Nach dreieinhalb Jahren in einem photonengetriebenen Raumschiff unterwegs zur Oort’schen Wolke war Janine nicht mehr das Kind wie beim Abflug. Sie hatte nicht aufgehört, ein Kind zu sein. Sie hatte nur das erste Reifestadium erreicht, in welchem das Individuum erkennt, dass es noch viel Wachstum hinter sich bringen muss. Janine hatte es nicht eilig, erwachsen zu werden. Sie arbeitete einfach daran, das zu bewältigen. Jeden Tag. Die ganze Zeit. Mit allen Mitteln, die sich anboten.

Als sie am Tag der Begegnung mit Wan die anderen verlassen hatte, suchte sie nicht bewusst irgendetwas Bestimmtes. Sie wollte einfach allein sein. Nicht zu irgendeinem wirklich privaten Zweck. Nicht einmal – oder nicht nur – weil sie ihrer Familie überdrüssig war. Was sie wollte, war etwas, das ihr allein gehörte, eine nicht mit anderen zu teilende Erfahrung, eine Einschätzung, die nicht durch stets anwesende Erwachsene gestützt wurde; sie wollte Anblick, Gefühl und Geruch des Fremden in der Nahrungsfabrik, und sie wollte das alles für sich allein.

So stieß sie sich aufs Geratewohl ab und schwebte durch die Gänge, von Zeit zu Zeit aus einer Quetschflasche Kaffee saugend. Oder was für sie »Kaffee« zu sein schien. Janine hatte die Gewohnheit von ihrem Vater übernommen, obwohl sie, wäre sie gefragt worden, bestritten hätte, dergleichen sei bei ihr möglich.

Alle ihre Sinne dürsteten nach Zufuhr. Die Nahrungsfabrik war das wundersam Erregendste, was ihr je zugestoßen war. Noch in höherem Maß als der Start, bei dem sie ein bloßes Kind gewesen war. Mehr noch als das befleckte Höschen, das verkündet hatte, sie sei eine Frau geworden. Mehr als alles andere. Selbst die nackten Wände der Tunnels waren aufregend, weil sie aus Hitschi-Metall bestanden, unendlich alt waren und immer noch mit dem schwachen, bläulichen Licht strahlten, das ihre Erschaffer ihnen mitgegeben hatten. (Welche Art von Augen hatten dieses Licht gesehen, als alles neu gewesen war?) Sie stieß sich mühelos von Kammer zu Kammer, und nur ihre Fußballen berührten überhaupt den Boden. In diesem Raum gab es Wände mit gummiartigen Regalen (was hatten sie einmal enthalten?), in jenem hockte ein riesiges Kugelsegment, Spiegelchrom nach außen, seltsam pulvrig bei Berührung – wozu diente das? Bei manchen Dingen konnte sie etwas erraten. Das Ding, das wie ein Tisch aussah, war ganz gewiss ein Tisch. (Die Umrandung diente zweifellos dazu zu verhindern, dass in der niedrigen Schwerkraft der Nahrungsfabrik etwas vom Tisch glitt.) Manche Gegenstände waren durch Vera für sie identifiziert worden, unter Benützung der Informationsspeicher über Hitschi-Artefakte, von den großen Datenquellen zu Hause auf der Erde katalogisiert. Die Zellen mit spinnwebartigen grünen Geflechten an den Wänden waren, wie man annahm, für Schlafzwecke benutzt worden; aber wer konnte schon wissen, ob die dumme Vera Recht hatte? Egal. Die Gegenstände selbst waren ungeheuer aufregend. Nicht anders als ringsum der viele Raum, in dem man sich bewegen konnte. Sogar verirren mochte. Bis sie nämlich die Nahrungsfabrik erreicht hatten, war Janine in ihrem ganzen Leben kein einziges Mal die Gelegenheit geboten worden, sich zu verirren. Bei dem Gedanken verspürte sie ein Kitzeln angstvoller Freude. Zumal da der ganz erwachsene Teil ihres vierzehnjährigen Gehirns sich stets der Tatsache bewusst war, dass, gleichgültig, wie sehr sie sich verirrte, die Nahrungsfabrik einfach nicht groß genug war, um sich in ihr für immer zu verirren.

Es war also ein ungefährlicher Kitzel. Oder schien einer zu sein.

Bis sie bei den Docks auf der anderen Seite in der Falle saß, während irgendetwas – Hitschi? Raummonster? Ein irrer, alter Schiffbrüchiger mit einem Messer in der Hand? – aus den verborgenen Gängen ihr entgegenkam.

Und dann war es nichts von alledem; es war Wan.

Natürlich wusste sie seinen Namen nicht. »Komm du ja nicht näher!«, wimmerte sie, während ihr das Herz bis zum Hals hinauf schlug, das Funkgerät in der Hand, die Arme vor ihren jungen Brüsten gekreuzt. Er tat es auch nicht. Er blieb stehen. Er glotzte sie mit herausquellenden Augen an, den Mund geöffnet, während ihm beinahe die Zunge heraushing. Er war hoch gewachsen und mager. Sein Gesicht lief spitz zu, die Nase war lang und hakenförmig. Er trug ein Kleidungsstück, das einem Rock ähnlich war, darüber eine Art Trainingsbluse, beides sehr schmutzig. Er roch nach Mann. Er zitterte, während er schnupperte, und er war jung. Auf keinen Fall war er viel älter als Janine selbst und damit die einzige Person, die sie seit Jahren gesehen hatte, die nicht dreimal so alt war wie sie. Und als er auf die Knie sank und zu tun begann, was Janine eine andere Person noch nie hatte tun sehen, stöhnte sie auf, während sie kicherte – Belustigung, Erleichterung, Schreck, Hysterie. Der Schreck betraf nicht das, was er tat. Der Schreck rührte daher, dass sie einem Jungen begegnet war. Im Schlaf hatte Janine wilde Dinge geträumt, aber niemals so etwas.

In den folgenden Tagen konnte Janine Wan nicht aus den Augen lassen. Sie war seine Mutter, seine Gespielin, seine Lehrerin, seine Ehefrau. »Nein, Wan! Langsam schlürfen, das ist heiß!« – »Wan, soll das heißen, dass du ganz allein gewesen bist, seit du drei warst?« – »Du hast wirklich wunderschöne Augen, Wan.« Es machte ihr nichts aus, dass er nicht erfahren genug war, um darauf zu erwidern, sie hätte ebenfalls wunderschöne Augen, weil sie klar erkannte, dass sie ihn mit allem, was an ihr war, faszinierte.

