Am schwersten fiel Klara in ihrem neuen Leben, den Mund zu halten. Sie war eine Kämpfernatur, und mit jemandem wie Wan entstand Streit nur allzu leicht. Wan wollte Essen, Sex, Unterhaltung und gelegentliche Hilfestellung beim Fliegen des Raumschiffs – aber nur dann, wenn er es wollte, zu keinem anderen Zeitpunkt. Klara wollte Zeit zum Nachdenken. Sie wollte darüber nachdenken, wie ihr Leben auf so erstaunliche Weise aus der Bahn geraten war. Der Möglichkeit, ihr Leben zu verlieren, hatte sie immer schon ins Auge geblickt – wenn auch nicht stets sehr mutig, so doch wenigstens standhaft. Die Möglichkeit eines so ausgefallenen Missgeschicks, eine Generation lang auf einem Abstellgleis in einem Schwarzen Loch hängen zu bleiben, während sich die Welt ohne sie weiterdrehte, war ihr noch nie eingefallen. Das erforderte Nachdenken.

Wan interessierten Klaras Bedürfnisse überhaupt nicht. Wenn er sie brauchte, hatte sie da zu sein. Wenn er sie nicht wollte, machte er das sehr deutlich. Seine sexuellen Wünsche störten Klara am wenigsten. Die waren meist nicht mühsamer oder von persönlicherer Bedeutung als ein Besuch auf der Toilette. Das Vorspiel bestand für Wan darin, dass er seine Hosen auszog. Den Akt erledigte er seinem Tempo entsprechend, und das war blitzschnell. Es störte Klara weniger, dass ihr Körper benutzt, als dass ihre Aufmerksamkeit vergewaltigt wurde.

Klaras angenehmste Stunden waren, wenn Wan schlief. Das dauerte aber meist nicht lange. Wan hatte einen leichten Schlaf. Aber dann konnte sie sich zu einem Gespräch mit den Toten Menschen niederlassen oder sich etwas zu essen machen, das Wan nicht besonders mochte, oder einfach dasitzen und ins All starren – diese Redensart nahm eine ganz andere Bedeutung an, wenn man als einzigen Gegenstand, der weiter als eine Armlänge entfernt war, einen Bildschirm hatte, der unmittelbar ins All hinausschaute. Kaum hatte sie es sich gemütlich gemacht, kam meist die schrille, quälende Stimme: »Du tust mal wieder gar nichts, Klara. Du bist ein faules Luder. Dolly hätte mir schon längst einen Haufen Schokoladenplätzchen gebacken!« Noch schlimmer war es, wenn er zum Spielen aufgelegt war. Dann holte er die Pülverchen und Apothekerfläschchen, dazu noch Silberdöschen mit rosa und lila Pillen. Wan hatte gerade erst Drogen entdeckt. Er wollte diese Erfahrung mit Klara teilen. Manchmal ließ sie sich auch aus Langeweile oder Verzweiflung dazu überreden. Keinesfalls aber spritzte, schnüffelte oder schluckte sie etwas, das sie nicht eindeutig identifizieren konnte. Und sie wies noch eine Menge Zeug zurück, bei dem sie es konnte. Aber andererseits nahm sie auch eine Menge. Die Euphorie, das Brausen – es dauerte zwar nicht lange, war aber doch eine segensreiche Ablenkung von der Leere eines Lebens, das einmal kurz gerülpst hatte, dann gestorben war und nun wieder von neuem begann. Es war immer noch besser, mit Wan high zu werden oder sogar mit ihm ins Bett zu gehen, als der Frage ausweichen zu müssen, die Wan stellte und auf die sie keine ehrliche Antwort geben wollte:

»Klara, glaubst du wirklich, dass ich meinen Vater finden werde?«

»Keine Chance, Wan, der alte Knabe ist längst tot.«

Weil der alte Knabe mit Sicherheit tot war. Der Mann, der Wan gezeugt hatte, war von Gateway ganz allein zu einer Mission aufgebrochen, als Wans Mutter sich gerade zum ersten Mal Gedanken darüber machte, dass sie ihre Periode nicht bekommen hatte. In den Unterlagen wurde er als vermisst geführt. Sicher, er könnte von einem Schwarzen Loch verschlungen worden sein. Er könnte sich immer noch da drinnen befinden, eingefroren in der Zeit, wie Klara.

Aber die Chancen standen sehr schlecht.

