich. Keine Antwort. »Los, Sigfrid, alter Seelenklempnerkasten, spuck’s schon aus! Was war es, das Albert aus der Luftschleuse gestoßen hat?«

Er sah mir direkt in die Augen. Trotzdem konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, weil sein Gesicht verschwommen wurde. Es war beinahe so, als wäre er ein Bild im PV, und etwas ging gerade in den Schaltkreisen kaputt, sodass das Bild sich langsam ausblendete.

Ausblendete? Oder sich verflüchtigte? »Sigfrid«, rief ich, »bitte! Sag uns, was Albert so erschreckt hat, dass er weggelaufen ist! Oder, wenn du das nicht kannst, bring ihn her, damit wir mit ihm reden können!«

Mehr Schlieren. Ich konnte nicht einmal mehr erkennen, ob er mich noch ansah. »Sag es mir!«, befahl ich ihm, und aus dem verschwommenen holographischen Schemen kam eine Antwort:

»Der Kugelblitz.«

»Was? Was ist ein Kugelblitz?« Frustriert sah ich in die Runde. »Verdammt noch mal! Hol ihn her, damit er es uns selbst erklären kann.«

»Er ist hier, Robin«, flüsterte mir Essie ins Ohr.

Das Bild wurde wieder scharf. Aber es war nicht mehr Sigfrid. Das schmale Freud’sche Gesicht war weicher geworden und hatte sich in das des liebenswürdigen deutschen Kapellmeisters mit Hängebäckchen verwandelt. Ein weißer Haarschopf krönte die traurigen Augen meines besten und engsten Freundes Albert.

»Hier bin ich, Robin«, meldete sich Albert Einstein kummervoll. »Ich danke dir für deine Hilfe. Ob du mir allerdings danken wirst, weiß ich nicht.«


Albert hatte Recht. Ich dankte ihm nicht.

Albert hatte aber auch Unrecht – oder Recht aus falschem Grund; denn der Grund, warum ich ihm nicht dankte, war nicht, dass alles, was er vortrug, so grauenvoll unerfreulich, so schaurig unverständlich war, sondern weil ich mich nicht dazu in der Lage fühlte, als er mit seiner Rede zu Ende war.

Meine Lage war nicht viel besser, als er anfing. Das Nachlassen der Spannung, als er zurückkam, führte bei mir zu völliger Apathie. Ich war erschöpft. Aufgebraucht. Es war durchaus zu erwarten, dass ich erschöpft war, sagte ich mir. Schließlich war das der schlimmste Stress gewesen, weiß der Himmel, in dem ich mich je befunden hatte. Ich fühlte mich aber schlechter als nur erschöpft. Ich fühlte mein Ende nahen. Es waren nicht nur mein Bauch oder meine Arme oder Kopf. Es war, als ob die ganze Energie gleichzeitig aus allen Batterien abgelassen würde. Ich musste alle Konzentration, zu der ich noch fähig war, zusammennehmen, um aufzupassen, was Albert zu sagen hatte.

»Ich war nicht in einer ›Fugue‹, wie du es nennst«, erklärte er und spielte mit seiner kalten Pfeife in den Fingern. Er hatte sich nicht die Mühe gegeben, komisch zu sein. Er trug ein Sweatshirt und Hosen, seine Füße steckten in Schuhen, und die Schuhbänder waren gebunden. »Es ist richtig, dass die Dichotomie existierte und dass sie mich anfällig machte … Sie verstehen, Mrs. Broadhead, ein Widerspruch in meiner Programmierung. Ich erkannte, dass ich mich im Kreis drehte. Da Sie mich homöostatisch angelegt haben, gab es einen anderen Befehl: die Betriebsstörung beheben!«

Essie nickte mit Bedauern. »Homöostase, ja. Aber Selbstreparatur schließt Selbstdiagnose ein. Du hättest mich um eine Untersuchung bitten sollen!«