Die anderen merkten das natürlich auch. Janine ließ sich dadurch nicht beirren. Wan brachte an sinnesscharfer, strahlender, besessener Bewunderung genug auf für alle. Er schlief sogar noch weniger als sie. Am Anfang mochte sie das, weil es bedeutete, dass sie mehr von Wan hatte, aber dann konnte sie erkennen, dass er immer erschöpfter wurde. Sogar krank. Als er in dem Raum mit dem schillernden, silberblauen Kokon zu schwitzen und zu zittern begann, war sie diejenige, welche aufschrie: »Lurvy! Ich glaube, er wird krank!«

Als er zur Liege wankte, stürzte sie zu ihm, die Finger ausgestreckt, um seine trockene und glühende Stirn zu berühren. Die zuklappende Hülle des Kokons klemmte beinahe ihren Arm ein und riss eine tiefe Wunde vom Handgelenk bis zu den Fingerknöcheln. »Paul«, schrie sie, »wir müssen …«

Und dann überfiel sie alle der 130-Tage-Wahnsinn. Schlimmer als je zuvor. Anders als je zuvor. Von einem Augenblick auf den nächsten wurde Janine krank.

Janine war niemals krank gewesen. Ab und zu einen blauen Fleck, einen Krampf, ein Schnupfen. Mehr nicht. Fast ihr ganzes Leben hatte sie unter medizinischem Vollschutz gestanden, und Krankheiten hatte es einfach nicht gegeben. Sie konnte nicht begreifen, was mit ihr geschah. Ihr Körper wand sich in Fieber und Agonie. Sie halluzinierte monströse, fremdartige Gestalten, in denen sie zum Teil Zerrbilder ihrer Angehörigen erkannte; andere waren einfach Furcht erregend und fremd. Sie sah sich sogar selbst – mit riesigen Brüsten und enormen Hüften, aber sie selbst –, und in ihrem Bauch grollte ein Toben, hineinzustoßen in alle die sichtbaren und unsichtbaren Höhlungen dieses Wachtraums, hineinzustoßen in etwas, das sie selbst im Wachtraum nicht besaß. Nichts von alledem war begreiflich. Nichts war klar. Qualen und Irrsinnigkeiten kamen in Wellen. Dazwischen erhaschte sie ab und zu sekundenlang Blicke auf die Wirklichkeit. Das blaustählerne Leuchten der Wände. Lurvy, neben ihr wimmernd zusammengekrümmt. Ihr Vater, der sich im Korridor erbrach. Der Kokon in Chrom und Blau, wo unter dem Netz Wan sich krümmte und lallte. Es war weder Überlegung noch Wille, was sie trieb, an der Hülle zu zerren und sie beim hundertsten oder tausendsten Mal aufzureißen, aber es gelang ihr endlich, und sie zerrte ihn als wimmerndes und zitterndes Bündel heraus.

Die Halluzinationen hörten schlagartig auf.

Nicht ganz so rasch die Qual, die Übelkeit und das Entsetzen. Aber sie hörten auch auf. Alle schauderten und wankten noch, alle, bis auf den Jungen, der bewusstlos war und auf eine Weise atmete, die Janine entsetzte: heiser, stoßweise, keuchend.

»Hilfe, Lurvy!«, kreischte sie. »Er stirbt!«

Ihre Schwester war schon bei ihr, legte den Daumen auf den Puls des Jungen, während sie den Kopf schüttelte und mit verdrehtem Blick auf seine Augen starrte.

»Dehydriert! Fieber! Los!«, rief sie, während sie Wans Arme packte. »Hilf mir, ihn ins Schiff zurückzutragen! Er braucht eine Salzlösung, Antibiotika, Fiebermittel, vielleicht Gammaglobulin!«

Sie brauchten fast zwanzig Minuten, um Wan ins Schiff zu schleppen, und Janine fürchtete bei jedem holpernden Zeitlupenschritt, er könnte sterben. Lurvy rannte die letzten hundert Meter voraus, und bis Paul und Janine ihn durch die Luftschleuse gezogen hatten, war die Medibox schon offen, und Lurvy schrie Befehle.

»Hinlegen! Das muss er schlucken! Nehmt eine Blutprobe und untersucht sie auf Virus- und Antikörper-Titer! Schickt eine Blitzanfrage zur Erde, sagt, dass wir ärztliche Anweisungen brauchen – falls er lange genug am Leben bleibt!«

Paul half ihnen, Wan auszuziehen und in eine von Peters Decken zu wickeln. Dann schickte er die Nachricht ab. Aber er wusste – und alle wussten –, dass das Problem, ob Wan am Leben blieb oder starb, nicht von der Erde aus gelöst werden würde. Nicht bei einer Gesamtzeit von sieben Wochen bis zum Erhalt einer Antwort. Peter saß fluchend da, verfluchte das mobile Bioprüfgerät. Lurvy und Janine beschäftigten sich mit dem Jungen. Paul zwängte sich, ohne zu jemandem ein Wort zu sagen, in seinen Raumanzug und ging hinaus in den Weltraum, wo er eineinhalb anstrengende Stunden damit verbrachte, die Funkantennen zu justieren – die Hauptantenne ausgerichtet auf den hellen Doppelstern des Planeten Neptun und seines Mondes, die andere auf den Punkt im Raum, an dem sich die Garfeld-Mission befand. Dann befahl er, am Rumpf klebend, Vera über Funk, den Hilferuf mit höchster Leistungskraft über beide Antennen ein zweites Mal zu senden. Vielleicht wurde er aufgefangen, vielleicht auch nicht. Als Vera mitteilte, dass die Funksprüche abgesetzt seien, stellte er die große Schüssel wieder auf die Erde ein. Das Ganze nahm volle drei Stunden in Anspruch, und ob von den Empfängern jemand reagieren würde, war zweifelhaft. Es war ebenso unsicher, ob Hilfe angeboten werden konnte. Das Schiff der Garfelds war kleiner und weniger gut ausgerüstet als das ihre, und die Leute im Stützpunkt auf Triton hielten sich dort immer nur kurze Zeit auf. Aber wenn der Ruf aufgefangen werden sollte, durften sie damit rechnen, dass eine Antwort, die hilfreichen Rat geben konnte oder wenigstens Mitgefühl ausdrückte, viel rascher eintreffen würde als eine von der Erde.


Nach einer Stunde ging Wans Fieber zurück. Nach zwölf Stunden hörten Zuckungen und Lallen auf, und er schlief normal. Aber er war noch immer sehr krank.