Für Klara war es immer wieder erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit Wan die alten Navigationskarten der Hitschi lesen konnte. Als er einmal bei guter Laune war – fast eine Viertelstunde lang, beinahe ein Rekord –, hatte er ihr die Karten gezeigt und die Objekte markiert, die er bereits besucht hatte, ihres eingeschlossen. Nachdem seine gute Laune verpufft und er wütend schlafen gegangen war, hatte sie vorsichtig die Toten Menschen befragt. Man konnte nicht behaupten, dass die Toten Menschen sich mit den Karten gut auskannten. Aber das bisschen, das sie wussten, war weit mehr als alles, was Klaras Zeitgenossen gewusst hatten.

Einige der karthographischen Regeln waren ganz einfach – beinahe so selbstverständlich wie das Ei des Kolumbus, nachdem jemand ihre Bedeutung erklärt hatte. Die Toten Menschen waren glücklich, das für Klara tun zu dürfen. Die Schwierigkeit bestand nur darin, sie abzuhalten, ihr alles noch mal und noch mal auseinander zu setzen. Die Farben auf den abgebildeten Objekten? Einfach, sagten die Toten Menschen. Je blauer, desto weiter weg. Je röter, desto näher. »Das beweist«, zirpte die pedantischste Frau unter den Toten Menschen, »das beweist, dass die Hitschi das Hubble-Humason-Gesetz kannten.«

»Bitte, erklär mir nicht, was das Hubble-Humason-Gesetz ist«, bat Klara. »Was hat es mit all den anderen Zeichen auf sich? Den Dingern, die wie Kreuze aussehen mit zusätzlichen Balken?«

»Das sind die Hauptanlagen«, seufzte ein anderer Toter Mensch. »Wie Gateway und Gateway Zwei und die Nahrungsfabrik und …«

»Und diese hier, welche die Form von Häkchen haben?«

»Wan nennt sie Fragezeichen«, flüsterte die leise Stimme. Sie sahen wirklich so ähnlich aus, wenn man sich den Punkt unter dem Fragezeichen wegdachte und den Rest auf den Kopf stellte. »Die meisten zeigen Schwarze Löcher an. Wenn du jetzt die Einstellung auf dreiundzwanzig, vierundachtzig veränderst …«

»Haltet endlich die Klappe!«, brüllte Wan und kroch wütend und zerzaust aus der Koje. »Ich kann bei dem idiotischen Gebrüll nicht schlafen.«

»Wir haben nicht gebrüllt«, entgegnete Klara besänftigend.

»Nicht gebrüllt!«, schrie er. »Ha!« Er stapfte zum Pilotensitz und setzte sich mit geballten Fäusten auf den Schenkeln und hochgezogenen Schultern hin. Er sah sie lauernd an. »Wie wär’s, wenn ich jetzt etwas zu essen bekäme?«, fragte er.

»Willst du?«

Er schüttelte den Kopf. »Und wenn ich mit dir schlafen will?«

»Willst du?«

»Ob ich will! Ob ich will! Ewig musst du Streit anfangen! Außerdem bist du wirklich eine miserable Köchin, und im Bett hast du entschieden weniger zu bieten, als du behauptest hast. Dolly war besser.«

Klara stellte fest, dass sie den Atem anhielt. Sie zwang sich, langsam und schweigend auszuatmen. Sie konnte sich nicht zu einem Lächeln zwingen.

Wan grinste vor Freude, dass er einen Treffer bei ihr gelandet hatte. »Du erinnerst dich doch an Dolly?«, fragte er herablassend. »Das war die, welche ich auf deinen Rat hin auf Gateway zurückgelassen habe. Dort gilt aber das Gesetz: nicht zahlen – nicht atmen, und sie hat kein Geld. Manchmal überlege ich, ob sie noch lebt.«

»Sie lebt noch«, erklärte Klara mit zusammengebissenen Zähnen und hoffte, dass es stimmte. Aber Dolly würde immer jemanden finden, der ihre Rechnungen bezahlte. »Wan«, fing sie an. Sie wollte unbedingt das Thema wechseln, ehe es noch schlimmer wurde. »Was bedeuten diese gelben flackernden Lichter auf dem Schirm? Die Toten Menschen wissen es anscheinend nicht.«

»Das weiß niemand. Ist es nicht dämlich zu glauben, dass ich es weiß, wenn die Toten Menschen es nicht wissen? Manchmal bist du saudumm«, beschwerte er sich. Gerade rechtzeitig, ehe Klara vor Wut überschäumte, ertönte die dünne Stimme des weiblichen Toten Menschen:

»Einstellung dreiundzwanzig, vierundachtzig, siebenundneunzig, acht, vierzehn.«

»Was?«, fragte Klara erschreckt.

»Einstellung dreiundzwanzig …« Die Stimme wiederholte die Zahlen.

»Was ist das?«, fragte Klara, und Wan übernahm es, ihr zu antworten. Er hatte seine Stellung nicht verändert, aber der Ausdruck seines Gesichts war anders – weniger feindlich. Eher angespannt. Verängstigt.