»Das dachte ich nicht, Mrs. Broadhead«, widersprach er. »Mit Verlaub, die Schwierigkeiten befanden sich auf Gebieten, für die ich besser ausgerüstet bin als Sie.«

»Kosmologie, ha!«

Ich raffte mich auf, etwas zu fragen – das war nicht leicht, weil die Lethargie so stark war. »Würde es dir etwas ausmachen, Albert, uns bitte zu verraten, was du gemacht hast?«

Langsam antwortete er: »Was ich tat, war nicht schwierig, Robin. Ich beschloss zu versuchen, die Konflikte zu lösen. Ich weiß, dass sie mir wichtiger erscheinen als dir. Du bist völlig glücklich, ohne Antworten auf kosmologische Fragen gefunden zu haben. Ich kann das nicht. Ich widmete immer mehr meiner Kapazität diesen Studien. Du wirst vielleicht nicht wissen, dass ich eine große Zahl Hitschi-Fächer in die Datenspeicher dieses Schiffes eingebaut habe, von denen einige noch nie richtig ausgewertet wurden. Es war eine schwierige Aufgabe. Gleichzeitig stellte ich auch eigene Beobachtungen an.«

»Was hast du gemacht, Albert?«, flehte ich ihn an.

»Aber das ist, was ich getan habe. In den Hitschi-Datenspeichern fand ich viele Hinweise auf das, was wir die ›fehlende Masse‹ genannt haben. Erinnerst du dich, Robin? Die Masse, die für das Gravitationsverhalten des Universums verantwortlich sein müsste, die aber kein Astronom finden konnte und …«

»Ich erinnere mich!«

»Ja. Nun, vielleicht habe ich sie gefunden.« Er saß da und grübelte einen Augenblick lang. »Ich befürchte, dass das aber nicht mein Problem gelöst hat. Es machte es nur schlimmer. Wenn du mich nicht mittels dieses gerissenen Tricks erreicht hättest, indem du durch mein Unterprogramm Sigfrid zu mir sprachst, würde ich vielleicht jetzt noch Loopings drehen …«

»Was gefunden?«, rief ich. Der Adrenalinstoß lenkte mich beinahe, wenn auch nicht ganz, von dem ab, was mir mein Körper über seine Beschwerden signalisierte.

Er wies mit der Hand zum Bildschirm. Ich sah, dass da etwas drauf war.

Auf den ersten flüchtigen Blick ergab das, was zu sehen war, keinen Sinn. Als ich einen zweiten darauf warf, diesmal etwas genauer, ließ er mich erstarren.

Aber das war nicht das Wichtige.

Auf dem Schirm war fast nichts zu erkennen. An einer Kante sah man einen Lichtwirbel – eine Galaxie natürlich. Mir kam sie so vor wie M-31 in Andromeda, wenn man sie vergleichen wollte. Aber ich bin kein Experte auf dem Gebiet der Galaxien. Vor allem nicht, wenn ich sie ohne irgendwelche Sterntupfer darum sehe. Und hier gab es keine solchen Tupfer. Es gab aber etwas, das wie Sterne aussah. Kleine Lichtpunkte hier und dort. Aber es waren keine Sterne, weil sie wie elektrische Weihnachtskerzen blinkten und flackerten. Stellen Sie sich ein paar Dutzend Glühwürmchen in einer kalten Nacht vor, die wegen der Kälte ihre Liebessehnsucht nicht sehr oft aufleuchten lassen und so weit weg sind, dass man sie nur schwer erkennen kann. So etwa sahen die Lichtpunkte aus.

Das auffälligste Objekt unter ihnen, wenn auch nicht sehr auffällig, war etwas, das ein bisschen wie das nicht rotierende Schwarze Loch aussah, in dem ich einst Klara verloren hatte. Es war aber nicht so groß und nicht so Furcht einflößend. All das war merkwürdig, aber das war es nicht, was mich nach Luft schnappen ließ. »Es ist ein Schiff!«, flüsterte Dolly zitternd. Und so war es.