Mutter und Gespielin, Lehrerin und Ehefrau wenigstens in der Phantasie, wurde Janine nun auch Wans Pflegerin. Nach der ersten Versorgung mit Medikamenten ließ sie nicht einmal mehr zu, dass Lurvy ihm die weiteren Spritzen gab. Sie verzichtete auf Schlaf, um ihm mit dem Schwamm die Stirn abzuwischen. Sie säuberte ihn gründlich, als er sich im Koma besudelte. Sie hatte für nichts anderes mehr Sinn. Die belustigten oder besorgten Blicke und Worte ihrer Familie ließen sie unberührt, bis Paul eine herablassende Bemerkung machte. Janine hörte die Eifersucht heraus und brauste auf: »Paul, du bist widerlich! Wan braucht mich und meine Pflege!«

»Und dir macht es Spaß, wie?«, fauchte er. Er war ernsthaft zornig. Das erweckte natürlich noch mehr Zorn in Janine, aber ihr Vater mischte sich ganz ruhig ein: »Lass das Mädchen ein Mädchen sein, Paul. Bist du nicht auch einmal jung gewesen? Komm, sehen wir uns noch einmal diesen Platz für Träume an …«

Janine überraschte sich selbst damit, dass sie den Friedensstifter gewähren ließ; es wäre eine großartige Gelegenheit für einen wütenden Streit gewesen, aber das war jetzt nicht die Richtung, in die ihr Interesse ging. Sie nahm sich die Zeit für ein knappes, verkniffenes Grinsen über Pauls Eifersucht, weil das ein neuer Streifen war, den sie sich an den Ärmel nähen konnte, und kümmerte sich wieder um Wan.

Während Wan sich erholte, wurde er noch interessanter. Von Zeit zu Zeit erwachte er und sprach mit ihr. Wenn er schlief, betrachtete sie ihn. Das Gesicht so dunkelhäutig, der Körper olivfarben; aber von den Hüften bis zu den Schenkeln hatte er die allerblasseste Haut. Wenig Körperbehaarung. Keine Behaarung im Gesicht, ausgenommen weiche, fast unsichtbare Härchen – eher Lippenwimpern als ein Schnurrbart.

Janine wusste, dass Lurvy und ihr Vater über sie witzelten und dass Paul wirklich eifersüchtig war, eben der Dinge wegen, denen er sich so lange entzogen hatte. Eine hübsche Abwechslung. Sie war jetzt jemand. Zum ersten Mal in ihrem Leben war das, was sie tat, das Bedeutsamste, was in der Gruppe geschah. Die anderen kamen zu ihr, um die Erlaubnis für ein Gespräch mit Wan einzuholen, und wenn sie meinte, er ermüde, akzeptierten sie ihren Befehl aufzuhören.

Außerdem war sie von Wan fasziniert. Sie verglich ihn mit allem, was sie bisher von Männern wusste, und das fiel stets zu seinem Vorteil aus. Selbst gemessen an ihren Brieffreunden sah Wan besser aus als der Eishockeyspieler; er war klüger als die Schauspieler, sogar beinahe so groß wie der Basketballspieler. Und allen anderen gegenüber – vor allem den beiden einzigen Männern, mit denen sie nun -zig Millionen Kilometer gereist war – besaß Wan seine wunderbare Jugend. Auf den Handrücken des alten Peter sah man verschieden große braune Pigmentflecken. Unangenehm. Aber der alte Mann hielt sich wenigstens sauber. Sogar gepflegt, wie auf dem Kontinent üblich. Er schnitt sich sogar die Haare, die in den Ohren wuchsen, mit einer ganz kleinen silbernen Schere; Janine hatte ihn dabei ertappt. Während Paul …

Bei einem ihrer Scharmützel mit Lurvy hatte Janine gefaucht: »Mit so etwas gehst du ins Bett? Mit einem behaarten Affen? Ich müsste kotzen!«

Und so fütterte sie Wan und las ihm vor und döste neben ihm, wenn er schlief. Sie wusch ihm die Haare und stutzte sie zu einer langen Rundfrisur, wobei sie sich von Lurvy helfen ließ, damit der Schnitt gerade wurde. Sie fönte die Haare trocken. Sie wusch seine Kleidung, flickte sie, ohne sich von Lurvy unterstützen zu lassen, und änderte sogar Kleidung von Paul, damit Wan etwas anderes anziehen konnte. Wan nahm alles hin und genoss es so sehr wie sie.


Als er kräftiger wurde, brauchte er sie nicht mehr im selben Maße, und sie konnte ihn vor den Fragen der anderen nicht mehr so schützen wie vorher. Aber sie nahmen ebenfalls Rücksicht auf ihn. Sogar der alte Peter. Vera, der Computer, kramte in den Medizinprogrammen und stellte eine lange Liste von Untersuchungen zusammen, denen sich der Junge unterziehen sollte.

»So eine Gemeinheit!«, tobte Peter. »Hat Vera kein Verständnis für den jungen Mann, der dem Tod so nah war, dass sie ihn unbedingt umbringen will?«

Es war nicht nur Rücksichtnahme allein. Peter hatte selbst Fragen zu stellen und hatte sie gestellt, wenn Janine es erlaubte, schmollend und nervös, wenn sie es nicht zulassen wollte.

»Dein Bett da, Wan, kannst du mir noch einmal sagen, was du fühlst, wenn du darin liegst? So, als wärst du auf irgendeine Weise Teil von Millionen Menschen? Und sie von dir, nicht wahr?«

Aber als Janine ihn beschuldigte, Wans Gesundung zu verzögern, hörte der alte Mann auf. Wenn auch nie für lange.

Dann ging es Wan wieder so gut, dass Janine in ihrem eigenen Privatabteil wieder die ganze Nacht schlafen konnte, und als sie wach wurde, saß ihre Schwester an Veras Konsole. Wan hielt sich an der Rückenlehne des Sessels fest, starrte die fremde Maschine grinsend und stirnrunzelnd an, und Lurvy las ihm seinen medizinischen Bericht vor.

»Alle Ergebnisse sind normal, du nimmst wieder zu, deine Antikörperpegel erreichen das Normalmaß – ich glaube, jetzt kann dir nichts mehr passieren, Wan.«

»Also, dann können wir endlich reden, nicht?«, rief der alte Mann. »Über diesen Überlichtgeschwindigkeitsfunk, die Maschinen, den Ort, wo er herkommt, den Traumraum?«

»Lasst ihn in Ruhe!«, fauchte Janine.

Aber Wan schüttelte den Kopf.

»Lass sie fragen, was sie wollen, Janine«, sagte er mit seiner schrillen, hauchigen Stimme.

»Jetzt?«

»Ja, jetzt!«, fuhr ihr Vater auf. »In diesem Augenblick! Paul, du kommst her und sagst diesem Jungen, was wir wissen müssen.«

Sie hatten das geplant, erkannte nun Janine, alle drei, aber Wan hatte nichts einzuwenden, und sie konnte nicht länger so tun, als sei er zu krank, um befragt zu werden. Sie marschierte zu ihm und setzte sich. Wenn sie sein Verhör nicht verhindern konnte, wollte sie wenigstens dabei sein, um ihn zu beschützen. Sie erteilte mit kalter Stimme die formelle Erlaubnis: »Also gut, Paul, sag, was du sagen willst, aber ermüde ihn nicht.«

Paul warf ihr einen ironischen Blick zu, wandte sich jedoch an Wan.