»Ich bin sicher, dass es eine Einstellung auf der Karte ist«, sagte er.

»Und was soll das bedeuten?«

Er schaute sie nicht an. »Stell’s ein und finde es heraus!«, wies er sie an.

Klara fiel es schwer, die Rändelräder zu bewegen. Laut ihren früheren Erfahrungen kam diese Handlung Selbstmord gleich: Die Angaben der Karten dabei zu Rate zu ziehen, war damals noch nicht möglich gewesen. Eine Veränderung in der Einstellung war unweigerlich gleichbedeutend mit einer nicht voraussehbaren und meist tödlichen Kursänderung. Aber alles, was passierte, war, dass die Abbildung auf dem Schirm flackerte und sich drehte. Dann hielt sie an und zeigte – was? Einen Stern? Ein Schwarzes Loch? Was es auch war, es leuchtete kadmiumgelb auf dem Schirm, und außen herum flackerten nicht weniger als fünf der auf dem Kopf stehenden Fragezeichen. »Was ist das?«, fragte sie.

Wan drehte sich langsam um und starrte auf den Bildschirm. »Es ist sehr groß«, stellte er fest, »und sehr weit weg. Und es ist dort, wo wir jetzt hinfliegen.« Die ganze Streitlust war aus seinem Gesicht verschwunden. Klara wünschte sie beinahe zurück, denn statt ihrer zeigte sich nur nackte, ungemilderte Angst.

Und unterdessen …


Unterdessen näherte sich der Auftrag des Kapitäns und seiner Hitschi-Mannschaft dem Ende von Phase eins, was aber bei keinem Freude hervorrief. Der Kapitän trauerte immer noch um Twice. Ihr schlanker, blasser, glänzender Körper wurde nach dem Entfernen der Persönlichkeit beseitigt. Zu Hause wäre er zum Abfall in die Setztanks gewandert.

Die Hitschi waren nicht sehr gefühlvoll, wenn es um Kadaver ging. An Bord des Schiffes gab es keine Setztanks, daher wurde ihr Körper ins All geworfen. Der Teil, der von Twice übrig war, wurde zusammen mit den Gehirnen der Vorväter gelagert. Wenn der Kapitän auf seinem neuen und ihm nicht vertrauten Schiff umherging, berührte er ab und zu den Beutel, in dem sie gelagert war, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Es war nicht nur ein persönlicher Verlust. Twice war für die Fernsteuerung verantwortlich gewesen. Ohne sie konnten die Aufräumarbeiten nicht richtig durchgeführt werden. Mongrel gab ihr Bestes, aber sie war für die Bedienung der Fernsteuerung nicht voll ausgebildet. Der Kapitän stand nur nervös hinter ihr, was auch nicht viel half. »Nicht den Schub abwürgen, das ist noch kein stabiler Orbit!«, zischte er sie an. »Ich hoffe nur, dass die Leute nicht raumkrank werden, so wie du sie herumstößt.«

Mongrels Kiefermuskeln bewegten sich heftig, aber sie gab keine Antwort. Sie wusste, warum der Kapitän so angespannt und verschlossen war.

Endlich war er zufrieden und tippte Mongrel auf die Schulter. Das war das Zeichen, dass sie die Ladung löschen konnte. Die große Blase rollte und drehte sich. Von einem Pol zum anderen wurde eine dunkle Linie sichtbar. Dann öffnete sich die Blase wie eine Blume. Mongrel zischte befriedigt und kuppelte das Segelschiff aus. Jetzt konnte es herausgleiten.

»Die Überfahrt war etwas stürmisch«, bemerkte der Nachrichtenoffizier, der neben den Kapitän getreten war.

Kapitän zuckte mit seinem Abdomen, was bei den Hitschi so viel wie Achselzucken bedeutete. Das Segelschiff hatte jetzt die offene Kugel verlassen, und Mongrel begann, sie wieder zu schließen. »Wie geht’s mit Ihrer Arbeit, Shoe? Quatschen die menschlichen Wesen immer noch?«

»Leider noch mehr als vorher.«

»Geballte Gehirne! Seid ihr mit der Übersetzung von dem, was sie sich zubrüllen, weitergekommen?«

»Die Gehirne arbeiten daran.«

Der Kapitän nickte missmutig und griff nach dem achteckigen Medaillon, das an dem Beutel zwischen seinen Beinen befestigt war. Er hielt sich gerade noch rechtzeitig zurück. Vielleicht würde er sich besser fühlen, wenn er sich bei den Geballten Gehirnen über die Fortschritte bei der Übersetzung erkundigt hatte; aber dieses Gefühl würde nicht den Schmerz aufwiegen, Twices Stimme unter ihnen zu hören. Früher oder später würde er sie hören müssen. Aber jetzt noch nicht.