Albert sah das auch so. Er drehte sich herum. »Das ist ein Schiff, ja, Mrs. Walthers«, bestätigte er ernst. »Es ist das Hitschi-Schiff, das wir zuvor gesehen haben. Da bin ich mir fast sicher. Ich habe mir überlegt, wie ich mit ihm Verbindung aufnehmen kann.«

»Verbindung! Mit den Hitschi! Albert!«, rief ich. »Ich weiß, dass du verrückt bist; aber bist du dir denn nicht im Klaren, wie gefährlich das ist?«

»Was die Gefahr anbelangt«, entgegnete Albert ruhig, »habe ich viel mehr Angst vor dem Kugelblitz.«

»Kugelblitz?« Jetzt war es völlig mit meiner Geduld vorbei. »Albert, du Idiot! Ich habe keine Ahnung, was ein Kugelblitz ist, und es ist mir auch scheißegal. Nicht egal ist mir, dass du uns beinahe umgebracht hast und …«

Ich hielt inne, weil Essies Hand sich über meinen Mund legte. »Sei still, Robin«, zischte sie. »Willst du ihn wieder zur Fugue treiben? Also, Albert«, sagte sie ganz ruhig, »jetzt erkläre uns bitte, was ein Kugelblitz ist. Das Ding sieht für mich eigentlich wie ein Schwarzes Loch aus.«

Er strich sich mit der Hand über die Stirn. »Das zentrale Objekt, meinen Sie? Ja, es ist eine Art Schwarzes Loch. Aber es gibt dort nicht nur ein Schwarzes Loch. Es gibt viele. Ich war noch nicht in der Lage zu zählen, wie viele, da sie nur dann wahrgenommen werden können, wenn Materie in sie stürzt und Strahlung verursacht. Und es gibt nicht viel Materie hier draußen zwischen den Galaxien …«

»Zwischen den Galaxien?«, rief Walthers und war gleich wieder still, als Essies Blick ihn traf.

»Bitte, Albert, bitte mach weiter«, ermunterte sie ihn.

»Ich weiß nicht, wie viele Schwarze Löcher existieren. Mehr als zehn. Wahrscheinlich alle zusammen mehr als zehn mal zehn.« Er warf mir einen flehenden Blick zu. »Robin, kannst du dir überhaupt vorstellen, wie außergewöhnlich das ist? Wie kann man sich das erklären?«

»Ich kann es bestimmt nicht. Ich weiß ja nicht einmal, was ein Kugelblitz ist.«

»Ach du lieber Himmel, Robin« stöhnte er ungeduldig. »Wir haben doch über solche Sachen schon geredet. Ein Schwarzes Loch resultiert daraus, dass Materie zu außergewöhnlicher Dichte kollabiert. John Wheeler war der erste Mensch, der die Existenz einer anderen Form von Schwarzem Loch vorhersagte, das keine Materie, sondern Energie enthält – so viel Energie, so dicht gepackt, dass seine eigene Masse den Raum vollständig um das Schwarze Loch wickelt. Das nennt man einen ›Kugelblitz‹.«

Er seufzte. Dann fuhr er fort: »Ich habe zwei Spekulationen. Erstens, dass das ganze Gebilde ein Artefakt ist. Der Kugelblitz ist von Schwarzen Löchern umgeben. Ich nehme an, um lose Materie anzuziehen – von der es allerdings hier nicht viel gibt –, damit sie nicht in den Kugelblitz hineinfällt. Und zweitens, dass wir meiner Meinung nach die fehlende Masse vor uns sehen.«

Ich habe Robin mehrmals erklärt, was ein Kugelblitz ist – ein Schwarzes Loch, das durch das Zusammenstürzen einer großen Menge Energie, nicht Materie, verursacht worden war –, aber da niemand jemals einen gesehen hatte, hörte er mir nicht richtig zu. Ich habe ihm auch von dem allgemeinen Zustand des intergalaktischen Raumes erzählt – sehr wenig freie Materie oder Energie, abgesehen von einem spärlichen Photonenfluss aus entfernten Galaxien und natürlich der überall anzutreffenden 3,7 K-Strahlung –, deshalb war das auch ein so guter Ort, einen Kugelblitz hinzusetzen, wenn man nicht wollte, dass irgendetwas anderes hineinfiel.