»Seit über zwölf Jahren«, sagte er, »wird die ganze Erde alle hundertdreißig Tage oder so verrückt. Es hat den Anschein, dass das deine Schuld ist, Wan.«

Der Junge runzelte die Stirn, erwiderte aber nichts. Seine Verteidigerin sprach für ihn.

»Warum hackt ihr auf ihm herum?«, fragte sie scharf.

»Niemand ›hackt‹, Janine. Aber was wir erlebt haben, war das Fieber. Das kann kein Zufall sein. Wenn Wan sich in dieses Ding legt, überträgt er seine Träume an die ganze Welt.« Paul schüttelte den Kopf. »Mein lieber Junge, hast du eine Vorstellung davon, was du da angerichtet hast? Seitdem du hierher kommst, werden deine Träume von Millionen Menschen miterlebt. Von Milliarden! Manchmal bist du friedlich gewesen, und deine Träume waren friedlich, dann war es nicht so schlimm. Manchmal warst du es nicht. Ich möchte nicht, dass du dich schuldig fühlst«, fuhr er freundlich fort, um Janine zuvorzukommen, »aber tausende und abertausende von Menschen sind ums Leben gekommen. Und der Sachschaden … Wan, du kannst dir das einfach nicht vorstellen.«

Wan sagte mit schriller Stimme abwehrend: »Ich habe nie einem was getan!«

Er war unfähig zu begreifen, was man ihm vorwarf, aber für ihn gab es keinen Zweifel daran, dass Paul ihn beschuldigte. Lurvy legte die Hand auf seinen Arm.

»Wenn es nur so wäre, Wan«, meinte sie. »Das Wichtigste ist, dass du das nicht mehr tun darfst.«

»Kein Träumen mehr auf der Liege?«

»Nein, Wan.« Er sah Janine um Hilfe an, dann zog er die Schultern hoch.

»Aber das ist noch nicht alles«, warf Paul ein. »Du musst uns helfen. Erzähl uns alles, was du weißt. Über die Liege. Über die Toten Menschen. Über den ÜLG-Funk, die Nahrung …«

»Warum sollte ich?«, gab Wan scharf zurück.

Paul sagte geduldig und einschmeichelnd: »Weil du auf diese Weise das Fieber wieder gutmachen kannst. Ich glaube nicht, dass du begreifst, wie wichtig du bist, Wan. Das Wissen in deinem Kopf könnte die Menschen vor dem Verhungern retten. Millionen Menschenleben, Wan.«

Wan befasste sich eine Weile stirnrunzelnd mit dieser Vorstellung, aber »Millionen« war für ihn im Zusammenhang mit menschlichen Wesen kein Begriff – er hatte sich nicht einmal an »fünf« gewöhnt.

»Du machst mich zornig«, schimpfte er.

»Das will ich nicht, Wan.«

»Es geht nicht darum, was du willst, sondern, was du tust. Das hast du mir selbst gesagt«, murrte der Junge trotzig. »Also gut. Was willst du?«

»Wir möchten, dass du uns alles sagst, was du weißt«, erklärte Paul sofort. »Ach, nicht alles auf einmal. Aber so, wie es dir einfällt. Und wir möchten, dass du mit uns durch diese ganze Nahrungsfabrik gehst und uns alles darin erklärst – soweit du das kannst, versteht sich.«

»Hier? Aber da gibt es nichts als das Traumzimmer, und das darf ich nicht mehr benutzen, sagt ihr.«

»Für uns ist das alles neu, Wan.«

»Es ist nichts! Das Wasser läuft nicht, es gibt keine Bibliothek, mit den Toten Menschen kann man kaum reden, nichts wächst! Zu Hause habe ich alles, und vieles funktioniert; da könnt ihr euch alles selbst anschauen.«

»Das hört sich an wie der Himmel, Wan.«

»Seht doch selber! Wenn ich nicht träumen kann, gibt es keinen weiteren Grund, dass ich hier bleibe!«

Paul sah die anderen betroffen an.

»Könnten wir das tun?«

»Natürlich! Mein Schiff bringt uns hin – nicht alle von euch, nein«, verbesserte sich Wan. »Aber ein paar. Wir können den alten Mann hier lassen. Es gibt keine Frau für ihn, also wird kein Paar auseinander gerissen. Oder es könnten auch nur Janine und ich fliegen«, fügte er schlau hinzu. »Dann ist im Schiff mehr Platz. Wir können euch alles mitbringen, Maschinen, Bücher, Schätze …«

»Vergiss das, Wan«, erklärte Janine weise. »Das erlauben sie uns nie.«

»Nicht so schnell, Mädchen«, erklärte ihr Vater. »Du hast das nicht zu entscheiden. Was der Junge sagt, ist interessant. Wenn er uns die Pforten des Himmels öffnen kann, wer sind wir, dass wir draußen in der Kälte bleiben sollen?«

Janine betrachtete ihren Vater, aber sein Gesicht verriet nichts.

»Du willst doch nicht sagen, dass du Wan und mich allein hinfliegen lässt?«

»Das ist nicht die Frage«, erwiderte er. »Die Frage ist: Wie können wir diese gottverdammte Mission schnell beenden und heimfliegen, um unsere Belohnung einzukassieren. Es gibt keine andere.«

»Tja«, stimmte Lurvy nach einer Pause zu, »das brauchen wir nicht auf der Stelle zu entscheiden. Der Himmel wartet auf uns, unser ganzes Leben lang.«

Ihr Vater sagte: »Das ist wahr, ja. Aber konkret ausgedrückt haben manche von uns weniger Zeit als andere.«


Jeden Tag trafen neue Mitteilungen von der Erde ein. Ärgerlicherweise betrafen sie nur die Zeit, bevor Wan aufgetaucht war, belanglos für alles, was sie jetzt taten oder planten: Liefern Sie chemische Analysen von diesem. Röntgen Sie jenes. Messen Sie das. Inzwischen waren die langsamen Pakete aus Photonen, die übermittelten, dass sie die Nahrungsfabrik erreicht hatten, bei Bodenstation-Vera auf der Erde angelangt, und vielleicht befanden sich Antworten schon auf dem Rückweg. Aber sie würden noch Wochen brauchen. Der Stützpunkt auf Triton besaß einen klügeren Computer als Vera, und Paul und Lurvy diskutierten darüber, ob sie alle ihre Daten zur Auswertung und Beratung dorthin übermitteln sollten. Der alte Peter wies das wütend zurück.