Er blies durch die Nasenlöcher und wandte sich an Mongrel. »Ganz langsam jetzt! Niedrige Kraft, lassen Sie sie treiben. Wir können im Augenblick nicht mehr tun. Shoe! Übermitteln Sie ihnen eine Nachricht! Sagen Sie, es tut uns Leid, dass wir im Augenblick nicht mehr für sie tun können; wir werden aber versuchen zurückzukommen. White-Noise! Orten Sie alle Fahrzeuge im Raum!«

Der Navigator nickte und wandte sich seinen Instrumenten zu. Kurz darauf war der Bildschirm voll von einer wirbelnden Masse gelb geschwänzter Kometen. Die Farbe des Kerns zeigte die Entfernung an, die Schwanzlänge die Geschwindigkeit. »Welcher ist der Idiot mit dem Korkenzieher?«, wollte der Kapitän wissen. Der Schirm verengte das Bild auf einen bestimmten Kometen. Erstaunt zischte Kapitän.

Dieses Schiff hatte sicher in seinem Heimatsystem vor Anker gelegen, als er es sich das letzte Mal angesehen hatte. Jetzt bewegte es sich mit hoher Geschwindigkeit und hatte die Heimat schon weit hinter sich gelassen. »Wohin fliegt er?«, erkundigte er sich.

White-Noise zuckte mit den Strängen seiner Gesichtsmuskeln. »Dazu brauch’ ich eine Minute, Kapitän.«

»Na und? Machen Sie’s!«

Unter anderen Umständen wäre White-Noise über den Tonfall des Kapitäns beleidigt gewesen. Hitschi sprachen nie unhöflich miteinander. Jetzt mussten aber die Umstände berücksichtigt werden. Die Tatsache, dass diese menschlichen Emporkömmlinge das Gerät besaßen, mit dem sie ein Schwarzes Loch anbohren konnten, war allein schon schrecklich beängstigend. Schlimmer war es, dass sie die Luft mit ihrem lauten und dummen Geschnatter erfüllten. Wer wusste, was sie als Nächstes tun würden? Der Tod eines Kameraden war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Diese Reise war die schlimmste seit der in längst vergangenen Zeiten, ehe White-Noise geboren war, als sie von der Existenz der anderen erfuhren … »Es ergibt keinen Sinn«, sagte White-Noise. »Auf ihrem Kurs liegt nichts, das ich erkennen kann.«

Der Kapitän warf einen finsteren Blick auf die verschlüsselten Zeichnungen auf dem Schirm. Eigentlich konnte sie nur ein Spezialist lesen, aber als Kapitän musste er auf jedem Fachgebiet über gewisse Grundkenntnisse verfügen. Er sah, dass entlang der gezeigten geodätischen Linie nichts in vernünftiger Reichweite lag. »Was ist mit dem kugelförmigen Schwarm?«, fragte er.

»Das glaube ich nicht, Kapitän. Er liegt nicht auf der direkten Flugroute. Außerdem ist dort nichts. Wirklich gar nichts, bis zum Rande des Sonnensystems.«

»Gehirne!«, warf eine Stimme von hinten ein. Der Kapitän drehte sich um. Der Durchbohrer Schwarzer Löcher, Burst, stand da. Alle Muskeln an seinem Körper zogen sich zusammen und spielten wie wahnsinnig. Die Angst des Mannes teilte sich dem Kapitän mit, noch ehe Burst hervorstieß: »Verlängert die geodätische Linie!« White-Noise sah ihn verständnislos an. »Verlängert sie! Außerhalb der Galaxis!«

Der Navigator wollte protestieren. Dann verstand er. Seine Muskeln zuckten, als er gehorchte. Das Bild auf dem Schirm flackerte. Die leicht verschwommene gelbe Linie verlängerte sich. Sie ging durch Regionen, in denen auf dem Schirm nichts anderes zu sehen war als purer schwarzer leerer Raum.

Nicht ganz leer.

Aus der Dunkelheit tauchte ein auf dem Schirm tiefblaues Objekt auf, das blasser wurde, dann gelb. Es war fünffach beflaggt. Jeder der Besatzungsmitglieder stieß ein Zischen aus, als es langsamer wurde und anhielt. Dann streckte sich die gelbe geodätische Linie, um es zu berühren.

Die Hitschi sahen einander an. Keiner sprach ein Wort. Das Schiff, das den größten vorstellbaren Schaden anrichten konnte, war auf dem Weg zu dem Ort, wo der Schaden erfolgen sollte.

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