Ich sprang auf. »Albert!«, rief ich. »Weißt du, was du da sagst? Willst du behaupten, jemand hat das Ding da gemacht? Du meinst …« Ich beendete den Satz nicht.

Ich beendete ihn nicht, weil ich nicht konnte.


Ich kippte um, weil meine Beine mich aus irgendeinem Grund nicht mehr trugen. Direkt über dem Ohr war ein stechender Schmerz an einer Seite meines Kopfes. Alles wurde grau und verschwamm.

Ich hörte Alberts Stimme rufen: »O Robin! Ich habe nicht auf deinen physischen Zustand geachtet!«

»Meinen was?«, fragte ich. Oder versuchte zu fragen. Es kam aber nicht richtig heraus. Meine Lippen schienen die Worte nicht formen zu wollen. Plötzlich fühlte ich mich sehr schläfrig. Die erste schnelle Explosion eines lokal begrenzten Schmerzes war gekommen und wieder gegangen. Aber es blieb ein entfernter, dumpfer Schmerz. O ja, Schmerz, der jetzt nicht mehr weit entfernt war, sondern sich sehr schnell näherte.

Jetzt erinnere ich mich ganz genau. Die Vorgänge in meinem Kopf hatten für ihre eigene Amnesie gesorgt. Es war mir nicht klar, was ich durchmachte. Aber ich erinnere mich an diese Unklarheit ganz genau. Ich erinnere mich an das aufgeregte Gespräch und dass ich auf das Sofa geschleppt wurde. Ich erinnere mich an die langen Unterhaltungen und die winzigen Nadelstiche, als Albert mich medizinisch versorgte und Proben nahm. Und ich erinnere mich, dass Essie weinte.

Sie hielt meinen Kopf im Schoß. Obwohl sie an mir vorbei mit Albert redete, meist in Russisch, hörte ich doch meinen Namen so oft, dass ich wusste, sie sprach über mich. Ich versuchte nach oben zu langen, um ihr die Wange zu streicheln. »Ich sterbe«, sagte ich – oder versuchte, es zu sagen.

Sie verstand mich. Sie beugte sich herunter, ihr langes Haar strich über mein Gesicht. »Lieber, lieber Robin«, schluchzte sie. »Es stimmt. Ja, du stirbst. Jedenfalls dein Körper. Aber das bedeutet doch nicht das Ende für dich.«

In den Jahrzehnten, die wir zusammen verbracht hatten, war die Rede auch ab und zu auf Religion gekommen. Ich kannte ihre Überzeugung. Ich kannte sogar meine eigene. Essie, wollte ich sagen, du hast mich nie angelogen. Das musst du auch jetzt nicht tun, um mir das Sterben leichter zu machen. Ist schon in Ordnung. Aber alles, was ich herausbrachte, war so ähnlich wie:

»Ist es doch.«

Tränen tropften auf mein Gesicht, als sie mich in den Armen wiegte und flüsterte: »Nein. Wirklich nicht, liebster Robin. Es gibt eine Chance, eine sehr gute Chance …«

Ich machte eine übermäßige Anstrengung. »Es … gibt … kein … Nachher«, beharrte ich und stieß die Worte in der mir bestmöglichen Artikulation aus. Es mag nicht ganz deutlich gewesen sein, aber sie verstand mich. Sie beugte sich herunter und küsste mich auf die Stirn. Ich spürte ihre Lippen auf meiner Haut, als sie widersprach:

»Doch. Es gibt ein Später, jetzt.«

Vielleicht hatte sie auch »ein Jetzt und Später« gesagt.

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