»Diese Vagabunden, die Zigeuner? Weshalb sollten wir ihnen geben, was zu beschaffen uns so viel gekostet hat?«

»Aber niemand stellt unsere Rechte infrage, Pa«, meinte Lurvy besänftigend. »Alles gehört uns. Im Vertrag steht das klar und deutlich.«

»Nein!«

So gaben sie alles, was Wan ihnen erzählte, in ihren Bordcomputer ein, und Veras kleiner, langsamer Intellekt sortierte die Einzelteile mühsam zu Mustern und bildete daraus sogar Diagramme. Das Aussehen des Ortes, von dem Wan gekommen war … die Ähnlichkeit war vermutlich nicht sehr groß, weil sich deutlich zeigte, dass Wan nicht die Neugier besessen hatte, sich alles gründlich anzusehen. Die Korridore. Die Maschinen. Die Hitschi selbst, und jedes Mal brachte Wan Verbesserungen an:

»O nein. Sie haben beide Bärte, männlich und weiblich. Selbst wenn sie noch ganz jung sind. Und die Brüste bei den Frauen sind …« Er hielt die Hände unter seinen Brustkorb, um anzuzeigen, wie tief sie herabhingen. »Und ihr gebt ihnen nicht den richtigen Geruch.«

»Hologramme riechen überhaupt nicht, Wan«, sagte Paul.

»Ja, genau! Aber sie tun es, versteht ihr. In der Brunftzeit riechen sie sehr.«

Und Vera murmelte und winselte bei neuen Daten und führte unsicher Verbesserungen durch. Nach Stunden mit dieser Beschäftigung wurde das, was für Wan ein Spiel gewesen war, zur Mühsal. Als er anfing zu sagen: »Ja, genau, so und nicht anders sieht der Raum der Toten Männer aus«, begriffen sie alle, dass er allem nur zustimmte, um seine Ruhe zu haben, und sie gewährten ihm eine Pause. Janine wanderte dann mit ihm durch die Gänge, die Kamera auf der Schulter, für den Fall, dass er etwas von Bedeutung von sich gab oder auf einen Schatz zeigte, und sie sprachen von anderen Dingen. Sein Wissen war so erstaunlich wie seine Unwissenheit. Beides war unberechenbar.

Zu jeder Stunde kamen Lurvy oder der alte Peter mit einer neuen Idee, wie man die Nahrungsfabrik von ihrem einprogrammierten Kurs abbringen könnte, um zu versuchen, ihre ursprüngliche Absicht doch noch zu verwirklichen. Nichts funktionierte. Jeden Tag trafen neue Mitteilungen von der Erde ein. Sie waren noch immer nicht von Belang. Sie waren nicht einmal sehr interessant; Janine beließ zwei Dutzend Briefe von ihren fernen Freunden in Veras Speicher, ohne sie abzuholen, weil die Botschaften, die sie von Wan erhielt, ihr genügten. Manchmal waren die Nachrichten sonderbar. Für Lurvy die Mitteilung, dass ihr altes College sie zur Frau des Jahres gewählt hatte. Für den alten Peter ein formelles Ersuchen der Stadt, in der er zur Welt gekommen war. Er las den Text und brach in Gelächter aus.

»Dortmund möchte immer noch, dass ich mich um den Posten des Bürgermeisters bewerbe. Was für ein Unsinn!«

»Das ist aber doch wirklich nett«, meinte Lurvy gutmütig. »Ein schönes Kompliment, finde ich.«

»Das ist gar nichts«, verbesserte er streng. »Bürgermeister! Mit dem, was ich habe, könnte ich Präsident der Bundesrepublik werden, oder sogar …« Er verstummte und sagte dann düster: »Wenn ich die Bundesrepublik jemals wieder sehe, heißt das.« Er blickte über ihre Köpfe hinweg. Seine Lippen bewegten sich stumm, dann sagte er: »Vielleicht sollten wir jetzt zurückfliegen.«

»Ach, Paps«, begann Janine. Und verstummte, weil der alte Mann sie mit dem strengen Blick eines Leitwolfs bedachte. Es herrschte plötzlich Spannung zwischen ihnen, bis Paul sich räusperte und sagte: »Na, das ist auf jeden Fall eine der Möglichkeiten. Es handelt sich natürlich auch um eine Vertragsfrage …«

Peter schüttelte den Kopf.

»Darüber habe ich nachgedacht. Sie schulden uns bereits so viel! Einfach dafür, dass wir das Fieber beendet haben. Wenn sie uns nur ein Prozent der verhinderten Schäden bezahlen, sind das Millionen. Milliarden. Und wenn sie nicht bezahlen wollen …« Er zögerte und fuhr schließlich fort: »Nein, es kann keine Frage sein, dass sie bezahlen. Wir müssen eben mit ihnen reden. Melden, dass wir dem Fieber Einhalt geboten haben, dass wir die Nahrungsfabrik nicht in Bewegung setzen können, dass wir nach Hause kommen. Bis eine Antwort eintrifft, sind wir schon wochenlang unterwegs.«

»Und was wird aus Wan?«, fragte Janine scharf.

»Der kommt mit, versteht sich. Er wird wieder unter seinesgleichen sein, und das ist für ihn bestimmt das Beste.«

»Findest du nicht, dass wir Wan selbst entscheiden lassen sollten? Und was ist aus der Idee geworden, dass wir uns seinen Himmel ansehen?«

»Das war ein Traum«, erklärte ihr Vater kalt. »Die Wahrheit ist die, dass wir nicht alles machen können. Soll jemand anderer diesen Himmel besichtigen, es ist genug für alle da; und wir werden alle zu Hause sein und Reichtum und Ruhm genießen. Hier geht es nicht nur um einen Vertrag«, fuhr er beinahe flehend fort. »Wir sind Erlöser! Es wird Vortragsreisen und Werbeeinnahmen geben! Wir werden Personen von großem Einfluss sein!«

»Nein, Paps«, sagte Janine. »Hör mir zu. Ihr habt alle von unserer Pflicht geredet, der Welt zu helfen – die Menschen zu ernähren, ihnen neue Dinge zu bringen, damit sie ein besseres Leben führen können. Wollen wir denn nicht unsere Pflicht tun?«

Er fuhr wütend herum.

»Was verstehst du schon von Pflicht, du dummes Ding? Ohne mich würdest du in Chicago in der Gosse sitzen und auf das Geld von der Sozialfürsorge warten. Wir müssen auch an uns selbst denken.«

Sie hätte geantwortet, aber Wan glotzte mit großen, erschreckten Augen, sodass sie stumm blieb.

»Ich hasse das!«, erklärte sie. »Wan und ich machen einen Spaziergang, damit wir euch nicht sehen müssen!«

»Im Grunde ist er gar kein übler Mensch«, sagte sie zu Wan, als die anderen sie nicht mehr hören konnten.

Streitende Stimmen hatten sie verfolgt, und Wan, der mit Meinungsverschiedenheiten wenig Erfahrung hatte, war offensichtlich völlig durcheinander.

Wan ging nicht direkt darauf ein. Er zeigte auf eine Wölbung in der blau leuchtenden Wand.

»Das ist eine Stelle für Wasser«, sagte er, »aber eine tote. Es gibt Dutzende davon, doch sie sind fast alle tot.«

Aus Pflichtgefühl besichtigte Janine die Stelle und richtete die Handkamera darauf, während er die runde Abdeckung entfernte und wieder anbrachte. An der Oberseite gab es einen nasenartigen Vorsprung, unten einen Abfluss; das Ganze war fast so groß, dass man hineinsteigen konnte, aber knochentrocken.

»Du hast gesagt, eine solche Anlage funktioniere noch, aber das Wasser sei nicht trinkbar?«

»Ja, Janine. Soll ich sie dir zeigen?«

»Ja, ich denke schon.« Sie fügte hinzu: »Lass dich von denen nur nicht aufregen. Sie werden eben immer gleich wild.«

»Ja, Janine.« Aber in einer gesprächigen Stimmung war er nicht.

»Als ich klein war, hat er mir Geschichten erzählt«, fuhr sie fort. »Die meisten machten einem Angst, aber manche auch nicht. Er erzählte mir vom Schwarzen Peter, der, soviel ich herausbekommen habe, eine Art Weihnachtsmann gewesen ist. Er sagte, wenn ich brav sei, bringe mir der Schwarze Peter zu Weihnachten eine Puppe, aber wenn nicht, würde ich ein Stück Kohle von ihm bekommen. Oder etwas noch Schlimmeres. So habe ich Papa dann immer genannt – Schwarzer Peter. Aber einen Klumpen Kohle hat er mir nie gegeben.«

Er lauschte aufmerksam, während sie durch den leuchtenden Korridor gingen, antwortete aber nicht. »Dann starb meine Mutter«, fuhr sie fort, »und Paul und Lurvy heirateten, und ich zog für eine Weile zu ihnen. Aber Paps war wirklich nicht so übel. Er besuchte mich, sooft er konnte – denke ich. Wan! Verstehst du überhaupt, was ich zu dir sage?«

»Nein«, erwiderte er. »Was ist ein Weihnachtsmann?«

»O Wan!«

Sie erklärte ihm also den Weihnachtsmann und Weihnachten und musste dann Winter und Schnee und Geschenke erklären. Sein Gesicht glättete sich, er begann zu lächeln, und seltsamerweise wurde Janines Stimmung um so gedrückter, je mehr sich die von Wan hob. Bei dem Versuch, Wan die Welt zu erklären, in der sie lebte, wurde sie gezwungen, sich mit der Welt auseinander zu setzen, die vor ihr lag. Es ist doch beinahe besser zu tun, was Peter vorgeschlagen hatte, dachte sie, einfach aufzugeben und ins wirkliche Leben zurückzukehren. Alle Alternativen waren Angst erregend. Sie befanden sich in einem künstlichen Gebilde, das unbeirrbar durch den Weltraum flog, einem unbekannten Ziel entgegen. Und wenn es dort ankam? Wovor würden sie stehen? Oder wenn sie mit Wan zurückflogen, was würde sie dort erwarten? Hitschi? Hitschi! Hier brach die Angst erst auf. Janine hatte ihr ganzes junges Leben im Schatten der Hitschi verbracht – Furcht erregend, weniger wirklich als mythisch. Wie der Schwarze Peter oder der Weihnachtsmann. Wie Gott. Alle Mythen und Gottheiten sind erträglich, was den Glauben an sie betrifft – aber was, wenn sie Wirklichkeit werden?

Sie wusste, dass ihre Familie sich nicht weniger fürchtete als sie, obwohl das ihren Worten nicht zu entnehmen war – sie gaben ihr ein Beispiel an Mut. Sie konnte nur vermuten. Sie nahm an, dass Paul und ihre Schwester Angst hatten, sich aber entschlossen hatten, alles auf eine Karte zu setzen und zu hoffen, dass alles gut ging. Ihre eigene Angst war eine ganz besondere – weniger Angst vor dem, was geschehen mochte, als davor, wie sie reagieren mochte, wenn es geschah. Was ihr Vater empfand, war allen klar. Er war zornig und angstvoll, und wovor er sich fürchtete, war, zu sterben, bevor er sich für seinen Mut hatte bezahlen lassen.

Und was fühlte Wan? Er wirkte so unkompliziert, während er sie in seinem Reich herumführte, wie ein Kind, das ein anderes an den Schätzen seiner Spielzeugtruhe teilhaben lässt. Janine wusste es besser. Wenn sie in ihren vierzehn Jahren etwas gelernt hatte, dann das eine, dass niemand unkompliziert war. Wans Komplikationen waren lediglich nicht dieselben wie ihre, was sie sofort erkannt hatte, als er ihr die Wasseranlage zeigte, die noch funktionierte. Er hatte das Wasser nicht trinken können, die Anlage aber als Toilette benützt. Janine, in der westlichen Welt aufgewachsen, in der man so tat, als gäbe es die Ausscheidung nicht, hätte Wan nie an solch einen Ort geführt, aber er zeigte keine Spur von Verlegenheit. Sie konnte ihn auch nicht in Verlegenheit bringen.

»Irgendwo musste ich hingehen«, sagte er mürrisch, als sie ihn dafür rügte, dass er nicht wie alle anderen die sanitären Anlagen des Schiffes benutzt hatte.

»Ja, aber wenn du es richtig gemacht hättest, wäre Vera gleich drauf gekommen, dass du krank bist, verstehst du? Sie analysiert immer unser, äh, Zeug aus dem Badezimmer.«

Er bewegte unbehaglich die Schultern.

»Wenn die Toten Menschen mich untersuchen, stecken sie immer etwas in mich hinein. Das mag ich nicht.«

»Das ist nur zu deinem Besten, Wan«, erklärte sie streng. »He! Das ist eine Idee. Reden wir mit den Toten Menschen.«

Hier kam Janines eigene Kompliziertheit zum Ausdruck. Sie wollte im Grunde gar nicht mit den Toten Menschen reden. Sie wollte nur fort von dem peinlichen Ort, an dem sie sich befanden, aber bis sie sich dorthin gehangelt hatten, wo die Toten Menschen waren, die Stelle, wo auch Wans Traumliege stand, war Janine etwas anderes eingefallen.

»Wan«, sagte sie, »ich möchte die Liege ausprobieren.«

Er legte den Kopf zurück und kniff die Augen zusammen, während er sie an seiner langen Nase entlang prüfend anstarrte.

»Lurvy hat gesagt, ich darf das nicht mehr tun«, erklärte er.

»Das weiß ich. Wie komme ich hinein?«

»Zuerst erklärt ihr mir, ich muss tun, was ihr sagt«, beklagte er sich, »und dann erzählt mir jeder etwas anderes. Das bringt einen ganz durcheinander.«

Sie war schon in den Kokon geschlüpft und hatte sich ausgestreckt.

»Ziehe ich das Oberteil einfach über mich?«

»Ach«, sagte er achselzuckend, »wenn du dich schon entschlossen hast – ja. Wenn du heraus willst, drückst du einfach dagegen.«

Sie griff nach dem Gurtdeckel und zog ihn zu sich herab, während sie auf sein schmollendes, besorgtes Gesicht blickte.

»Tut es … weh?«

»Weh? Nein! Was für eine Vorstellung!«

»Wie ist es dann?«

»Janine«, sagte er streng, »du bist sehr kindisch. Warum stellst du Fragen, wenn du es selber erleben kannst?« Und er drückte den glänzenden Drahtdeckel herunter, bis der Verschluss an der Seite einschnappte. »Es ist am besten, wenn du schläfst«, rief er durch das schimmernde blaue Geflecht von Drähten zu ihr hinunter.

»Aber ich bin nicht schläfrig«, wandte sie ein, ganz sachlich gestimmt. »Ich spüre überhaupt nichts …«

Und dann kam es.

Es war nicht das, was sie aus ihrem eigenen Erleben des Fiebers erwartet hatte; es gab keine quälende Einwirkung auf ihre Persönlichkeit, keine genaue Quelle von Empfindungen. Es gab nur ein warmes, alles durchdringendes Leuchten. Sie war eingehüllt. Sie war ein Atom in einer Brühe der Empfindung. Die anderen Atome hatten keine Form oder Eigenart. Sie waren nicht greifbar oder scharf umrissen. Sie konnte immer noch Wan sehen, der durch die Drähte sorgenvoll auf sie hinabstarrte, als sie die Augen öffnete, und diese anderen – Seelen? – waren nicht annähernd so wirklich oder nah. Aber sie konnte sie spüren, wie sie noch nie eine andere Präsenz gespürt hatte. Rundherum. Neben ihr. In ihr. Sie waren warm. Sie waren tröstlich.

Als Wan endlich das Oberteil aus Drähten hochriss und an ihrem Arm zerrte, lag sie da und starrte ihn an. Sie besaß weder die Kraft noch den Wunsch aufzustehen. Er musste ihr aufhelfen, und sie stützte sich auf seine Schulter, als sie sich auf den Rückweg machten.

Sie waren auf halbem Weg zurück zum Schiff der Herter-Halls, als die anderen Mitglieder der Familie ihnen wütend entgegenkamen.

»Du stupides, kleines Miststück!«, schrie Paul. »Mach so etwas noch einmal, und ich versohl’ dir deinen rosigen Hintern!«


Sie waren alle so streitsüchtig geworden. Niemand versohlte Janine den Hintern dafür, dass sie die Traumliege ausprobiert hatte. Sie wurde überhaupt nicht bestraft. Stattdessen bestraften sich alle gegenseitig und die ganze Zeit über. Der Waffenstillstand, der dreieinhalb Jahre gehalten hatte, weil jeder von ihnen ihn für sich selbst durchsetzte, wenn die einzige Alternative wechselseitiger Mord hieß, zerfiel. Paul und der alte Mann sprachen zwei Tage lang kein Wort miteinander, weil Peter die Liege abmontiert hatte, ohne sich mit den anderen abzustimmen. Lurvy und ihr Vater zischten und schrien einander an, weil sie zu viel Salz für ihr Essen programmiert hatte, und erneut, nachdem er an die Reihe gekommen war, weil er zu wenig eingab. Und was Lurvy und Paul anging – sie schliefen nicht mehr miteinander, sie sahen sich kaum an, sie wären gewiss kein Ehepaar geblieben, wenn es im Umkreis von 5000 AE ein Scheidungsgericht gegeben hätte.

Aber wenn es im Umkreis von 5000 AE irgendeine Autorität gegeben hätte, wären wenigstens die Streitfragen entschieden worden. Eine andere Stelle hätte für sie Entscheidungen fällen können. Sollten sie heimfliegen? Sollten sie versuchen, das Leitsystem der Nahrungsfabrik zu umgehen? Sollten sie mit Wan zu dem anderen Gebilde fliegen und es sich ansehen – und wenn ja, wer sollte gehen und wer hier bleiben? Auf größere Pläne vermochten sie sich nicht zu einigen. Sie erzielten nicht einmal Einigung über unmittelbar zu treffende Entscheidungen, z.B. eine Maschine auseinander zu nehmen und Gefahr zu laufen, dass sie dann defekt war, oder sie in Ruhe zu lassen und die Hoffnung auf eine wundersame Neuentdeckung aufzugeben, die alles verändern mochte. Sie konnten sich nicht darauf einigen, wer über Funk mit den Toten Menschen sprechen oder was man sie fragen sollte. Wan zeigte ihnen bereitwillig, wie man versuchte, die Toten Menschen zum Reden zu bringen, und sie schlossen Veras »Ton«-System an den »Funk« an. Vera konnte aber nicht viel Material aufnehmen und abgeben, und als die Toten Menschen ihre Fragen nicht verstanden oder nicht mittun wollten oder einfach zu verrückt waren, um von Nutzen zu sein, war Vera geschlagen.

Für Janine war das alles schrecklich, aber das Schlimmste war Wan selbst. Die Streitigkeiten schufen in ihm Verwirrung und Empörung. Er hörte auf, hinter ihr herzulaufen. Und nach einer Schlafperiode, als sie sich aufsetzte und nach ihm Ausschau hielt, war er fort.

Zum Glück für Janines Stolz waren auch alle anderen verschwunden – Paul und Lurvy befanden sich am Außenrumpf, um die Antennen neu auszurichten; ihr Vater schlief, sodass sie Zeit hatte, mit ihrer Eifersucht fertigzuwerden. Soll er sich benehmen wie ein Ferkel!, dachte sie. Es war dumm von ihm, nicht zu begreifen, dass sie viele Freunde hatte, während er nur sie besaß, aber er würde schon dahinter kommen. Sie war damit beschäftigt, lange Briefe an ihre vernachlässigten Brieffreunde zu verfassen, als sie Paul und ihre Schwester zurückkommen hörte. Sie berichtete, dass Wan schon seit über einer Stunde verschwunden war, aber auf ihre Reaktion war sie nicht gefasst.

»Pa!«, schrie Lurvy und rüttelte am Vorhang des Privatabteils, in dem ihr Vater schlief. »Wach auf! Wan ist fort!«

Als der alte Mann blinzelnd hochfuhr, sagte Janine verärgert: »Was habt ihr denn auf einmal alle?«

»Du begreifst nicht, wie?«, gab Paul kalt zurück. »Was ist, wenn er mit dem Schiff abgeflogen ist?«

Das war eine Möglichkeit, die Janine gar nicht in den Sinn gekommen war, und sie wirkte wie ein Schlag in ihr Gesicht.

»Das tut er nicht!«

»Nein?«, zischte ihr Vater. »Woher willst du denn das wissen? Und was wird aus uns, wenn er es doch getan hat?« Er zog den Reißverschluss seiner Kombination zu und funkelte die anderen an. »Ich habe euch allen erklärt«, sagte er, als er aufstand – wobei er jedoch Lurvy und Paul ansah, damit Janine begriff, dass mit »allen« nicht sie gemeint war –, »ich habe euch erklärt, dass wir eine endgültige Lösung finden müssen. Wenn wir in seinem Schiff mitfliegen sollen, müssen wir das tun. Wenn nicht, dürfen wir nicht das Risiko eingehen, dass er plötzlich auf die dumme Idee kommt, einfach zurückzufliegen, ohne ein Wort zu sagen. Das steht fest.«

»Und wie machen wir das?«, fuhr ihn Lurvy an. »Das ist doch lächerlich, Pa. Wir können das Schiff nicht Tag und Nacht bewachen.«

»Und deine Schwester kann den Jungen nicht bewachen, richtig«, sagte der alte Mann mit einem Nicken. »Wir müssen also entweder das Schiff flugunfähig machen oder den Jungen.«

Janine stürzte sich auf ihn.

»Ihr Ungeheuer!«, schrie sie mit erstickter Stimme. »Ihr habt das die ganze Zeit abgesprochen, als wir nicht dabei waren!«

Ihre Schwester packte sie und hielt sie fest.

»Beruhige dich, Janine«, sagte sie. »Ja, es ist wahr, wir haben darüber gesprochen – wir mussten es tun! Aber es ist nichts entschieden, schon gar nicht, dass wir Wan wehtun.«

»Dann entscheidet!«, brauste Janine auf. »Ich stimme dafür, dass wir Wan begleiten!«

»Wenn er nicht schon allein geflogen ist«, warf Paul ein.

»Ist er nicht!«

»Wenn er fort ist, können wir jetzt auch nichts mehr machen«, meinte Lurvy vernünftig. »Abgesehen davon, schließe ich mich Janine an. Wir fliegen mit! Was sagst du, Paul?«

Er zögerte mit seiner Antwort.

Und plötzlich war Wan wieder bei ihnen.

»Ich meine auch«, sagte nun Paul, als wäre nichts geschehen gewesen. »Und du, Peter?«

Der alte Mann erklärte mit Würde: »Wenn ihr euch alle einig seid, kommt es wohl nicht mehr darauf an, wie ich abstimme, oder? Es bleibt nur noch die Frage, wer gehen soll und wer bleibt. Ich schlage vor …«

Lurvy unterbrach ihn.

»Pa«, sagte sie, »ich weiß, was du sagen willst, aber das geht nicht. Wir müssen mindestens eine Person hier lassen, um Verbindung mit der Erde zu halten. Janine ist zu jung. Ich kann das nicht sein, weil ich die Pilotin bin und das eine Gelegenheit ist, zu lernen, wie man ein Hitschi-Schiff steuert. Ich will nicht ohne Paul gehen. Also bleibst nur du.«


Sie nahmen Vera Bauteil für Bauteil auseinander und verteilten die Komponenten in der ganzen Nahrungsfabrik. Zwischenspeicher, Eingänge und Wiedergabeschirme kamen in die Traumkammer, Festspeicher davor in den Tunnel, Übermittlung blieb in ihrem alten Schiff. Peter half wortkarg mit; der Sinn dessen, was sie taten, bestand darin, künftige Mitteilungen der Forschungsgruppe über das Funksystem der Toten Menschen zu verbreiten. Peter half mit, sich selbst überflüssig zu machen, und wusste das auch. Im Schiff gebe es Nahrung genug, erklärte ihnen Wan, aber Paul wollte sich damit nicht zufriedengeben und veranlasste, dass sie an Rationen mitnahmen, was sie an Bord unterbringen konnten. Dann verlangte Wan, dass sie Wasservorräte mitnahmen, worauf sie die Aufbereitungsmengen im Schiff verringerten, um seine Plastikbeutel zu füllen und sie zu verladen. In Wans Raumschiff gab es keine Betten. Man brauchte sie nicht, erklärte Wan, weil die Beschleunigungskokons ausreichten, um sie bei Manövern zu schützen und auf dem Rest der Reise zu verhindern, dass sie im Schlaf umherschwebten. Vorschlag abgelehnt von Lurvy und Paul, die ihre Schlafsäcke aus dem Privatabteil ausbauten und im Schiff wieder anbrachten. Persönlicher Besitz: Janine wollte ihren Geheimvorrat an Parfüm und Büchern mitnehmen, Lurvy ihre persönliche Tasche, Paul seine Patiencekarten. Die Verladerei war eine lange und mühsame Arbeit, obwohl sie dahinter kamen, dass sie leichter fiel, wenn sie die Plastik-Wassersäcke und die anderen, weicheren Vorräte in einem Zeitlupen-Fangspiel durch die Korridore warfen. Endlich war alles verstaut. Peter saß mit mürrischer Miene an einer Korridorwand, sah zu, wie die anderen durcheinander liefen, und versuchte herauszufinden, was vergessen worden war. Janine kam es so vor, als behandelten sie ihn schon wie einen Abwesenden, wenn nicht Toten, und sie sagte: »Paps? Nimm es nicht so schwer. Wir sind alle so bald zurück, wie es nur geht.«

Er nickte.

»Was pro Weg, lass mich nachdenken, neunundvierzig Tage ausmacht, und dazu die Zeit, die ihr dort zu verbringen gedenkt«, sagte er, aber dann stemmte er sich hoch und ließ sich von Lurvy und Janine küssen. Beinahe fröhlich sagte er: »Gute Reise. Habt ihr nichts vergessen?«

Lurvy schaute sich um und überlegte.

»Ich glaube nicht – außer du meinst, wir sollten deinen Freunden mitteilen, dass wir kommen, Wan?«

»Den Toten Menschen?«, sagte er mit schriller Stimme und grinste. »Die wissen nichts. Sie sind nicht lebendig, weißt du, sie haben kein Zeitgefühl.«

»Warum magst du sie dann so sehr?«, fragte Janine scharf.

Wan nahm den Unterton der Eifersucht wahr und starrte sie mit zusammengezogenen Brauen an.

»Sie sind meine Freunde«, sagte er. »Man kann sie nicht immer ernst nehmen, und sie lügen oft, aber sie jagen mir nie Angst ein.«

Lurvy stockte der Atem.

»O Wan«, sagte sie und berührte seine Schulter. »Ich weiß, wir sind nicht so nett zu dir gewesen, wie wir es hätten sein können. Wir sind alle überanstrengt. In Wirklichkeit sind wir bessere Menschen, als du meinst.«

Der alte Peter hatte genug.

»Geht endlich«, knurrte er. »Beweist ihm das und steht nicht dauernd herum und schwatzt nur. Dann kommt zurück und beweist es mir.«

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